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Vier Pfoten im Sommerwind

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Die perfekte Sommerlektüre – nicht nur für Hundefans

Aus eigener Kraft haben die drei Freundinnen Hannah, Caroline und Ella ein Cateringunternehmen gegründet. Schon nach kurzer Zeit können sie riesige Erfolge verbuchen. Die Köstlichkeiten der Foodsisters sind einmalig, das muss auch Jörn zugeben. Doch bei der Aussicht zusammen mit Ella die Jubiläumsfeier der Lichterhavener Feuerwehr zu organisieren, ist er schon jetzt genervt. Wie soll er, der ruhige und besonnene Fischer, mit der quirligen Partyqueen ein Team bilden? Aber als Ella sich um den Bearded Collie ihrer Großmutter kümmern muss, ist sie heillos überfordert und Jörn lernt Ella plötzlich von einer ganz anderen Seite kennen …


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Aus der Serie: Lichterhaven
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749900046

Leseprobe

1. Kapitel

»Moin, Holger.« Mit Schwung öffnete Jörn Paulsen die Türen des kleinen Kühltransporters mit dem Aufdruck:

Paulsen & Paulsen

Leckerer Fisch und mehr

Gleichzeitig hob er die Hand, um seinem Kollegen und Stellvertreter auf dem familieneigenen Krabbenkutter Paulsen 1 grüßend zuzuwinken. Danach zog Jörn einen Stapel Kunststoffkisten aus dem Inneren des Transporters und trug sie die wenigen Schritte bis zum Anlegeplatz des Kutters.

Inzwischen war Holger, ein kräftiger dunkelhaariger Mann Ende dreißig, von Bord gekommen und übernahm die Kisten, um sie gleich darauf dem Matrosen und Lehrling Christian weiterzureichen. »Moin, Jörn. Alles senkrecht unterm Bambusröckchen? War ja ein ganz schöner Regen gestern Abend. Greta hatte schon Angst, dass unser Garten weggeschwemmt wird.«

»Zwölf Liter innerhalb einer halben Stunde.« Jörn trug bereits die nächsten Kisten heran, in denen während der Fangfahrt später die gekochten Krabben im Kühlraum des Kutters transportiert werden würden. »Ich wollte schon die Feuerwehrtruppe in Alarmbereitschaft setzen. Aber das Unwetter war so schnell wieder weg, wie es gekommen ist. Zum Glück sind keine Keller vollgelaufen, und die Bäche haben die Wassermassen auch verkraftet.« Prüfend blickte er zum nun strahlend blauen Himmel hinauf und nickte zufrieden. »Hoffen wir, dass es heute so bleibt. Ein bisschen Sonne tut dem Geschäft gut.«

»Dem Geschäft mit den Touristen allemal.« Holger reichte weitere Kisten zu Christian hinüber. »Den Krabben ist es ziemlich egal, ob es regnet oder die Sonne scheint.«

Jörn nickte grinsend. »Die Touristen sind es aber, die uns im Zweifelsfall über Wasser halten. Auch wenn wir zuletzt gute Fangraten hatten, weiß man doch nie, wohin die Reise geht. Jetzt, da die Urlaubssaison anläuft, steigen die Preise für Krabben und Fisch auch wieder, aber ohne unsere beiden alten Schätzchen stünden wir nicht so gut da.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch.« Gutmütig, aber doch mit einem Anflug von Grimm grinste nun auch Holger. »Die Fischerei durchlebt harte Zeiten. Nützt aber nix, wir müssen gleich los. Waren das alle Kisten?«

»Ja.« Energisch schloss Jörn die Türen des Transporters wieder. »Ich muss auch gleich los. Die erste Tour mit der Fischerin beginnt in einer knappen halben Stunde.«

»Dann bis später.« Holger ging wieder an Bord. »Wir machen jetzt gleich die Leinen los.«

»Ja, bis später.« Noch einmal hob Jörn zum Gruß die Hand und klemmte sich gleich darauf hinter das Steuer des Transporters, um ihn in die kleine Lagerhalle der Firma Paulsen & Paulsen neben der Werft westlich vom Hafen zu fahren. Danach musste er sich beeilen, damit er die Fischerin, einen restaurierten Fischkutter aus dem Jahr 1852, pünktlich erreichte.

Jörn war Fischer in siebter Generation – zumindest offiziell. Vermutlich reichte die Geschichte dieses Berufs in seiner Familie aber noch deutlich weiter in die Vergangenheit zurück. Hinweise darauf gab es zumindest im Lichterhavener Stadtarchiv, wo er vor Jahren einmal Ahnenforschung betrieben und herausgefunden hatte, dass die Paulsens bereits im frühen 14. Jahrhundert namentlich erwähnt wurden. Nach und nach hatte er eine fast vollständige Ahnenreihe zusammenstellen können.

Die Fischerei lag ihm also im Blut, das, wie sein Vater und Großvater oft scherzhaft betonten, zu mindestens fünfzig Prozent aus Nordseewasser bestand. Dies galt für fast die gesamte Sippe der Paulsens, die bis auf wenige Ausnahmen alle irgendwie in der Firma Paulsen & Paulsen tätig war, sei es auf den beiden Kuttern, von denen einer für den Fischfang, der andere für den Krabbenfang genutzt wurde, auf den beiden alten, liebevoll restaurierten Schiffen, mit denen Touristenfahrten angeboten wurden, oder im familieneigenen Fischfachgeschäft in der Lichterhavener Hauptstraße. In Letzterem schwang federführend Jörns Mutter Inette das Zepter, unterstützt von ihrer Nichte Nelly und diversen weiteren Verwandten, die im Wechsel entweder im Laden oder auf den Kuttern aushalfen.

Anfangs, gleich nach seiner Ausbildung zum Fischwirt der Küstenfischerei und danach zum Kapitän, war Jörn ausschließlich tagaus, tagein mit der Paulsen 1 auf Krabbenfang gegangen. Nach einigen Jahren, in denen die wirtschaftliche Situation der Fischer schwieriger geworden war, hatte er zuerst seinem Vater, dann der gesamten Familie den Vorschlag gemacht, die beiden alten Fischkutter, die bereits seit ihrem Bau Mitte des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz waren, restaurieren zu lassen, um sie dem Lichterhavener Tourismus zur Verfügung zu stellen. Auch wenn die Investition immens gewesen war, hatten alle Familienmitglieder zugestimmt. Jetzt, mit zweiunddreißig, hatte er diesen Geschäftszweig so gut wie vollständig übernommen, und er fuhr auch regelmäßig selbst als Kapitän mit einem der beiden historischen Kutter, meistens der Fischerin, Horden von Lichterhaven-Touristen hinaus auf die Nordsee, um ihnen die Schönheit des Wattenmeers, sowie seiner Artenvielfalt, die ökologische Fischerei und natürlich die örtlichen Attraktionen wie das Vogelschutzgebiet und die Seehundbänke näherzubringen.

Alle zwei bis drei Wochen ging er jedoch auch immer noch auf Fangfahrt mit der Paulsen 1 und wechselte sich mit Holger ab, der dann wiederum die Touristenfahrten übernahm.

In der Lagerhalle schlüpfte Jörn rasch in seine Kapitänsmontur, die passend zu dem uralten Kutter auf das 19. Jahrhundert getrimmt war, und nahm sich die obligatorische Kapitänsmütze der Fischerin. Heute war er ein bisschen spät dran, weil er am frühen Morgen noch alle Unterlagen für die am Abend anberaumte gemeinsame Sitzung von Vertretern des Stadtrats und dem Vorstand des Kameradschaftsvereins der freiwilligen Feuerwehr vorbereitet hatte. Als Wehrführer war er gleichzeitig Vorsitzender des Vereins, und das bedeutete eine Menge Arbeit. Besonders in diesem Jahr türmten sich geradezu Berge von Aufgaben vor ihm und seiner Truppe, weil das hundertfünfzigjährige Bestehen der Freiwilligen Feuerwehr Lichterhaven anstand und gleichzeitig mit dem großen Stadtfest Mitte Juli gefeiert werden würde.

Nach einem sportlichen Sprint erreichte er die Fischerin aber noch rechtzeitig, setzte die Kapitänsmütze auf, bevor er an Bord ging, und machte seinen gewohnheitsmäßigen Rundgang über das Deck, um überall nach dem Rechten zu sehen, bevor er das Steuerhaus betrat.

Am Kai tummelten sich bereits rund zwanzig Männer, Frauen und Kinder, die darauf warteten, dass Enno, der erste Matrose der Fischerin, sie an Bord ließ.

Jörn sah sich auch im Steuerhaus eingehend um, verließ es dann aber noch einmal, um nach seinem Lieblingsfahrgast Ausschau zu halten. Als die zwanzigjährige Ilka, seine heutige zweite Matrosin, aus der Kombüse heraufkam, hielt er sie kurz auf. »Ist Carlotta noch nicht da?«

Ilka schüttelte den Kopf, sodass ihr blonder Pferdeschwanz fröhlich hin und her wippte. »Nein, ich habe sie noch nicht gesehen. Wollte sie heute wieder mitfahren? Zusammen mit Barnabas?«

»Na klar, heute ist Dienstag.« Jörn lachte. »In der Hinsicht ist sie ein Gewohnheitstier. Am Sonntagnachmittag habe ich sie drüben an der Eisdiele Eisträume getroffen, und sie meinte noch, dass sich hoffentlich das Wetter bald bessert, damit uns nicht die Fahrgäste ausbleiben. Ihr selbst hat der Regen ja nie etwas ausgemacht.«

»Stimmt.« Ilka lachte ebenfalls. »Die alte Dame ist wirklich alles andere als aus Zucker. Und fit wie ein Turnschuh. Ich bewundere so was ja und hoffe, dass ich mit siebenundachtzig auch noch so fidel rumhüpfen werde.«

»Achtundachtzig.« Jörn ließ seinen Blick noch einmal über den Kai wandern. »Am Sonntag hatte sie Geburtstag.«

»Oh, dann muss ich ihr unbedingt noch gratulieren!« Ilka setzte sich eine Schirmmütze mit dem Logo der Fischerin auf und zog ihren Zopf durch den Riemen. »Jetzt muss ich aber weitermachen. Enno winkt schon. Er will die Leute an Bord lassen.«

Jörn trat einen Schritt zur Seite, um Ilka vorbeizulassen. Er musste ebenfalls zurück ins Steuerhaus, weil die Rundfahrt in wenigen Minuten beginnen würde. Nach wie vor war von Carlotta Jensen und ihrem jungen Bearded Collie Barnabas nichts zu sehen. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise war sie immer schon mindestens eine halbe Stunde vor Beginn der Fahrt da, um ein bisschen an Bord zu helfen. Aber vielleicht war ihr auch einfach etwas dazwischengekommen. So etwas kam schon mal vor, wenn auch selten. Normalerweise fuhr sie jeden Dienstag und jeden zweiten Freitag auf der Fischerin mit.

