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Todeslügen

hier erhältlich:

Steckt in jedem Menschen ein Killer?

In einer Kirche werden zwei Leichen gefunden, ein Mann und eine Frau, brutal ermordet. Der Mann trägt das Priestergewand, doch er ist nicht der Priester. Detective Frankie Sheehan muss den Mörder finden. Angst geht um, denn vor kurzem ist der Doppelmörder Sean Hennessy aus dem Gefängnis entlassen worden. Er wurde vor fünfzehn Jahren für den Mord an seinen Eltern und den Mordversuch an seiner Schwester verurteilt. Nun ist er frei und will seine Unschuld beweisen. Doch plötzlich geschieht ein weiterer Mord. Der Tote war Journalist und hatte damals über den Hennessy-Fall berichtet. Ist Sean Hennessy wirklich unschuldig? Was ist damals tatsächlich passiert? Und wer ist der Mörder, der Dublin nun in Angst versetzt?

»In ihrem zweiten Roman verbindet Olivia Kiernan das Verbrechen und die irische Gegenwartsgesellschaft zu einem „Whydunnit“, den sie diszipliniert und gut strukturiert in Szene setzt.« Krimi-couch.de

»Wie schon »Zu nah« ein gut gemachter Krimi, der durch seine tiefgängigen psychologischen Tat- und Täteranalysen besticht.« ekz Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Aus der Serie: Detective Frankie Sheehan
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678452
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ann

»Du siehst vielleicht nicht aus wie ein Mörder, aber wenn du lange genug im Gefängnis bist, meißelt die Zeit dir das Gesicht des Bösen ein, bis du gehst und redest wie der leibhaftige Teufel. Im Innern bist du noch derselbe Mensch, aber den sieht keiner mehr. Nein, alle sehen bloß den Mörder.«

Seán Hennessy, Fünfzehn Jahre ein Mörder,
mit freundlicher Genehmigung von Blackthorn Films © 2012

KAPITEL 1

In meinem Beruf kann es vorkommen, dass ich mich mit jemandem an einen Tisch setzen muss, der bekanntermaßen ein Mörder ist. Ich muss ihm die Hand schütteln. Mit ihm reden. Muss ihn denken lassen, wir wären auf einer Ebene, dass seine Psyche und meine sich gar nicht so sehr unterscheiden. Es ist ein subtiles Spiel, bei dem es um Kontrolle geht, und er soll glauben, dass er sie hat, selbst wenn dem nicht so ist, aber besonders, wenn dem so ist. Manche Detectives, vor allem die unerfahrenen, reden mit einem wissenden Glanz in den Augen von Vertrauensbildung. Sie denken nämlich, wenn ein Mörder mit ihnen plaudert, haben sie ihn sozusagen schon in der Tasche, dass ihr Täter gleich die Maske fallen lässt und alles gesteht.

Aber ich bin lange genug im Geschäft, und ich weiß, wenn ein Killer mich anlächelt, dann nicht, weil ich so nett zu ihm bin, sondern weil er sich dazu herablässt. Letzten Endes weiß keiner wirklich, wozu ein Mensch fähig ist, ganz gleich, ob er ein Lächeln im Gesicht hat, dir fest die Hand schüttelt oder dir in die Augen sieht, während er dich anlügt.

Ich beobachte, wie er durch den Pub geht, weiche Sneakers, fester Gang. Er ist fast nicht wiederzuerkennen. Bloß ein ganz normaler junger Mann, der an einem Sonntagabend ein Bier trinken will. Er sieht mich an einem der hinteren Tische und kommt herüber, streckt mir die Hand entgegen. Finger krümmen sich um meine. Schwielen, eine Wulst in seiner Handfläche. Saubere, kurz geschnittene Nägel. Die Muskeln in seinem Unterarm spannen sich an, als er meine Hand drückt.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Detective«, sagt er lächelnd. Ich spüre, wie seine Augen mich taxieren, und ich hoffe für ihn, dass er mehr sieht als bloß eine Blondine im Hosenanzug.

Er ist groß gewachsen, aber ich bin fast genauso groß wie er. Alles in allem sieht er gut aus. Blaue Augen. Schlank, Kurzhaarfrisur, schöner Blondton. Ein Mann, der seine Strafe abgesessen hat. Ein Mann, der seine Eltern ermordet hat und der versucht hat, auch seine kleine Schwester zu ermorden. Ich beobachte, wie er sein Lächeln wegpackt, einen Stuhl hervorzieht, seine starken Hände auf den Tisch stützt und sich hinsetzt. Und die Frage ist nicht, ob er ein Mörder ist, sondern ob siebzehn Jahre Gefängnis ausreichen, um einen Menschen zu ändern.

Tanya West sitzt mit am Tisch. Sie ist leger gekleidet: schwarzes T-Shirt über einer Bluejeans, die aussieht wie aus der Teenager-Abteilung. Das dunkle Haar ist zu einem hohen Knoten gebunden, große Silberohrringe baumeln bis auf die Schultern, silberner Nasenstecker. Ich spüre, wie ihre flinken dunklen Augen die Interaktion zwischen Hennessy und mir beobachten. Tanya ist Anwältin. Eine von der Sorte, die uns auf den Wecker geht: Strafverteidigerin. Kein Detective, der im Morddezernat arbeitet, kann Strafverteidiger leiden. Wie oft habe ich schon gefährliche Kriminelle dank einer raffinierten Verteidigung ungestraft davonkommen sehen? Ganz zu schweigen davon, dass es ihr Job ist aufzuzeigen, wo wir überall Mist gebaut haben, wie beispielsweise zur falschen Zeit mit einem Verdächtigen reden oder durch eine falsche Vorgehensweise den Ausschluss von stichhaltigen Beweisen verursachen.

Die Verteidigung ist die gegnerische Linie, über die wir unseren Fall schieben müssen. Und Tanya ist gut in ihrem Job. Man könnte jemanden auf frischer Tat ertappen, bis zu den Ellbogen im Gedärm seines Opfers, und Tanya würde ein Gericht dennoch davon überzeugen, dass er bloß über die Leiche gestolpert und mit ausgestreckten Händen in den Innereien gelandet ist. Aber ich mag sie trotzdem. Tanya geht es nicht darum, die Justiz auszutricksen oder zum Narren zu halten, sie will sie vielmehr zwingen, ihr Bestes zu geben. Außerdem ist sie meine Schwägerin, und offenbar zählt Familie doch irgendwie, denn es gibt nicht viele, die mich dazu überreden könnten, einem verurteilten Mörder die Hand zu schütteln und mir anzuhören, was er zu sagen hat. Aber Tanya kann und hat. Wobei sie allerdings die Tatsache, dass es sich um Seán Hennessy handelt, klugerweise für sich behalten hat. Tanya ist keine Strafverteidigerin der üblichen Sorte. Hennessy kein Täter der üblichen Sorte.

»Schön, Sie wiederzusehen, Seán«, sagt sie. »So«, sie grinst zu mir rüber, »die herzliche Begrüßung haben wir hinter uns, fangen wir an.«

Ich lehne mich auf meinem Platz zurück, unfähig, die Augen von Seán Hennessy abzuwenden. Unfähig, die Bilder seines Verbrechens aus dem Kopf zu bekommen. Das grausige Blutbad. Die Vielzahl von Messerstichen am Körper seiner Mutter, seines Vaters. Seiner Schwester.

Tanya legt eine Aktenmappe auf den Tisch und faltet beinahe ehrfürchtig die Hände darüber. »Seán, wir können von Glück sagen, dass Frankie bereit ist, sich mit Ihrem Fall zu befassen.« Sie wendet den Kopf, lächelt mich an. »Sie ist eine der Besten.«

»Natürlich, natürlich«, murmelt er. Trockene Lippen. Die Zunge klebt ihm im Mund. Entlang seines Haaransatzes glänzt Feuchtigkeit. Er wischt sie mit schnellen Fingern weg. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Detective.«

Hennessys Anblick genügt, um mich am Sinn meines Berufes zweifeln zu lassen. Wo ist die Reue? Sie sitzt mir jedenfalls nicht gegenüber. Er hat zwei Menschen umgebracht, fast noch einen dritten. Er hat seine Zeit abgesessen, aber jetzt ist er hier. Ich war’s nicht, sagt er. Ein Ego, groß wie ein Kontinent.

Ich reibe mir den Nacken. »Ich kann nicht lange bleiben.«

Er sieht erst Tanya an, dann mich, lehnt sich zurück und klopft seine Taschen ab. »Darf ich Sie auf einen Drink einladen? Was möchten Sie?«

»Nichts, danke. Ich hab Bereitschaft.«

Er stutzt. »Tanya?«

»Danke, Seán. Ich nehm einen kleinen Sauvignon blanc, bitte«, antwortet sie.

Er sieht mich erneut an, als wollte er fragen, ob ich nicht doch etwas möchte, überlegt es sich aber anders. »Okay. Okay.«

Er steht vom Tisch auf, schiebt sich durch das volle Lokal. Während er sich zur Theke vorarbeitet, dreht er den Kopf hin und her, sucht den Raum ab. Als ich noch zu Hause wohnte, war das hier meine Stammkneipe, ein kleiner Geheimtipp, bestehend aus nur einem winzigen Raum. Durch die Tür kam man direkt zu einer Reihe Barhocker, und das war’s. Irgendwann in den letzten Jahren wurde der Pub entkernt und erweitert, wobei versucht wurde, möglichst viel von der alten Atmosphäre zu retten: dunkle Holztische, niedrige Decke und abgenutzte Dielen. Ich beobachte, wie Seán die Theke erreicht und einen Fuß lässig auf die glänzende Messingfußstange stellt, die unten am Tresen entlang verläuft. Der Barmann am anderen Ende blickt auf, wickelt noch einen Satz Besteck in eine Papierserviette und geht mit einem Nicken auf Seán zu.

