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Triff mich über den Wolken

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Ein One-Way-Ticket zur Liebe?

Die Krankenschwester Olive Murphy hat Flugangst und hält sich während des Starts noch immer an der Armlehne ihres Sitzes fest. Als der Pilot einen medizinischen Notfall ausrift ergreift Olive sofort die Chance und rettet ein Leben. Doch der Flug wird ersatzlos gestrichen – und Olive sitzt fest. Zu ihrem Glück bietet Stella Soriano, die umwerfend attraktive Co-Pilotin, ihr an, sie mit dem Auto mitzunehmen. Die beiden verbringen einen magischen Tag zusammen, und Stella macht einen überraschenden Vorschlag: Würde Olive ihre Fake-Freundin sein? Als die beiden sich näher kommen, fühlt sich das, was eigentlich nur Fake sein sollte, jedoch immer echter an. Könnte dies die romantischste Fahrt ihres Lebens werden – oder ein epischer Absturz?


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008546

Leseprobe

Allen, die in der Pflege arbeiten. Die mit Depressionen, Ängsten oder posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben. Die einen geliebten Menschen leiden sehen und gelernt haben, mit dem Schlimmsten zu rechnen. All jenen, die jeden Tag die Höhen und Tiefen des Menschseins erleben und trotzdem nicht hinwerfen, sondern sich ein paar Stunden später wieder zum Dienst melden und einfach ihre Arbeit machen.

Lasst euch nicht unterkriegen von den Pandemien dieser Welt und wenn euch statt einer Gehaltserhöhung applaudiert und mal wieder eine Runde Pizza spendiert wird. Ich liebe und schätze euch alle und weiß, was wir jeden Tag leisten. Ich hoffe, ich kann euch mit diesem Buch ein wenig zum Lachen bringen.

Die Sterne schienen zum Greifen nah, und nie zuvor hatte ich so viele gesehen. Ich habe schon immer gesagt, dass der Reiz des Fliegens der Reiz der Schönheit sei, aber in jener Nacht war ich mir dessen gewiss.

Amelia Earhart

Anmerkung der Autorin

Ich begann Triff mich über den Wolken im Chaos des ersten Pandemiejahres nach ein paar besonders harten Schichten im Pflegedienst zu schreiben. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, in der ich mit einem wirklich tollen Team in der pädiatrischen Notfallversorgung arbeiten durfte, bin ich vor allem erstaunt über die vielen komischen Momente, die sich inmitten dieses Ausnahmezustands immer wieder ergaben. Ob nun das nach abgestandenem Tequila riechende Handdesinfektionsmittel oder die kleinen, zum Glück schon vertrockneten Käfer, die aus den von einem Freizeitpark gespendeten und zu Schutzkleidung umfunktionierten Regencapes herausfielen – jede Gelegenheit, gemeinsam zu lachen, stärkte uns und unseren Teamgeist.

Sowohl beruflich als auch privat habe ich die Erfahrung gemacht, dass komische und tragische Momente oft auf seltsame Weise miteinander verquickt sind. Es mag daran liegen, dass ich Liebesromane schreibe, aber mich tröstet die Vorstellung, dass Menschen sich selbst dann verlieben, wenn um sie herum alles zusammenbricht. Vor diesem Hintergrund finden sich in Olives und Stellas Geschichte auch einige schwerere Themen behandelt, darunter Krankheit, Tod und Sterben eines nahen Angehörigen, eine akute depressive Episode und Panikattacken, der Umgang mit einer unheilbaren neurologischen Erkrankung eines Elternteils sowie die Schilderung eines allergischen Schockzustands. Ich hoffe, es ist mir gelungen, diese Themen mit dem nötigen Einfühlungsvermögen und der Ehrlichkeit zu schreiben, die sie verdienen.

1

»Wir stürzen nicht ab. Wir stürzen ganz sicher nicht ab.«

Als die ersten Fluggäste sich nach ihr umdrehten, wurde Olive Murphy klar, dass sie es laut gesagt haben musste. Und weil sie ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer auf den Ohren hatte, hatte sie es vermutlich so laut gesagt, dass alle an Bord es hören konnten.

Sie schluckte, um den dicken Kloß in ihrem Hals loszuwerden.

Dummerweise wollte ihr Mund, und das war ganz und gar nicht typisch für sie, einfach keine Ruhe geben. »Tatsächlich liegen die Chancen, beim Absturz eines Verkehrsflugzeugs ums Leben zu kommen, bei gerade mal eins zu drei Komma drei sieben Milliarden. Und achtundneunzig Komma sechs Prozent der jährlichen Flugunfälle haben überhaupt keine Todesopfer zu beklagen.« Olive zerrte am Kragen ihres Sweatshirts. »Aber diese statistische Wahrscheinlichkeit gilt natürlich auch für die Menschen an Bord der Unglücksmaschinen – und trotzdem sind sie in einem brennenden Wrack gestorben!« Mit einem nervösen Lachen schaute sie sich um und hoffte, ein schwarzes Loch würde sich auftun, um sie zu verschlingen. Aber keine Chance, sie saß noch immer hier.

In einem gottverdammten Flugzeug.

Ihre Finger schlossen sich fester um die kleine weiße Tablette in ihrer Hand. Joni, die Ärztin auf ihrer Station, hatte sie ihr verschrieben. Leider hatte sie ihr nicht gesagt, wann genau sie sie nehmen sollte. Was, wenn sie noch Stunden auf dem Rollfeld herumstanden? Olive hatte bloß zwei Valium dabei, eine für den Hinflug und eine für den Rückflug. Ihre normalen Medikamente würden dafür nämlich nicht reichen.

Ihr Mund war plötzlich ganz trocken.

Sie nahm einen Geruch wahr, den es vermutlich nur in Flugzeugen gab, irgendwie metallisch und nach gefilterter, permanent ausgetauschter Luft. Der Geruch des Todes.

Okay, eher Angst als Tod.

Aber wie sollte sie das aushalten, zehntausend Kilometer hoch in der Luft mit diesem Geruch in der Nase, sich den Gesetzen der Physik widersetzend, den Gesetzen der Natur und nicht zuletzt den Gesetzen von Olive Murphys ungeschriebenem Leitfaden für alle Lebenslagen. Newton wollte ihr nicht aus dem Kopf, der alte Newton mit seinem Apfel und den Gesetzen der Schwerkraft. Was hochsteigt in die Lüfte, fällt auch wieder herunter, so will es das Gesetz. Wie ein Apfel, der vom Baum fällt. Oder eine Boeing 737 voller schreiender Menschen, zerschmettert in einem riesigen Erdkrater. Oder ein Sturzflug ins Wasser, ein gefundenes Fressen für Haie und Piranhas oder was immer sich in den Tiefen der Ozeane an Menschenfleisch labt.

Sie sollte weniger Discovery Channel schauen.

»Jetzt oder nie«, sagte sie und blickte auf die Valium in ihrer Hand.

Die Tablette war nur noch Millimeter von ihrem Mund entfernt, als das Flugzeug plötzlich einen Ruck machte. Die kleine weiße Pille flog ihr aus der Hand und kullerte auf den Gang. Olive schrie hell auf und verpasste dem Kind hinter ihr eine nicht jugendfreie Vokabellektion. Sie klammerte sich an die Armlehne und den Sitz vor ihr, als wären sie schon in der Luft und würden Loopings fliegen. Eine Flugbegleiterin kam vorbei, trat auf die Tablette und drückte sie mit dem Absatz ihrer Pumps in den Teppich.

»Oh mein Gott«, keuchte Olive.

Einer ausgebildeten Pflegefachkraft brauchte man nicht zu erklären, welcher Mikrokosmos an Keimen sich allein nach einem kurzen Gang durch den Flughafen an dieser Schuhsohle befand. Ekelhaft! Die zweite Tablette war im Trolley über ihr im Handgepäck. Ihr Blick schoss hinauf zum Gepäckfach, ihr linkes Augenlid zuckte wie die letzten Lebensgeister einer Maus im Maul einer Katze. Ihr Blickfeld verengte sich. Sie bekam erst einen Tunnelblick, dann ein Klingeln in den Ohren, das durch die Kopfhörer noch verstärkt wurde.

Atmen, Olive.

