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Waldeskälte

Als Buch hier erhältlich:

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In Eigerstal, einem kleinen Bergdorf in den Schweizer Alpen, verschwindet spurlos ein junges Mädchen. Leutnant Valeria Ravelli übernimmt die Ermittlungen und kehrt in ihren Heimatort zurück. Sie hat noch eine persönliche Rechnung offen: Vor 21 Jahren wurden schon einmal drei Mädchen verschleppt. Zwei wurden ermordet. Die Einzige, die zitternd und ohne Erinnerung aus der Waldeskälte heimfand, war Valeria selbst. Sie ist überzeugt: Der Täter gehört zur Dorfgemeinschaft, damals wie heute. Um ihm auf die Spur zu kommen, muss Valeria in den Nebel ihrer Vergangenheit zurückkehren.

»„Waldeskälte“ zeichnet all das aus, was die Fans an Martin Krüger lieben: Auf blutrünstige Details kann er verzichten, denn bei ihm funktioniert der Horror über das Ungewisse und die Vorstellungswelten der Lesenden.« Kulturnews, 01.09.2021


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950805
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Das Schicksal nimmt nichts, was es nicht gegeben hat.

SENECA

1

Das Läuten des Smartphones drang durch die Dunkelheit des Hotelzimmers, als wollte es die nächtliche Stille und den schmalen Streifen aus silbernem Mondlicht zerreißen, der zwischen den Jalousien hereinfiel.

Valeria schreckte hoch. Ihr T-Shirt war schweißnass, ihr Kopf schmerzte. Der Traum klebte an ihr wie die stickig warme Luft in diesem Raum, und nur mühsam wurde sie all die Bilder los.

Sie schnappte sich das Handy vom Tisch, auf den sie ihre Dienstwaffe samt Holster gelegt hatte, öffnete die Balkontür und ging hinaus. Feine Sandkörnchen knirschten unter ihren nackten Fußsohlen, der Wind frischte auf und blies kühl und belebend. Das nächtliche Zürich war still, nur wenige Autos fuhren durch die von neoklassizistischen Bauten gesäumten Straße vor dem Hotel, einige späte Nachtschwärmer riefen nach dem Portier.

Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht.

Willst du da wirklich rangehen? Zu dieser Uhrzeit, nach diesem beschissenen Albtraum?

»Ravelli.« Vom Balkon des Hotelzimmers konnte sie über die Dächer von Zürich hinwegsehen, auf die Limmat, die dunkel und still durch die Stadt floss, die Fassaden am Ufer, die von bunten Lichtern angestrahlt wurden. Der Wind roch nach Kälte, als käme er direkt aus den Alpen herangeweht.

»Val? Bist du das?«

Val? Diese Stimme überkam sie wie eine Welle aus alten Erinnerungen, öffnete ein Album voller Bilder, erinnerte sie an einen warmen Frühlingstag, an würzigen milden Wind, der über Bergblumen strich. An ihre Jugend. Schroffe Berghänge und bitterkalte Winter, als sich der Schnee gegen die Hauswände drängte. Die verhärmten Blicke der Einheimischen, die sich Geschichten erzählten. Die feinen Härchen auf ihrem Nacken richteten sich auf.

Das kann nicht sein. Das hast du alles hinter dir gelassen. Wieso sollte er jetzt anrufen, nach all der Zeit?

»Hier ist Valeria Ravelli«, sagte sie kühl. »Wie kommen Sie an diese Nummer?«

»Die hat mir jemand von der Polizei gegeben. Der hier zuständige Ermittler. Ich hab ihm erzählt, dass du vielleicht …«, der Anrufer zögerte, »… davon erfahren willst. Dass es auch für dich wichtig ist, es mitzubekommen, meine ich.« Er klang unsicher. Nein, korrigierte sie sich, nicht nur unsicher: verzweifelt. Am Rand seiner Kräfte. »Erkennst du mich denn nicht mehr?«

Doch. Das tat sie.

Sie erinnerte sich an ihn, konnte Stimme und Namen in Einklang bringen. Elias. Er klang älter, die Stimme rauer, angegriffen von der Zeit, die an niemandem ohne Spuren vorüberzog, und doch erkannte sie ihn.

»Weißt du, wie spät es ist? Nach all der Zeit rufst du an und …«

»Ich weiß.«

»Elias Mattei.« Valeria fuhr sich durchs Haar, als eine neue Windböe herabstieß. »Elias. Mein Gott. Es ist, wie lange … einundzwanzig Jahre her?«

»Ja, das ist es. Und jetzt …«, er zögerte, »… erinnerst du dich? An das, was damals los war?«

Etwas im Unterton seiner Stimme gefiel ihr nicht. Sie fröstelte. Vielleicht war es der kühle Wind, der über die Stadt strich, vielleicht ein Gefühl, etwas wie eine Vorahnung. Etwas, das die ganze Zeit schon auf sie gewartet hatte.

»Ich erinnere mich nicht mehr an besonders viel«, sagte sie.

»Und ich erinnere mich an alles. An das Schlechte. Das Gute. Wie es eben so war. Vielleicht liegt das daran, dass ich nie hier weggekommen bin.«

»Weißt du noch, was ich sagte?«

»Du wolltest nie mehr wiederkommen.«

»Genau das«, entgegnete Valeria schroff. »Und es hat einen Grund, warum ich mich nicht mehr gemeldet habe. Weil du nie dort weggegangen bist. Und das«, sie seufzte, »kann ich einfach nicht verstehen.«

»Es ist wieder geschehen. Ein Mädchen ist verschwunden.«

Valeria spürte, wie sich ihre Hand am Geländer verkrampfte. Das ist nicht deine Aufgabe. Du hast nichts mehr damit zu tun. »Ein Mädchen?«

Da war ein Zögern in Elias’ Stimme, als wollte er eine Emotion unterdrücken. »Nora. Meine Nichte. Ninos Tochter. Sie ist fort.« Elias hustete und blieb für einige Sekunden still, vielleicht weil er sich zusammenreißen musste, ehe er fortfahren konnte. »Zwei Tage, Valeria. Seit zwei Tagen ist sie ohne eine Spur verschwunden. Wir suchen nach ihr, die Rega sucht mit zwei Helikoptern, aber … wir finden sie einfach nicht. Ich bin seit vierzig Stunden auf den Beinen und …« Seine Stimme brach.