Ich drehe mich zu meiner Schwägerin um, und sie widmet ihre Aufmerksamkeit der Akte vor ihr. Meidet meinen Blick. »Verdammt, Tanya, warum hast du mir nicht gesagt, dass es um Seán Hennessy geht?«

Sie zuckt ganz leicht mit den Achseln. Die dünnen Ohrringe hüpfen auf ihren Schultern. »Du hast mich nicht gefragt.« Ich schließe die Augen, hole einmal tief Luft. »Spielt es eine Rolle, wer er ist? Er hat gute Argumente für ein Wiederaufnahmeverfahren.«

»Der Kerl hat seine Eltern ermordet.«

»Es gibt begründete Zweifel.« Sie wirft einen kurzen Blick durch den Raum zu Seán hinüber und sagt dann leise: »Eine Produktionsfirma namens Blackthorn Films hat Kontakt zu uns aufgenommen. Die drehen eine Dokumentation über Seáns Fall. Soll nächste Woche gesendet werden. Das könnte wunderbare PR für unsere Organisation werden.«

Ich seufze. »Wozu brauchst du mich dann?«

»Es kann nie schaden, eine Detective Chief Superintendent an Bord zu haben. Wenn auch nicht in offizieller Funktion. Wir haben niemanden mit deiner Qualifikation. Du kannst Menschen gut einschätzen, Frankie.«

Tanyas Hilfsorganisation, Justice Meets Justice, wählt die Fälle, für die sie ihre Ressourcen einsetzt, ganz besonders sorgfältig aus. Sie nehmen nur welche an, bei denen sie einen Justizirrtum vermuten, und versuchen dann, neue Beweise zu finden, oder gehen außer Acht gelassenen Ermittlungsansätzen nach. Setzen sich für Menschen ein, die für Verbrechen verurteilt wurden, die sie nicht begangen haben. Doch schon die kleinste Lüge eines Mandanten genügt, und sie lassen ihn fallen.

Ich habe viel um die Ohren, aber seit dem Costello-Fall vor einigen Monaten läuft’s für mich an der Verbrechensfront ganz gut. Die Sondereinheit für Kapitalverbrechen macht ihre Arbeit. Sie wurde vor drei Jahren für besonders komplizierte Ermittlungen in Irland aus der Taufe gehoben. In einer Welt, wo unsere Strafverfolgungsbehörden den Blick zunehmend auch nach außen richten müssen, soll die Sondereinheit eine Verteidigungsbastion gegen die Kriminellen in unserem Land sein. Vier Polizeireviere mit den besten Detectives der Gardaí und einer von mir geleiteten Zentrale in Dublin. Wir sind eine flexible, gut geölte Maschine, die eingeschaltet werden kann, wenn die polizeilichen Möglichkeiten vor Ort zu beschränkt sind oder wenn es um Fälle von nationaler Bedeutung mit dem entsprechenden Medieninteresse geht. Und in den letzten paar Monaten hatte ich einen Lauf. Drei Fälle aufgeklärt und ad acta gelegt, als hätte ich ein Kreuzworträtsel für Kinder gelöst.

Ich schaue zu Hennessy hinüber. Man könnte die Sache schnell erledigen, ein paar Leute befragen, rausfinden, warum er wirklich glaubt, seine Verurteilung sollte aufgehoben werden. Ich bin neugierig, weshalb Tanya sich in diesem Fall so stark engagiert. Und sie weiß, dass mich ein Rätsel unwiderstehlich anlockt. Selbst eines, von dem ich weiß, dass es bereits gelöst wurde.

»Geht’s dabei nicht um Geld?«, frage ich.

Sie wird rot, lässt sich aber nicht anmerken, welches Gefühl für diese Reaktion verantwortlich ist. »Es ist ein großes Risiko für uns. Bei dem Medieninteresse, wenn wir da am Ende wie die Trottel dastehen, können wir einpacken. Aber falls wir recht haben, wäre das ein Riesenerfolg.«

Ich beobachte Hennessy, während er auf die Getränke wartet. Der Barmann nimmt Gläser aus dem Regal. Seine mageren Schultern vibrieren, als er über irgendeine Bemerkung von Hennessy lacht. Und ich kann mir vorstellen, dass die Öffentlichkeit auf Hennessy reinfällt, wenn so eine Dokumentation über ihn gesendet wird. Er sieht nicht schlecht aus. Er wirkt sympathisch. Er wirkt normal. Wie einer von uns. Er trägt seinen Schafspelz mit lässiger Eleganz.

Ich denke an die nicht enden wollenden Berichte von Kapitalverbrechen, die täglich über unsere Schreibtische gehen, und an den gewissenhaften Einsatz von Energie und Geld für jeden Einzelnen. Selbst wenn ich mich außerhalb der Arbeit mit Hennessys Fall beschäftigen würde, wäre der Zeitaufwand kaum zu rechtfertigen.

Ich höre das Bedauern in meiner Stimme, als ich sage: »Tanya, tut mir leid, aber ich glaube, ich bin die Falsche dafür. Die Justiz hat damals das richtige Urteil gefällt, und ich finde nicht, dass die Gesellschaft auch nur eine Minute länger über Seán Hennessy nachdenken sollte. Meiner Erinnerung nach gab es eine Unmenge an Beweisen und Zeugen.«

»Aber was, wenn die Beweise falsch waren?«

»Tanya –«.

»Moment!« Sie hebt eine Hand. »Seán hatte Blut von Bríd und Cara Hennessy unter den Fingernägeln und auf seinem Shirt. Aber was sagst du dazu, dass der erste Sanitäter am Tatort zuerst Bríd und Cara untersucht hat«, sie zählt beide Opfer an den Fingern ab, während sie redet, »und dann Seán behandelt hat, weil er unter Schock stand?«

Ich seufze.

»Komm schon, Frankie. Das ist Kreuzkontamination. Das Blut war einer der Hauptbeweise der Anklagevertretung vor Gericht. Vielleicht hat’s ja noch mehr Fehler gegeben.« Sie starrt mich beschwörend an und öffnet die Mappe. »Blackthorn Films. Die haben schon Preise gewonnen. Das wird eine große Sache. Unsere Organisation kann sich das nicht entgehen lassen. Ja, wir brauchen die Fördergelder. Aber noch wichtiger ist, dass ich ihm glaube.«

Meine Erinnerungen an die Hennessy-Morde sind absurderweise in goldenes Sonnenlicht getaucht. Es war ein sengend heißer Sommer. Hitze treibt die Verbrechensrate in die Höhe, und August ist ohnehin der Monat, in dem Familien sich gegenseitig am ehesten an die Gurgel gehen. Man könnte sagen, dass wir bei der Polizei schon fast damit rechneten, dass so was passiert, aber ehrlich gesagt kann sich keiner wirklich vorstellen, dass jemand seine Familie umbringt. Selbst wenn die Leichen schon vor dir liegen, ist das schwer zu glauben.

»Ich nicht«, entgegne ich Tanya.

»Und das ist okay«, sagt sie schnell. »Ich will nur deine Meinung hören. Wir brauchen bloß eine objektive Stimme. Deine Erfahrung mit Profiling, mit dem Durchleuchten eines Falls wäre für uns von unschätzbarem Wert.« Sie schiebt die Aktenmappe über den Tisch. »Da ist Filmmaterial von der Dokumentation drin. Einzelinterviews mit Seán. Insgesamt drei Stunden ungeschnittene Aufnahmen. Ich schick’s dir auch noch per Mail, aber du brauchst das Passwort, um darauf zuzugreifen.«

Hennessy kommt zurück. »Bitte sehr.« Er stellt Tanya ein Glas Wein hin und setzt sich, ein Glas Bier sicher in der Hand.

Irgendwie ringe ich mich dazu durch, ihn anzusprechen. »Warum wollen Sie das machen, Mr. Hennessy?« Ich kenne die Antwort. Geld. Immer. Aber bei Killern dieser Art ist es manchmal auch schlicht Aufmerksamkeit. Der Narzisst kann der Faszination seines eigenen Spiegelbildes nicht widerstehen.

Er hebt sein Bierglas an den Mund, trinkt einen Schluck. Blaue Augen huschen zu mir hoch. Sanft. Die richtige Mischung aus Traurigkeit und Bedauern. Genau austariert. »Meine Schwester«, sagt er leise, und ich denke, dass doch ein Funken Scham in ihm ist.

»Ihre Schwester?«

»So, wie die Dinge liegen, werde ich sie nie wiedersehen.«

»Das ist wahrscheinlich auch gut so. Finden Sie nicht? Hat sie nicht ein Anrecht darauf, in Frieden zu leben? Den Blick nach vorn zu richten?«

Seine Schultern heben sich leicht, der graue Halsausschnitt seines Hoodies kräuselt sich. Seine Hände umschließen das Glas fester. Er blickt nach unten. »Ich denke, es ist für niemanden gut, eine Lüge zu leben.«

»Ich bezweifle, dass Ihre Schwester glaubt, eine Lüge zu leben. Gerade sie weiß genau, was passiert ist. Sie war dabei. Und wenn sie den Wunsch gehabt hätte, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, hätte sie das doch längst getan, oder?«

Er nickt, als hätte er mit der Antwort gerechnet, und sagt dann mit einem Unterton sturer Entschlossenheit: »Falls Cara mich nicht sehen will, kann ich nichts dagegen machen. Aber sie sollte die Wahrheit erfahren.«

Ein langsam anschwellender Zorn schnürt mir den Hals zu, treibt mir die Röte ins Gesicht. Ich sehe zu Tanya hinüber, aber sie meidet meinen Blick. Ihr Gesicht ist eine blasse Maske der Neutralität.