Da Enno inzwischen die ersten Fahrgäste an Bord ließ, riss sich Jörn von seinen Überlegungen los. Er trat neben den Eingang des Steuerhauses und grüßte hier und da mit dem obligatorischen »Moin, Moin«, das er absichtlich und fast schon übertrieben im Lichterhavener Platt betonte. Normalerweise sprach er lieber Hochdeutsch, doch die Touristen erwarteten natürlich so viel Authentizität und Lokalkolorit wie nur möglich.

Als alle Gäste schließlich an Bord waren und einen Sitzplatz auf den extra eingebauten Bänken an Deck gefunden hatten, ließ Jörn den Dieselmotor an und wartete, bis Enno und Ilka die Leinen gelöst hatten. Ruhig lenkte er den alten Kutter durch das Hafenbecken und genoss dabei das Gefühl von Zufriedenheit und Freiheit, das ihn stets ergriff, wenn er hinaus auf seine geliebte Nordsee fuhr.

Erst als sie das Hafenbecken hinter sich gelassen und die Fahrgäste sich ein wenig beruhigt hatten, schaltete er das Mikrofon ein und begann mit seiner Begrüßung und einem kleinen Vortrag über den Lichterhavener Hafen im Allgemeinen und die Fischerin und ihre Geschichte im Besonderen.

***

»Mensch, Ella, willst du das wirklich durchziehen? Du brauchst das nicht zu tun. Caro und ich schaffen das auch alleine.« Hannah legte Ella Jensen sanft eine Hand auf die Schulter. »Du bist ganz weiß im Gesicht und siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«

»Nein, schon gut.« Ella reckte ihr Kinn und straffte die Schultern. Sogar ein Lächeln rang sie sich ab, obwohl es ihr schwerfiel. »Ich hab uns da reingeritten, also werde ich jetzt nicht kneifen.«

»Reingeritten, so ein Quatsch!« Caroline, die auf Ellas anderer Seite am rechteckigen Tisch im Sitzungssaal des Lichterhavener Rathauses saß, stieß sie sachte mit dem Ellenbogen an. »Wir waren alle damit einverstanden, an dieser Ausschreibung teilzunehmen. Dass wir jetzt den Zuschlag erhalten haben, wird unserem Geschäft noch mal richtig Auftrieb geben.«

»Und uns allen Arbeit bis zum Anschlag verpassen.« Hannah streichelte Ella noch einmal kurz über den Rücken. »Bist du dir wirklich sicher, dass du das heute schaffst?«

»Jaja, nun lasst mich mal in Ruhe.« Ella atmete mehrmals tief durch. Sie sah noch, dass Hannah und Caroline einander einen besorgten Blick zuwarfen. Da jedoch in diesem Moment der Bürgermeister, Ingolf Rütther, den Saal betrat, dicht gefolgt von Jörn Paulsen und dem restlichen Vorstand des Kameradschaftsvereins der freiwilligen Feuerwehr, verstummten die Gespräche der bereits anwesenden Stadtratsmitglieder.

Ella bemühte sich um eine ausdruckslose Miene und schob alle Gedanken, die nichts mit dem bevorstehenden Stadtfest zu tun hatten, so weit wie möglich von sich. Als Jörn sich mit seinen Vorstandsmitgliedern auf der anderen Seite des Tisches niederließ, traf sie kurz sein Blick, der aber gleich darauf zu ihren beiden Freundinnen und Kolleginnen weiterwanderte. Innerlich wappnete sie sich. Seiner Miene war zu entnehmen, dass er bereits ahnte, was ihre Anwesenheit zu bedeuten hatte, und dass er davon nicht unbedingt begeistert war. Das konnte ja heiter werden.

»Guten Abend zusammen.« In seiner jovialen, stets heiteren Art blieb der Bürgermeister an seinem Platz stehen und nickte in die Runde. Erst als alle Blicke auf ihn gerichtet waren, setzte er sich ebenfalls. »Ich begrüße euch alle herzlich zur heutigen gemeinsamen nicht öffentlichen Sitzung des Festausschusses der Stadtverwaltung sowie des Vorstands des Kameradschaftsvereins der Freiwilligen Feuerwehr Lichterhaven. Wie ihr wisst, steht heute nur ein einziger Punkt auf der Tagesordnung: unser Stadtfest, das in diesem Jahr gleichzeitig Schauplatz der Feierlichkeiten anlässlich des hundertfünfzigjährigen Bestehens unserer Feuerwehr sein wird. Die Planungen sind ja nun mittlerweile weitgehend abgeschlossen und gehen jetzt in die heiße Phase der Umsetzung über.« Er nickte seiner Stellvertreterin Ulrike Liebenstein zu, die rechts neben ihm Platz genommen hatte. »Ulrike wird euch später genauer sagen, welche Fragen noch offen und zu klären sind. Zuvor möchte ich jedoch auf einen der wichtigsten Punkte zu sprechen kommen, nämlich das Catering. Wie ihr alle wisst, hat der Stadtrat eine Ausschreibung veranlasst, deren Ergebnis morgen auf der öffentlichen Stadtratssitzung verkündet wird. Ihr dürft es aber selbstverständlich heute schon erfahren, denn da wir nur noch sieben Wochen vom Beginn der Festlichkeiten entfernt sind, zählt nun jede Minute, um alles in die gewünschten Bahnen zu lenken.« Bedeutungsvoll blickte Ingolf Rütther in die Runde und lächelte dann Ella, Hannah und Caroline zu. »Die Ausschreibung enthielt recht genaue Vorgaben, was Menge und Art der Bewirtung angeht, wobei wir natürlich berücksichtigen, dass es, wie sonst auch, eine ganze Menge externe und zusätzliche Anbieter von überwiegend Jahrmarkts-Imbissständen geben wird. Ganz zu schweigen von unseren ortsansässigen Geschäften, Cafés und Restaurants, die selbstverständlich in unser Verpflegungskonzept eingebunden sind. Hauptsächlich bezog sich die Ausschreibung auf die Bewirtung bei den diversen Veranstaltungen im Festzelt, also zum Beispiel dem Festkommers und dem Empfang der auswärtigen Gäste und Feuerwehren sowie im und um das Feuerwehrhaus herum bei den dortigen vielfältigen Aktivitäten.« Wieder traf Ella sein wohlwollender Blick. »Es gab im Ganzen vier Bewerber, von denen jedoch nur einer aus Lichterhaven kam. Da genau dieser Bewerber zudem noch das umfassendste und zudem günstigste Konzept vorgestellt hat, fiel uns die Entscheidung nicht schwer.« Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Die drei jungen Frauen der Firma Die Foodsisters sind bereits anwesend, also habt ihr euch vermutlich schon gedacht, dass sie das Rennen gemacht haben. Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit. Normalerweise würde Martina Clausen, Verzeihung, Brunner, als Vorsitzende des Festausschusses nun das Wort übernehmen und euch alles Weitere berichten, doch wie wir alle wissen, sind sie und ihr frischgebackener Ehemann Thorsten gerade in den Flitterwochen. Deshalb wird Ulrike diese Aufgabe nun vertretungsweise übernehmen.« Er nickte seiner Stellvertreterin kurz zu.

Ulrike, eine energische Endvierzigerin mit kurzen braunen Haaren und Brille, richtete sich in ihrem Stuhl auf und lächelte ebenfalls in die Runde. »Viel gibt es da eigentlich gar nicht zu erzählen. Martina hat vor ihrer Hochzeit alles generalstabsmäßig geplant und bereits so gut wie alles in die Wege geleitet, sodass mir im Grunde nur die Aufgabe zufällt, alle Vorbereitungen zu überwachen, bis sie wieder da ist.« Sie blickte zu Jörn hinüber. »Was das Catering, speziell das für die Feuerwehrfestlichkeiten, angeht, soll ich dir, Jörn, diesen Fragebogen überreichen. Ich weiß, ihr hattet bereits ganz grob eure Wünsche und Vorschläge umrissen, damit wir die Ausschreibung entsprechend gestalten konnten, doch nun geht es, wie Martina sagen würde, ans Eingemachte. Deshalb soll bitte auch Ella Jensen einen Durchschlag des Fragebogens erhalten, am besten per E-Mail. Die Adresse steht in der Fußzeile. Auf der Grundlage dieses Fragebogens können die Foodsisters dann ein ganz konkretes Angebot mit allen Details erstellen.«

Jörn nahm den Bogen entgegen, überflog ihn kurz und schlug dann die rote Mappe auf, die er vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte. »Das können wir abkürzen.« Er zog zwei Blätter aus der Mappe und reichte eines davon Ulrike, das andere schob er Ella über den Tisch. »Auch wenn ich bis eben noch nicht wusste, wer das Catering übernehmen würde, haben wir uns im Vorstand trotzdem schon viele Gedanken darüber gemacht, wie es genau aussehen soll. Ich habe unsere Ideen hier mal zusammengefasst. Das dürfte in etwa alle Punkte des Fragebogens abdecken.«

»Ah, sehr schön.« Ulrike schob das Papier gleich in ihren Aktenordner. »Wegen der Details setzt ihr euch dann am besten mit den Foodsisters persönlich in Verbindung, nicht wahr, Ella?« Sie lächelte Ella warm zu. »Das heißt, wenn das gerade für dich in Ordnung ist. Ich meine, du bist ja für die Organisation bei euch zuständig, aber falls es dir im Augenblick zu viel sein sollte, macht einfach einen späteren Termin aus. Ein kleines bisschen Zeit ist ja noch. Oder vielleicht springen einfach Caroline und Hannah diesmal für dich ein?«

»Nein, nein, schon okay.« Ella überflog die Stichpunkte, die Jörn zusammengetragen hatte, doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. »Wir können das gerne jederzeit besprechen. Ich … schaffe das schon.«

Jörn richtete seinen Blick verwundert auf Ella. »Was gibt es daran zu schaffen? Das sind nur ein paar Details mehr als auf der Ausschreibung. Das dürfte doch wohl kein großer Mehraufwand sein. Immerhin war klar, dass wir noch an den Feinheiten arbeiten müssen.«

Ruckartig hob Ella den Kopf, brachte jedoch, ganz untypisch für sie, kein Wort heraus. Ihre Kehle schnürte sich zu, und sie schluckte hart.