Sie würde ganz ruhig aufstehen, sich aus ihrem Koffer holen, was sie brauchte, und sich wieder setzen. Es war im Grunde ganz einfach. Alles kein Problem. Olive öffnete den Sicherheitsgurt.

Eine Flugbegleiterin mit blond toupierter Dolly-Parton-Mähne stürzte sich auf sie. »Wir starten gleich, Ma’am, Sie können jetzt nicht aufstehen.«

»Ich … ich brauche etwas aus meiner Tasche.«

Die pudrig rosafarbenen Lippen der Frau verzogen sich zu einem besänftigenden Lächeln. »Das können Sie machen, wenn wir unsere Reiseflughöhe erreicht haben.«

»Aber … es ist wegen meiner Tablette.« Olive klammerte sich, schon halb aufgesprungen, an die Armlehnen ihres Sitzes.

»Handelt es sich um ein lebenswichtiges Medikament?«

Olive schluckte. »Nein.«

Die Frau wies mit einem krallenscharfen Fingernagel auf Olives Sitz. »Dann bleiben Sie bitte an Ihrem Platz und schnallen sich wieder an.«

Olive ließ sich zurück in ihren Sessel fallen und schloss den Gurt. Kein Problem, sie würde es schon schaffen. Im Lauf des letzten Jahres hatte sie schon Schlimmeres überstanden. Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie die Reise wohl verlaufen würde, wenn Jake bei ihr wäre. Er würde sie ablenken, sie zum Lachen bringen. Ihr sagen, dass es eine reine Kopfsache sei, und wer eine Notaufnahme mit sechsundvierzig Betten nachts, allein, bei Vollmond, leiten könne, würde auch das hier überstehen. In Wahrheit würde er nichts dergleichen sagen. Vielmehr würde er Serienzitate aus Parks & Recreation bringen oder sie an den Haaren ziehen, wie er es früher gemacht hatte, als sie bei Familienfahrten hinten im Auto zweistimmig Disneysongs geschmettert hatten, bis ihre kleine Schwester zu heulen anfing und ihre Mutter sich verärgert umdrehte, um für Ruhe zu sorgen. Das würde Jake machen. Und er würde nicht eher aufhören, bis sie völlig vergessen hätte, dass sie statt im Auto in einem gottverdammten Flugzeug saß.

Aber er war nicht da, und genau das war der Punkt. Nur deswegen saß sie ja im Flieger. Und sie würde es schaffen. Für ihn.

Während sie Richtung Startbahn rumpelten, kontrollierte das Kabinenpersonal die Handgepäckfächer. Die Blondtoupierte bedachte sie mit einem extra prüfenden Blick, als wäre Olive ein Problemfall, den man besser nicht aus den Augen ließ. Wie eine Erstklässlerin, die schon am ersten Schultag nichts als Ärger macht. Olive hielt ihr Telefon fest und versuchte, alles andere auszublenden. Sie stellte die Musik lauter und ließ sich einlullen von Brandi Carlile, die sich die Seele aus dem Leib sang.

Denk an deinen sicheren Ort, deinen sicheren Ort, deinen sicheren Ort.

Musik. Natur. Topfpflanzen, viele Topfpflanzen. Modernes Design. Aber mit Samtbezügen, am besten alles mit Samt, weich und …

Das Flugzeug erzitterte.

Olive schrie erschrocken auf und fing sich noch mehr genervte Blicke von ihren erstaunlich ruhig wirkenden Mitreisenden ein. Klar, alles total entspannt. Wahrscheinlich würden sie noch Wochen später von der Verrückten auf ihrem Flug erzählen. Sie suchte nach ihrer Wasserflasche. Wasser wäre jetzt gut, Wasser war immer gut.

Außer man krachte mit dem Flieger rein.

Haie! Piranhas!

Ihre Kehle war rau wie Schmirgelpapier. Bevor sie auch nur einen Schluck trinken konnte, drang ein Dröhnen an ihre Ohren, das es sogar bis durch die Kopfhörer schaffte und Brandi Carlile übertönte. Das Flugzeug beschleunigte, Olive wurde in ihren Sitz gedrückt. Sie hielt den Atem an, als wollte sie vom Dreimeterbrett springen. Ein Hopser, dann ein seltsam erhebendes Gefühl. Sie riss die Augen auf, fuhr mit dem Kopf herum. Kein Ruckeln und Beben mehr, keine rüttelnden Räder unter ihnen. Kein Boden mehr. Sie flogen, glitten lautlos durch die Lüfte. Dann gab es ein rumpelndes Geräusch, das sie erneut zusammenfahren und sich an den Armlehnen festklammern ließ.

Eine knorrige Hand hob ihr den rechten Kopfhörer vom Ohr, vom Gangplatz neben ihr war eine knarrende Stimme zu vernehmen. »Keine Sorge, Schätzchen. Die haben gerade das Fahrwerk eingezogen.« Eine alte Frau, bestimmt schon weit über neunzig, grinste sie an – sie grinste wirklich – und tätschelte ihr beschwichtigend den Arm.

»Ah, okay.«

»Wird schon alles gut gehen.« Sie zeigte nach vorn zum Kabinenpersonal. »Achten Sie einfach auf die Flugbegleiter. Solange die ruhig sind, können Sie auch ganz beruhigt sein. Aber spucken müssen Sie nicht, oder?«

»Warum?«

»Weil ich mit Unfallstatistiken besser leben kann als mit dem Gestank Ihrer Panikkotze.« Damit zog sie sich ihre Schlafbrille über die Augen und schnarchte binnen Sekunden.

Olive vergrub das Gesicht in den Händen. Es war längst nicht die peinlichste Erfahrung ihres Lebens, nicht mal annähernd. Jake hatte sie immer den lebenden Beweis für Murphys Gesetz genannt. Bei ihr ging alles schief, was nur schiefgehen konnte, vor allem dann, wenn die Chance bestand, dass sie sich dabei so richtig schön zum Affen machen würde. Meistens konnte sie darüber lachen.

Heute nicht.

Trotzdem wollte sie den Rat der alten Dame beherzigen und behielt pflichtschuldig das Kabinenpersonal im Auge, das miteinander plauderte und ganz entspannt wirkte. Alles ruhig, kein Grund zur Aufregung. Olive versuchte sich zu entspannen. Einige Minuten flogen sie so in trügerischem Frieden dahin, bis eines der Crew-Mitglieder alarmiert aufsprang.

»Oh mein Gott.« Olive zog sich die Kopfhörer herunter. Schreie aus dem vorderen Teil der Maschine drangen an ihre Ohren. War nicht vor ein paar Jahren eine Frau aus einem von Trümmerteilen beschädigten Flugzeugfenster gesaugt worden? Olive zog ihren Gurt fester. »Ich werde heute nicht sterben.«

Der ziegenbärtige Typ auf ihrer anderen Seite seufzte. Es war ein ziemlich lautes Seufzen, fast schon ein Stöhnen.

Zwei von der Crew sprachen jetzt in Walkie-Talkies, die beiden anderen durchwühlten Fächer. Olive hätte am liebsten die alte Dame neben sich geweckt, um sich von ihr beruhigen zu lassen, aber ganz so verzweifelt war sie dann doch nicht, auch wenn der Laut, der ihr gerade entfuhr, schon sehr nach einem Wimmern klang.

Eine melodische Frauenstimme, die eine erstaunliche Ruhe ausstrahlte, meldete sich über Lautsprecher. »Hier spricht Ihre Co-Pilotin. Sollten Mediziner:innen an Bord sein, melden Sie sich bitte bei der Crew. Wir haben einen Notfall unter den Passagieren.«

Nichts rührte sich, niemand hob die Hand.

Olive ließ die Schultern sinken. Sie war keine Ärztin und hoffte, dass sich jemand fand, der weniger panisch war als sie und in dieser Situation besser helfen konnte. Dann gab die Flugbegleiterin die Bitte um ärztliche Hilfe erneut durch.

Eine weitere Minute verstrich. Schließlich wieder die nun nicht mehr ganz so sanfte Stimme der Co-Pilotin. »Haben wir wirklich kein medizinisches Personal an Bord?«

Verdammt, Murphys Gesetz.