»Sie kennt die Wahrheit bereits«, sage ich, und das Selbstvertrauen in seinem Gesicht bekommt Sprünge. »Mr. Hennessy, ich glaube, Sie haben Ihre Eltern abgeschlachtet und hätten beinahe auch Ihre Schwester umgebracht.« Er zuckt zusammen, aber ich rede weiter. »Ich halte Ihre Verurteilung für gerecht. Der einzige Fehler daran ist, dass Sie jetzt frei sind und hier vor mir sitzen können und darüber reden, wie das Urteil gegen Sie aufgehoben werden kann.«

Er streicht sich mit einer Hand übers Gesicht, drückt die Fingerspitzen auf die Augen. Tanya wirft mir einen Blick zu, der auch als Ohrfeige durchgehen könnte, aber er soll wissen, auf welcher Seite ich stehe. Immer zuerst auf der Seite der Opfer.

Schließlich sagt er: »Ich verstehe. Ich bin verurteilt worden. Jetzt bin ich schuldig, bis meine Unschuld bewiesen ist.« Als er mich wieder ansieht, schwimmen Tränen in seinen Augen. »Aber ich schwöre Ihnen, ich war’s nicht.« Der letzte Satz kommt als inständiges heiseres Flüstern über zusammengepresste Lippen.

Hinter der Theke klappert Besteck, und als ich hinüberschaue, sehe ich, wie der Barmann sich bückt, um aufzuheben, was ihm zu Boden gefallen ist. Er kommt wieder hoch, wischt ein Messer an dem Tuch über seiner Schulter ab und wickelt es in eine Papierserviette.

Ich wende mich Tanya zu. Die dünnen Linien ihrer Augenbrauen sind zu einem Ausdruck hoffnungsvoller Erwartung hochgezogen. Sie weiß genauso gut wie ich, wie meine Antwort ausfallen wird. Ich seufze. »Ich werde mir das Filmmaterial ansehen. Aber mehr auch nicht.«

»Das ist toll, Frankie.« Sie lächelt begeistert.

Seán nickt, und für einen Moment sieht es aus, als wollte er nach meinen Händen greifen. Seine eigenen gleiten über den Tisch, doch auf halbem Weg bremst er sich und stammelt stattdessen: »Vielen Dank.«

Tanya ist schon dabei, weitere Unterlagen aus ihrer Tasche zu ziehen. Noch mehr Heimarbeit für mich. »Das hier ist eine Zusammenfassung unserer Vorgehensweise. Wir haben ein neues Büro in der Stadt. Nicht weit von den Kais.« Sie legt mir eine Visitenkarte hin. »Aber du kannst mich auch so leicht erreichen. Du weißt ja, dass ich die meiste Zeit von zu Hause aus arbeite.«

Zu Hause, das heißt das Haus meiner Eltern an der Conquer Hill Road in Clontarf. Ich stelle mir das Gästezimmer meiner Eltern vor, verwandelt in einen SOKO-Raum. Mein Bruder Justin und Tanya warten darauf, dass sie in ihr neues Haus einziehen können. Justin, Anwalt für Immobilienrecht, ist immer absolut tiefenentspannt und hat es irgendwie geschafft, die Abläufe beim Kauf ihres neuen Hauses falsch einzuschätzen, sodass er im Alter von siebenunddreißig Jahren zusammen mit seiner Frau vorübergehend in unserem Elternhaus gestrandet ist. Ich frage mich, wie meine Mum damit klarkommt, dass Tanya in ihrem Haus einen alten Mordfall wieder aufzurollen versucht.

Sie reicht mir die Unterlagen. »Die kannst du behalten. Sind Kopien.«

Ich nehme sie, schiebe sie in meine Tasche, und Tanya erklärt mir, dass ich mir mit dem Bericht Zeit lassen kann, es aber vielleicht ganz gut wäre, wenn sie ihn im nächsten Monat bekäme. Mein Telefon klingelt in ihre Erläuterungen hinein, und ich war nie dankbarer für eine Unterbrechung.

»Entschuldigung.« Ich stehe auf und gehe ein Stück vom Tisch weg. Halte mir ein Ohr zu. »Sheehan.«

»Frankie, Clancy hier. Anscheinend sehen wir dich heute Abend doch noch.« Jack Clancy, unser Assistant Commissioner, mein Boss, Freund und in vielerlei Hinsicht mein Plagegeist.

»Glaub mir, ich freu mich richtig über deinen Anruf«, antworte ich.

Meeresrauschen dröhnt durch die Leitung. Der Wind tost um sein Handy. Er spricht lauter. »Wo bist du?«

»In der Nähe von meinem Elternhaus.« Ich schaue auf die Uhr. Es ist Viertel vor acht. »Was liegt an?«

»Wir haben zwei Leichen. In der Kirche. St. Catherine’s.«

»Hier?« Ich gehe aus dem Pub, drehe mich in den Wind, der über das Wasser heranfegt. Clontarf ist ein Vorort an der Küste, einen Steinwurf von Dublins Innenstadt entfernt. Sein Name steht für Schlachten und Siege. Ein Gefühl von Stolz, weil es uns vor langer Zeit mal gelang, die Wikinger niederzuringen. Clontarf, meine Herkunft, meine Heimat.

»Ja. Die Sache ist Stoff für Schlagzeilen, also komm her«, sagt Clancy.

Ich blicke die Straße hinunter, in Richtung Dublin, dessen Lichter gerade in der Ferne erwachen, dann hinaus aufs Meer. Die Sonne steht schon tief am Horizont, hinter dicken Wolken versteckt. Die Promenade wird von bernsteingelben Straßenlampen erhellt. Ein paar Spaziergänger sind unterwegs, die Jacken bis zum Hals geschlossen, bewegen sie sich mit gleichmäßig schwingenden Armen an der Ufermauer entlang.

»Bin in fünfzehn Minuten da«, sage ich und lege auf. Ich stelle mir die Kirche vor, St. Catherine’s, am Ortseingang von Clontarf, dunkel und düster in ihrem Eisenkäfig. Ich stecke mein Handy ein und gehe zurück in den Pub.

Tanya steht auf. »Musst du los?«

»Ja.«

»Okay.« Sie hat eine Hand auf den Tisch gestützt, die andere auf die Hüfte. »Ich ruf dich dann morgen an, ja?«

Ich hole tief Luft. »Klar.«

Sie lächelt. »Danke.«

Ich nehme meinen Mantel von der Stuhllehne und sehe Seán Hennessy an, will mir eine Plattitüde abringen, so was wie … war nett, mit Ihnen zu sprechen oder Sie kennenzulernen, aber ich bringe es nicht über die Lippen. Stattdessen höre ich mich selbst sagen: »Genießen Sie Ihre Freiheit, Mr. Hennessy.«

Und er runzelt die Stirn. »Danke für Ihre Hilfe, Detective.«

Wieder auf der Straße lausche ich auf Sirenen, halte Ausschau nach Blaulicht. Mein Kopf ist schon voll im Einsatz. Eigentlich sollte mir dieser Energieschub zu denken geben, eine perverse Art von Neugier, die alle Detectives in den dunkelsten Winkeln ihrer Psyche verbergen. Ein kleiner Schuss Nervenkitzel, durchdrungen von einer gewissen unerschrockenen Hoffnung.

Ich gehe die Straße hinunter. Der Wind weht mir den Geruch von Seetang und Salz ins Gesicht. Der Sommer hat bislang so gut wie nur Regen gebracht, und wenn’s mal nicht regnet, sind die Tage so kalt wie im Herbst. Ich halte meinen Mantel zu und beschleunige meine Schritte. Als ich St. Catherine’s erreiche, sind meine Hände und mein Gesicht taub vor Kälte. Ich schüttele die Finger aus und betrachte die Kirche. Das Gebäude duckt sich unter ein paar wuchtigen Ulmen, die im Wind knarren, ein gutes Stück von der Straße entfernt. Kollegen in Uniform bewegen sich über das Gelände, sperren den Tatort mit blau-weißem Flatterband ab. Drei Autos parken in der Nähe. Eines davon gehört Clancy. Ich bücke mich unter dem Absperrband hindurch, und einer der Officers kommt mit dem Logbuch auf mich zu.

»’n Abend, Detective Sheehan.«

Ich trage mich ein, schreibe die Uhrzeit dazu. »Coroner schon da?«

»Sie ist drin. Die Kriminaltechnik ist vor zwanzig Minuten eingetroffen.«

»Danke.« Ich gehe zum Eingang. Große Türflügel aus Eichenholz öffnen sich in den dämmrigen Innenraum der Kirche. Ich trete ein, und meine Schritte hallen vom Deckengewölbe zurück. Clancy, ein paar von der Kriminaltechnik und eine Frau, unsere Coroner, stehen in der Mitte des Hauptgangs beisammen. Rechts von mir sehe ich einen Stapel Gottesdienstblätter in einem Pappkarton. Ein paar vergessene Konfettischnipsel liegen unter der ersten Bank. Hinter der Tür droht ein schiefer Turm aus Weidenkörbchen jeden Moment umzukippen. Gleich daneben steht eine Schachtel mit Schuhüberziehern und Handschuhen aus Plastik bereit. Ich streife sie über und gehe langsam den Gang hinunter.