»Also wirklich.« Caroline neben ihr richtete sich auf und starrte Jörn erbost an. »Geht es vielleicht noch unsensibler? Was ist denn los mit dir?«

Hannah legte Ella tröstend einen Arm um die Schultern. »Schon gut, bestimmt hat er es nicht so gemeint.« Auch sie warf Jörn einen wütenden Blick zu. »Das will ich jedenfalls hoffen. Du bist doch sonst nicht so ein ungehobelter Klotz.«

Irritiert runzelte Jörn die Stirn. »Was ist denn hier los? Ich habe doch bloß angemerkt …«

»Vergiss es.« Ella atmete tief durch. »Ich melde mich bei dir.«

»Okay …« Immer noch befremdet schüttelte Jörn den Kopf. »Von mir aus.«

»Sag mal, weißt du es noch gar nicht?« Caroline musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Erneut merkte Jörn auf und sah seine Cousine fragend an. »Was weiß ich noch nicht?«

Caroline ergriff Ellas Hand und drückte sie. »Ellas Großmutter ist heute Nacht gestorben.«

»Was?« Entgeistert fuhr Jörn auf. »Carlotta ist …« Er blickte zu Ella, dann sank er zurück in seinen Stuhl. »Oh, Scheiße. Das wusste ich wirklich nicht. Ich bin von der letzten Tour mit der Fischerin vorhin gleich nach Hause gefahren, hab mich umgezogen und bin hierhergekommen.« Geräuschvoll stieß er die Luft aus. »Tut mir leid, Ella.«

»Schon gut.« Ella hob die Schultern, wich seinem Blick jedoch aus.

»Wenn du noch ein paar Tage Zeit brauchst …«

»Nein, schon gut, verdammt noch mal.« Verärgert blickte sie ihm nun doch ins Gesicht. »Niemand muss mich mit Samthandschuhen anfassen. Ich melde mich übermorgen bei dir, dann können wir über das hier reden.« Sie deutete vage auf das Blatt Papier und wandte sich dann entschlossen an Ulrike. »Wir haben übrigens auch schon die ersten konkreten Vorschläge für die Dekoration. Martina hatte uns ja zusätzlich zur Ausschreibung eine Vorschlagsliste zukommen lassen. Ich könnte euch dazu bis Ende der Woche ein konkretes Konzept vorlegen, das sich an euren Ideen für das diesjährige Motto Lichterhaven im neunzehnten Jahrhundert orientiert. Für die Feuerwehr werde ich dann noch einen separaten, aber darauf aufbauenden Plan erstellen, der natürlich auch die hundertfünfzigjährige Geschichte der Truppe berücksichtigt. Ich hatte an ein etwas verspielteres Konzept gedacht.«

»Verspielt?« Skeptisch musterte Jörn sie. Seiner Miene war immer noch anzusehen, dass er von der Nachricht vom Tod ihrer Großmutter schockiert war, doch sein Ton verriet, dass er zugleich von ihrer Wortwahl alles andere als begeistert war.

»Man könnte es auch leicht und witzig nennen.« Sie hielt seinem Blick zwar stand, jedoch nur mit Mühe. Heute fehlte ihr die Kraft, sich mit ihm auseinanderzusetzen – oder mit irgendjemandem. Besonders, wenn es um ein leichtes und witziges Thema ging, während sie gerade nichts lieber getan hätte, als sich auf ihrem Bett zusammenzurollen und zu weinen.

»Leicht und witzig, aha.« Er schien protestieren zu wollen, entschied sich jedoch dagegen und schwieg.

Ella wusste nicht, ob sie froh darüber sein oder sich ärgern sollte. Sie wollte kein Mitleid, das würde sie nur noch trauriger machen. Zugleich wäre sie jedoch einem Wortgefecht mit Jörn Paulsen heute ganz sicher nicht gewachsen. Normalerweise ging sie einer Konfrontation nicht aus dem Weg. Sie provozierte ihn gern und legte es darauf an, ihn auf die Palme zu bringen. Wobei sie zugeben musste, dass das gar nicht so einfach war, denn Jörn hatte ein ziemlich dickes Fell und ignorierte sie meist eher, als dass er sich von ihr zu einer Diskussion verleiten ließ. Er ruhte auf manchmal geradezu ärgerliche Weise in sich, während Ellas Temperament gerne mal mit ihr durchging. Wenn sie doch einmal aneinandergerieten, dann meistens, weil er sie mit seiner ruhigen, knappen Art in die Schranken verwies. Doch nicht einmal das tat er heute.

Dennoch wusste sie, dass die nächsten Wochen nicht einfach werden würden. Wirklich gut miteinander ausgekommen waren sie noch nie, dazu waren sie zu verschieden. Da Jörn knapp drei Jahre älter war als sie, hatten sie sich in der Schule erfolgreich und ohne großen Aufwand aus dem Weg gehen können. Allerdings hatten sie trotz des Altersunterschiedes immer derselben Clique angehört, und auch später hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. In einer kleinen Stadt wie Lichterhaven war das nur natürlich, da sie nach wie vor zum großen Teil denselben Freundeskreis besaßen. Doch zumeist hielten sie sich, wie Ella es für sich beschrieb, an gegenüberliegenden Enden dieser überschaubaren Gruppe von Leuten auf, sodass seine gelegentliche Missbilligung sie nur selten streifte und sie auch nur gelegentlich in Versuchung geriet, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Es gab einfach zu viele andere lohnende Ziele ihrer Aufmerksamkeit.

Indes hatte der Bürgermeister erneut das Wort ergriffen. »… hört sich doch schon recht vielversprechend an. Dann bleiben jetzt im Grunde nur noch ein paar Kleinigkeiten zu klären, wie zum Beispiel der zeitliche Ablauf am Eröffnungstag und am Festsamstag, damit wir alle Beteiligten entsprechend instruieren können.«

Ella riss sich zusammen und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt.

2. Kapitel

Obwohl bereits zwei Tage vergangen waren, ärgerte Jörn sich noch immer über sich selbst. Doch woher hätte er wissen sollen, dass Carlotta Jensen verstorben war? Niemand hatte es ihm in den Pausen zwischen den Fahrten mit dem Ausflugskutter erzählt. Natürlich hatte er sich gewundert, dass sie den gesamten Dienstag über nicht aufgetaucht war, aber mit dem Schlimmsten hatte er deshalb nicht gerechnet. Dazu war Carlotta Jensen viel zu fit und agil gewesen. Seit Jahren war sie regelmäßig auf der Fischerin mitgefahren, hatte meist sogar ausgeholfen, wenn es um die Betreuung der Fahrgäste ging, und Geschichten erzählt oder kleine Vorträge gehalten. Eine Bezahlung hatte sie dafür immer abgelehnt, weil sie diese Beschäftigung einfach mit großer Freude erfüllt hatte.

Auch zu Land war sie stets flott unterwegs gewesen, hatte sich viel draußen aufgehalten, ob nun in ihrem Garten oder wenn sie mit ihrem jungen Bearded Collie Barnabas durch den Wald gestreift oder an der Küste entlanggewandert war.

Manch einer hatte den Kopf geschüttelt, als sie vor etwas mehr als einem Jahr trotz ihres hohen Alters noch einen Welpen bei sich aufgenommen hatte, doch sie hatte immer einen Hund besessen und war nach dem Tod des letzten ohne einen vierbeinigen Begleiter einfach nicht glücklich gewesen. Deshalb hatte sie sich entgegen aller Vernunft für Barnabas entschieden.

Jörn kannte Barnabas gut, denn dieser hatte Carlotta bei jedem ihrer Ausflüge aufs Wasser und zu Land begleitet. Was nun wohl aus dem Hund werden würde? Wahrscheinlich würde sich eines der Familienmitglieder um das Tier kümmern, zumindest bis ein neues Herrchen oder Frauchen gefunden war.

Während Jörn die Unterlagen sortierte, die er ins Feuerwehrhaus mitgebracht hatte, warf er immer wieder einen Blick durch eines der Fenster des Seminar- und Übungsraums hinaus zur Straße. Ella hatte ihm eine kurze Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen, dass sie am heutigen Donnerstag gegen neunzehn Uhr Zeit hätte, mit ihm seine Vorschläge fürs Catering zu besprechen. Inzwischen war es zehn nach sieben, doch von Ella war weit und breit nichts zu sehen.

Ob sie das Treffen schon wieder vergessen hatte? Das wäre ärgerlich, denn er hatte sich nach seiner letzten Fahrt mit der Fischerin extra beeilt, um rechtzeitig im Feuerwehrhaus zu sein. Bedingt durch die tägliche leichte Verschiebung der Gezeiten, änderten sich auch stets die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Ausflugsschiffe, und heute waren sie erst um kurz vor halb sieben im Hafen eingelaufen. Bis alle Gäste von Bord gegangen waren und er sich um alles Wichtige auf dem Kutter gekümmert hatte, war es dann schon reichlich knapp geworden. Deshalb hatte er sich auch noch nicht umgezogen, sondern suchte sich nun, da er seine Unterlagen noch einmal durchgegangen war, aus seinem Spind Jeans heraus, die er stets zum Wechseln dort aufbewahrte, sowie ein schwarzes T-Shirt. Er schloss gerade die Knöpfe der Jeans, als er von draußen eine verärgerte weibliche Stimme vernahm.

***

»Verdammt noch mal, so warte doch! Ich habe nur zwei Beine und nicht vier. Ich kann nicht so schnell rennen wie du!«

Ist nicht mein Problem. Ich hab’s halt eilig. Na gut, eigentlich ist es schon mein Problem, weil du mich echt nervig ausbremst. Würdest du mir mal diese blöde Leine abnehmen, könnte ich viel schneller rennen. Mein Frauchen nimmt mich fast nie an die Leine, außer wir gehen durch die Stadt, wo man das wohl muss oder wo viele fremde Leute sind, die mich nicht kennen.

Überhaupt: Wo ist mein Frauchen? Ich hab sie schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen und vermisse sie. Oder … Moment mal. Ach ja, stimmt, sie ist ja gestorben. So habt ihr das genannt. Sie lag neulich morgens ganz, ganz still in ihrem Bett und hat sich nicht gerührt und auch gar nicht mehr geatmet. Ich wusste gleich, dass da was nicht stimmt, und hab gebellt und gejault, bis jemand gekommen ist. Dann haben plötzlich alle geweint. Ich auch. Aber … Kommt sie jetzt wirklich nicht mehr wieder? Niemals? Das ist echt schlimm. Was soll ich denn ohne sie machen? Sie war doch mein geliebtes Frauchen. Und jetzt bin ich dauernd bei dir, Ella.