Olive hob die Hand, und ihre Stimme klang kieksig, als sie sie schließlich wiederfand. »Ich bin Krankenschwester.«

2

Auf ausdrückliche Erlaubnis der Blondtoupierten sprang Olive aus ihrem Sitz hinaus auf den Gang. Dabei hätte sie sich fast mit ihren Kopfhörern stranguliert, die sich irgendwie an der Armlehne verfangen hatten. Sie nahm sie ab. Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren. Wozu hatte sie zehn Jahre Berufserfahrung in der Notaufnahme? Sie war qualifiziert für diesen Job, und sie würde das schaffen. Natürlich würde sie das. Das Flugzeug schlingerte kurz, und Olive klammerte sich an die Sitzlehnen zu beiden Seiten des Gangs. Sie war wie erstarrt, als wären ihre Muskeln eingefroren. Dann sah sie den Mann.

Oh shit.

Sie hatten ihn aus seinem Sitz geholt und in dem kleinen Vorraum hinter der Business Class auf den Boden gelegt. Er musste Mitte vierzig, Anfang fünfzig sein. Leicht ergraute Schläfen rahmten ein blutleeres Gesicht. Er war bewusstlos.

Olives Gehirn schaltete auf Autopilot. Sie löste sich aus ihrer Starre und eilte an die Seite des Mannes. »Was ist passiert?«

Der Kabinenchef, ein hochgewachsener junger Mann, der kaum älter sein konnte als sie, reichte ihr ein Stethoskop. »Die Passagiere auf den Plätzen neben ihm haben bloß gesehen, wie er sich plötzlich an die Brust fasste und zusammensackte. Mehr wissen wir nicht. Könnte er einen Herzinfarkt erlitten haben? Der Captain kümmert sich schon um eine Flugumleitung.«

»Was haben wir zur Notfallversorgung an Bord?«, fragte Olive. Seine Kollegin öffnete eine schwarze Vinyltasche, und Olive inspizierte den Inhalt. »Könnten Sie vielleicht herausfinden, was genau er gemacht hat, bevor er zusammengebrochen ist?«

Sie kniete sich neben dem Bewusstlosen auf den Boden und horchte mit dem Stethoskop seine Brust ab. Die Atmung war flach. Puls schwach, aber vorhanden. Seine Haut war grau, die Extremitäten kalt, was auf eine eingeschränkte Blutversorgung hindeutete.

Die Flugbegleiterin tauchte wieder neben ihr auf.

»Er soll kurz vor dem Anfall einen Proteinriegel gegessen und einige Male gehustet haben.«

Olives Gehirn arbeitete auf Hochtouren, während sie ihm eine Blutdruckmanschette um den Arm legte. Konnte er sich verschluckt haben? So schnell wäre dieser Zustand dann aber nicht eingetreten.

Sein Blutdruck war lebensbedrohlich niedrig.

Shit.

Proteinriegel.

Husten.

Sie nahm die Stiftlampe aus dem Erste-Hilfe-Koffer und leuchtete ihm in den Hals. Keine Anzeichen eines Fremdkörpers, dafür eine deutliche Schwellung im Rachenbereich. Vermutlich ein allergischer Schock. Sie atmete tief durch und griff zum EpiPen, drehte die Verschlusskappe ab und stieß die Nadel in den Oberschenkel des Mannes. Dann wartete sie einen Moment.

Er keuchte und begann zu würgen. Sie brachte ihn in Seitenlage, wo er sich prompt übergab. Seine Haut war immer noch erschreckend bleich und klamm, und er war nicht bei Bewusstsein. Plötzlicher Blutdruckabfall durch einen anaphylaktischen Schock wäre die naheliegendste Erklärung. Okay. Ein Schritt nach dem anderen. Sie riss ihm den Hemdsärmel auf, band den Arm ab, legte die Infusion. Nach einer halben Minute prüfte sie den Blutdruck erneut.

Immer noch viel zu niedrig.

Seine Atmung hatte sich zwar stabilisiert, aber die anderen Symptome zeigten keine Besserung, und im Erste-Hilfe-Koffer war nur ein einziger EpiPen gewesen. Der reichte aber anscheinend nicht.

Fuck.

Olive griff zum Beatmungsbeutel, setzte ihm die Maske auf und fing an, ihn zu beatmen. »Könnten Sie unter den Passagieren fragen, ob jemand einen EpiPen bei sich hat? In manchen Fällen braucht es eine zweite Dosis.«

Auf seiner Haut begann sich ein Ausschlag auszubreiten. Olive zog eine Flugbegleiterin heran und zeigte ihr, wie die Beatmungsmaske funktionierte.

Die Frau nickte nervös und übernahm den Beutel von ihr. »Wir hatten eine Einheit kardiopulmonale Reanimation in der Ausbildung.«

»Sehr gut«, sagte Olive und schaute ihr einen Moment zu. »Sie machen das super, immer so weitermachen.«

Neben ihr stand schon der Defibrillator bereit. Sie riss das Hemd des Mannes auf und klebte ihm die Elektroden auf die Brust.

Wenn sie es nicht bald schaffte, ihn zu stabilisieren, würde er einen Herzstillstand erleiden. Bekäme sie das hier überhaupt in den Griff?

Bevor sie panisch werden konnte, kam der Kabinenchef mit einem weiteren EpiPen zurück, ein Glück. Olive atmete auf und stieß ihn ihrem Patienten ins andere Bein. Während sie ihn einige Sekunden dort hielt, ging sie den Rest der Medikamente durch. Sie warf den benutzten Pen beiseite und zog eine Dosis Benadryl auf, die sie ihm über die Infusion verabreichte. Sie konnte bloß hoffen, dass die Good-Samaritan-Gesetze auch hier oben griffen und sie dafür nicht verklagt wurde.

Die Brust des Mannes hob und senkte sich in einem natürlichen Atemrhythmus. Sein Gesicht bekam langsam wieder Farbe. Er atmete selbstständig. Der Ausschlag blieb unverändert, aber er wurde auch nicht schlimmer. Olive bedeutete der Flugbegleiterin, mit der Beatmung aufzuhören, und setzte ihm stattdessen eine Sauerstoffmaske auf.

Sie maß ein weiteres Mal den Blutdruck und wartete mit angehaltenem Atem auf den Ausschlag der winzigen Nadel auf dem Messgerät.

112/70.

Stabil.

Olive lehnte sich zurück und hätte heulen können vor Erleichterung. Sie hatten es geschafft!

Danke.

Mithilfe des Kabinenpersonals schob sie dem Mann zur Stabilisierung ein Kissen unter, dann setzte sie sich mit überkreuzten Beinen neben ihn auf den Boden, prüfte seinen Puls und behielt die noch immer laufende Infusion im Blick.

Als er langsam die Augen öffnete, beugte sie sich vor.

Zuerst ließ er nur ein abgehacktes Husten hören, dann etwas, das nach einem kehligen Lachen klang. »Oh Mann. Auf der Verpackung stand Keine Nüsse. Diese Bastarde.«

Olive grinste. Tränen brannten ihr in den Augen. »Ich denke, Sie sollten sie verklagen. Aber die gute Nachricht: Sie werden bald wieder in Ordnung sein.« Sie klopfte ihm auf die Schulter.

Der Kabinenchef wies auf sie. »Sir, diese Frau hat Ihnen das Leben gerettet.«

Der Mann lächelte. »Danke.« Er reichte ihr eine zittrige Hand.

»Jederzeit«, sagte Olive und schüttelte sie, dann verzog sie das Gesicht. »Am besten natürlich nie wieder.«

»Wir setzen jetzt zur Landung an. Am Gate werden wir von einem Rettungsteam erwartet«, meldete die Flugbegleiterin.

»Sind wir schon in Orlando?«, fragte Olive. So lange konnte das hier doch nicht gedauert haben, oder?

Der Kabinenchef schüttelte den Kopf. »Der Flug wurde nach Atlanta umgeleitet.«

»Ach so.« Sie versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Es war in Anbetracht der Umstände die einzig richtige Entscheidung, der Mann musste ja versorgt werden. Sie konnte einen anderen Flug nach Florida nehmen und würde es immer noch rechtzeitig schaffen.

Die Beine waren ihr eingeschlafen, und sie kam nur mühsam hoch, drückte das Kreuz durch, streckte ihren Nacken. Dann hörte sie plötzlich ein ohrenbetäubendes Geräusch, das ihr fast das Herz stehen bleiben ließ.