Der Körper der Frau kommt als Erstes in Sicht: ein Fuß, nackte Sohle, milchweiß im Schatten. Sie ist nackt von der Taille aufwärts, der Gürtel ihrer dunklen Jeans ist noch immer um die Hüften geschlossen. Sie liegt auf dem Bauch, Arme gebeugt, Kopf zur Seite gewandt. Man könnte meinen, sie schliefe, wären da nicht die Verletzungen an ihrem Hals und den Rücken hinunter. Augen und Mund sind geöffnet, der Schrecken des Todes auf ihrem Gesicht. Neben ihr ein zweites Opfer, ein Mann. Tot. So tot, wie man nur sein kann. Schon seit Tagen, wie’s aussieht. Leichenflecken auf den Händen, im Gesicht. Er ist gekleidet wie ein Priester. Schwarzer Anzug. Der engelweiße Kragen schützt seinen Hals. Ein Messer in seiner geöffneten Hand. Nicht fest gepackt. Nicht umklammert. Es ruht auf kaltem Fleisch. Kaltes Metall, kalte Klinge.

KAPITEL 2

Als ich auf die beiden Leichen hinunterschaue, erfasst mich eine tiefe Traurigkeit. Es ist so eine verdammte Schande. Die Unabänderlichkeit. Die Finalität des Todes. Sie überfällt mich mit voller Wucht.

Clancy dreht sich zu mir um, deutet mit geöffneter Hand auf die Frau an seiner Seite. »Frankie, du kennst Judith?« Unsere Coroner. Eine zierliche Frau mit einem kolossalen Ruf. Penibel. Ernst, mit einer derart kerzengeraden Körperhaltung, dass man sich fragt, ob Totenstarre ansteckend ist.

»Schön, Sie zu sehen, Dr. Magee.«

»Ich bin hier fast fertig«, erwidert sie. »Dann kann die Spurensicherung übernehmen.«

Am Altar gibt Keith Hickey, unser leitender Kriminaltechniker, seinem Team Anweisungen. Keith ist ein Adlerauge und ein Großmaul. Seine Stimme dröhnt durch die Kirche. »Wenn ihr auch nur den leisesten Verdacht habt, dass irgendwas so aussieht, als würd’s nicht dahingehören, markiert ihr es«, erklärt er. »Ihr fotografiert es, und ihr notiert es.«

Ich wende mich wieder Dr. Magee zu. »Je eher, desto besser.«

»Unbedingt.« Sie macht noch ein paar Notizen auf einem Klemmbrett in ihrer Hand, unterschreibt und reicht es einem Officer. Dann betrachtet sie erneut die Opfer. »Ist ja offensichtlich, aber ich lege mich mal offiziell fest: Todesart ist Mord.« Sie tritt zur Seite und wartet ab, ob wir irgendwelche Fragen haben, ihr Gesicht voller Antworten, die sie nicht geben will. Noch nicht jedenfalls, nicht bevor unsere Opfer auf dem Tisch in Dublins Rechtsmedizin in Whitehall liegen. Auf Dr. Abigail James, die Rechtsmedizinerin, wartet viel Arbeit. Die Obduktion ist unsere einzige Hoffnung, die Opfer zum Sprechen zu bringen. Unter Dr. James’ scharfem Skalpell hat schon so mancher Geheimnisse preisgegeben.

»Wer hat die Toten gefunden?«, frage ich.

»Eine Mrs. Berry«, antwortet Clancy. »Sie ist draußen bei den Sanitätern. Arbeitet im Pfarrhaus. Sie wollte in der Kirche nach den Blumen sehen.« Er starrt auf den Rücken des weiblichen Opfers, insgesamt elf Stichwunden wie ein dunkles Sternbild auf der Haut. In jeder hat sich etwas Blut gesammelt, und die Haut ist mit blutigen Spritzern besprenkelt. Clancy deutet auf die Wunden. »Die haben nicht stark geblutet. Sind die post mortem?«

»Da würde ich zustimmen«, sagt Dr. Magee.

Ich trete einen Schritt zurück, lasse die Szene auf mich wirken, versuche zu sehen, was der Mörder mir vermitteln will. Dann zeig mal, was du zu sagen hast. Die glänzende große Blutlache unter dem Körper der Frau. Der Mann in Seitenlage, zusammengekrümmt. Unter dem rechten Arm der Frau ist das Blut auf dem kalten Boden verschmiert, als hätte sie irgendwann die Gliedmaßen angezogen, wie um sich für einen langen Schlaf zurechtzulegen. Ihr volles Haar ist zur Seite gefallen, und dazwischen schimmert die Kopfhaut rot, ein Streifen aus Blut zieht sich über die Schläfe. Getrocknetes Blut rund ums Ohr. An der Kehle ein klaffender wütender Schnitt.

»Gibt es eine Kopfverletzung?«

»Keine erkennbare«, antwortet Dr. Magee. »Ich bin sicher, die Todesursache war ein massiver Blutverlust. Sie ist an der durchgeschnittenen Kehle verblutet.«

»Und der Mann? Der ist schon länger tot.«

»Zwei, drei Tage. Vielleicht auch mehr«, antwortet Magee.

»Aber die Frau ist hier gestorben?«

»Ohne jeden Zweifel.« Sie zeigt auf die Kirchenbänke zu meiner Linken. Ich wende den Kopf, folge der bogenförmigen Blutspur auf dem hellen lackierten Holz. Ein Strom von dunklen Tupfen. Ein Spritzmuster. Arterienblut der Frau aus dem tiefen Schnitt an ihrem Hals. Es war sehr viel Wut im Spiel.

Ich schaue nach unten, auf das Messer in der offenen Hand des Priesters. Etwa fünfzehn Zentimeter lange Klinge, knapp vier Zentimeter breit. Vier deutliche Einkerbungen im Griff. »Ist das die Mordwaffe?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortet sie.

Ich formuliere die Frage anders: »Könnte es die Mordwaffe sein?«

Sie neigt den Kopf, studiert das Messer, als gäbe es noch eine andere Möglichkeit. »Wir können es auf DNA untersuchen. Breite und Tiefe der Wunde mit dem Messer abgleichen. Wenn diese Elemente zu ihren Wunden an Hals und Rücken passen, erfahren Sie es als Erste.«

Ich höre den bissigen Unterton in ihrer Stimme und blicke wieder auf die Leiche, um mir meine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen, aber ich kann ihre Zurückhaltung verstehen. In ihrer Funktion als Coroner hat sie das Sagen über den Tatort, bis sie grünes Licht gibt, dann übernimmt die Kriminaltechnik, und erst dann haben wir Detectives die Erlaubnis, näher ranzukommen. Für Magee sind wir Kontaminanten. Ungenau und achtlos. Ihre wachsamen Augen verfolgen jede meiner Bewegungen, um sicherzugehen, dass ich nicht mal ein Haar der Opfer bewege.

Ich gehe in die Hocke, um mir die Waffe genauer anzusehen. Die Klinge zeigt auf den Rücken der Frau. Sie ist mit Blut bedeckt, ein dünner Film aus Braun und Orange. Aber unter dem Blut kann ich Buchstaben auf der Klinge erkennen. Ein Wort.

»Da ist was in das Messer geritzt«, sage ich und leuchte mit meiner Taschenlampe darauf.

Clancy beugt sich über meine Schulter. »Sieht aus wie ein W und ein A.«

Die Fingerspitzen des Toten sind nach innen gekrümmt, die Nagelbetten blauschwarz, die Linien in seiner Handfläche dunkelrot. Ich beuge mich näher und höre, wie Magee geräuschvoll die Luft einzieht.

»Waffe. Da steht: Waffe«, sage ich. »Ins Messer gekratzt. Aber ziemlich schlecht.« Ich stehe auf, drehe mich zu Clancy um.

»Offensichtlich glaubt unser Täter, wir brauchen keine Obduktion, um zu wissen, dass das hier die Mordwaffe ist«, sagt Clancy, und Magee wirft ihm einen strafenden Blick zu.

»Todeszeitpunkt?«, frage ich.

Magee konsultiert ihre Notizen. »Die Totenstarre hat im Kiefer- und Halsbereich des weiblichen Opfers eingesetzt, ist aber noch nicht fortgeschritten. Ich schätze, sie ist in den letzten paar Stunden gestorben.« Sie schaut auf ihre Uhr. »Da die Toten um sieben entdeckt wurden, würde ich sagen, zwischen fünf und sechs heute Nachmittag. Bei dem männlichen Opfer wird es schwieriger sein, den Todeszeitpunkt zu bestimmen.«

Ich gehe um die Opfer herum zu den Bänken mit den Blutspritzern darauf. Eine der Bänke ist über die gesamte Länge bespritzt. An der einen Seite ist das Blut eine schon halb geronnene Lache, die in feine einzelne Tropfen übergeht. Ich greife erneut zu meiner Taschenlampe, lasse den Lichtkegel über die Bank wandern und sehe, dass die Blutspur auf halber Höhe unterbrochen ist.

»Hier ist eine Lücke im Muster.« Die Stelle ist gut abgegrenzt, etwa fünfzehn Zentimeter breit, die Ränder deutlich umrissen. Nur der Rand, der uns am nächsten ist, sieht verschmiert aus, als wäre ein Gegenstand dort weggezogen worden.

»Aha?« Magee wendet sich um, späht über die Bänke.

Clancy winkt einer großen dünnen Kriminaltechnikerin, und sie kommt näher. Schmales Gesicht unter der Kapuze ihres Schutzanzugs, die Spitze der Hakennase rot und glänzend. Der Geruch der Mentholsalbe, die sie sich unter die Nase geschmiert hat, umwabert uns.