Valeria konnte den Schmerz, der sich hinter einem Damm aus Beherrschung aufgestaut hatte, über ihn hereinbrechen hören. Aus dem Hintergrund, drüben auf seiner Seite, pfiff und heulte der Wind.

»Wie alt ist Nora?«

»Vierzehn. Sie ist noch ein halbes Kind, begreifst du? Sie würde nie so lange wegbleiben. Es ist was passiert, ich kann das spüren.« Wieder zögerte er, als müsste er seine Tränen unterdrücken, und Valeria konnte es ihm nicht verübeln.

»Und ihre Eltern? Weißt du von Freundinnen, bei denen sie womöglich sein könnte? Von Jungs? Gab es etwas, das sie beschäftigte? Gab es Streit zu Hause? In ihrer Schule?«

»Das alles habe ich den Leuten hier schon gesagt. Nein. Nichts, von dem ich wüsste. Der Vater, mein Bruder Nino, lebt in der Nähe. Seine Frau …« Nun entstand die bislang längste Pause. »Die ist seit zwei Jahren tot. Nora und er sind allein.«

»Das tut mir leid. Das alles«, erwiderte Valeria. Sie konnte die Bitterkeit in seiner Stimme hören, Düsternis, die wie eine Flut über ihn hinwegfließen wollte. »Im Augenblick bin ich in Zürich. Ich kann nicht kommen. Aber ich kann versuchen, es den Kollegen vor Ort klarzumachen, dass der Fall höchste Priorität besitzen sollte.«

Wieder dieses Zögern. Valeria schloss die Augen, lauschte dem Wind, der wie mit tastenden Fingern über ihre nackte Haut strich, und den Geräuschen der nächtlichen Stadt. Dieser Anruf hätte nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können.

»Was ist aus dir geworden, hm?«, fragte Elias dann. »Es gab mal eine Zeit, da hättest du alles stehen und liegen gelassen und wärst gekommen. Du warst dort, damals. Es waren deine beiden besten Freundinnen, die damals gestorben sind. Sophie. Stephanie. Hast du das etwa vergessen? Du warst drei Tage im Wald verschwunden.«

»Das habe ich nicht«, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt. »Niemals. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, was geschehen ist, werde ich diese Tage niemals vergessen können.« Sie dachte an den Albtraum, der sie seit Jahren begleitete wie ein ungebetener Gast, der nicht mehr fortging.

Du bist in jedem Albtraum wieder zurück in der Kälte, als du verängstigt durch die Dunkelheit, den Wald in Eigerstal geirrt bist.

»Einundzwanzig Jahre war Ruhe. Und jetzt, verfluchte Scheiße, jetzt fängt es wieder an. Es ist das gleiche Zeichen.«

»Wie bitte?« Valeria hielt das Handy so fest umklammert, dass ihre Knöchel unter der Haut weiß hervortraten. Sie wechselte das Handy in die andere Hand und holte tief Luft. »Was hast du gerade gesagt?«

»Das Zeichen, Valeria. Es wurde wieder zurückgelassen. Im Wald, ein toter Hirsch auf der Lichtung, das Blut auf dem Felsen, der gehörnte Steinbock mit dem Blut gemalt. Etwas hat dem Hirsch die Kehle aufgerissen … etwas hat an ihm gefressen

»Wölfe? Ein Bär? Die wandern doch manchmal aus Italien über die Alpen herüber.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Elias räusperte sich. »Was machst du jetzt? Und was muss ich machen, dass du herkommst und mir hilfst?«

Valeria seufzte. Sie blickte über die Schulter in ihr Hotelzimmer hinein, zu dem Notebook, das halb aufgeklappt auf dem Tisch in der Mitte des Raums stand. »Ich bin mittlerweile bei Interpol. Und viel mehr kann ich dir auch gar nicht erzählen.«

»Glaub mir, ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du etwas bewirken kannst. Und natürlich dachte ich, du solltest es wissen.«

»Wofür ich dir auch sehr dankbar bin.« Was er nicht wusste, war, dass sie spätestens in einigen Tagen ohnehin von dem Vermisstenfall erfahren würde – sie hatte einen versteckten Marker im System hinterlassen, der sie über jegliche größere Operation im Gotthardgebiet informierte. Weil sie insgeheim all die Jahre damit gerechnet hatte, dass es noch nicht vorüber war. Er war noch immer da draußen, wartete nur auf eine neue Chance.

Für einen Moment fühlte sie sich, als wäre sie wieder vierzehn. Mit einem Mal war sie wieder zurück, in jenem kleinen Dorf mitten in den Alpen, so tief in den Wäldern, die sie alle umschlossen hielten, mit denen sie leben mussten, die über sie alle wachten … und bei ihren Freunden, Elias, Stephanie und Sophie. Sie vier und dieses Jahr, dieser Schrecken, der kein Ende nehmen wollte.

»Valeria?«, fragte Elias.

Sie holte tief Luft, spürte, wie die Kühle der Herbstnacht sie aufs Neue belebte. Der Albtraum war fort, davongeweht von diesen Neuigkeiten.

»Morgen muss ich hier noch etwas erledigen. Dann … also gut, dann komme ich.« Auch wenn du es nicht willst, ging ihr durch den Kopf. Auch wenn du all die Erinnerungen, die dann zurückkehren werden, fürchtest.