Stürzten sie etwa doch ab? Das durfte nicht wahr sein! Jetzt, wo sie das Schlimmste überstanden hatte?

Nein. Es … es war Applaus.

Für sie.

Olive presste sich die kalten Hände an die brennenden Wangen. Der Flugbegleiter, dessen Namensschild sie nun, da die Aufregung langsam nachließ, endlich entziffern konnte – er hieß Leo –, brachte sie zu einem der Klappsitze für die Crew und schnallte sie an. Ihre Hände, die eben noch alles Lebensnotwendige so ruhig und beherrscht ausgeführt hatten, zitterten jetzt unkontrolliert. Zwei Kollegen halfen, den Mann zu einem Platz in der ersten Reihe zu bringen. Sie vergewisserten sich regelmäßig, dass er auch wirklich wach war und nicht erneut das Bewusstsein verlor.

Olive fielen auf einmal die Augen zu, als eine Welle der Erschöpfung auf sie herabstürzte. Nein, nicht herabstürzte, verdammt, hier stürzte überhaupt nichts, schon gar nicht ab. Sie rieb sich die Augen, bis farbige Pünktchen vor dem Dunkel ihrer Lider flackerten, und zwang sich, sie wieder zu öffnen.

Nach einer Viertelstunde und drei Beinahe-Panikattacken landete die Maschine mit einem überraschend sanften Aufsetzen, und Olive Murphy war wieder am Boden. Sie schloss die Augen und seufzte.

Sie rollten langsam aus und fuhren dann zum Gate.

Leo berührte leicht ihren Arm, und sie schrak hoch. »Die Piloten würde Sie gern sprechen.«

»Ah, okay. Kann ich vorher noch mal nach ihm schauen?« Sie zeigte auf den Mann, der den allergischen Schock erlitten hatte.

Leo nickte und ließ sie vorbei.

Olive griff nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls. Der Mann lächelte sie an. Er hatte ein sehr freundliches, offenes Gesicht. Erleichtert stellte sie fest, dass er auch wieder etwas Farbe in den Wangen hatte. Bevor sie sich nach seinem Namen erkundigen konnte, öffneten sich die Türen des Flugzeugs und Sanitäter und Notarzt kamen herbeigeeilt. Als sie sich aufrichtete und zurück zu ihrem Platz ging, gab es wieder eine Runde Applaus für sie.

Die alte Dame neben ihr schob ihre Schlafmaske hoch und nahm sich die Ohrstöpsel aus den Ohren. Sie maß Olive mit einem prüfenden Blick. »Haben Sie spucken müssen?«

Olive schaute etwas bedröppelt an sich hinab, fand aber nichts, was diese Vermutung nahelegte.

Die Alte seufzte. »Ich hab’s ja gleich gesagt …«

»Nein, ich …« Olive zuckte mit den Schultern. »Egal.« Leo half ihr, den Trolley aus dem Gepäckfach zu holen und ihr Telefon zu finden, das zwischen die Sitze gerutscht war. Dann begleitete er sie wieder nach vorn und ließ ihr dabei den Vortritt.

Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und Olive erstarrte.

Vor ihr stand die schönste Frau, die ihr je im Leben begegnet war. Langes, dunkel glänzendes Haar, das unter der Kappe zu einem straffen Knoten gebunden war. Funkelnde tiefbraune Augen und ein weicher, sinnlicher Mund, die Lippen leicht aufgeschwungen, als wäre Lächeln ihr Naturzustand. Und das Lächeln dieser umwerfenden Person galt keiner anderen als Olive Murphy.

»Ich bin Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano.«

3

Die Augen von Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano hellten sich auf. »Ich war wirklich überrascht, als ich erfuhr, dass unsere Lebensretterin eine einfache Krankenschwester ist.«

Okay …

Die schönste Frau des Planeten war also ein ignorantes Arschloch.

Fabelhaft.

Murphys Gesetz.

Olive schüttelte Stellas Hand, die, wie sie mit einem gewissen Unmut feststellte, weich und gepflegt und genauso schön war wie erwartet. »Also was man in Fernsehserien sieht, entspricht nicht der Wirklichkeit. Das meiste, was dort von den Halbgöttern in Weiß gemacht wird, fällt in der Praxis in den Aufgabenbereich der Pflegekräfte.« Eigentlich hatte sie das überhaupt nicht sagen wollen oder zumindest nicht so, wie sie es getan hatte, aber irgendwo zwischen ihrer Flugangst und der Rettungsaktion eben musste ihrem Mund der soziale Filter abhandengekommen sein.

»Verstehe. Ich schaue überhaupt kein Fernsehen.«

Ein versnobtes ignorantes Arschloch, dachte Olive gereizt.

Leider mit einem umwerfend perfekten Lächeln und gottverdammten Grübchen. Es war so klar, dass sie auch noch Grübchen haben musste.

Aber mal ernsthaft, gab es wirklich Leute, die nicht fernsahen?

Olive zwang sich zu einem Lächeln, warf sich ihren Rucksack über die Schulter und schloss die Hand um den Griff ihres Rollkoffers. »Dann will ich mal schauen, ob ich jetzt noch einen Flieger nach Orlando erwische.«

Stella schürzte die Lippen. »Heute Abend gehen keine Flüge mehr.«

Olive schloss die Hand so fest um den Griff, dass ihre Fingernägel sich in die Handfläche gruben. »Ah … okay. Aber ich sollte trotzdem langsam los.«

Hinter Stella tauchte ein smarter Typ mit geschmeidiger Stimme auf, griff nach Olives Hand und schüttelte sie. »Ich bin der Pilot dieser Maschine. Sie können mich Kevin nennen. Oder Captain Kevin.« Er lachte. »Warum hat mir denn niemand gesagt, wie hübsch sie ist? Das wird sich prima auf den Fotos machen, meinst du nicht?« Captain Kevin war ein weißer Mann in den Vierzigern, auf nichtssagende Weise gut aussehend. Man konnte ihn sich bestens als Familienvater aus der Vorstadt vorstellen, der eine Vorliebe für Swingerclubs hatte. Oder ein Geheimleben als Nischenpornodarsteller führte und drei Familien in drei verschiedenen Bundesstaaten unterhielt.

Stella besaß immerhin die Klasse, wegen des einschleimenden Tons des Captains das Gesicht zu verziehen. »Wir hatten sie noch nicht wegen der Fotos gefragt.«

»Was für Fotos?«, fragte Olive alarmiert.

Stella lächelte. »Die Airline wird Ihnen die Kosten für diesen Flug selbstverständlich erstatten und gibt noch einen Gutschein für zehn Freiflüge obendrauf.«

Olive hielt es nicht für den passenden Moment, Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano zu sagen, dass Freiflüge für sie denselben Reiz hatten wie eine Population Taranteln für Spinnenphobiker:innen. »Toll«, sagte sie stattdessen.

»Und für unseren Newsletter und die Website würden wir gern ein Foto von Ihnen machen, gemeinsam mit der Crew.«

Das Flugzeug schien zu schrumpfen, die Wände zogen sich um sie zusammen, und sie bekam wieder einen Tunnelblick, genau wie vorhin vor dem Start.

Olive fuhr sich nervös durch ihre wirren Locken. Gestresst wie sie war, hatte sie nach dem Duschen keine Zeit und keinen Nerv mehr für ihre übliche Locken-Routine gehabt. Wahrscheinlich sah sie mittlerweile aus wie ein geföhnter Pudel. Und die Kunstfasern ihrer Leggings hatten den Schmutz vom Boden des Flugzeugs geradezu magisch angezogen. »Ich bin nicht gerade … Also wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, fände ich ein Foto gerade keine so tolle Idee.«

»Sie sehen fantastisch aus. Glauben Sie mir, es gibt keinen Mann, der mir darin nicht zustimmen würde.« Captain Kevin strahlte sie an, doch es war kein freundliches Lächeln, und er stierte ihr dabei auf den Ausschnitt ihres Tanktops, das so verrutscht war, dass es ziemlich viel von ihrem Dekolleté preisgab.