»Markieren Sie das bitte.« Clancy zeigt auf die Bank, und die Frau nickt. Er sieht mich an. »Was meinst du? Ist da irgendwas weggenommen worden? Oder ein Handabdruck?«

Dr. Magee ist neben mich getreten, will ihre Autorität schnell wiederherstellen, nachdem sie eine derartige Anomalie übersehen hat. »Für einen Handabdruck ist die Mitte zu sauber. Was auch immer da war, es wurde nach der Tötung der Frau entfernt.«

»Was bedeutet, dass ihr Blut darauf war«, wirft Clancy ein. Er kommt offensichtlich in Fahrt. »Ihre Handtasche? Oder irgendein Gegenstand, den der Täter dort hingelegt und dann wieder mitgenommen hat?«

Ich hebe die Taschenlampe, beleuchte die Toten; die Frau, den Priester. Diese Tat war gut vorbereitet. Die Lücke passt nicht dazu. »Dieser Mörder ist zu gründlich, um die üblichen Fehler zu machen.«

»Vielleicht ist er gestört worden? Oder war in Eile?«, schlägt Clancy vor.

»Das wäre die einzige Erklärung.« Ich leuchte mit der Taschenlampe auf den Boden um mich herum. »Das Blutmuster reicht nicht bis hierher. Keine Chance auf einen Fußabdruck?«

»Nee, absolute Fehlanzeige.« Clancy blickt mürrisch. »Wir haben schon alles mit der UV-Lampe abgeleuchtet. Ein paar Tröpfchen da vorn am Ausgang auf der Ostseite der Kirche, aber minimal. Als wär der Scheißkerl hier rausgeschwebt wie ein Geist.« Er deutet mit dem Kinn nach unten auf das Blut. »Was meinst du?«

»Ich würde sagen, da stand wahrscheinlich ihre Handtasche. Hat ungefähr die richtige Größe und Form.«

Die hakennasige Kriminaltechnikerin kommt zurück. »Verzeihung«, sagt sie schüchtern und schiebt sich an mir vorbei. Noch mehr Fotos, noch mehr Markierungen.

»Wann war der letzte Gottesdient?«, frage ich Clancy.

»Laut Mrs. Berry war der um eins zu Ende.«

»Sechs Stunden.« Ich blicke nach unten. »Er hat sich große Mühe gegeben«, murmele ich. »Sind die Opfer schon identifiziert?«

»Noch nicht. Mrs. Berry ist nicht nah rangegangen. Hat sie vom Altar dahinten gesehen und ist sofort los, Hilfe holen.«

Ich lasse den Strahl der Taschenlampe über den Rücken der Frau wandern. Die Stichwunden sind glatt. Soweit ich das sehe, sind die Ränder nicht ausgefranst. Das Messer, mit ihrem Blut besudelt, in die Hand des männlichen Opfers gelegt. Beide sind Ende dreißig oder Anfang vierzig.

Und ich sehe ihn. Den Killer. Wie er sich über die Körper beugt, blutige Gliedmaßen in die richtige Position bringt. Er tritt zurück, inspiziert sein Werk. Ich spüre ihn hinter mir, so nah wie die Haut im Nacken. Er schaut zu. Schaut zu, wie ich seine Arbeit betrachte; sein Atem hängt noch in der abgestandenen Kirchenluft.

Ich blicke über die Leichen hinweg auf die glänzenden Bankreihen, wo ich als Kind saß, unruhig auf dem harten Holz herumrutschte, sauber geputzte Schuhe in das rotbraune Kniepolster gedrückt, die weißen Schuppen auf den Schultern der Männer und Frauen vor mir zählte. Die tiefe monotone Stimme des Pfarrers, die meine Augenlider schwer machte, mich in einen Zustand schläfriger Langeweile lullte.

Dann ein letzter Blick auf die Opfer. Auf den Tatort dieses Mörders, und wieder denke ich, dass diese Körper in Position gebracht wurden. Dass dafür einige Planung erforderlich war. Solche Fälle rauben Detectives nachts den Schlaf. Nicht nur, weil sie grässlich und brutal sind, sondern weil ich beim ersten Blick auf den Tatort denke: Es wird noch mehr geben.

Die Spurensicherer arbeiten um uns herum: tüten Beweise ein, etikettieren, sammeln und fotografieren, damit wir den Tatort später rekonstruieren können. Ich wende mich ab, gehe zum Ausgang, Clancy neben mir. »Ich rede mit Mrs. Berry«, sage ich. »Nehme ihre Aussage auf, wenn sie dazu in der Lage ist. Wer hat den Anruf entgegengenommen?«

Er runzelt die Stirn, blickt auf seine Füße, während er durch die Kirche geht und das blaue Plastik der Schuhüberzieher auf dem Parkettboden raschelt. »Die Zentrale. Hat ihn an Harcourt Street weitergeleitet, und die haben an uns übergeben.«

»Was? Harcourt Street wirft uns einen Knochen hin?«

»Eher einen Scheißamboss mit Felsbrocken obendrauf«, sagt er. »Wahrscheinlich hat sich der Sergeant die ganze traurige Geschichte angehört, sofort gecheckt, dass das einen gewaltigen Medienrummel gibt, und sich gedacht, so ein Mist wär doch bei uns besser aufgehoben.«

»Der Fall wäre sowieso bei uns gelandet. Mir ist lieber, wir sind von Anfang an dran, bevor andere was vermasseln.«

Wir treten hinaus ins dämmerige Licht. Der Himmel zieht sich zu. Die Wolken werden dunkler. Der nächste Regen bahnt sich an. Schon sind die ersten Presse-Vans da. Auf der Straße werden Autos langsamer, Fenster heruntergelassen. Fahrer starren und können es nicht fassen: ein Tatort in einer Kirche. Die Gardaí, die die äußere Absperrung bilden, sind aufmerksam, fordern die Leute zum Weitergehen auf, aber zwei weißhaarige Frauen bleiben stur stehen, auf ihre Einkaufstrolleys gestützt, die Gesichter angespannt vor Sorge. Ich stelle mir die morbide Neugier vor, die in ihren Augen glimmt.

Mrs. Berry sitzt in einem Gardaí-Wagen. Die Tür steht offen, und als ich näher komme, steigt sie aus, zieht ihre Strickjacke zu und faltet die zitternden Hände vor dem Bauch. Die typische Kirchenmaus. Dünn, ordentlich zugeknöpft, mit einem Kruzifix, das über dem Kragen ihrer Bluse schimmert.

«Mrs. Berry«, sagt Clancy. «Das ist Detective Chief Superintendent Frankie Sheehan.«

Sie nickt mir knapp zu. »Hallo.«

Ich zücke mein Notizbuch. »Mrs. Berry, meinen Sie, Sie können mir ein paar Fragen beantworten?«

»Ich denke schon.«

»Um wie viel Uhr sind Sie in die Kirche gegangen, um nach den Blumen zu sehen?«

»Um sieben. Hab ich schon gesagt.«

»Und seit ein Uhr, nach dem letzten Gottesdienst, hatten Sie die Kirche nicht betreten, ist das richtig?«

»Ja, vielleicht ein paar Minuten mehr oder weniger.«

Clancy entfernt sich, nickt mir über Mrs. Berrys Schulter zum Abschied zu. Er dreht sich um, geht zu seinem Wagen, überlässt mir die Blutspur.

»Sind Sie durch den Seiteneingang oder den Vordereingang gekommen?«

Sie wendet den Kopf, riskiert einen vorsichtigen Blick nach hinten zur Kirche. Sie schlingt die Arme um ihre Taille. »Seiteneingang, ist vom Haus aus näher.«

»Und der Haupteingang war abgeschlossen?«

»Bis Ihre Leute gekommen sind.«

Ich sehe den Verkehr auf der Straße, der gemächlich dahinrollt, sehe die Spaziergänger, die Familien, die Fahrradfahrer und frage mich, wie ruhig ein Sonntagabend um St. Catharine’s herum denn wohl sein könnte. Dann betrachte ich die kalte abweisende Kirche an ihrem düsteren Standort unter dem dunklen Blätterdach der Ulmen. Clontarf genießt den letzten Rest dürftiges Tageslicht, doch um die Kirche ist es bereits dunkel geworden.

»Es war sonst niemand hier, als Sie die Leichen entdeckt haben, und Sie haben auch vorher niemanden in der Nähe der Kirche bemerkt?«, frage ich.

»Wenn ja, hätt’ ich’s längst gesagt.«

Nah bei der Kirche steht ein kleines zweigeschossiges Haus aus rotem Backstein. Ich nehme an, dass der Pfarrer dort wohnt. »Sie leben im Pfarrhaus?«

»Ja.«

»Und dort waren Sie auch, bevor Sie wieder in die Kirche gegangen sind?«

»Ja. Sonntags sauge ich im ganzen Haus die Teppiche. Ich weiß, am siebten Tage sollst du ruhen und so weiter, aber das kann nun mal nicht jeder.«

»Aber vom Haus aus hat man Blick auf den Platz vor der Kirche.«

»Ich achte doch nicht darauf, wer da alles rumläuft«, sagt sie mit einem resoluten Nicken. »Ich hab selbst genug um die Ohren.« Aus unerfindlichen Gründen ist das für sie ein Anlass, sich zu bekreuzigen.