Du bist zwar auch nett, aber mal ehrlich, du hast überhaupt keine Ahnung von Hunden. Von mir ganz speziell schon mal gar nicht. Und du bist schrecklich langsam, auch wenn du viel jünger bist als mein Frauchen. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass du mich ständig anleinst und anbindest. Da kann man ja keine Geschwindigkeit aufnehmen. Einfach unmöglich. Außerdem schimpfst du immer gleich, wenn dir was nicht passt. So was kann ich ja gar nicht vertragen. Da schalte ich die Ohren auf Durchzug, jawohl. Wo gehen wir jetzt eigentlich hin? In das große weiße Haus mit dem riesigen Rolltor etwa? Frauchen hat es immer das Feuerwehrhaus genannt. Was auch immer das bedeuten mag. Bin ja mal gespannt, was wir da machen.

»Mensch, endlich wirst du mal langsamer.« Mit einem Schnaufen blieb Ella neben Barnabas stehen und wischte sich rasch ein paar Schweißperlen von der Stirn. Hoffentlich versaute sie sich damit nicht ihr Make-up, obwohl … Nach dem langen Tag war es vermutlich eh so gut wie hinüber. Sie hatte auch nur ein bisschen mehr davon als sonst aufgelegt, um ihre Blässe und die Ringe unter den Augen zu kaschieren. Normalerweise brauchte sie bloß einen Hauch Puder für ihren leicht dunklen Teint, um den viele Frauen sie beneideten. Doch seit sie vom Tod ihrer geliebten Großmutter erfahren hatte, fühlte sie sich wie erschlagen vom vielen Weinen und ihrem schmerzenden Herzen. Ganz zu schweigen von dem Stress, den sie jetzt hatte, weil Oma Carlotta doch tatsächlich ein Schriftstück in ihrem Notfallaktenordner aufbewahrt hatte, in dem sie im Falle ihres Ablebens Ella als neues Frauchen für Barnabas eingesetzt hatte. In dem Schreiben stand auch, dass sie dies auch in ihrem Testament verfügt habe, das aber natürlich jetzt noch nicht verlesen wurde, sondern erst nach der Trauerfeier und Beisetzung.

Ella wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Oma Carlotta hatte ihr nie etwas darüber gesagt, dass sie ihr Barnabas vererben wollte. Der Bearded Collie war fünfzehn Monate alt, und ihre Großmutter hatte ihn bereits als Welpen übernommen und sich liebevoll um ihn gekümmert. Angeblich gehorchte Barnabas auch aufs Wort und war ein wunderbarer, treuer Gefährte. Zumindest hatte Oma Carlotta das immer behauptet. Ella hatte auch nie daran gezweifelt, denn in Gegenwart ihrer Großmutter hatte sich der Hund stets mustergültig verhalten. In dem Schreiben hatte Carlotta in ein paar persönlichen Worten an Ella erwähnt, dass sie sich sicher sei, Ella und Barnabas würden schnell Freunde, und dass Ella ganz sicher das beste Frauchen überhaupt für die hübsche Fellnase werden würde.

Im Augenblick haderte Ella jedoch eher mit ihrem Schicksal, denn Barnabas hörte mitnichten aufs Wort – oder überhaupt auf irgendetwas, was sie von sich gab. Ihre Eltern hatten sie getröstet, dass der Hund vermutlich nur verwirrt sei und um sein Frauchen trauere. Das konnte Ella sogar gut verstehen. Doch manchmal kam es ihr so vor, als ignoriere Barnabas sie absichtlich und wolle sie ärgern, indem er seine Ohren auf Durchzug stellte und einfach tat, was er wollte. Zum Beispiel Ella wie ein Fähnchen im Wind hinter sich her durch Lichterhaven ziehen. Sie hatte Schwierigkeiten gehabt, ihn dazu zu bewegen, ihr zu folgen und nicht aus Trotz über ihre Richtungswechsel an jedem Grashalm stehen zu bleiben und mehr als ausgiebig zu schnüffeln oder einfach in eine andere Richtung loszurasen. Zweimal war er ihr sogar beinahe entwischt, weil er sich so in die Leine geworfen hatte, dass diese ihr fast entglitten wäre.

Nun war sie erleichtert, endlich – aber leider fast eine Viertelstunde zu spät – an ihrem Ziel angekommen zu sein. Hinter einem der Fenster bemerkte sie eine Bewegung und sah gleichzeitig, dass die Eingangstür des Feuerwehrhauses nicht verschlossen war, sondern einen Spaltbreit offen stand. Entschlossen rückte sie den Riemen ihrer roten Umhängetasche auf ihrer Schulter zurecht und nahm die Leine etwas kürzer. »Komm, Barnabas, hier entlang.«

Was? Wohin? Da rein? Echt jetzt? Was sollen wir denn da? Ich würde viel lieber hier draußen herumschnüffeln oder runter ans Wasser. Da ist es viel schöner. Hey, zerr doch nicht so an der Leine! Ich komme ja schon. Du liebe Güte, bist du schlecht gelaunt!

»Nun komm schon, ich bin eh schon viel zu spät dran!« Leicht genervt betrat sie das Feuerwehrhaus, in dem es nach Zitrusreiniger, Motoröl und Kaffee roch, und schloss die Tür hinter sich. Zielstrebig steuerte sie auf den großen Seminar- und Übungsraum 1 zu, dessen Tür ebenfalls nur angelehnt war und sich nur wenige Schritte vom Eingang entfernt befand. Als sie eintrat, blieb sie für einen Moment wie angewurzelt stehen. Jörn Paulsen stand nur knapp zwei Meter von ihr entfernt an der kleinen Küchenzeile und hantierte mit der Kaffeemaschine herum. Er drehte ihr den Rücken zu – den nackten Rücken. Über seiner Schulter hing ein schwarzes T-Shirt.

Für eine oder zwei Sekunden erlaubte sie sich, seine schmalen Hüften und den muskulösen Oberkörper zu bewundern, wie es wohl jede Frau getan hätte, die über einen funktionierenden Puls verfügte. Dann jedoch schoss Barnabas mit einem freudigen Bellen an ihr vorbei auf Jörn zu und sprang ihn übermütig an.

Hallo, hallo, hallo. Da ist ja mein Kumpel Jörn. Wie schön, dich zu sehen!

»Halt, stopp! Barnabas, wirst du wohl aufhören!« Hilflos versuchte Ella, den Hund zurückzuziehen, doch es gelang ihr nicht.

Nö, jetzt gerade nicht. Ich muss doch Jörn begrüßen. Das ist mein allerbester guter Kumpel. Den mag ich gern! Hallo, Jörn, wie geht es dir?

Ella verstummte, weil sie einsah, dass der Hund nicht auf sie hörte, und weil Jörn sich in diesem Moment zu ihr umdrehte und ihr auch noch Gelegenheit gab, seinen nicht minder muskulösen und wohldefinierten Brustkorb zu betrachten. Und die verdammt tief sitzenden Jeans. Wenn sie nicht gerade so gestresst gewesen wäre und Jörn zudem grundsätzlich nicht ihr Typ, wäre ihr geradezu heiß geworden. Seelenruhig begrüßte er den Hund, der sich daraufhin schnell wieder beruhigte.

Um sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen, legte Ella mit einem feinen, mit leichtem Spott unterlegten Lächeln den Kopf schräg. »Sieh mal einer an. Wird man hier im Feuerwehrhaus immer mit einem Striptease begrüßt? Gehört das zu eurer neuen Werbemasche, oder übst du schon mal für den nächsten Feuerwehrkalender?«

Jörns Augenbrauen wanderten in die Höhe, als er sie musterte. »Weder noch. Ich bin bloß noch nicht dazu gekommen, mich umzuziehen. Wenn ich gewusst hätte, dass du so spät kommst … Wir hätten das Treffen auch auf halb acht legen können.«

»Ich wollte ja pünktlich hier sein.« Mit einem Anflug von Missmut blickte sie auf Barnabas, der sich neben Jörn gesetzt hatte und ihn anhimmelte, während dieser dem Hund sanft durch das Fell wuschelte. »Barnabas hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.«

»Inwiefern?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Egal. Jetzt bin ich ja hier.« Unschlüssig blickte sie sich um. »Kann ich Barnabas hier irgendwo anbinden?«

»Wozu?« Verwundert richtete Jörn sich wieder auf und zog nun endlich sein T-Shirt an.

»Damit er nicht überall rumschnüffelt oder wegläuft.«

»Wohin soll er denn laufen? Die Tür ist doch zu.« Noch während Jörn sprach, löste er die Leine von Barnabas’ Geschirr und reichte ihr das lose Ende.

Oh, danke sehr! Schon viel besser ohne dieses lästige Ding. Eigentlich habe ich gar nichts gegen Leinen, aber Ella übertreibt es wirklich. Ständig hält sie mich kurz oder bindet mich an. So als wäre ich ein Schwerverbrecher. Fröhlich wedelte Barnabas mit der Rute und machte sich mit erhobener Nase auf einen Rundgang durch das Feuerwehrhaus.

»Halt, bleib hier!« Ella wollte ihm schon folgen, hielt jedoch inne, als sie Jörns amüsierte Miene sah. »Was?«

»Lass ihn doch. Er kann hier drinnen nichts falsch machen. Möchtest du auch einen Kaffee?«

»Um die Uhrzeit noch?« Rigoros schüttelte sie den Kopf. »Dann schlafe ich die halbe Nacht nicht.«

»Sonst etwas? Cola? Wasser? Steht beides im Kühlschrank. Öffner liegt auf dem Tisch.« Seelenruhig wandte Jörn sich wieder der Kaffeemaschine zu, der inzwischen intensiver Duft entstieg. Er goss sich einen Kaffee ein, gab einen Würfel Zucker dazu und trug die Tasse hinüber zu einem der länglichen Tische, die aneinandergeschoben worden waren, um eine zusammenhängende Fläche zu bilden, um die herum fünfundzwanzig Stühle verteilt waren.