Olive verdrehte die Augen und zog den Reißverschluss ihres Hoodies hoch. Sie war zu erschöpft, um höflich zu bleiben. »Was irgendwelche Typen über mein Aussehen denken, hatte für mich noch nie besondere Priorität, aber cool.« Warum deswegen so einen Aufstand machen? Sollten sie ihr Foto doch haben.

Stella schüttelte den Kopf. »Wenn sie das mit dem Foto nicht möchte, sollten wir sie nicht …«

»Ach, bloß keine falsche Bescheidenheit.« Er zog Olive zu sich heran. »Lächeln, Schätzchen.«

Unbemerkt von Olive hatte jemand von der Airline schon sein Smartphone gezückt.

Und als die gesamte Crew sich mit routiniertem Lächeln um Olive scharte, lächelte sie auch.

Weil man es eben so machte und sie später, wenn dieses Foto irgendwo gepostet wurde, froh sein würde, einen halbwegs passablen Eindruck gemacht zu haben. Gerade allerdings war sie völlig am Ende und wollte bloß noch raus hier, um sich irgendwo in Ruhe darüber ausheulen zu können, dass alles ruiniert war und sie bis zum Morgen hier in Atlanta festhängen würde. Keine Chance, es noch rechtzeitig zum Rennen nach Orlando zu schaffen.

»Nochmals vielen Dank für Ihren Einsatz und alles, was Sie für unseren Fluggast getan haben.« Stella schüttelte ihr erneut die Hand. Ihr Lächeln war nun eher entschuldigend als strahlend, und sie wirkte nicht mehr ganz so arrogant. »Alles Gute für Sie.«

Olive ging durch die Gangway zum Terminal und suchte sich einen Platz, an dem sie ungestört zusammenbrechen konnte.

4

Genau wie Stella gesagt hatte, gingen an diesem Abend keine Flüge mehr von Atlanta. Das Disney-Rennen in Orlando fing in neun Stunden an, mit dem Auto brauchte man sechs Stunden und fünfzehn Minuten. Wenn sie jetzt die ganze Nacht durchfuhr, nachdem sie vor dem verfluchten Flug seit drei Uhr früh in der Klinik gearbeitet hatte, wäre sie zwar pünktlich zum Rennen in Orlando, aber wenn sie dann versuchen würde, einen Halbmarathon zu laufen, wäre wahrscheinlich sie reif für eine Reanimation. Ihr Körper schickte ihr jetzt schon eindeutige Warnsignale, dass sie zu erschöpft dafür war, sich ans Steuer zu setzen. Ihr Gehirn hatte den Punkt erreicht, an dem es zu keiner Entscheidung mehr fähig war, und so saß sie seit zwei Stunden in der Wartehalle des Flughafens herum und futterte sich halbherzig durch eine Tüte Salzbrezeln.

Sie holte Jakes Medaille aus ihrem Rucksack und drehte sie zwischen den Fingern.

»Du hast dir von Lindsay einreden lassen, was du alles nicht kannst. Aber wenn ich das schaffe, schaffst du es auch. Du kannst alles erreichen, wenn du es nur möchtest«, hörte sie Jakes vertraute Stimme in ihrem Kopf.

Aber da lag er falsch. Zum Rennen morgen würde sie es schon mal nicht schaffen – es war schlicht unmöglich. Aber immerhin hatte sie einen guten Grund dafür. Und sie war froh, dass sie dem Mann auf ihrem Flug hatte helfen können, was hätte sie auch sonst tun sollen? Als sie sich in der Wartehalle auf den ersten freien Platz hatte fallen lassen, bedauerte sie es, nicht einmal seinen Namen zu kennen und sich nicht erkundigen zu können, ob es ihm auch wirklich gut ging.

Jake wäre so stolz auf sie gewesen, dass sie dem Mann das Leben gerettet hatte. Das wusste sie. Aber sie hatte ihm nie gesagt, wie stolz sie auf ihn war, weil man so etwas normalerweise einfach nicht zu seinem Bruder sagte.

Sie müsste ihr Telefon aufladen, das irgendwann auf dem Flug den Geist aufgegeben hatte. Den ganzen Tag hatte sie wie besessen immer wieder nachgesehen, ob Nachrichten von ihrer Familie gekommen waren. Natürlich war es komplett illusorisch, sich zu wünschen, dass sie morgen zum Rennen kämen. Sie schloss die Augen und rief sich das Foto von letztem Jahr in Erinnerung, das Jake hinter der Ziellinie zeigte. Groß wie ein Bär stand er da, flankiert von ihren Eltern und ihrer damals hochschwangeren Schwester. Die Medaille hing um seinen Hals, und in seinem Gesicht hatte sich vor lauter Glück ein breites Grinsen breitgemacht. Olive hätte eigentlich auch mit auf dem Bild sein sollen, war sie aber nicht.

Und wie viel hatte sich in diesem einen Jahr verändert.

Ihre Eltern dürften ihre Hotelbuchung längst storniert haben, und Heather würde garantiert nicht kommen. Olive hatte ihre Schwester, ihre kleine Nichte und ihren Neffen seit Monaten nicht mehr gesehen. Vermutlich war es besser so, lief doch jedes Gespräch auf Schuldzuweisungen und Drohungen mit Anwälten, Ärzten und dem Nachlassgericht hinaus.

Es war kaum auszuhalten.

Olive ließ den Kopf auf die Knie sinken.

Dass sie jetzt das Rennen versäumte, dürfte Heather und ihre Eltern bloß noch in ihrer schlechten Meinung von ihr bestätigen.

Egoistisch, gedankenlos und eine komplette Enttäuschung.

Im Moment konnte sie nicht mehr tun, als zu schauen, dass sie ein paar Stunden Schlaf bekam, und sich dann am Morgen einen Wagen zu mieten und loszufahren. Das Rennen mochte für sie gelaufen sein, aber sie hatte drei Tage Disney World gebucht und bereits bezahlt, konnte also genauso gut das Beste draus machen.

»Sie weinen ja«, stellte eine melodische Stimme fest.

Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano stand vor ihr.

Olive wischte sich über die Wangen. »Ich weiß.« Mist, jetzt lief ihr auch noch Rotz aus der Nase. Unglaublich attraktiv.

»Ist alles in Ordnung?«

»Alles gut.« Olive schlang die Arme um sich und schniefte leise.

»Aber Sie weinen.« Sie sagte es, als wüsste Olive nicht selbst, was die Nässe auf ihren Wangen bedeutete.

»Ich weiß.« Olive stand auf, weil es sie nervte, dass Stella von oben auf sie herabschaute, während sie wie ein Häufchen Elend hier herumsaß. Aber selbst im Stehen reichte Olive noch immer nicht an sie heran. »Alles gut ist einfach die gesellschaftlich akzeptierte Antwort, wenn man in aller Öffentlichkeit einen Zusammenbruch hat, aber niemandem das ungute Gefühl geben möchte, sie müssten einen jetzt trösten.«

»Aber die Frage ist doch, ob Sie jetzt gerade, in dieser Situation, Hilfe brauchen. Und ob die Person, die Sie in dieser Situation findet, sich nicht sogar dazu verpflichtet fühlt, etwas zu unternehmen. Dass Sie getröstet werden sollten, scheint mir wegen der Tränen offensichtlich. Sie würden nicht weinend hier herumsitzen, wenn es nicht so wäre. Die Frage ist, was Sie gerade brauchen

Olive brauchte erst mal einen Moment, um den Sinn dieses Satzgewirrs zu begreifen. »Sie reden ganz schön schnell.«

Feine Lachfältchen zeigten sich um Stellas Augen. Olive schaute auf ihre Füße, die in den abgewetzten Chucks so inadäquat aussahen neben Stellas glänzenden Lederschuhen.

»Das höre ich oft«, sagte Stella und ließ den Blick auf ihr ruhen. »Was ist los, Olive? Sie heißen doch Olive, oder? Ich habe erst hinterher gemerkt, dass wir Ihnen vorhin gar keine Gelegenheit gegeben haben, sich vorzustellen. Deshalb habe ich Ihren Namen auf unserer Passagierliste gesucht.«

»Ja, Olive Murphy.«

»Also, was ist los?«

Olive verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ich sollte morgen einen Halbmarathon laufen.«

»Und jetzt sind Sie enttäuscht, weil Sie so lange dafür trainiert haben und alles umsonst war?«

»Nein, ich … Wahrscheinlich habe ich längst nicht genug trainiert.« Olive ließ den Kopf hängen.