»Versprichst du mir das? Die Beamten, die man hier einsetzt … Ich glaube, sie verstehen es nicht. Dass hier etwas Böses vor sich geht. Etwas, das niemand von uns wirklich begreifen kann.«

»Etwas Böses.« Valeria schnaubte, doch sie spürte, wie der kühle Wind über ihren Nacken tastete, als besäße er lange dürre Finger, mit denen er nach ihr greifen wollte. Vielleicht waren dies auch die Schatten der Erinnerungen, die sie zu verdrängen versucht hatte. »Wir sind keine Kinder mehr, die an Geister und Gespenstergeschichten glauben.«

»Vielleicht. Aber ich versuche, dir nichts vorzumachen. Wenn du herkommst, wirst du bemerken, dass sich nichts verändert hat.«

Ihr Smartphone brummte, als zwei Bilder eintrafen, die ihr Elias geschickt hatte. Beide zeigten den Hirsch, wie er dort auf der Lichtung lag, die Kehle blutig, eine Lache aus Rot unter ihm, die das Gras befeuchtete. Und hinter ihm, auf einem Felsen, der von Flechten und Moos bewachsen aus dem Waldboden hervorragte, das Zeichen.

Sie schloss die Augen. Triff eine Entscheidung, Val. Du kannst nicht dein ganzes Leben weiter davonlaufen. Du wusstest, eines Tages wirst du dich alldem stellen müssen.

Weil es nie vorbei war.

Nie. Und du hast es immer gewusst.

»Elias? Ich werde mir die Sache ansehen.«

2

»Salvatore Guscino.«

Valeria drückte auf eine Taste ihres Notebooks, welche das Bild auf der Leinwand hinter ihr umschaltete. »Kopf des ’Ndrangheta-Clans, der von Norditalien bis ins Tessin agiert. Menschenhandel, Prostitution, Drogen, Giftmüllentsorgung. Wir haben sieben aktenkundige Morde, die wir mit ihm in Verbindung bringen können.«

Sie blickte in die Runde. Hier, in einem abhörsicheren Raum des Lagezentrums der Schweizer Fedpol mitten in Zürich, lauschten die Kollegen aus dem internationalen Ausland ihrem Vortrag. Dass du mit fünfunddreißig vor Experten wie diesen stehst, ist ganz bestimmt nicht gewöhnlich, aber du hast auch hart dafür gearbeitet, versuchte sie sich zu erinnern – was ihre Nervosität nur noch steigerte.

Ein Fremder in einem eleganten Anzug hob die Hand.

»Ja?«, fragte sie.

»Bundeskriminalamt Wiesbaden«, sagte der Mann mit einer leisen, wohlmodulierten Stimme. »Ihr Vortrag war zweifellos interessant. Guscino ist auch in Deutschland und Polen aktiv, und es gibt Beziehungen zu Österreich und der Schweiz. Was unternehmen unsere Schweizer Kollegen, um seine Wege aus seiner italienischen Heimat zu unterbinden?«

Valeria sah in die eisblauen Augen dieses Mannes. Dann spulte sie ihre Antwort ab, professionell, detailliert und sachkundig, sodass es den Unbekannten zufrieden zurückließ. »Wir haben mit Sondereinheit 11 von Interpol eine grenzübergreifende Zusammenarbeit geschaffen, um diesen neuen Bedrohungen wenigstens einigermaßen Herr zu werden. Und ich möchte Sie hierbei um Ihre Unterstützung bitten. Wenn das alles ist«, schloss sie, »dann danke ich Ihnen allen für Ihr Erscheinen.«

Nachdem die Besprechung beendet war und Valeria die Dokumente einsammelte, bemerkte sie, wie der Unbekannte etwas zögerte, sich umständlich mit seiner Aktentasche anstellte und daher als Letzter zusammen mit ihr im Raum zurückblieb.

Sie tastete nach der Dienstwaffe an ihrer Hüfte, doch war dort natürlich nichts. Dieses schwere Gefühl von Sicherheit, manchmal vermisste sie es. Dann sah sie auf. »Ja?«

»Parkov«, sagte er. »Ich hörte von Ihnen.«

Sie schüttelte seine Hand. Sein Akzent klang nach Hochdeutsch, in das sich eine Spur etwas Fremden eingeschlichen hatte. »Sie hörten von mir?«

Er deutete in Richtung der Leinwand. »Es gab Sitzungen wie diese, in denen die bisherigen Informationen zu den Mordfällen genauer aufgeschlüsselt wurden und in denen Ihr Nachname fiel. Ich hab mich gefragt, ob das ein Zufall ist.«

»Wer sind Sie überhaupt? Das BKA wollte doch jemand anderes schicken …«

»Ich war nur zufällig in der Stadt«, sagte Parkov mit einem schmalen Lächeln.

Valeria schloss den Aktenordner und steckte ihn in ihre Umhängetasche. »Wie schön. Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen.«

»Salvatore Guscino natürlich. Und … Rafael Ravelli.«

»Mein Bruder«, erwiderte sie. Valeria schob sich an Parkov vorbei und ging zur Tür. »Sie haben also von der Geschichte erfahren. Dann hören Sie mir besser zu, Parkov: Guscino ist so ziemlich das Gefährlichste, was Sie sich vorstellen können.«

»Kalabrische Mafia, ich weiß. Er hat Ihren Bruder ermordet.«

Valeria verschränkte die Arme nicht, doch stattdessen warf sie Parkov ein abweisendes kühles Lächeln zu. »Mein älterer Bruder hat Jahre in einem Zeugenschutzprogramm verbracht, ehe Guscinos Leute ihn erwischt haben. Die Polizei konnte ihn nicht schützen. Und dennoch – hier stehe ich und bin Sonderermittlerin von Team 11 im Einsatz gegen europaweites organisiertes Verbrechen geworden.«

Parkov nickte. Nun war sie sich sicher, etwas wie Respekt in seinen Augen zu erkennen. »Sie haben Mut. Bitte geben Sie auf sich acht.«

»Wo ich als Nächstes hingehe«, antwortete sie ihm, »bin ich so weit weg von alldem, wie man es sich nur vorstellen kann.«

Der BKA-Mann wandte sich noch einmal um. Seine blauen Augen schienen sie zu röntgen. »Und wo liegt dieser Ort?«

»Wohin ich nie mehr zurückkehren wollte«, erwiderte sie. »In der Vergangenheit.«

3

Zurückkehren.