Rasch holte Ella sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich damit Jörn schräg gegenüber. Während sie die Flasche öffnete, klappte Jörn bereits den Ordner auf, den er bereitgelegt hatte und in dem er säuberlich mit Trennblättern unterteilt seine Unterlagen für das Jubiläumsfest abgeheftet hatte. Auch Ella entnahm ihrer Tasche einen Ordner und schlug ihn auf. Zuoberst hatte sie Jörns Blatt mit dem Brainstorming geheftet, auf das sie mit roter und grüner Farbe unzählige Anmerkungen gekritzelt hatte.

»Was ist das denn?« Jörns Blick war prompt auf ihren Notizen gelandet. »Das sieht ja aus wie eine korrigierte Klassenarbeit.«

Sie lächelte leicht. »Wenn deine Klassenarbeiten nach der Korrektur so aussahen, wundert es mich ehrlich gesagt, dass du das Abitur geschafft hast – von allem anderen ganz zu schweigen.«

Wieder wanderten seine Augenbrauen ein wenig in die Höhe. »Ich meine ja bloß. Was hast du denn da alles hingekritzelt? Meine Vorschläge waren doch ziemlich eindeutig.«

»Vorschläge, das ist das Stichwort.« Sie zog einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und tippte damit auf die ersten Zeilen. »Es sind doch bloß Ideen und Anregungen, nicht wahr? Und ich habe dazu die Alternativen notiert, von denen ich überzeugt bin, dass sie noch besser passen würden.«

»Alternativen?« Seine Brauen erreichten jetzt fast seinen dichten, dunkelblonden Haaransatz. »Wir hatten im Vorstand bereits alles genau besprochen und darüber abgestimmt.«

»Dann stimmt ihr eben noch mal ab.« Unbekümmert ließ Ella den Kugelschreiber klicken. »Ich habe mir eure Vorschläge«, sie betonte das Wort beiläufig und doch mit Nachdruck, »sehr genau angesehen. Grundsätzlich seid ihr auch schon auf dem richtigen Weg, aber wenn wir hier und da ein wenig an den Stellschrauben drehen, wird das Catering für euer Jubiläum einfach umwerfend gut.«

»Ach. Und was wäre es, wenn wir nicht an den Stellschrauben drehen?«

»Ganz okay, aber leider kein bisschen besonders.« Sie strahlte ihn mit siegessicherer Miene an, weil sie genau wusste, dass sie recht hatte. »Ihr wollt doch bestimmt alle, dass den Leuten euer Jubiläum im Gedächtnis bleibt, oder? Also mindestens bis zum nächsten Jubelfest in vermutlich fünfundzwanzig Jahren. Also müssen wir uns ein bisschen ins Zeug legen.«

»Ich dachte, das hätten wir bereits getan.« Jörns Miene verriet, dass er alles andere als froh über den Gedanken war, dem Vorstand des Kameradschaftsvereins ein neues Konzept vorlegen zu müssen.

»Im Rahmen eurer Möglichkeiten habt ihr das bestimmt.« Obwohl sie wusste, dass sie Jörn damit provozierte, behielt sie ihren beiläufigen, überlegenen Ton bei. Das geschah ganz automatisch, weil sie wusste, dass er darauf allergisch reagierte. Sie meinte es gar nicht böse, sondern hatte einfach nur Spaß daran, ihn ein bisschen zu ärgern. »Aber Hannah, Caroline und ich sind die Profis und deshalb ja auch engagiert worden …«

»Nicht von mir!«

»… um euch bei diesen Dingen unter die Arme zu greifen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Du wirst sehen, wenn wir mit der Planung fertig sind, haben wir ein unvergessliches Fest gezaubert. Na ja, zumindest die Bewirtung wird unvergesslich sein. Und die Dekoration. Für alles Übrige seid ihr selbst verantwortlich.«

***

Jörn wusste nicht, ob er lachen oder Ella erwürgen sollte. Er hatte geahnt, dass es nicht ganz einfach werden würde, mit ihr zusammenzuarbeiten. Doch ihre frech-überhebliche Art, gepaart mit ihrem Strahlelächeln, das sie bereits mit süßen fünfzehn oder sechzehn perfektioniert hatte, machte ihm nun erst richtig deutlich, auf was er sich da eingelassen hatte. Oder vielmehr, was man ihm aufgezwungen hatte.

Freiwillig hätte er die Foodsisters wahrscheinlich nicht engagiert. Oder vielleicht doch, weil seine Cousine Caroline diesem zugegebenermaßen inzwischen recht erfolgreichen Trio angehörte. Wenn er mit ihr hätte verhandeln müssen, wäre es auch bestimmt etwas anderes gewesen, doch Ella war ein ganz anderes Kaliber als Caroline. Energisch, selbstbewusst, zielstrebig und – ja – auch ein wenig überheblich. Zumindest ihm gegenüber. Zusammen mit ihrer unbestrittenen Klugheit eine herausfordernde Mischung. Da half auch das Wissen wenig, dass sie ihr Metier wirklich verstand. Ella war anstrengend, und wie man es drehte und wendete, die kommenden Wochen würden nervenaufreibend werden. Normalerweise versuchte er, Ella zu ignorieren, wenn sie ihm auf den Geist ging, oder er ging ihr aus dem Weg. Sie war schon während ihrer Schulzeit die erklärte Partyqueen von Lichterhaven gewesen, quirlig, frech, offen und stets gut gelaunt. Und bildhübsch. Lange schwarze Haare, strahlend blaue Augen, leicht getönter Teint, volle Lippen. Dazu war sie schlank, aber nicht zu sehr. Die Natur hatte ihr genau an den richtigen Stellen Rundungen verpasst, die kaum einem männlichen Wesen entgehen konnten. Da sie dies genau wusste, betonte sie ihre Vorzüge stets mit engen Tops, raffinierten Ausschnitten, engen Jeans oder farbenfrohen und meist kurzen Röcken oder Kleidern. Auch heute trug sie eine hautenge, mit Rosen bestickte dreiviertellange Jeans, rote Riemchensandalen und eine taillierte, ärmellose Bluse, deren oberste drei Knöpfe offen standen und den Blick geradezu auf ihr Dekolletee lenkten – und auf das spitzenbesetzte schwarze Top, das sie unter dem roten Blüschen trug und das mitnichten den sexy Eindruck schmälerte.

Rein optisch hätte er sich ohne Frage von ihr angezogen fühlen können, doch ihre Persönlichkeit war ihm zu nervenaufreibend. Zwar mochte er durchaus selbstbewusste Frauen, liebte zugleich aber auch seine Seelenruhe. In Ellas Gegenwart kam ihm die jedoch regelmäßig abhanden. Auch jetzt zerrte sie bereits leicht an seinen Nerven, obgleich sie sich noch gar nicht lange in einem Raum aufhielten. Vielleicht lag es an ihrem geradezu selbstgefälligen Lächeln, als sie ihm nun das Blatt mit ihren bunten Kritzeleien hinschob.

»Sieh mal hier. Ich habe eure Ideen ein bisschen erweitert und angepasst. Modernisiert könnte man auch sagen.«

»Hältst du uns für altmodisch?« Jörn versuchte angestrengt, die krakelige Schrift zu entziffern.

»Ganz ehrlich?« Ella grinste. »Ja. Ziemlich. Vielleicht liegt es daran, dass deine Vorstandsmitglieder alle deutlich älter sind als du und du dich ihrer Sicht angepasst hast.« Sie legte den Kopf schräg. »Na ja, du selbst bist auch eher der konservative Typ und merkst deshalb nicht, dass euer Konzept ein wenig altbacken rüberkommt.«

»Altbacken?« Hüstelnd griff Jörn nach seiner Kaffeetasse und nahm einen großen Schluck. »Übrigens ist Thorsten nicht viel älter als ich und seit Kurzem unser Beirat. Wir haben ihn extra für die Festplanung in den Vorstand berufen.«

»Mag sein, trotzdem steht es immer noch zwei gegen vier, denn wenn ich mich nicht verzählt habe, sind zwei weitere Beiräte, der Schriftführer und die Schatzmeisterin bereits weit jenseits der fünfundfünfzig. Vielleicht solltet ihr euch in absehbarer Zeit mal ein bisschen verjüngen.«

»Das ist frühestens zur nächsten Wahl geplant, wenn die entsprechenden Leute weitere Kurse belegt und dann hoffentlich mehr Zeit für den Vorstand haben.«

»Meinetwegen.« Ella zuckte mit den Achseln. »Soweit ich es sehe, fehlt uns bei eurem Konzept einfach die Innovation. Zum Beispiel habt ihr zwar an die Vegetarier und Veganer gedacht, aber ihnen nur ziemlich langweilige Alternativen geboten. Mit ein bisschen Fantasie kann man diese aber durch Sachen ersetzen, die so toll und irre lecker sind, dass wir am besten gleich die dreifache Menge herstellen, damit sie nicht von der Fleischliebhaberfraktion weggefuttert werden. Guck nicht so, das ist schon passiert.«

»Und was für Fantasien hast du bezüglich der Veganerversorgung?«

»Oh, so einige.« Rasch schlug Ella ihren Ordner zu, schob ihn beiseite und zog stattdessen eine Mappe mit unzähligen Fotos und Menüvorschlägen aus ihrer Tasche hervor. »Schau mal hier …« Sie zuckte heftig zusammen, als es in der Fahrzeughalle laut klapperte. Gleich darauf bellte Barnabas empört. »Oh Gott, jetzt hat er doch was kaputt gemacht!« Erschrocken sprang Ella auf und rannte zur Tür.

»He, warte doch mal.« Kopfschüttelnd und ganz und gar nicht eilig erhob Jörn sich und folgte ihr in die Halle, in der die drei Feuerwehrfahrzeuge mit unterschiedlicher Ausstattung geparkt waren. Auf der rückwärtigen Seite befanden sich offene Spinde, in denen die Feuerwehrmonturen der Mitglieder aufbewahrt wurden. Über jedem Spind war eine Halterung für den Helm angebracht. Dahinter befanden sich die Umkleideräume, Duschen und Toiletten.

»Barnabas, du liebe Zeit, was hast du denn da angestellt?« Ellas Stimme klang erschrocken und auch ein wenig hektisch. »Du darfst doch hier nichts kaputt machen. Am Ende muss ich das noch bezahlen.«

»Was hat er denn kaputt gemacht?« Jörn ging auf den immer noch empört bellenden Barnabas zu und musste dabei das Einsatzleiterfahrzeug umrunden. Danach erst sah er die Ursache für den Aufruhr. Auf dem Boden lag eine mannsgroße Puppe. Ein fast lebensechter Dummy, mit dem sie häufig bei Übungen arbeiteten. »Ach Gottchen, wie hast du denn unseren Ottokar von seinem Platz geholt?« Normalerweise stand die Puppe neben einer weiteren, weiblichen in der Ecke der Halle an der Wand und war an einem Haken befestigt, damit sie nicht umkippte.