»Würden Sie mir bitte genau schildern, was Sie getan und gesehen haben?«

Sie presst für einen Moment unwillig die Lippen zusammen, dann deutet sie mit dem Kopf Richtung Kirche. »Ich bin durch die Seitentür rein und direkt zum Altar, um die Blumen von der Mittagsmesse einzusammeln. Ich hab sie praktisch sofort gesehen.« Sie schnappt nach Luft. »Ich hab einen Moment gebraucht, bis ich begriffen hab, was ich da sehe. Und vielleicht hab ich ein oder zwei Schritte vom Altar in den Mittelgang gemacht, aber sobald ich sicher war, bin ich raus, um jemanden anzurufen.«

»Und was haben Sie gesehen?«

»Einen Mann – einen Priester, wie’s aussah – und eine Frau. Tot.«

»Dann haben Sie jemanden angerufen. Wen?«

»Zuerst hab ich versucht, Father Healy zu erreichen. Als der sich nicht gemeldet hat, hab ich die Polizei angerufen.«

»Father Healy?«

»Unser Pfarrer.«

»Dann ist das da drin nicht Ihr Pfarrer?«

Sie schüttelt den Kopf, eine kleine Bewegung; weiches graues Haar fällt ihr über die Stirn. »Nein.«

»Sind Sie sicher? Sie sind doch nicht nahe an die Toten rangegangen.«

»Father Healy ist am Bauch ein bisschen besser gepolstert und hat graueres Haar.«

»Was ist mit der Frau?«

»Die hab ich kaum gesehen.«

»Wo ist Father Healy jetzt?«

»Sonntags macht er Hausbesuche. Ich hab ihm eine Nachricht aufs Handy gesprochen. Aber manchmal macht er das aus, weil er nicht gestört werden will.« Letzteres sagt sie mit einem leicht trotzigen Unterton, als wollte sie andeuten, dass auch wir ihn nicht stören sollten.

»Verstehe«, entgegne ich. »Clontarf ist eine ziemlich weitläufige Gemeinde für einen einzelnen Pfarrer. Hat er erwähnt, wohin er wollte, vielleicht eine Straße genannt?«

Die Haut auf ihrer Stirn runzelt sich wie Seidenpapier über den Brauen. »Könnte sein, dass er was von Sybil Hill gesagt hat. Da ist er öfter, aber ich hab nur mit halbem Ohr hingehört.«

Hinter mir hält ein Auto an, und Mrs. Berrys Gesicht entspannt sich erleichtert. »Ah, da ist er ja. Father!«, ruft sie.

Father Healy ist ein großer Mann, sein Gesicht ist das einzig Schmale an ihm. Kinn und Hals verjüngen sich in den engen Kragen hinein, ansonsten verbreitert sich sein Körper unaufhaltsam Richtung Bauch.

»Mrs. Berry, was ist denn hier los?«, fragt er, während er über den Kirchplatz stolpert.

Ich erkenne ihn nicht. Wie auch? Schließlich habe ich keine Kirche mehr betreten, seit mir klar wurde, dass Beten und Handeln einander häufig in die Quere kommen. Aber dennoch, in einem Ort wie Clontarf findet wohl kaum ein Gespräch statt, in dem nicht irgendwann der Name des Gemeindepfarrers fällt.

Er bleibt vor uns stehen, sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Besorgnis und Angst. Die schwerlidrigen Augen sind weit aufgerissen, Röte steigt ihm langsam in die Wangen.

Mrs. Berrys Arme lösen sich von ihrer Taille. »Da liegen Tote in der Kirche, Father. Ich bin bloß reingegangen, um die Blumen zu holen.«

Er legt eine Hand sanft auf die Schulter der Haushälterin, die sich prompt zu beruhigen scheint und die Hände in Gebetshaltung vor die Brust hebt.

»Father Healy«, stellt er sich vor, lässt dann Mrs. Berrys Schulter los und ergreift meine Hand. Er drückt sie leicht, tätschelt dabei meine Finger.

»DCS Frankie Sheehan.«

Er ist mir unangenehm nahe. Seine Augen sind auf gleicher Höhe wie meine Schädeldecke, sodass er auf mich herabsieht, sein Atem warm in der kühlen Abendluft.

Ich mache einen kleinen Schritt rückwärts, schaue zu ihm hoch. »Father Healy, die Kirche und ihre Umgebung sind jetzt leider ein Tatort. Sie sollten sich darauf einrichten, heute woanders zu übernachten.«

Er blickt über meine Schulter, reckt den Hals, sodass ich die wunde Haut sehe, wo der Kragen über seine Bartfollikel scheuert. »Wir müssen das Pfarrhaus verlassen?«

»Sie müssen nicht, aber es wäre vielleicht ratsam.«

Er hebt einen Arm, winkt Mrs. Berry zu sich. Sie tritt neben ihn, die Augen demütig niedergeschlagen. »Wir kommen schon zurecht«, sagt er. »Um wen handelt es sich, Detective?«

»Ich hoffe, dass Sie uns in dieser Frage helfen können. Die Verstorbenen sind ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt die Amtstracht eines Priesters.«

Seine Augen weiten sich. »Ein Priester? Wer tut so etwas?«

»Das wollen wir herausfinden.« Er blickt entsetzt, und sein Doppelkinn über dem steifen Stehkragen beginnt zu beben. »Meinen Sie, Sie könnten uns helfen, die Opfer zu identifizieren?«

Er nickt. »Sicher, sicher, ich kann sie mir ansehen.«

»Danke. Hier entlang.« Ich strecke den Arm aus, warte darauf, dass er vorausgeht.

Er zögert, wechselt einen unsicheren Blick mit Mrs. Berry, ein kurzer Moment des Rückzugs. Dann tätschelt er rasch den Unterarm seiner Haushälterin, strafft die Schultern und geht vor mir her Richtung Kirche.

Ich erkenne den Moment, als er die Toten sieht. Sein Gang verlangsamt sich, der schlurfende Rhythmus seiner Schritte stockt. Er beugt den Arm und hebt eine Hand vor den Mund.

Ich trete neben ihn, sehe, wie die rosa Flecken in seinem Gesicht verschwinden, die Haut um die Augen blass wird. Höre sein zischendes Einatmen unter der Hand. »Erkennen Sie eine der Personen?«, frage ich.

»Allmächtiger«, sagt er. »Allmächtiger.« Er nickt. Die Hand auf seinem Mund fällt herab. »Geraldine, Ger Shine. Sie … ähm … eine nette Frau. Allmächtiger.« Seine Augen huschen zwischen den beiden Opfern hin und her, verweilen dann auf der Frau. Graue Augenbrauen zusammengezogen. »Ach, Geraldine«, flüstert er. Seine Stimme ist mit Bedauern erfüllt, als hätte er eine Schlacht verloren. »Sie ist jeden Sonntag in die Messe gekommen. Aber manchmal war sie auch hier, um über Dinge zu reden, die sie belasteten.«

»Was für Dinge?«

Es scheint ihn gewaltige Anstrengung zu kosten, aber schließlich reißt er den Blick vom Gesicht der Frau los, dreht seine Schultern zu mir, als könnte er es nicht ertragen, noch einmal hinzusehen. »Das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen, sie hat es mir im Vertrauen erzählt.«

»Sie ist tot.«

Er reckt den Kopf. »Das ist mir klar, Detective.«

»Was ist mit dem männlichen Opfer? Dem Priester. Kennen Sie ihn?«

Ein ganz kurzer Blick auf die Leiche des Mannes. »Ja. Aber er ist kein Priester.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Das ist Alan Shine. Geraldines Ehemann.«

KAPITEL 3

Ich streife meinen Mantel ab und schließe die Tür, um die Geräusche aus dem Großraumbüro auszusperren. Die Tatortfotos sind auf meinem Schreibtisch ausgebreitet. Ich betrachte sie im Stehen, studiere die Opfer. Wir sind unsere Gewohnheiten, unser Verhalten, und das gilt auch für einen Mörder. Ein Tatort kann uns viel über den Täter verraten. Ein chaotischer Tatort, eine Waffe, die gerade zur Hand war, zufällig im Kampf gepackt, eine Fülle an Spuren, dergleichen deutet auf einen planlosen Mörder hin. Solche Taten sind häufig nachlässig, schlecht ausgeführt und meistens blutig, weil der Killer impulsiv handelt, aggressiv, sich nur auf den Moment und den Akt des Tötens konzentriert. Diese Täter sind in der überwiegenden Zahl männliche Einzelgänger, haben ein schlechtes Sozialverhalten und einen niedrigen IQ.

Ich lege die Finger auf Alan Shines aufgedunsenes Gesicht. Der Shine-Mörder ist anders. Er geht methodisch vor, zählt zu der Sorte Killer, die Stoff für Filme, für Kriminalromane bietet. Für gewöhnlich sind sie fünfundzwanzig bis vierzig Jahre alt, männlich, normal oder überdurchschnittlich intelligent, und sie hinterlassen kaum Spuren oder Beweise an ihren Tatorten. In der Regel sind sie Psychopathen. Aber was einen solchen Täter von anderen abhebt, das ist seine Fähigkeit, ein angemessenes Sozialverhalten vorzutäuschen. Er ist ein Chamäleon. Ein Gestaltwandler. Und er genießt es, in die Nähe des Grauens zu kommen, das er erzeugt hat.

Ich nehme das Foto von Alan Shine in die Hand. Er war eher dünn, der Bauch rundlich aufgebläht, hatte eine gute Größe. Es ist nicht leicht, jemanden zu erwürgen, und es kann nicht leicht gewesen sein, Alan Shine zu überwältigen. Ich lege das Foto zurück auf den Schreibtisch. Father Healy hat angedeutet, dass Alan ein Alkoholproblem hatte, wollte aber nicht genauer werden. Nur, dass er noch immer jede Woche in den Gottesdienst kam und jahrelang Laiendiakon der Gemeinde war. Als Antwort auf meine verwirrte Frage, was genau das ist, sagte er, dass Alan die Kommunion erteilte und sich an anderen kirchlichen Aktivitäten beteiligte. Er sagte das mit einer Mischung aus Verbitterung und trotzigem Stolz, die ich nicht richtig einordnen konnte. Es schien, als ob Healy Probleme mit Alan Shine gehabt habe, aber nicht wolle, dass ich den Mann verurteilte. Wofür, konnte ich nicht aus ihm herausbekommen.