Das Wort fühlte sich wie ein widerspenstiges Etwas in ihren Gedanken und auf ihrer Zunge an, als Valeria es leise aussprach.

Zurückkehren.

Während sie an der Limmat entlangging, strich der Wind vom Fluss herüber, wo sich das graue Wasser wie Glas in der tief stehenden Sonne spiegelte. Die Cafés, die die Promenade zum großen im Neorenaissance-Stil erbauten Hauptbahnhofsgebäude säumten, waren dicht an dicht von Menschen bevölkert, als wüssten sie, dass es den letzten goldenen Spätherbsttag auszukosten galt.

Valeria entdeckte ihn sofort, als sie sich dem Café näherte: Konrad Tanner, der Leiter der Ermittlungseinheit 11, zusammengestellt zur Bekämpfung des internationalen organisierten Verbrechens bei Interpol. Er hatte sein Gesicht hinter der Tageszeitung versteckt, doch sie erkannte den silbernen Koffer, den er wie einen Schatz mit sich herumtrug (er und Gott allein wussten, was er darin aufbewahrte), und die Cordhosen, von denen er wohl an die zwanzig Paar in seinem Kleiderschrank haben musste. Ein halb verzehrtes Stück Kirschtorte wartete auf dem Tisch, ein Espresso stand daneben.

Sie setzte sich. Tanner ließ die Zeitung sinken und musterte sie prüfend aus seinen hellblauen Augen. Er war zweiundfünfzig, und all die Jahre des Kampfes gegen die Hydra des organisierten Verbrechens waren ihm anzusehen.

»Morgen, Chef«, begrüßte sie ihn.

»Ravelli.« Für einen Moment ging ein Regenschauer durch das Blau seiner Augen. »Ich hörte, Sie haben gute Arbeit geleistet.« Er faltete die Zeitung zusammen, drehte sie herum und schob sie über den Tisch, sodass sie lesen konnte, was dort gedruckt war.

POLIZISTIN STELLT GESUCHTEN VERBRECHER BEIM GELDABHEBEN

»Sie werden nicht namentlich erwähnt. Das konnten wir raushalten.«

»Falsche Zeit, falscher Ort«, erwiderte sie.

»Für ihn.« Die Brauen über den kalten, verregneten Augen zogen sich zu einem gespannten V zusammen. »Diese Bank, Ravelli. Was haben Sie da gemacht?«

»Hätte ich einen Mann, nachdem schon lange gefahndet wird, entkommen lassen sollen? Nur weil ich riskiert habe, mein Gesicht in eines dieser Blätter zu bringen?«

»Ich fragte, was Sie da gemacht haben.«

»Das war privat.«

»Sie haben dort ein Schließfach.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Konrad Tanner war ein Mann der Geheimnisse, Winkelzüge und Doppelspiele – und Valeria wusste, dass man mit ihm vorsichtig sein musste. Er war ein gefährlicher Mann, wenn man ihn zum Feind hatte, und seine Ergebnisse sprachen für sich. Die Mafia hasste ihn. Er war ein Rückhalt, den man in der Branche brauchte, wo Geld vieles bestimmte und Interessen allein töten konnten.

»Ein privates Schließfach.«

»Was ist geschehen?«

»Ich glaube, man beobachtet mich. Guscinos Leute. Vielleicht haben sie entschieden, dass ich ihnen doch allmählich zu nahe komme.«

Tanner rührte in seinem Espresso, führte den Löffel zum Mund und leckte die Crema ab. »Das ist ziemlich übel. Was haben Sie bemerkt?«

Valeria schüttelte den Kopf. Ihr schwarzer Zopf schwang hin und her. »Darum geht es jetzt nicht. Ich kann auf mich aufpassen.«

»Sie wirken bedrückt. Ravelli, diese Sache funktioniert nur, wenn Sie ehrlich zu mir sind. Ich muss Ihnen trauen können. Kann ich das nicht mehr, sind Sie raus.« Er beugte sich vor. »Und im Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob ich das noch kann. Ihnen wirklich trauen. Im Augenblick denke ich darüber nach, ob ich den Forderungen einiger politischer Elemente nachgeben und Sie denen zum Fraß vorwerfen soll … und Sie wissen, was das bedeutet.«

Elias Mattei, dachte sie. Dieser Name, dieser Anruf. Das war es, das bedrückt dich, sonst nichts.

»Es gibt da eine Sache, die ich überprüfen muss. Eine Sache, die sehr persönlich ist. Nichts mit meiner Arbeit, nichts mit Einheit 11. Es ist eine Spur, die in meine eigene Vergangenheit führt.«

»Erklären Sie mir das.«

»Die Nichte eines alten Freundes ist verschwunden. Am Gotthard. Eigerstal, kleines Dorf, knapp zweitausend Einwohner. Ein paar Hotels, Wälder, ein Skiresort. Ein Sägewerk, eine alte Mine und … es ist einfach ein Ort, den ich gut kenne. Er rief mich an und bat mich um Hilfe.«

»Warten Sie, Ravelli. Sie sind dort aufgewachsen. Höre ich das zwischen den Zeilen heraus?«

»Sie kennen doch meine Geschichte. Ich wäre nicht hier, wenn Sie mich nicht komplett durchleuchtet hätten.« Sie sah über die herumsitzenden Gäste hinweg, fing den Blick eines Kellners auf und bestellte, als er zu ihnen herüberkam, einen Espresso.