»Dann ist es vielleicht ganz gut, wenn Sie es nicht zum Rennen schaffen und es nächstes Jahr noch mal versuchen.«

Es nicht schaffen, es noch mal versuchen. Mein Gott, Olive konnte es nicht mehr hören.

Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und war froh, dass wenigstens ihre Tränen aufgehört hatten zu fließen. »So einfach ist es nicht. Ich wollte dieses Rennen wirklich laufen. Ich hätte dort sein sollen, es war … wichtig.«

»Wenn es so wichtig war, weshalb haben Sie dann bei der Reiseplanung keinen Zeitpuffer eingebaut? Der Flug hätte ja auch wegen schlechten Wetters ausfallen können.« Es war nicht als Vorwurf gemeint, aber der Tonfall war derselbe, den Olive anschlug, wenn sie kleine Patient:innen fragte, was sie sich nur dabei gedacht hätten, sich das Gummibärchen/die Erbse/den Spielstein ins Nasenloch zu stecken.

»Ich musste heute noch bis mittags arbeiten.«

»Und es konnte niemand für Sie einspringen?«

Versuchte diese Überfliegerin ihr jetzt ein schlechtes Gewissen zu machen?

»Ich hatte vergessen, rechtzeitig Urlaub zu beantragen. Außerdem ist es das letzte Wochenende vor Weihnachten, an dem wir freinehmen können, da waren andere schneller.«

»Oh.« Stellas Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass ihr so etwas niemals passieren würde. Etwas zu vergessen oder nicht schnell genug zu sein, dürfte weit außerhalb ihres Erfahrungshorizontes liegen. Schön für sie, dachte Olive.

»Ist die vom letzten Mal, als Sie das Rennen gelaufen sind?« Stella zeigte auf Jakes Medaille.

»Nein.« Olive ließ sie wieder in der Vordertasche ihres Rucksacks verschwinden. »Die hat … Das ist … Ach, egal.«

»Es tut mir leid, dass Ihnen durch die Umleitung des Flugs Unannehmlichkeiten entstanden sind.« Die Worte waren professionell, aber Stellas Miene war dabei so sanft und mitfühlend, dass Olive ihre eigene Bitterkeit umso deutlicher verspürte.

»Es macht mich nur gerade fertig«, sagte sie. »Natürlich bin ich froh, dass ich dem Mann helfen konnte, und habe volles Verständnis dafür, dass seine medizinische Versorgung Vorrang hatte, aber … Meinen Plan kann ich jetzt vergessen.«

»Verstehe. Ich ärgere mich auch immer, wenn meine Pläne nicht aufgehen.« Stella drehte ihren schicken Rollkoffer im Kreis herum, als wäre sie … was? Aufgeregt? Nervös? Ungeduldig? »Wenn Sie sich einen Wagen nehmen, könnten Sie es immer noch zu Ihrem Halbmarathon schaffen. Mit dem Auto wären Sie gegen drei Uhr morgens dort.«

»Ich glaube nicht, dass ich die ganze Nacht durchfahren und dann das Rennen laufen kann. Eigentlich hatte ich während des Flugs ein wenig schlafen wollen, aber …«

»Sie haben recht, das wäre wahrscheinlich keine so gute Idee.« Sie spitzte die Lippen und betrachtete die leere Wand neben Olive, als dächte sie gerade eingehend über den Sinn des Lebens nach. Mittlerweile wirkte sie etwas lässiger und entspannter, nicht mehr so arrogant wie im Cockpit, aber so richtig schlau wurde Olive noch immer nicht aus ihr. Überhaupt war es, wenn man vor dieser Frau stand, nicht leicht, an etwas anderes zu denken als daran, wie schön sie war, ein bisschen speziell und vermutlich hetero, denn: Murphys Gesetz. Wie gesagt.

Nicht, dass es jetzt wichtig gewesen wäre.

»Puh.« Olive hob die Augenbrauen und zeigte das Terminal hinunter. »Dann will ich mal los, mir was zu essen suchen und ein Plätzchen, um die Nacht über zu campieren.«

»Wollen Sie nicht ins Hotel? Die Airline hätte Ihnen ein Zimmer besorgen müssen, haben sie das nicht getan?«

»Doch, aber das ist mir gerade alles zu anstrengend. Ich will einfach bloß hier sitzen und mich ausruhen. Wenn mir später nach einem Zimmer ist, kann ich mir ja immer noch eins nehmen.«

Ihr Telefon hatte sie auch noch nicht aufgeladen, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie auch keine Lust, irgendeine passiv-aggressive Nachricht von Lindsay lesen und ihrer Ex antworten zu müssen, dass sie es nicht zum Rennen schaffen würde, sie sich ihre guten Wünsche also sparen konnte. Worauf Lindsay mit einem sinngemäßen Kommt uns das nicht bekannt vor? zurückschreiben und sie damit bloß noch weiter herunterziehen würde. Wobei es nicht ganz fair war, Lindsay die Schuld daran zu geben, dass Olive das Rennen im Vorjahr hatte sausen lassen. Aber ihre ständigen Sticheleien, dass man den ersten Halbmarathon seines Lebens schon mit einer respektablen Zeit schaffen sollte, waren auch nicht gerade motivierend gewesen.

Plötzlich leuchteten Stellas dunkle Augen, als wäre wie im Comic eine kleine Glühbirne angegangen. Sie sah aus wie eine übereifrige Schulsprecherin, der gerade eben die Idee für den Abschlussball gekommen war oder wie genial es wäre, in der Mensa einen Smoothie-Automaten aufzustellen! Alles an dieser Frau schrie förmlich Erfolg. »Dann mal mir nach«, sagte sie und deutete auf Olives Koffer.

»Wie jetzt, wohin?«

»Ich fahre Sie nach Orlando«, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

»Aber … Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.«

»Wir haben uns vor zwei Stunden kennengelernt. Ich bin Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano.« Sie grinste.

Olive krauste skeptisch die Nase. »Ja und? Wer sagt mir, dass Sie keine Serienmörderin sind?«

»Ich bin keine Serienmörderin. Sie können mich googeln. Ich habe eine«, sie machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »Social-Media-Präsenz.« Stella deutete auf ihr Smartphone. Als eins der Gates sich öffnete, strömten die eben gelandeten Reisenden ins Terminal und die plötzliche Unruhe, die widerhallenden Stimmen und Schritte, die über den Boden gezogenen Rollkoffer, erschwerten es Olive vollends, sich zu konzentrieren.

»Ähm, was?«

»Stellaflies.«

»Und das ist … was?«

»Mein Instagram-Account.« Stella schnaubte sarkastisch. »Die Airline hat mir nahegelegt, einen zu eröffnen, damit sie sich mit mir und meinen Kolleginnen schmücken und nach außen zeigen können, dass Gleichstellung und Diversität bei Allied Airlines großgeschrieben werden.«

Olive verdrehte die Augen und griff nach ihrem Telefon, bevor ihr wieder einfiel, dass der Akku ja leer war. Stella reichte ihr ihres, auf dem Instagram bereits geöffnet war, wo sie, wie Olive nun sah, über zwanzigtausend Follower hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf die Posts und hielt es Stella unter die Nase. »Fünf Selfies und jedes in Uniform. Würden Sie jetzt nicht vor mir stehen, könnte ich genauso gut denken, das wäre ein Bot mit gekauften Followern und Stockfotos.« Und Tags wie #heißePilotinnen.

»Aber hier stehe ich nun mal, und ich biete Ihnen an, bei Budget einen Wagen zu mieten und Sie nach Orlando zu fahren.«

Olive gab ihr das Smartphone zurück. »Wieso?«

»Weil die Airline sehr gute Deals bei Budget bekommt.«

»Ich meinte nicht die Autovermietung, sondern wieso Sie mich fahren wollen.«

»Weil … Sie heute etwas Großartiges geleistet haben. Sie haben ein Leben gerettet. Das war eine ziemlich große Sache. Und weil mir das mit dem Foto leidtut. Ich habe gemerkt, wie unwohl Sie sich dabei gefühlt haben, es aber uns zuliebe trotzdem über sich ergehen ließen.«

Olive schnaubte. »Für Captain Kevin habe ich das ganz sicher nicht gemacht.«

Ein Schatten huschte über Stellas Augen, als wüsste sie genau, was Olive meinte. »Kommen Sie, machen wir uns auf den Weg.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

»Müssen Sie morgen nicht arbeiten? Riesige Maschinen durch die Lüfte steuern und für Hunderte von Menschen die Verantwortung tragen?« Olive machte mit der Hand eine kleine Flugbewegung und sich komplett zur Idiotin.