Ich betrachte das Bild der Frau, die mit einem einzigen wuchtigen Schnitt quer durch den Hals getötet wurde. Ich schließe die Augen, versuche, mich in den Täter hineinzuversetzen, stelle es mir vor, das Gefühl der Befreiung, der Erleichterung, das der Killer empfunden haben muss, als ihr Körper aufgab, gegen seinen sank. Sie gleitet herab, schlaff und schwer, auf den Boden. Sein Atem weht über sie, getränkt mit seiner Begierde. Endlich, endlich passiert es wirklich. Er sieht, wie das Leben in ihren Augen erlischt, wartet, bis sie völlig reglos ist. Dann zieht er ihr die Schuhe aus, das Top, den BH. Seltsam, dass er das macht, die Hose aber anlässt. Ein Ausdruck des Respekts? Oder eine Botschaft, dass dieser Mord nicht sexuell motiviert ist? Er richtet sich keuchend auf. Bewundert den gespenstischen Glanz ihrer Haut in der schattenhaft dunklen Kirche. Dann geht er ihren Mann holen, brennt darauf, das Bild zu vollenden, das zu rekonstruieren, was in seinem Kopf gelebt hat. Und danach, wie lange bleibt er noch da? Es muss ihm schwergefallen sein, diese Szene zu verlassen, den Schlusspunkt eines aufwendigen Plans.

Ich denke an mein Treffen mit Tanya. An Seán Hennessy. Ein Mörder der anderen Art. Ein planloser Mörder, der von Gefühlen getrieben tötet, spontan, ganz gleich wie brutal. Er entspricht nicht dem Profil unseres Täters, aber unwillkürlich vergleiche ich ihn mit dem Fall, um festzustellen, ob er passen würde. Vielleicht hat die Zeit ihn neu geformt. Ihn verändert. Ich mache mir eine Notiz, dass wir nachprüfen sollen, wo er sich unmittelbar vor unserem Treffen aufgehalten hat. Es wäre tollkühn, sich gleich nach einem Mord mit einer Chief Superintendent und einer Strafverteidigerin zu treffen. Aber es gibt Täter, die das tun würden.

Ich setze mich, die Augen noch immer auf die Fotos gerichtet. Mann und Frau. Das männliche Opfer bedrohlich, ein Messer in der Hand. Keine äußerlich erkennbaren Verletzungen, seine Haltung im Tod eine Demonstration von Dominanz. Ich kann gerade eben die Buchstaben auf dem Messer erkennen, die plumpen Kratzer, die das Wort WAFFE ergeben. Mein Blick gleitet zu den Verletzungen, die Geraldine Shine post mortem zugefügt wurden, den Stichwunden im Rücken. Eine dunkle Erzählung. Und wieder beschleicht mich das Gefühl, den Beginn von etwas zu betrachten, nicht das Ende.

Es klopft an der Tür, und mein Partner Baz kommt herein. Er hat die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben, sein Hemd ist an den Schultern nass. Nachdem ich mich ohne festen Partner in der Gardaí hochgearbeitet hatte, wurde mir letztes Jahr in Gestalt von Barry Harwood einer zugeteilt, ein Detective, der nach einem nicht ganz reibungslosen Start von der Sondereinheit in die Ballistik-Abteilung gewechselt war. Dann, nachdem er erkannt hatte, dass Ballistik stinklangweilig ist, kehrte er just zu dem Zeitpunkt zurück, als die da oben meinten, ich müsste an die Leine genommen werden. Und da sie wussten, dass eine Leine nicht funktionieren würde, banden sie mir stattdessen einen anderen Detective auf den Bauch. Das hätte durchaus funktionieren können, wenn sie nicht ausgerechnet Baz ausgesucht hätten.

Baz hält sich an die Regeln, klar, aber er ist kein Arschkriecher. Seine Vorsicht tritt nur dann zutage, wenn unsere Sicherheit auf dem Spiel steht. Sobald man ihm jedoch sagt, dass wir unseren Täter schnappen werden, wenn wir uns in eine bestimmte Gefahr begeben, streift Baz sich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Stichschutzweste über und fragt, wo’s langgeht. Häufig braucht man genau das in unserem Job. Manchmal stellen sich uns Hindernisse in den Weg, die es unmöglich machen, erst noch eine Genehmigung zu beantragen oder ein Formular auszufüllen. Getrieben von dem Willen, einen Täter zu schnappen, koste es, was es wolle, arbeiten wir die Nächte durch, mit oder ohne Gehaltszulage. Machen unsere Arbeit. Spüren unseren Mann auf und verhaften ihn. Und manchmal hat das seinen Preis. Ich habe Narben, die das beweisen.

Es stört auch nicht, dass Baz auf eine etwas unkonventionelle Art gar nicht mal schlecht aussieht. Er ist groß, ein bisschen kantig, und sein Hemd steht am Hals immer einen Tick zu weit ab, ob mit oder ohne Krawatte. Aber sein permanent leicht hochgezogener linker Mundwinkel und die klaren grauen Augen verleihen ihm einen gewissen jungenhaften Charme, der sich bei Vernehmungen schon oft als nützlich erwiesen hat. Er wohnt gut eine Autostunde von der Innenstadt entfernt, teilt sich in Blanchardstown eine Dreizimmerwohnung mit einer zickigen Französischlehrerin namens Arielle oder vielleicht auch Adriane. Laut Baz hat sie alles in der Wohngemeinschaft präzise zweigeteilt. Getrennte Küchenschränke, etikettierte Fächer im Kühlschrank und ein Putzplan, der nahezu Gesetzesstatus hat. Kein Wunder also, dass er nach einer langen Nacht oder einem anstrengenden Tag oft auf meinem Sofa schläft, weil er es reizvoller findet, Tatorte zu studieren und über Mordfälle zu reden, als sich durch die Dubliner Verkehrsstaus nach Hause zu quälen und dort die von seiner Mitbewohnerin gezogenen unsichtbaren Demarkationslinien einzuhalten.

Alles in allem, und anfangs hab ich mich wirklich dagegen gewehrt, ist Baz ein guter Freund geworden. Ich glaube, nicht mal er weiß, wie das passieren konnte. Aber er hat bewiesen, dass er mir den Rücken freihält. Und wir haben beide dasselbe Ziel. Wie Zecken an einem Hund lässt keiner von uns locker, bis wir runterfallen, vollgesogen mit den Antworten auf den Fall, an dem wir gerade arbeiten. Unser Job füllt uns aus, ob wir schlafen oder wach sind. So etwas findet man nur selten bei einem Partner, aber auf Baz trifft es zu. Solange ich daran denke, ihn regelmäßig zu füttern, hängt er sich genauso verbissen in einen Fall rein wie ich.

»’n Abend«, sagt er, lässt sich in den Sessel mir gegenüber fallen und streicht sein Haar zurück. »Sauwetter. Die Kälte würd mir nicht so viel ausmachen, wenn nur endlich der Regen aufhören würde.«

»Warst du am Tatort?«

»Ja. Die Leichen sind jetzt abtransportiert. Putzkolonne ist im Anmarsch. Aber inzwischen wimmelt’s da schon von Reportern.«

Baz wirkt regelrecht beschwingt. Es ist einige Monate her, dass wir es mit einem derart brutalen Mordfall zu tun hatten. In der Zwischenzeit hatten wir am Schreibtisch alle Hände voll zu tun mit Papierkram, Planung von Arbeitsabläufen, Verfassen von Aktennotizen, und jetzt sehe ich das Glimmen in seinen Augen.

Ich schiebe ihm die Tatortfotos hin. »Nicht die übliche Dubliner Kost.«

Er beugt sich vor, nimmt die Bilder in die Hand. »Ist lange her, dass ich so was gesehen habe, wenn überhaupt schon mal.«

Wir stehen mit diesem Fall ganz am Anfang. Alles liegt sauber und ordentlich vor uns. Noch wurden keine Fehler gemacht. Wir können uns der Illusion hingeben, dass uns die Lösung in den Schoß fallen wird, wenn wir uns genau an die Regeln halten. Das ist ein gutes Gefühl, und Baz sprudelt förmlich über davon. Ich bin nicht so naiv, aber vorläufig lasse ich mich gern von seiner Hoffnung mitziehen.

»Ist Keith noch draußen?«, frage ich.

»Als ich ankam, hat er gerade zusammengepackt. Kein einziger Finger- oder Fußabdruck? Wie geht das? Wie konnte der Kerl in die Kirche kommen und ein Blutbad anrichten, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen?«

Ich nehme Abzüge der Fotos und hefte sie an die Korkpinnwand über meinem Schreibtisch. »Irgendeine Spur gibt’s immer, wart’s nur ab.«

»Als ich da war, hat das männliche Opfer schon ganz schön gestunken.«

»Wir wissen also, dass wir nach jemandem suchen, der eine Leiche tagelang lagern kann. Wo gibt es Kühlschränke oder Eistruhen, die dafür groß genug sind? Lagerräume oder – hallen, Keller.«

»Damit könnten wir anfangen, vorausgesetzt, der Täter ist von hier.«

»Ich denke, wir sollten mit Schuppen anfangen, irgendwelchen Außengebäuden. Der Mörder muss das Gefühl gehabt haben, dass er eine Leiche dort ohne Risiko aufbewahren kann. Nicht bei sich zu Hause. Zu riskant.«

»Du meinst, er ist ein Einzelgänger?«

»Nicht unbedingt. Er ist ganz besonders vorsichtig, vielleicht auch ein bisschen nervös. Es musste genau so laufen, wie er es sich vorgestellt hat. Vielleicht hat er zum ersten Mal getötet. Deshalb wollte er alles richtig machen. Hat alles gut durchdacht. Er glaubt, dass wir es nur dann begreifen.« Ich blicke nach unten auf die Tatortfotos. »Wir müssen begreifen.«

Baz steht auf, geht zum Wasserspender in meinem Büro, füllt einen Plastikbecher, setzt sich wieder hin und trinkt einen Schluck.