»Nein«, erwiderte er, »das wären Sie nicht.« Tanner lächelte. Das war ein Test, und sie hatte ihn bestanden, begriff Valeria. »Und nun bitten Sie mich um Urlaub.«

»Ich bitte Sie, mir ein paar Wochen freizugeben. Und ich bitte Sie, mir in dieser Zeit den Rücken freizuhalten.«

»Vielleicht ist es ein Trick, um Sie in die Hände zu bekommen.«

»Eine Falle? Dafür müssen Guscinos Leute mich nicht ins Gebirge locken.«

»Also ist es wirklich etwas Persönliches?«

»Etwas, das ich mir ansehen muss. Das schulde ich mir. Damals, als ich den Ort verließ, war ich eine junge Frau, die nicht wusste, was mit ihr geschehen war … Heute … heute wird es anders sein. Es wird keine Fehler mehr geben, wenn ich dort bin.«

»Dieser Vermisstenfall. Wer leitet die Ermittlungen?«

»Das weiß ich nicht. Noch nicht.«

Der Kellner brachte den Espresso.

»Sie werden es nicht mögen, wenn Sie dort auftauchen. Das wird zu Konflikten führen. Und Ihr Aufenthalt, Ravelli, bleibt dort nicht unbemerkt«, nahm Tanner das Gespräch wieder auf.

»Ich werde vorsichtig sein.«

»Dennoch kann ich das nicht gutheißen. Wir brauchen Sie hier. Wir brauchen Sie fokussiert.«

»Zwei Wochen, Chef. Um mehr bitte ich gar nicht.«

»Was war in dem Schließfach?« Wieder tauchte Tanner den Löffel in seine Tasse. Die Crema war dick und zähflüssig, er leckte ihn ab.

»Persönliche Dinge. Dinge aus meiner Jugend, die ich dort weggeschlossen hatte. Dinge, die ich vielleicht brauche, wenn ich zurückkehre.«

Tanner nickte. Er hatte seine Entscheidung getroffen, das sah sie ihm an. »Gehen Sie, Ravelli. Erledigen Sie das.«

»Danke.« Valeria nahm einen großen Schluck ihres Espressos. »Ich hätte sonst mein Zugticket stornieren müssen.«

»Was Sie natürlich vor diesem Treffen bereits gebucht hatten.« Tanner war keine Spur überrascht. »Wissen Sie, Ravelli, ich bin mir sicher, dass Sie das nicht getan hätten. Das Stornieren, meine ich.«

»Stimmt«, erwiderte sie und zwinkerte ihm zu. »Hätte ich nicht.«

Sie stieg in den Interregio Richtung Lugano, folgte dem Gang und schob ihren kleinen gelben Rollkoffer vor sich her. Schräg fielen die Sonnenstrahlen durch das Zugfenster herein, als sie die Tür zu einem leeren Abteil öffnete.

Du tust es wirklich, dachte sie. Der Pfiff erklang, der Zug fuhr mit einem Ruck an. Du gehst zurück.

Sie loggte das Handy ins WLAN des Zuges ein und griff auf das interne Netzwerk RIPOL der Schweizer Polizei zu. Der Keycode, den sie verwendete, erlaubte ihr den Level-4-Zugriff, der zweithöchste, der zur Verfügung stand – und nach einigen Minuten der Suche und Abfrage hatte sie ihn entdeckt. Fallnummer 33-877TZ.

Viel gab es nicht: Aufnahmen, den Bericht der Polizisten, die sich im Haus umgesehen hatten, eine Befragung des Vaters Nino Mattei und des Onkels Elias. Ein Protokoll der eingeleiteten Suchmaßnahmen, eine Liste der eingesetzten Kräfte, mit denen man nach der verschwundenen Nora Mattei suchte.

Die Leitung lag in den Händen von Leutnant Remo Birkner. Ein gebürtiger Berner, der nun bei der Kantonspolizei in Luzern arbeitete. Er hatte auf der Befragung eine Notiz hinterlassen, die das System als Anhang wiedergab: Bezug auf die Fälle Sophie Matthussen und Stephanie Grausteiner. Dahinter hatte er zwei Fragezeichen gesetzt.

Zwei Fragezeichen. Zwei tote Mädchen vor einundzwanzig Jahren. Zwei Mädchen, mit denen Valeria bis zu diesem Tag ihr halbes Leben geteilt hatte. Mit einem Mal waren da Bilder in ihrem Kopf, Erinnerungen, Gerüche und Farben, all das, was sie seit langer Zeit in ihrer Kiste weit hinten in ihrem Verstand eingesperrt glaubte: Schnee, der lautlos an einem Winterabend fiel. Ski, die sich in Pulverschnee gruben und mit einem leisen metallischen Knirschen über die Oberfläche glitten. Ein Fest im Herbst, bunte Lichter am Dorfbrunnen. Stimmen und Gelächter, die aus einer offen stehenden Tür hallten, buttergelbes Licht, das in einem Streifen auf Kopfsteinpflaster fiel. Tropfend nasse Wälder. Die warme Hand eines Jungen in ihrer, ein Junge, an dessen Namen sie sich kaum mehr erinnern konnte.

Das waren gute Erinnerungen, doch spürte sie, wie all die schlechten sie überlagern wollten. Schnell versuchte sie, sich wieder auf das Hier zu konzentrieren. Der Zug fuhr in einen Tunnel ein, der Druck schmerzte in Valerias Ohren, als die Schienen anstiegen und sie an Höhe gewannen. Die Abteilbeleuchtung flackerte, summte wie ein eingesperrtes Insekt.