»Nein, ich habe morgen frei und wollte sowieso ein paar Tage in Orlando bleiben. Wenn es sich einrichten lässt, besuche ich dort jedes Jahr das Food and Wine Festival.« Wieder dieses Lächeln, das alles überstrahlte und Olive den hektischen Betrieb des Terminals völlig vergessen ließ.

»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, keine Axtmörderin zu sein?«

»Großes Ehrenwort. Wobei ich das vermutlich auch sagen würde, wenn ich eine wäre, oder?«

Olive rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Immerhin könnte ich Mach was Spontanes von der Liste streichen«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.

»Welche Liste?«

»Nicht so wichtig.« Ganz ungebeten meldeten sich ihre Tränen zurück. Tränen der Überraschung und der Dankbarkeit, die ihr die Stimme zittern ließen. »Danke.«

Stella nahm eine kleine Packung Taschentücher aus ihrer Tasche, ohne vorher danach suchen zu müssen. Bestimmt hatte sie für ihre Handtasche einen Organizer, in dem alles seinen Platz hatte.

Olive streckte die Hand aus und berührte Stella leicht am Ellenbogen. »Danke. Wirklich, Sie wissen nicht, was mir das bedeutet.«

»Aber gerne doch.« Stella griff nach ihrem Telefon und tat, als würde sie mit beiden Daumen tippen. »Ich will nur mal eben schauen wegen der Axt …«

Fast hätte Olive gelacht.

»War nur Spaß. Gehen wir.«

Wie standen wohl die Chancen, dass Olive mehrere Stunden mit einer Frau, zu der sie sich so stark hingezogen fühlte, im Auto sitzen konnte, ohne sich dabei bis auf die Knochen zu blamieren?

Schlecht. Sehr schlecht.

5

Als Stella aus der Toilettenkabine kam, trug sie statt ihrer Uniform eine schwarze Jeans, die sich wie angegossen an ihren perfekten Hintern schmiegte, und einen lässig eleganten Pulli mit U-Boot-Ausschnitt. Die flachen Lederschuhe hatte sie gegen makellos weiße Sneaker eingetauscht. Selbst in Freizeitkleidung sah sie aus wie ein Ann-Taylor-Model. Die Haare trug sie jetzt offen, sie fielen ihr in langen, weichen Wellen über die Schultern. Sah man mal von ihrer völligen Unerreichbarkeit ab, passte sie überhaupt nicht ins Olives Beuteschema.

»Alles in Ordnung, Olive?«

Fuck. Sie hatte sie angestarrt. Und etwas in der Art, wie Stella ihren Namen sagte, weckte in Olive den Wunsch, ihr tief in die Augen zu schauen und sie zu bitten, ihren Namen noch mal zu sagen. Aber das war bloß die Müdigkeit, die aus ihr sprach. Da waren solche emotionale Überreaktionen vollkommen normal.

»Alles gut.«

Stella neigte fragend den Kopf. »Alles gut wie vorhin, als du deinen Zusammenbruch hattest, oder wirklich alles gut?«

Olive schob den Schultergurt ihrer Tasche hoch, der ständig herunterrutschte. »Wirklich alles gut. Und danke noch mal, ich weiß nicht, wie ich …«

»Schon gut.« Stella lachte. »Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken.«

Olive schaute in den Spiegel, löste ihre Haare und band sie dann erneut, aber anders zusammen. Unter den Augen hatte sie violette Schatten. Weshalb sah sie nach ihrem ersten Flug eigentlich so dermaßen schlecht aus? Lag es am Licht oder hatten Flughafentoiletten etwas an sich, das einen wie den Tod auf Beinen aussehen ließ? Sie warf einen Blick hinüber zu Stella und fand ihre Befürchtung bestätigt, dass es nicht am Spiegel lag.

Olive gab es auf und griff nach ihrem Koffer. Unterwegs besorgten sie sich noch Kaffee – oder vielmehr Stella besorgte sich einen, Olive war jetzt schon so nervös wegen morgen, dass sie auf Koffein lieber verzichtete. Sie stopfte im Gehen einen Proteinriegel in sich hinein, den sie noch in ihrem Rucksack gefunden hatte, und spülte alles mit Wasser aus ihrer frisch aufgefüllten Trinkflasche herunter.

Als sie den Schalter der Autovermietung im Untergeschoss des Flughafengebäudes erreichten, suchte Stella nach ihrer Brieftasche.

Olive war schneller und zückte ihre Kreditkarte. »Der Wagen geht auf mich.«

»Aber ich will auch nach Disney World, wir haben ein und denselben Weg.« Stella schob ihre Karte weg. »Außerdem sitze ich am Steuer und gebe den Wagen wieder ab, wenn wir dort sind.«

»Dann lass mich wenigstens dafür zahlen, dass du mich fährst.«

Sie lieferten sich ein Blickduell, was Olive Gelegenheit gab, Stellas dunkle Augen zu bewundern. Am Ende gab Stella nach und nickte.

Olive legte ihren Ausweis auf den Tresen und Stella ihren daneben. Der Mitarbeiter nahm ihre Papiere und händigte Olive ein Formular zum Unterschreiben aus. Er kontrollierte ihr Alter und sah sie mehrmals prüfend an. Olive wurde meistens für jünger gehalten. Bis vor ein paar Jahren hatte sie regelmäßig Probleme, wenn sie Filme ab 18 sehen wollte. Niemand nahm ihr ab, dass sie vierunddreißig war.

Der Mann tippte auf ihren Führerschein. »Sie haben am selben Tag Geburtstag wie ich.«

»Wirklich?«

»Allerdings bin ich ein paar Jahre älter als Sie.« Er lachte schulterzuckend. »Meine Frau plant eine große Überraschungsparty für meinen Sechzigsten nächsten Monat. Nicht dass ich mir groß was daraus machen würde, aber ich will ihr den Spaß nicht verderben, also spiele ich mit.«

»Das ist aber nett von Ihnen, dass Sie ihr die Freude lassen«, erwiderte Olive und lächelte höflich. »Ich hoffe, Sie haben trotzdem einen wunderbaren Tag. So mitten in der Weihnachtszeit Geburtstag zu haben, ist ja auch nicht immer ein Vergnügen.«

»Wem sagen Sie das.« Er zwinkerte ihr zu.

Stella strahlte ihn an. »Von mir auch alles Gute, und lassen Sie sich schön feiern.«

Er dankte ihnen und reichte Stella die Schlüssel. Sie nahmen ihre Sachen und gingen hinaus aufs riesige Parkdeck.

»Willst du noch was essen, bevor wir fahren?«, fragte Stella, während sie ihren Kaffee schnell austrank und den Becher korrekt im Restmüll entsorgte.

»Ich glaube nicht.« Olive runzelte irritiert die Stirn. »Wolltest du den Kaffee nicht mit ins Auto nehmen?«

»Es ist ein Mietwagen«, erwiderte Stella, als würde das alles erklären.

»Ah, okay. Mietwagen, klar.« Olive hob die Augenbrauen und hoffte, dass ihre Wasserflasche akzeptabel war. Am Abend vor einem Rennen war es wichtig, den Körper mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen, und wozu hatte sie sie extra gerade noch nachgefüllt?

Außerdem wurde ihr jedes Mal, wenn sie Stella anschaute, der Mund ganz trocken und ihr Magen schlug nervöse Kapriolen. Aber vielleicht waren das auch bloß die Nerven wegen des morgigen Laufs, wer konnte das schon wissen.