Ottokar? Ottokar? Wer ist das? Dieses Ding hier? Sieht aus wie ein Mensch, ist aber keiner. Ich dachte aber erst, das Ding wäre ein echter Mann. Sieht ja fast so aus. Aber es riecht nicht so. Und als ich dran hochgesprungen bin, kam es mir einfach entgegengeflogen. Da muss man sich doch erschrecken, oder nicht? Ich dachte, ich hätte einen Menschen umgeschmissen. Noch einen, der sich nicht mehr rührt und nicht mehr atmet. Und jetzt sehe ich erst, dass es gar kein echter Mensch ist. Herrje, ich weiß gar nicht, wohin mit mir vor Schreck.

»Ottokar?« Ella war neben der Puppe in die Knie gegangen und versuchte, sie umzudrehen. »Ganz schön schwer.«

»Lass liegen. Das Ding wiegt fast neunzig Kilo.« Jörn achtete nicht weiter auf die Puppe, sondern ging neben Barnabas in die Hocke. »Na, mein Freund, da hast du dich aber ordentlich erschreckt, was?«

Barnabas hörte auf zu bellen, wedelte aber immer noch hektisch mit der Rute. Und wie! Aber jetzt, da du mich so streichelst, werde ich doch langsam wieder ruhiger. Danke sehr. Barnabas setzte sich laut hechelnd auf sein Hinterteil.

»Ganz ruhig. Schau, das ist bloß unsere Übungspuppe Ottokar, der anscheinend nicht richtig am Haken befestigt war.« Jörn deutete auf die Schlaufe auf dem Rücken der Puppe. Daneben klaffte ein großes Loch im gestreiften Hemd. Rasch erhob Jörn sich und trat an die weibliche Puppe heran, um ihre Befestigung zu prüfen. »Nein, die gute Mary ist okay, da passiert nichts.«

»Hat Barnabas das Ding kaputt gemacht?« Ella zupfte an dem zerfetzten Hemd herum. »Ich bezahle das. Oder besser noch, ich flicke es. Oder besorge ein neues Hemd. Tut mir echt leid. Deshalb wollte ich ihn anbinden. Dauernd stellt er etwas an.«

Also, dauernd ist dann doch ein bisschen übertrieben. Barnabas brummelte beleidigt. Ich mache nie etwas absichtlich kaputt. Kann ich wissen, dass das nur Puppen sind? Ich habe mich erschreckt. Erschreckt, hörst du? So was kann jedem Mal passieren. Schnüff.

»Kein Grund zur Aufregung.« Betont ruhig wandte Jörn sich Ella wieder zu. Sie vibrierte geradezu vor Energie – negativer Energie in diesem Fall. »Ist doch bloß ein Dummy.«

»Ja, aber jetzt ist er kaputt, und Barnabas ist schuld. Ich weiß gar nicht …«

»Ella.« Kopfschüttelnd blickte er auf sie hinab. Ella war einen ganzen Kopf kleiner als er und wirkte im Augenblick wie ein aufgeregtes Vögelchen. »Krieg dich wieder ein. Barnabas hat sich wahrscheinlich nur vor den Puppen erschreckt, weil sie ziemlich lebensecht aussehen. Dann hat er die eine angesprungen, und sie ist runtergekracht. Das ist aber nicht seine Schuld und deine schon mal gar nicht. Wer auch immer Ottokar aufgehängt hat, hat ihn am Hemd anstatt an der Schlaufe befestigt.«

»Ja, und jetzt ist es kaputt, weil Barnabas dagegen gesprungen ist.« Ella beruhigte sich wieder, blickte aber weiterhin unschlüssig auf das zerrissene Hemd. »Ich repariere das, okay?« Wieder ging sie in die Hocke und versuchte, die Puppe zu drehen. Nach zwei Versuchen schaffte sie es schließlich und knöpfte das Hemd eilig auf.

Jörn sah ihr dabei zu und entschied sich, über ihren Eifer zu grinsen. »Das machst du ziemlich routiniert. Anscheinend hast du eine Menge Übung darin, Männer von ihren Klamotten zu befreien.«

Ruckartig hob Ella den Kopf. Erst runzelte sie die Stirn, dann grinste sie ebenfalls. »Ein bisschen. Warum auch nicht? Außerdem ist es einfacher, wenn sich das Objekt, das man entkleiden will, nicht wehrt.«

Jörn prustete. »Welcher Mann hätte sich gegen dieses Ansinnen deinerseits denn jemals gewehrt?«

»Vielleicht ist wehren der falsche Ausdruck.« Energisch zerrte Ella dem Dummy das Hemd über die Schulter. »Im Eifer des Gefechts kann es schon mal kompliziert werden.«

»Wenn du das sagst.« Jörn erbarmte sich und fasste mit an. Er richtete Ottokar ein wenig auf, damit Ella das Hemd von den Armen der Puppe streifen konnte. »Es ist aber wirklich nicht notwendig, dass du das Hemd reparierst. Das kriege ich schon hin.«

»Tut mir leid, aber das muss jetzt sein. Ich bin für Barnabas verantwortlich. Wenn er etwas kaputt macht, selbst wenn es keine Absicht war, komme ich für den Schaden auf.«

»Na gut, wie du meinst.« Er zögerte. »Du bist für ihn verantwortlich? Heißt das, du hast Barnabas adoptiert?«

Ella faltete das Hemd unordentlich zusammen. »Ja, sozusagen. Nicht ganz freiwillig. Oma Carlotta hat testamentarisch verfügt, dass ich sein neues Frauchen werden soll. Ich wusste gar nichts davon. Im Grunde habe ich zwar nichts gegen Hunde und mag Barnabas eigentlich auch ganz gern …«

»Eigentlich?« Er neigte den Kopf leicht zur Seite.

Ella hob die Schultern. »Bei Oma Carlotta war er immer ein Musterhund. Lieb und brav und alles. Aber seit er bei mir ist, ist er ziemlich ungezogen.«

Ungezogen? Ich? Stimmt doch gar nicht. Okay, ich bin ein bisschen durcheinander, aber du bist es doch, die wegen jeder Kleinigkeit gleich schimpft und mich anbindet und alles. Das mag ich halt nicht. In einem fast schon beleidigten Tonfall brummelte Barnabas vor sich hin und blickte anklagend zu Ella auf.

Jörn musterte den Bearded Collie eingehend und hockte sich vor ihn hin. »Ist das wahr, Barnabas? Benimmst du dich bei Ella ungezogen?«

Nein, wie gesagt, gar nicht. Oder … na ja. Aber sie ist selbst schuld! Mit Unschuldsmiene erwiderte der Hund Jörns Blick und wedelte leicht mit der Rute.

»Bürsten lässt er sich auch nicht, dabei hätte er es dringend nötig.« Ella seufzte unterdrückt. »Ich glaube, er kann mich nicht leiden.«

Doch, kann ich wohl. Wenn du mal nicht herummeckerst.

»Das ist doch Unsinn. Ihr seid doch bisher auch gut miteinander ausgekommen. Oder etwa nicht?« Fragend blickte Jörn zu Ella auf und kraulte Barnabas dabei hinter den Ohren.

»Ja, wie gesagt, da war Oma Carlotta auch immer dabei, und Barnabas hat ihr aufs Wort gehorcht. Bei mir hört er nicht mal auf ein einfaches Sitz.«

Eingehend musterte Jörn erneut den Hund. »Ich glaube, du musst ihm ein bisschen Zeit geben. Immerhin hat er gerade sein Frauchen verloren. Bestimmt ist er ganz verwirrt und trauert. Genau wie du … und wir alle.«

Ella ließ die Schultern hängen. »Kann sein, ja, aber muss er deshalb alle guten Manieren vergessen?«

»Keine Ahnung.«

Jörn richtete sich wieder auf. »Lass uns zurück an die Arbeit gehen.« Er hob den Dummy an und setzte ihn unter Mary in die Ecke. »Komm, Barnabas, wir suchen dir mal eine Schale, die wir mit Wasser füllen können.« Er machte eine beiläufige Geste mit der Hand, die er sich bei Carlotta abgeschaut hatte.

Oh, Wasser? Das klingt gut. Ich habe nämlich Durst nach der ganzen Aufregung. Ohne Weiteres folgte Barnabas Jörn hinüber zu der Küchenzeile im Übungsraum 1. Auf ein weiteres Handzeichen hin ließ er sich brav auf sein Hinterteil sinken und wartete geduldig, bis Jörn eine Metallschüssel mit Wasser gefüllt und vor ihm abgestellt hatte.

»Moment, warte.« Jörn gab ein weiteres Handzeichen, woraufhin Barnabas sich erneut setzte und ihn erwartungsvoll ansah. »Alles klar, jetzt darfst du trinken.« Er deutete auf die Schüssel, und Barnabas tauchte sogleich seine Nase in das kühle Nass.

Bedeutsam blickte Jörn Ella an, die in der Tür stehen geblieben war und ihnen mit großen Augen zugesehen hatte. »Wo liegt das Problem? Gib ihm klare Ansagen, dann macht er alles, was du willst.«

»Haha. Als hätte ich das nicht längst versucht.«

»Vielleicht bist du ihm ein bisschen zu hektisch.« Seelenruhig nahm Jörn wieder Platz auf seinem Stuhl. »Lass uns jetzt mit diesem Menüplan weitermachen. Ich will nicht den ganzen Abend hier sitzen.«

3. Kapitel

Nachdem Ella mit Barnabas das Feuerwehrhaus eine Stunde später wieder verlassen hatte, brummte Jörn der Schädel. Er räumte rasch noch ein wenig auf, klemmte sich seinen Aktenordner unter den Arm und machte sich auf den Weg nach Hause. Er wohnte in einer ruhigen Seitenstraße, nicht allzu weit vom Feuerwehrhaus und nur rund hundert Meter vom Deich entfernt.