Valeria betrachtete ihr Spiegelbild im Glas, während dahinter Positionsleuchten die Schwärze des Tunnels durchbrachen. Kleine Augen in der Dunkelheit, rasend schnell huschten sie vorbei. Sie entdeckte eine Träne auf ihrer Wange. Wie war die dorthin gekommen? Sie hob die Hand und wischte sie ab.

Was berührt dich? Was ist mit diesen Gedanken und Erinnerungen? Du hast schlimme Dinge gesehen, Kinder, die man eingesperrt hat, die man verkaufen wollte, erbarmungslose Auftragsmörder, die ihre Opfer nur auf ein Wort hin erledigt haben, Familien, die entzweigerissen wurden, weil sie die falschen Worte ausgesprochen hatten. Polizisten, die sich schmieren ließen, Staatsanwälte, die mit ihren Taufpaten essen gingen. Die Einheit 11 ist ein Pfuhl der Sünden, ein Sammelbecken für Dunkelheit – und du mittendrin.

Da sollte dir diese Sache doch wie ein Spaziergang vorkommen, nicht wahr?

Und dennoch – so fühlte es sich nicht an. Es fühlte sich an, als hätte jemand ihre Nervenenden gepackt und drehte und quetschte sie. Als hätte er eine Schatulle mit ihren geheimsten Erinnerungen geöffnet und wühlte nun darin herum, hielt ihr Bilder vor die Augen und verbrannte sie, und der Schmerz, den sie spürte, war der Rauch der gelben Flammen, die an dem alten Papier leckten …

Valeria steckte ihr Handy zurück in die Tasche. Der Zug schraubte sich weiter in die Höhe, die Alpen kamen in Sicht. Noch zwei Stunden. Zwei Stunden, dann war all das wieder in greifbarer Nähe.

Der Kontrolleur kam und fragte nach ihrem Zugticket. Sein Blick war prüfend und abschätzend. Sie trug ihre Dienstwaffe nicht bei sich, sondern hatte sie tief unten in ihrem kleinen Rollkoffer verstaut, und doch musterte er sie, als hätte sie sie offen auf den Sitz neben sich gelegt.

»Eine gute Fahrt«, wünschte er und ging.

Valeria stand auf und wollte die Schiebetür des Abteils schließen, die er einen Spalt offen gelassen hatte, entschied sich dann jedoch anders, und trat auf den Gang hinaus. Draußen vor den Fenstern schimmerte das hellblaue, von einem Gebirgsbach stammende Wasser eines kleinen Sees in der Herbstsonne. Sie wandte den Blick ab, als sie eine Bewegung zu ihrer Rechten wahrnahm: Ein Mädchen stand ein paar Meter weiter den Gang hinab, hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und spähte wie sie hinaus. Der Zug fuhr aufs Neue in einen Tunnel ein, es wurde pechschwarz vor den Fenstern. Dann zogen wieder Wälder vorüber, Schattierungen aus Grün und Braun und dem Bunt des Herbstes. In der Ferne schimmerten die ersten schneebedeckten Gipfel in der Sonne. Die Tannen und Fichten, die die Hänge nah der Bahnstrecke bedeckten, wogten im Wind hin und her, und kurz danach setzte Regen ein, der in Schlieren über die breiten Zugfenster lief. Dann wieder einige Tunnel, Schlag auf Schlag, und wieder fielen ihre Ohren zu, als der Zug aufs Neue an Höhe gewann.

Ihr Handy machte sich mit einem leisen Läuten bemerkbar, der Vibrationsalarm ließ es auf dem schmalen Tisch in ihrem Abteil hin und her bewegen. Valeria ging hinein, schloss die Schiebetür und betrachtete das Display.

Elias Mattei.

Sie nahm den Anruf entgegen.

»Und, wo bist du?«

»Unterwegs«, erwiderte sie.

Es entstand eine Pause. Etwas an seinem Zögern brachte Erinnerungen an den Jungen zurück – mit dem hellbraunen Haar, das in der Sonne leuchtete, den roten Backen, wenn sie ein Wolkenbruch überrascht hatte und sie durch den Sommerregen gerannt waren, die Nachmittage, die sie in dem kleinen Zimmer bei ihr unter dem Dach verbracht hatten, als der Regen auf die Ziegel getrommelt hatte, mit Stephanie und Sophie zusammen, oder auch nur sie beide …

Sie hörte ihn vor Erleichterung seufzen. »Danke, dass du das tust.« Wieder zögerte er, und im Hintergrund hörte sie das Brummen einer großen Baumaschine. »Wenn du willst, kann ich dich abholen. Dann brauchst du nicht mit der Bahn hochzufahren. Wann bist du da?«

Valeria warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war ein schlichtes Modell mit einem Lederband, das ihr die Tochter von Mark Harrington, ihrem englischen Kollegen in Einheit 11, geschenkt hatte – auf der Rückseite war ein kleiner Rotfuchs ins Holz gebrannt. Lieblingstante Valeria, hatte die kleine Maya sie genannt und über das ganze Gesicht gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd, als sie ihr das Geschenk überreicht hatte. Mark und sie hatten während eines Einsatzes in einem abgelegenen Haus in England vor einiger Zeit einen jungen Fuchs gefunden – und nachdem ihr Vater ihn mit nach Hause gebracht hatte, beschloss Maya, das mutterlose winzige Ding aufzuziehen.

Valeria musste bei der Erinnerung lächeln. Das waren glücklichere Zeiten gewesen. Nicht einfach, aber glücklicher.

»Valeria? Bist du noch dran?«, riss sie Elias’ Stimme aus den Gedanken.