Sie schlängelten sich zwischen den Reihen parkender Autos hindurch, bis sie den silbernen Mietwagen exakt auf dem Platz entdeckten, an dem er stehen sollte. Stella öffnete den Kofferraum, und sie luden ihre Koffer ein. Ihre große Umhängetasche verstaute Stella im Fußraum hinter dem Fahrersitz, Olive suchte solange in ihrem Rucksack nach der Powerbank und schloss endlich ihr noch immer totes Telefon an. Nachdem sie eingestiegen waren, startete Stella den Wagen und stellte erst mal alle Spiegel und den Sitz richtig ein. Jeder Handgriff saß. So stellte Olive sie sich vor jedem Flug im Cockpit vor, gründlich und fokussiert.

Olive war auf einmal kalt. Dieses seltsame Gefühl, das sich einschleicht, wenn man komplett übermüdet ist, es draußen dazu noch feucht ist und der Körper nicht mehr damit hinterherkommt, den Stoffwechsel zu regulieren. Sie schlang die Arme um sich, konnte ein Frösteln aber nicht unterdrücken.

Stella deutete zum Autoradio. »Stört es dich, wenn ich beim Fahren Musik höre, oder kannst du dann nicht schlafen?«

Olive schüttelte den Kopf. »Mach ruhig, ich bin sowieso noch viel zu aufgedreht. Und ich kann auch mit Musik einschlafen. Wenn ich einmal weg bin, weckt mich so schnell nichts mehr.«

Stella hantierte mit ihrem Telefon, bevor sie Olive wieder ansah. »Das war wirklich toll, was du heute getan hast.«

»Was habe ich denn getan?«

»Der Mann im Flugzeug.«

»Ach ja, das.« Olive war in Gedanken schon so sehr bei dem Rennen morgen, dass sie diesen Wahnsinn fast vergessen hätte. »Es ist mein Job, nicht weiter der Rede wert. Jeder hätte das an meiner Stelle getan.«

»Du hast die richtige Diagnose gestellt und ihm so das Leben gerettet. Und du hast in dieser Ausnahmesituation die Nerven behalten. Du bist eine Heldin.«

»Bin ich nicht.«

»Doch, bist du.«

»Nein, bin ich nicht.« Es kam etwas pampiger rüber als beabsichtigt, aber Stella wusste nichts von Jake, sie konnte nicht wissen, wie sehr das Wort Held Olive triggerte. »Aber trotzdem danke. Ich bin etwas genervt gerade, tut mir leid.«

»Du hattest einen langen Tag.«

»Wo wir gerade von langen Tagen sprechen: Du hast kein Problem damit, jetzt noch die Nacht über durchzufahren, obwohl du schon den ganzen Tag im Cockpit gesessen hast?«

»Absolut kein Problem«, versicherte ihr Stella und fischte ein Handykabel aus der Tasche hinter sich. »Es wäre nicht der erste Nachtflug meines Lebens.«

»Da haben wir was gemeinsam.« Olive lächelte. »Ich schiebe auch öfter Nachtschichten.«

Stella verband ihr Telefon mit dem Radio und schaltete es ein. Laute Musik dröhnte aus den Boxen, Olive erkannte das Stück sofort. Stella verzog das Gesicht und stellte schnell leiser.

Ein beseeltes Lächeln erschien auf Olives Gesicht. »Das war Brandi Carlile, oder?«

»Ja. Tut mir leid, dass ich dir fast das Trommelfell zerfetzt habe, über Kopfhörer ist es nicht so laut.«

Olive musste erst mal tief durchatmen. Das hatte gar nichts zu bedeuten. Eine Menge Leute mochten Brandi Carlile. Nur weil Stella eine queere Musikerin mochte, musste sie nicht gleich auf Frauen stehen. Vielleicht hatte sie auch einfach bloß einen guten Musikgeschmack.

»Ich liebe diesen Song«, meinte Olive schließlich.

Stellas dunkle Augen leuchteten im Scheinwerferlicht des Parkplatzes. »Ich auch.« Die Hände akkurat auf zehn und zwei am Lenkrad, fuhr sie hinaus und nahm die Auffahrt zum Highway.

Olive war darin noch nie besonders gut gewesen. Seit sie denken konnte, verknallte sie sich in Heterofrauen. Zuletzt in Joni, die ihr das Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Joni war von einer Klinik in Colorado in ihr Krankenhaus versetzt worden, und Olive hatte immer mal wieder ein paar Andeutungen fallen lassen, dass sie gern mit ihr ausgehen würde. Irgendwann hatte Joni dann ihren Freund erwähnt, und sie waren stattdessen Freundinnen geworden. Die Situation war aber unglaublich peinlich gewesen, zumindest fand Olive das und wollte es am liebsten nie wieder drauf ankommen lassen. Sollte ihr Gaydar nicht langsam mal besser funktionieren?

Um aus dieser Gedankenspirale herauszukommen, frage sie Stella, wie lange sie schon als Pilotin arbeitete.

»Zehn Jahre.«

»Und wie wird man Pilotin? Warst du beim Militär?«

Stella lachte. »Nein. Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, wir hätten unsere Ausbildung alle beim Militär erhalten. Ich habe einen Abschluss in Luftfahrttechnik an der Embry-Riddle gemacht und bin danach zur Flugschule gegangen.«

»Und jetzt bist du Pilotin.«

Stella strahlte bei der Erinnerung an diese Zeit übers ganze Gesicht. »Ja. Verrückt, oder? Wenn man bedenkt, wie viel du als Krankenschwester können musst und wahrscheinlich nicht mal halb so lang für die Ausbildung gebraucht hast.«

Olive rief sich in Erinnerung, dass diese Frau gerade sieben Stunden ihres Lebens dafür opferte, damit sie es noch rechtzeitig zu ihrem Halbmarathon nach Orlando schaffte. So gesehen konnte Stella also kein schlechter Mensch sein. Aber manchmal ließ sie es doch ein bisschen an Feingefühl fehlen. Oder war es einfach bloß Gedankenlosigkeit? Andererseits war Olive mittlerweile daran gewöhnt, dass kaum jemand einer Krankenpflegerin vier Jahre Studium samt Abschluss zutraute. Natürlich gab es auch Leute, die bloß eine Ausbildung absolviert hatten und trotzdem einen erstklassigen Job machten. Vielleicht hatte Stella es ja so gemeint.

»Ich habe einen Master in Pflegewissenschaften. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um sich als Krankenschwester zu qualifizieren.«

»Ah, das ist ja spannend! Ich wusste überhaupt nicht, dass man das richtig studieren kann.«

Olive hätte es definitiv schöner gefunden, wenn Stella nicht gar so erstaunt geklungen hätte. »Doch. Kommt öfter vor, als man denkt.«

Stella biss sich kurz auf die Unterlippe. »Tut mir leid, ich wollte damit nicht sagen, dass ich es dir nicht zutrauen würde. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was alles zu eurer Ausbildung gehört – oder welche akademischen Ansprüche gestellt werden. Wie du schon sagtest, es gibt viele Wege, sich für seinen Beruf zu qualifizieren. Das ist bei uns nicht anders.«

»Tauchst du eigentlich?«, fragte Olive unvermittelt.

»Nein, bislang nicht. Warum fragst du?«

Olive lachte. »Wegen deiner Atemtechnik. Du sprichst so schnell, scheinst dabei aber kein einziges Mal Luft holen zu müssen.«

Stella beschleunigte den Wagen und wechselte auf die Überholspur. »Reine Übungssache.«

»Weshalb Übungssache?« Olive schob ihren Sicherheitsgurt etwas zur Seite, um sich bequemer hinsetzen und Stella besser anschauen zu können.

»Männerdominiertes Berufsfeld. Wenn du Luft holst, war’s das und sie reißen jedes Gespräch an sich. Aber oft reden sie auch einfach so über dich hinweg oder wiederholen deine Ideen. Jetzt mache ich es schon wieder, oder?«

»Was?«

»Zu viel reden.«

»Ich finde nicht, dass du zu viel redest. Ich mag das. Also ich meine, ich höre dir gern zu.« Solange Stella keine anmaßenden Vermutungen über ihre Qualifikation als Pflegefachkraft oder ihre beruflichen Kompetenzen anstellte, stimmte das sogar. Olive mochte ihre Stimme. Sie war voller Kraft und Begeisterung, ganz anders als ihre eigene, die allzu oft kratzig klang. Dazu kam, wie Stellas Augen aufl...

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