»Ger und Alan Shine. Ein Ehepaar«, sagt Baz. »Haben wir ein Motiv?«

»Noch nichts Offensichtliches. Wir sammeln noch Infos von den Angehörigen.« Ich nehme meinen Stift, mache mir eine Notiz, dass ich die Opferschutzbetreuerin anrufen muss. »Die Priesterkluft, kannst du dir erklären, was die sollte?«

»Ich glaube, die nennt man Priesterzivil«, berichtigt Baz.

»Stimmt, hab deine Vergangenheit als Messdiener vergessen. Irgendeine Idee?«

Er dreht das Foto von Alan Shine zu sich, betrachtet es eine Weile. »Vielleicht ein satirischer Angriff auf die Kirche? Bringt man dafür jemanden um?«

»Ausgeschlossen ist gar nichts.« Ich hatte schon Fälle, wo die Täter ihre Partner umgebracht haben und dann in einem seltsamen Akt von Reue oder Kontrolle tagelang neben der Leiche gegessen, geschlafen und sogar ferngesehen haben, bis der Geruch die Nachbarn alarmierte. Es gibt alles, ein Kaleidoskop von Möglichkeiten. »Wenn du es dir vorstellen kannst, kann der Mörder das auch.«

»Vielleicht ist der Mörder bloß kreativ gewesen, oder womöglich ist es noch einfacher: ein eifersüchtiger Liebhaber? Geldprobleme?«, schlägt Baz vor.

»Geld? Würde mich wundern, sollten wir aber nicht ausschließen.« Ich reiche ihm eine Nahaufnahme von dem Messer, mit dem eingekratzten Wort WAFFE. »Diese Morde erfüllen ein tiefes emotionales Bedürfnis in unserem Täter. Er will, dass wir ihn hören. Er hat uns eine Botschaft geschickt.«

Baz hält das Foto hoch, dreht es um. »Was soll das für eine Botschaft sein?« Er atmet tief aus. »Herrgott. Früher haben die Leute wenigstens bloß ihre Feinde umgebracht. Scheiße, unser Leben ist auch nicht gerade ein Zuckerschlecken, selbst wenn’s gut läuft. Aber dann sagst du dir, manchmal kommt’s eben knüppeldick. Deshalb wachst du doch nicht eines Morgens auf, schneidest jemandem die Gurgel durch und stopfst einen Mann in deine Tiefkühltruhe zu den Fischstäbchen.«

»Freut mich, das zu hören.« Ich warte, bis seine Schultern sich wieder entspannt haben, schiebe dann die Fotos in die Akte und gebe sie ihm. Unsere Aufgabe für heute: uns durch das Gitterwerk dieser Morde zu schlängeln. »Auf zur Einsatzbesprechung.«

Detective Steve Garvin hat schon alles vorbereitet. Steve untersucht keinen Tatort, wie wir anderen das tun, sondern zieht seinen Schreibtisch und das bläuliche Licht des Computers vor. Er ist unsere ureigene fünfte Dimension, bereist die virtuellen Welten unserer Opfer und Verdächtigen mit Blick auf beide Ebenen. Technologie, Infrarotanalyse, das kleine Leben, das in einem Mobiltelefon steckt, all das treibt unweigerlich Farbe in sein schmales Gesicht.

Er sitzt in der ersten Reihe. Die roten Haare sind ein starker Kontrast zu seinem Teint. Eine dicke Silberkette ist am Halsansatz sichtbar, sein magerer Körper sitzt zusammengesunken da wie der eines verlegenen Teenagers, die Füße hat er um die Metallbeine des Stuhls gehakt. Er trägt ein dünnes weißes Hemd, doch darunter ist ein schwarzes T-Shirt mit einem Metallica-Logo, das sich in kräftigen Buchstaben über seine Brust erstreckt. Mir fällt auf, dass er seinen Ziegenbart abrasiert hat, aber dafür hat er sich ein neues schrilles Accessoire zugelegt, eine schwarze Plastikscheibe im rechten Ohr. Seine langen Finger trommeln mit einem Stift auf sein Notizbuch, als wüsste er nicht recht, was er mit seinen Händen anfangen soll, wenn er keine Tastatur vor sich hat.

Zwei Stuhlreihen sind im Halbkreis unter den grellen Bürodeckenlampen aufgestellt. Das übrige Team hängt schlaff auf den Sitzen, aber alle Augen sind hellwach und aufmerksam. DI Paul Collins ist noch an seinem Schreibtisch und beendet gerade ein Telefonat. Paul ist Mitte vierzig oder etwas jünger und dick. Die Sensibleren würden ihn wohl eher als mollig beschreiben. Vom Außendienst hat er sich vor langer Zeit verabschiedet und füllt seine Rolle lieber auf der anderen Seite des Schreibtischs aus. Er ist ein stiller Mann. Am Telefon hingegen kann er ausgesprochen leutselig werden. Zumindest leutseliger als seinen Kollegen gegenüber. Er lebt allein, soweit ich weiß, bringt immer seinen Lunch von zu Hause mit und holt in der Mittagspause seine Sandwiches und Kekse aus einer Tupperdose hervor. Der einzige Hinweis auf eine Lebensgefährtin ist das gerahmte Foto einer getigerten Katze neben seinem Computer. Seine Leibesfülle oder vielleicht seine soziale Unbeholfenheit beschert ihm eine gewisse herablassende Zuneigung vom übrigen Team. Viele Schulterstupser und Rückenklopfer, begleitet von nachsichtigem Lächeln.

Er beugt sich über seinen umfangreichen Bauch nach vorn und legt den Hörer auf, wobei er mir einen besorgten Blick zuwirft. Das Hemd sitzt zu eng, und er hat dunkle Flecke unter den Achselhöhlen. Er wischt sich die Stirn und kommt dann zu uns anderen vor das Whiteboard.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist fast ein Uhr morgens, aber unsere Arbeit fängt gerade erst an. Wir haben jetzt ein knappes Zeitfenster, um alles richtig zu machen. Patzer in den ersten vierundzwanzig Stunden sind nicht wiedergutzumachen.

Ich setze ein aufmunterndes Lächeln auf. »Ich hoffe, Sie haben alle genug Kaffee intus. Es wird nämlich eine lange Nacht.«

Einige aus dem Team erwidern mein Lächeln, andere sacken ein bisschen zusammen, greifen nach ihren Handys, vielleicht, um eine Nachricht an Ehepartner oder Lebensgefährten zu schicken, dass sie sie erst wieder zu Gesicht bekommen werden, wenn wir unseren Killer auf dem Radar haben. Ich warte, bis wieder alle Blicke auf mir ruhen, bis es still im Raum wird und hungrige Konzentration einsetzt.

»Okay«, sage ich. »Fangen wir an.«

Die Fotos der Opfer, lächelnde Profilbilder, grinsen mir über die Schulter. Schnappschüsse von davor. Ich spüre diesen Druck, das Gewicht des Lebens an meinem Rücken, bedeutsam, das Fragen stellt: Warum? Wer? Die Hitze im Büro atmet über meine Haut, legt sich mir feucht und klebrig um den Hals.

»Die Opfer.« Ich räuspere mich, trete zur Seite und stelle sie vor. »Geraldine und Alan Shine. Ehepaar. Keine Kinder. Geraldine hat von zu Hause aus gearbeitet und online Make-up verkauft. Alan war Elektriker. Sie waren knapp bei Kasse, konnten aber ihre Rechnungen bezahlen. Keine Schulden, soweit bisher bekannt. Sind die Angehörigen verständigt worden?«

Helen, Detective Flood, steht auf, räuspert sich. Helen trägt ihre Rangabzeichen mit Stolz. Ihre bevorzugte Arbeitsmontur: Bluse bis zum Hals zugeknöpft, praktische, strapazierfähige Hose mit an den Beinen aufgenähten Klettverschlusstaschen, das Haar so straff, wie Haarwurzeln und Kopfhaut es erlauben, zu einem Knoten zurückgebunden. Sie ist eine hartnäckige, scharfsinnige und verbissene Polizistin mit einem Hang zum Übereifer, der gelegentlich in Anerkennungssucht umschlägt. Aber im Grunde sind wir alle genauso, wenn wir an einem Fall arbeiten, nur dass wir es besser kaschieren können.

Sie zupft die Knie ihrer Hose gerade. »Ja. Alan Shines Geschwister, fünf ältere Brüder, sind vor einigen Jahren nach Australien ausgewandert. Die Mutter ist verstorben.« Sie nickt, als wollte sie sagen, wenigstens bleibt ihr das jetzt erspart. »Der Vater lebt in Cork. Geraldines Eltern, Aileen und Ken Garry, leben beide noch und wohnen in Drogheda, im County Louth. Geraldine hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, Fiona. Sie ist unverheiratet und lebt bei ihren Eltern. Laut Fiona hatte Geraldine seit etwa zwei Jahren keinen regelmäßigen Kontakt mehr zu ihnen. Allerdings haben sie sich letztes Jahr zum Weihnachtsessen getroffen.«

»Gab’s einen Grund, warum sie keinen Kontakt hatten?«

»Fiona hat gesagt, sie hatten ›Differenzen‹. Die Nachbarn, die wir bislang befragt haben, deuten an, dass der Ehemann gewalttätig war. Sie haben häufig laute Streitereien mitbekommen. Geschrei. Weinen.«

»Irgendwelche Notrufe? Waren Kollegen da, haben sich vergewissert, dass Mrs. Shine nicht in Gefahr war?«

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