»In einer Stunde«, erwiderte sie. »Und dann brauch ich noch eine halbe bis hoch zu euch, wenn ich die Zahnradbahn nehme.«

»Musst du nicht. Ich erwarte dich unten. Hast du schon einen Ort, wo du bleiben kannst?«

Valeria musste den Kopf schütteln, als sie diesen Unterton hörte. »Noch nicht. Ich will nicht zu weit abgelegen wohnen.«

In der Leitung blieb es für einige Momente lang still. »Ich verstehe«, sagte er. »Mittendrin bietet den besten Überblick, was?«

»Das wird sich zeigen.«

»Du weißt, dass …« Weiter kam er nicht, ein neuer Tunnel, länger als alle zuvor, unterbrach die Handyverbindung. Valeria wusste auch so, was er sagen wollte.

Wir könnten uns an die alten Zeiten erinnern.

Vielleicht an den Moment, wo wir falsch abgebogen sind.

Sie war sich nicht sicher, ob sie auch nur daran denken wollte.

4

Die alten Wälder, die Eigerstal einschlossen, ragten in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Steineichen flankierten den schlammigen Waldpfad. Ihre Rinde war verwittert, von Flechten und Moosen überzogen wie die verwesende Haut einer Leiche. Schon drei Tage regnete es ohne Unterlass, Dunkelheit lag zwischen den Stämmen im dornigen Unterholz, floss wie der dichte Nebel in dieser Nacht von den schroffen Gebirgshängen herab und raubte ihr die Sicht.

Valeria rannte um ihr Leben.

Jemand verfolgt dich. Jemand ist hinter dir her. Jemand oder … vielleicht etwas?

Valeria hörte das schnelle Pochen ihres Herzens, ihren keuchenden Atem, das Geräusch ihrer Sportschuhe auf dem schlammigen, morastigen Waldboden. Hinter ihr brachen Äste, als etwas durchs Unterholz stampfte. Als sie über die Schulter blickte, vermochte sie im fahlen Mondlicht eine hoch aufragende, zottige Gestalt zu erkennen, die dort zwischen den Stämmen stetig näher kam.

Nein, du erwischst mich nicht!

Sie rannte noch schneller. Äste peitschten ihr ins Gesicht. Valeria spürte, wie ein feines Rinnsal Blut über ihre Haut lief.

Dann erreichte sie die Lichtung. Abrupt blieb sie stehen, verharrte. Auch ihr Verfolger zögerte.

Da ragte ein Baum in den Himmel, und im dunstigen Mondlicht, das hinter den Schleierwolken schimmerte, erkannte sie die Silhouette eines Mädchens, das an den Stamm der Eiche gebunden war.

Gefesselt. Leblos.

Blut tropfte von ihrem nackten Körper in das hohe Gras zu ihren Füßen.

Valeria ging einige Schritte näher. Angst umschloss ihr Herz mit eiskalter Faust. Der Wald war voller Geräusche, Knistern im Unterholz, Rascheln von Tieren, die sich durch das Dickicht bewegten.

Das fahle Mondlicht fiel auf die Tote, entlockte der Dunkelheit ihre Gesichtszüge. Valeria erkannte die gefesselte junge Frau sofort.

Das darf nicht sein.

Das Mondlicht spiegelte sich in den starren, geöffneten Augen. Auf ihrem Mund stand ein stummer Schrei, als wollte sie selbst jetzt noch fragen: Wohin gehen die Toten? Warum hast du mich nicht gerettet?

»Also bist du doch gekommen«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.

Valeria sah nur den Schatten im Mondlicht, der näher kam, wagte es jedoch nicht, sich umzudrehen. Sie spürte die Kälte, die über die Lichtung wehte, als wäre der Wind von den eisigen Gletschern herabgekommen oder aus der Tiefe eines Grabes.

»Das ist mutig, aber dumm. Hier findest du nichts, nur dein eigenes Ende. Und jetzt, kleine Valeria, jetzt ist es so weit.«

5

Sie schreckte in ihrem Sitz hoch. Ihr Rücken schmerzte, ihr Herz schlug schnell, als ihr Blick hastig durch das Abteil huschte: Es war immer noch leer. Valeria atmete tief durch. Das ist nie geschehen. Nie. Zumindest … nicht so.

Für einen Moment fühlte sie sich fast so schwach und verängstigt wie ihr jüngeres Selbst, bevor all das geschehen war, was sie zu früh zu einer Erwachsenen gemacht hatte.

Aber du wachst wieder auf, und dann bist du nicht mehr das junge Mädchen von damals.

Eine Stunde später kam der Interregio-Express mit zischenden Druckluftbremsen zum Stillstand. Valeria nahm ihren gelben Rollkoffer und stieg aus. Es war kühl auf den knapp eintausend Metern Höhe, viel kühler als in Zürich. Ein paar Reisende waren mit ihr ausgestiegen, eine Familie mit zwei Kindern, die die Rucksäcke geschultert hatten. Sie blickte Richtung Süden, entlang der blank polierten Gleisstränge, die dort im Berg verschwanden. Der Tunnel durch das Gotthardmassiv zog sich siebzehn Kilometer hin, ehe man auf der gegenüberliegenden Seite im Tessin wieder das Tageslicht erblickte.

Sie mochte diese langen, engen Röhren nicht. Wann immer du einen dieser Tunnel umgehen kannst, tust du es. Das war schon immer so, seit ihrer Jugend. Noch so eine Sache, an die du lieber nicht zurückdenkst. Die du besser verdrängst.

Aus der Gegenrichtung donnerte ein Schnellzug aus Italien heran, der in Göschenen nicht einmal haltmachte. Die Wälder, die an den Hängen in die Höhe wuchsen, rauschten im Wind. Es war ein beständiges geheimnisvolles Wispern, als wüssten sie von versteckten Dingen, die man sich nur im Waldesdunkel flüsternd erzählte. Du bist wirklich zurück. Nur noch fünfhundert Höhenmeter hinauf, ein paar Kilometer auf einer gewundenen Straße entlang und dann …

Valeria schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Die Rollen ihres Koffers machten ein lautes Geräusch auf dem asphaltierten Bahnsteig, dann trug sie ihn in die Unterführung hinab, wandte sich nach Westen und verließ den Bahnhof. Dort, hinter dem Gebäude, begannen die Schienen der Zahnradbahn. Ein paar rote Waggons warteten bereits, einige Urlauber stiegen gerade ein. Die Türen schlugen zu, schnitten die Unterhaltungen ab. Vor dem hohen Tor eines Lokschuppens lehnte ein alter, von der Sonne ausgebleichter Schlitten.