Am besten, so überlegte er, während er einen flotten Schritt vorlegte, würde er nachher noch einen kleinen Spaziergang ans Wasser machen. Er musste wieder zur Ruhe kommen und über all die neuen Vorschläge nachdenken, die Ella ihm unterbreitet hatte. Sie hatten sich mehrfach die Köpfe heißgeredet, weil er ihre Ideen hier und da doch etwas zu gewagt fand. Vor allem ihr Konzept, die ganze Deko im Stil witziger Karikaturen zu gestalten – als Kontrast zum und gleichzeitig angepasst an das Programm und die Deko des historischen Stadtfestes. Ob sein Vorstand damit einverstanden sein würde, war sehr fraglich. Er selbst war ja schon ein bisschen überrumpelt, wenn auch nicht vollends abgeneigt. Aber Ella hatte schon recht, das Vorstandsteam bestand bis auf ihn und Thorsten aus deutlich älteren Personen, und das merkte man an der Art, wie sie die Pläne für die Jubiläumsfeier angingen.

Es würde also noch ein gutes Stück Überzeugungsarbeit vor ihm liegen, gepaart mit der Aussicht auf etliche weitere Besprechungen der heutigen Art. Denn auch wenn Ella einige gute Ideen gehabt hatte, wollte er doch seine Ansichten dazu weiterhin in die Waagschale werfen. Ganz altmodisch war er nun auch wieder nicht. Konservativ in mancherlei Hinsicht schon, das stimmte. Aber schließlich musste er auch darauf achten, dass alle Mitglieder der Feuerwehr gehört und dass die älteren Gäste beim Jubiläum nicht von zu viel ausgeflippten Ideen abgeschreckt wurden. Er behielt gerne das große Ganze im Auge und war daran gewöhnt, ausgleichend auf seine Mitmenschen, insbesondere innerhalb der Feuerwehrtruppe, einzuwirken, um den Frieden zu wahren. Bei Ella gelang ihm das eher selten, denn sie hatte nun mal ihren eigenen Kopf – und zwei Freundinnen und Kolleginnen, die mit Sicherheit hinter ihr standen und ebenfalls auf die flippige Variante standen.

Was den Zwischenfall mit Barnabas anging, so wunderte er sich noch immer, wie wenig souverän Ella damit umgegangen war. Normalerweise ließ sie sich von Kleinigkeiten nicht aus der Ruhe bringen. Deshalb und weil sie ein Organisationstalent war, hatten Hannah und Caroline sie zur Sprecherin und Frontfrau der Foodsisters ernannt. Mit ihrer selbstsicheren und stets freundlichen und fröhlichen Art hielt Ella die Zügel im Allgemeinen fest in der Hand. Zumindest hatte Jörn bisher diesen Eindruck von ihr gewonnen. Doch was Barnabas anging, schien sie ein wenig aus der Bahn geraten zu sein. Allerdings musste er zugeben, dass der Hund anscheinend wirklich beschlossen hatte, nicht auf sein neues Frauchen zu hören. Jörn konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er sich daran erinnerte, wie Barnabas, nachdem Ella ihm die Leine wieder angelegt hatte, wie ein Torpedo zur Tür hinausgeschossen war und Ella hinter sich hergezerrt hatte.

Auf der kurzen Strecke zu seinem Haus im Sandkornweg wanderten seine Gedanken rasch wieder zu den Aufgaben, die sich vor ihm auftürmten. Nicht nur musste er dem Vorstand schonend beibringen, dass die Foodsisters fast alle bisherigen Ideen für unmodern hielten, sondern er musste auch noch die Helferlisten erstellen und ausdrucken, damit er sie bei der nächsten Übung am Sonntagvormittag im Feuerwehrhaus auslegen konnte. Bei der Gelegenheit würde er noch einmal sehr eindringlich darauf pochen müssen, dass wirklich alle Mitglieder der Truppe – und auch deren Partner und Partnerinnen – sich fleißig beteiligen mussten, damit alles so klappte, wie sie sich das vorstellten. Dass das Catering wegen der Kooperation mit dem Stadtfest teilweise aus ihren Händen genommen war, erleichterte die Planung, zumindest theoretisch, und wenn Jörn nicht über den Stress nachdachte, den er dafür mit Ella haben würde, war er dafür sogar dankbar. Von früheren Feuerwehrfesten war nur allzu bekannt, dass gerade die Helferjobs bei Essensausgabe und Getränkeausschank schwierig zu besetzen waren.

Dieses Jahr würden die Foodsisters von der Stadt bezahlte Aushilfen stellen, sodass Jörn seine eigenen Leute anderweitig einsetzen konnte. Zumindest ein paar davon. Manche würden sicherlich dennoch bei der Getränke- und Speisenausgabe mithelfen müssen. Und an der guten alten – ja, auch altmodischen – Sektbar. Von deren Betrieb, obgleich sie eigentlich eher in die Neunzigerjahre passte, wollte er sich nicht abbringen lassen. Nach kurzem Hin und Her hatte Ella ihm schließlich sogar zugestimmt und wollte jetzt auch dafür ein neues Konzept ausarbeiten. Hoffentlich kein zu kompliziertes oder abgehobenes.

Eine weitere Liste für Kuchenspenden musste ebenfalls erstellt werden, denn auch wenn seine Cousine Caroline eine wahnsinnig tolle Bäckerin und Konditorin war, würden sie doch nicht auf die traditionellen, selbst gebackenen Kuchen verzichten.

Am Sonntagnachmittag war dann noch ein Treffen derjenigen anberaumt, die dieses Jahr halfen, den Festwagen zu bauen. Zwar hatten sie aus dem vergangenen Jahr bereits einen riesigen Wagen, der einem modernen Feuerwehrauto nachempfunden war und von einem Traktor gezogen werden konnte, doch Jörn hatte mit seinem Vorschlag, auch das eine oder andere historische Fahrzeug nachzubauen, großen Anklang bei der Truppe gefunden. Sie hatten sich inzwischen auf zwei Wagen geeinigt, die bereits in unterschiedlichen Stadien der Entstehung begriffen waren. Beide Entwürfe kamen von Lars Verhoigen, der mit seinem Bruder Thorsten die alte Werft am Hafen wiedereröffnet hatte. Jetzt bauten sie dort kleine Jachten und Motorsportboote. Als Konstrukteur von Festwagen war Lars mittlerweile sehr begehrt. Soweit Jörn wusste, hatten sich auch schon andere Vereine mit der Bitte um Baupläne an ihn gewandt.

Im Geiste ging Jörn auf den letzten Metern zu seinem Haus auch noch die Materialbestellungen durch, die er online oder telefonisch morgen tätigen musste. Auch beim Baumarkt würde er dringend vorbeifahren müssen, am besten gleich mit dem großen Anhänger. Hoffentlich fand sein Bruder Max Zeit, ihm zu helfen.

An seinem Ziel angekommen, blieb Jörn für einen Moment an der hüfthohen Gartenpforte stehen. Jedes Mal, wenn er sie sah, wurde er daran erinnert, dass sie samt Zaun dringend gestrichen werden musste. Auch der Vorgarten verlangte nach einer ordnenden Hand, denn nach den Regenfällen der letzten Tage spross das Unkraut an allen Ecken und Enden. An den großen Garten hinter dem Haus wollte Jörn gar nicht erst denken. Meistens schaffte er es gerade so, den Rasen zu mähen und auch dort das Unkraut einigermaßen in Schach zu halten. Doch die großen Blumen- und Gemüsebeete lagen seit seinem Einzug brach, auch das Gewächshaus war bisher ungenutzt geblieben.

Nachdem seine Eltern vor drei Jahren beschlossen hatten, dass es an der Zeit war, ihren beiden Söhnen einen kleinen finanziellen Anschub für ihre jeweiligen Lebensentwürfe zu geben, hatten sie Jörn und seinen um vier Jahre jüngeren Bruder Maximilian gebeten, sich vorzeitig über ihr Erbe – zumindest einen großen Teil davon – einig zu werden.

Maximilian, der bereits verheiratet und Vater zweier Kinder war, bewirtschaftete seither den Bauernhof der verstorbenen Großeltern mütterlicherseits und hatte begonnen, den Betrieb auf ökologische Landwirtschaft umzustellen. Das war seine Hälfte des Erbes. Eric Paulsen, Jörns und Max’ Vater, half dort häufig aus, wenn er nicht gerade auf einem der Fischkutter rausfuhr, und wenn Inette Paulsen nicht gerade den Fischladen in der Lichterhavener Hauptstraße führte, hütete sie mit Begeisterung ihre beiden Enkelkinder.

Da auch Erics Eltern vor einigen Jahren verstorben waren, hatte Jörn nun deren Wohnhaus samt Garten übernommen und kümmerte sich in jeder freien Minute um die Renovierung und Modernisierung des in den frühen Siebzigerjahren erbauten Gebäudes.

Für einen Mann alleine war das Haus viel zu groß – immerhin hatten seine Großeltern es für eine sechsköpfige Familie gebaut. Doch er mochte es, sich ganz und gar überall ausbreiten zu können. Küche und Wohnzimmer hatte er inzwischen mittels Wanddurchbruch und Stahlträgern zu einem großen Raum verbunden. Nur die neue Kücheneinrichtung ließ noch auf sich warten. Bisher hatte er weder Zeit noch Geduld gehabt, sich in ein Küchenstudio zu begeben. Da er auch nur selten kochte, sondern sich meistens von mitgebrachtem oder geliefertem Essen – oder einfach frischem Brot mit Butter und Wurst oder Käse – ernährte, hatte er bislang auch noch keinen Anlass gehabt, sich in das Abenteuer Küchenplanung zu stürzen. Stattdessen hatte er die Fassade des Hauses von außen isoliert, neue Fensterbänke anbringen lassen und die Heizung im ganzen Haus erneuert. Auch sein Schlafzimmer und das ehemalige Bastel- und Nähzimmer seiner Großmutter hatte er bereits renoviert. Letzteres lag gleich neben dem Wohnzimmer und beherbergte jetzt sein Arbeitszimmer sowohl für Belange der Fischerei und des Ausflugsgeschäfts als auch für alles, was seinen Posten als Wehrführer betraf.

Dieser Raum war auch am ordentlichsten von allen. Regale mit Glastüren und verschließbare Aktenschränke säumten zwei Wände. Auf dem großen Schreibtisch stand sein Computer, daneben stapelten sich mehrere Ordner, säuberlich nach Geschäft und Feuerwehr getrennt. Über einem halbhohen Schiebeschrank neben der Tür hingen diverse gerahmte Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Lichterhavener Hafen, von den familieneigenen Kuttern, den jeweiligen Besatzungen und natürlich auch ein paar Schnappschüsse aus dem Laden.

Wenn er von seinem Schreibtisch aus nach rechts blickte, konnte er durch das große, zweiflüglige Fenster hinaus auf die Wiese sehen, hinter der der Deich aufragte. Hin und wieder grasten dort Schafe.

Jörn liebte diesen beschaulichen Ausblick. Heute jedoch achtete er gar nicht darauf. Er legte nur die Tasche mit seinen Akten zu den Ordnern auf dem Schreibtisch und zog die Tür des Arbeitszimmers gleich wieder hinter sich zu. Erst einmal wollte er seine innere Ruhe wiederfinden, und das ging am allerbesten, wenn er sich an die frische Luft begab.

Obwohl der Sommer gerade erst begonnen hatte, waren die Temperaturen heute bereits ungewöhnlich hoch gewesen. Inzwischen war zwar die leichte Brise, die ihn auf dem Kutter begleitet hatte, etwas aufgefrischt, dennoch reichte ihm die dünne dunkelblaue Windjacke mit dem Aufdruck der Lichterhavener Feuerwehr auf dem Rücken und auf der Brusttasche. Er warf sie sich über, schnappte sich sein Handy und seinen Schlüssel und befand sich nur wenig später bereits auf dem Schotterweg, der geradewegs auf den Deich zuführte.

Obwohl es inzwischen fast neun Uhr abends war, zwitscherten noch vereinzelt Vögel, und auch Möwen, Krähen und Elstern schossen auf der Suche nach einem späten Snack über ihn hinweg. Etwa alle hundert Meter führte eine steinerne Treppe den Deich hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab. Jörn nahm die dem Schotterweg am nächsten gelegene und sprintete nach oben auf die Deichkuppe. Dort führte ein asphaltierter Weg entweder nach links auf das Lichterhavener Zentrum und den Hafen zu oder nach rechts, an der noch ganz neuen, künstlich angelegten Badebucht vorbei und auf den Leuchtturm zu. Dahinter befand sich in einiger Entfernung die sogenannte Piratenbucht, seit Generationen ein Abenteuerspielplatz für die Lichterhavener Kinder und Partyort für die Jugendlichen. Zugänglich war die Bucht jedoch nur bei Ebbe, was bedeutete, dass sich dort jetzt niemand aufhalten konnte. In einer knappen halben Stunde würde die Flut ihren Höchststand erreichen.

Fast war Jörn versucht, noch einmal umzukehren und seine Badesachen zu holen. Auch wenn das Nordseewasser jetzt Anfang Juni noch ziemlich kalt war, liebte er es, sich hin und wieder in die Fluten zu stürzen und den Tagesstress vom Seewasser hinforttragen zu lassen.

Das Knurren seines Magens ließ ihn die Idee allerdings verwerfen. Er würde sich unten am Wasser ein bisschen die Seeluft um die Nase wehen lassen und dann rüber zum Hafen gehen und sich ein Fischbrötchen holen. Oder einen Krabbensalat zum Mitnehmen aus dem Möwennest. Oder eine Pizza aus dem Alibaba. Die Auswahl war groß, denn da Lichterhaven überwiegend vom Tourismus lebte, fanden sich im Zentrum des kleinen Städtchens jede Menge Restaurants und Cafés, die auch um diese Zeit noch ihre Küche geöffnet hatten.

In lockerem Schritt trabte Jörn die Treppe hinab, überquerte die sauber gemähte Liegewiese und erreichte gleich darauf den Gehweg, der direkt an der Ufermauer entlangführte. Dort blieb er ganz still stehen und ließ den Anblick des heranplätschernden Wassers auf sich wirken. Auch hier schossen kreischend Möwen über ihn hinweg und fingen sich ihr Abendessen aus den salzigen Fluten. Hinter ihm knatterte eine Wetterfahne im Wind, ansonsten herrschte himmlische Ruhe, sah man einmal von dem Motorsegler ab, der noch eine späte Runde über Lichterhaven drehte.

Ein warmes Wohlgefühl durchfloss Jörn stets, wenn er der See so nahe war. Er roch das Salzwasser und die würzige Luft, lauschte der vertrauten Stille, die im Grunde gar keine war, weil Wind und Wasser stets für ein Hintergrundrauschen sorgten, und wurde eins mit der Welt. Ganz allmählich fielen der Stress und die Anspannung des Tages von ihm ab, und auch die kleineren oder größeren Ärgernisse begannen sich zu verflüchtigen.

Auf diesem etwas abgelegenen Stück des Ufers war er im Moment vollkommen allein. Da es hier keinerlei Touristenattraktionen gab, und auch keine Strandkörbe oder Gastronomie, verirrten sich die Touristen eher selten hierher. Die meisten Urlauber tummelten sich lieber in Zentrumsnähe, was auch sicherer war, da die Strände und Liegewiesen dort bewacht waren. Dieser Küstenabschnitt hier im Osten von Lichterhaven wurde mehr von den Einheimischen besucht. Um diese Uhrzeit jedoch war die Chance groß, dass man niemandem mehr begegnete. Jörn war dies nur recht. Er hatte den ganzen Tag mit Menschen zu tun gehabt, sodass er die Ruhe und das Alleinsein jetzt in vollen Zügen genoss.

Das zunehmend aufdringliche Knurren seines Magens veranlasste ihn schließlich aber doch, den Weg zum Hafen einzuschlagen. Da der Wind hier direkt am Wasser noch frischer war, schloss er seine Windjacke und legte einen flotten Schritt vor. Die Sonne stand bereits tief und würde bald untergehen. Im Augenblick zeichnete sich jedoch ein herrlicher Sonnenuntergang ab, dessen Farben im Moment zwar noch blass waren, in wenigen Minuten jedoch in allen Schattierungen von Rosa über Dunkelrot bis Violett erstrahlen würden. Ein Naturschauspiel, von dem er spontan beschloss, es zu genießen, bevor er sich etwas zu essen suchte. Deshalb verlangsamte er seinen Schritt wieder etwas und hielt nach einer bequemen Sitzgelegenheit Ausschau. Er war jetzt nur noch ungefähr zweihundert Meter vom Hafen entfernt, doch auch hier waren weit und breit keine Menschen mehr zu sehen – bis auf eine einzelne Person, die in etwa fünfzig Metern Entfernung in sich zusammengesunken auf einer der Steinbänke am Rand der Liegewiese saß. Die feuerrote Bluse und das lange, schwarze Haar verrieten Jörn sofort, um wen es sich handelte.

Unwillkürlich blieb er stehen. Auch wenn er gerade nicht auf Gesellschaft aus war – und auf diese spezielle schon mal gar nicht –, Ellas Haltung verriet ihm, dass etwas nicht in Ordnung war. Nur einen winzigen Augenblick rang sein Pflichtgefühl mit dem Verlangen, weiterhin das Alleinsein zu genießen. Entschlossen setzte er sich wieder in Bewegung.

Je näher er kam, desto eindeutiger war zu erkennen, dass Ella nicht hier war, um den Sonnenuntergang zu genießen. Als er sie schließlich erreicht hatte, erkannte Jörn zu seinem Schrecken, dass sie den Kopf nicht nur einfach in die Hände gestützt hatte. Nein, sie weinte! Dennoch schien sie ihn bereits erkannt zu haben.

»Geh weg!« Ihre Stimme klang hohl.

»Ella, was ist denn los?« Besorgt trat Jörn näher an die Bank heran.

»Nichts. Hau ab!«

»Du weinst doch.« Ihre harsche Zurückweisung ignorierend ließ er sich neben ihr auf der Bank nieder.

»Na und? Lass mich einfach.« Sie hob nicht einmal den Kopf. »Kann man hier nicht mal in Ruhe heulen?«

Prüfend blickte Jörn sich um. Zwar waren heute keine Touristen mehr unterwegs, doch normalerweise war dies kein Platz, an dem man seine Privatsphäre hatte, auch um diese Uhrzeit nicht. »Wenn du in Ruhe heulen willst, solltest du das nicht an einem öffentlichen Strand tun.« Als sie nicht reagierte, sondern nur schniefte und offenbar versuchte, sich wieder zu beruhigen, stieß er sie leicht mit dem Ellenbogen an. »Was ist denn los? Ist es wegen deiner Oma?«

»Und wenn? Was dann?« Nun klang sie leicht aggressiv, was ihn stutzig machte.

»Dann würde ich das verstehen. Ihr standet euch nahe, nicht wahr? Da ist es doch nur natürlich …«

»Nein.«

Verwundert musterte er Ella von der Seite. »Ihr standet euch nicht nahe?«

Sie stieß einen ungehaltenen Laut aus. »Doch, aber deswegen heule ich nicht. Verdammt, ich sollte überhaupt nicht heulen. Aber es ist zum Verrücktwerden.« Endlich ließ sie die Hände sinken, in denen sie ihr Gesicht verborgen hatte. Ihre Augen waren gerötet, und die Tränenspuren auf ihren Wangen verrieten, dass sie schon eine Weile hier gesessen und geweint haben musste. Dabei war sie doch vor Kurzem erst bei ihm im Feuerwehrhaus gewesen. Was war in der Zwischenzeit passiert? Suchend sah er sich noch einmal um. »Wo ist Barnabas?«

Prompt schniefte Ella wieder und wandte das Gesicht ab. »Weg.«

Irritiert runzelte Jörn die Stirn. »Wie weg?«

»Na, weg eben.« Erneut schlug Ella die Hände vors Gesicht und stieß dabei einen wütenden Laut aus. »Er ist mir abgehauen. Hat sich losgerissen und ist …«

»Weg.« Alarmiert sah Jörn sich um. »In welche Richtung ist er denn gelaufen?«

»Keine Ahnung.« Kraftlos ließ Ella die Hände in den Schoß sinken. »Da rüber.« Vage wies sie nach Osten.

»Mir ist er nicht entgegengekommen.« Jörn überlegte scharf, ob er den Bearded Collie irgendwie übersehen haben könnte, doch er schüttelte den Kopf. »Dann muss er über eine der Deichtreppen zurück in den Ort gelaufen sein.«

»Ja, wahrscheinlich.« Dumpf starrte Ella auf ihre Hände. »Alles geht schief. Vor ein paar Tagen war noch alles in Ordnung, und dann … Plötzlich habe ich Barnabas, aber er will gar nicht bei mir sein. Er zickt nur herum und tut nichts – rein gar nichts, was ich ihm sage. Und jetzt ist er auch noch weggelaufen.«

»Was habt ihr denn vorher gemacht? Habt ihr euch gestritten?«

Befremdet blickte Ella ihn an. »Mit einem Hund kann man doch nicht streiten.«

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