»Valeria!«

Die Stimme gehörte einem großen, kräftigen Mann um die fünfunddreißig, der an einem Pick-up auf dem Parkplatz neben den Gleisen wartete. Ein Vollbart, ebenso dunkelbraun wie sein Haar, umrandete sein Lächeln, als er auf sie zukam. Es war ein Arbeiterlächeln, so rau wie die wettergegerbten Furchen auf seiner Stirn. Ein Lächeln, das die Traurigkeit darunter nicht verbergen konnte.

»Elias«, sagte sie.

Er streckte die Arme aus, die Umarmung war freundschaftlich. Als er sie eine Armlänge von sich schob und ihr ins Gesicht sah, wofür er sich etwas herabbeugen musste – obwohl sie mit eins sechsundsiebzig nicht besonders klein war –, musste er grinsen.

»Du bist …« Ja, was? Wie er da stand, war er ganz anders, als sie ihn in Erinnerung behalten hatte. Die Schultern gebeugter, der Zug um den Mund härter, einsamer. Nur das Lächeln und der Glanz in seinen Augen erinnerten sie noch immer an den Jungen, den sie einmal gekannt hatte. Anstatt ihren Satz zu Ende zu bringen, schüttelte sie schwach lächelnd den Kopf. »Lass uns fahren.«

»Du bist allein gekommen. Gut.« Elias legte ihren Koffer auf die Rückbank.

»Wer allein reist, reist am schnellsten«, sagte Valeria, als sie neben ihm in den Pick-up stieg.

Der Motor erwachte zum Leben, Elias wendete und bog auf die Straße ein, die sie hinaus aus Göschenen auf die Schnellstraße hinauf ins Gebirge führen würde.

Valeria ließ ihr Fenster ein Stück herunter. Der Wind wehte ihr ins Gesicht. »Also«, begann sie, »ich bin zurück.«

TEIL EINS

Vor dem Frost

6

Die Schöllenenschlucht war mehr als dreihundert Meter tief und besaß dazu steile Hänge mit messerscharfen Felsen, Gesteinsbrocken, die wie riesige Hinterlassenschaften einer grauen Vorzeit wild verstreut herumlagen. Eisblaues Wasser brodelte in mächtigen Sturzbächen darunter hervor, die Schaumkronen weiß wie frisch gefallener Schnee. Die Straße, die sie nach oben führte, schmiegte sich dicht an den Berg, verschwand hier und da für einige Hundert Meter in Lawinenschutztunneln aus massivem Stahlbeton. Weiter unten waren sie von Bauarbeiten aufgehalten worden: Dort hatten Steinbrocken den Asphalt aufgerissen, ein Schaden, der noch vor dem ersten Frost behoben sein musste.

»Ich war jetzt ein paar Stunden unterwegs«, sagte Valeria und warf Elias, der sich neben ihr auf die Straße konzentrierte, einen langen Blick zu. »Hat sich in der Zwischenzeit etwas getan?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie suchen noch immer, aber ich kann es ihnen ansehen, dass niemand mehr große Hoffnung hat, sie noch zu finden. Lebend, meine ich. Kann’s den Leuten auch nicht vorwerfen. Die sind seit Tagen auf den Beinen.«

»Und du?«, fragte sie behutsam. »Wie lange, hast du noch gleich gesagt, bis du schon wach?«

»Ich hab mich nach unserem Telefonat mal ein paar Stunden hingelegt. Aber es schläft sich echt beschissen in dieser Lage. Nino will am liebsten einfach drauflossuchen, will nach ihr rufen, will irgendwen in die Finger bekommen, der mehr weiß, und ihn schütteln, ihn ausquetschen …« Valeria sah die Erschöpfung in seinen Augen. »Es muss jemanden geben, der Nora gesehen hat. Irgendjemanden.«

»Wir werden sehen«, erwiderte sie. »Eins nach dem anderen.«

»Wie willst du anfangen?«

»Erst mal müssen wir reden. Ich brauche einen Überblick.« Valeria sah aus dem Fenster, auf das Wasser in den tiefen Schluchten unter ihnen, hinauf zu einem schmalen Pfad, der vom Tal zu der hoch gelegenen Ebene führte, sich zwischen den Tannen hindurchschlängelte. Dann verschwand die Straße erneut in einem Tunnel. Die Wandleuchten strahlten auf das helle schroffe Gestein, das sich rings um sie auftürmte, sie verschluckte wie ein Schlund eines riesigen Tiers. Ein Militärjeep kam ihnen entgegen, kurze Zeit später ein Motorradfahrer in Lederkluft, dem Elias zuhupte, ehe er die Hand hob.

»Schieß los«, sagte er, »frag, und ich werde versuchen, alles zu beantworten, soweit ich es kann.«

»Du sagst, ich muss die Sache hier mit eigenen Augen sehen. Du sagst, es ist wie früher. Vor einundzwanzig Jahren. Als wir noch Kinder waren.«

»Die einen mehr, die anderen weniger«, antwortete Elias mit einem kraftlosen Lächeln. »Aber ja, so ist es.«

Valeria schloss die Augen und konzentrierte sich. Nur das Geräusch der Räder des Pick-ups auf der frisch asphaltierten Straße war zu hören. »Sophie, Steph und ich.«

»Die drei, die so ziemlich jedem hier oben und unten bis Luzern den Kopf verdreht haben.«

Sie musste lachen. Das war Elias, wie sie ihn in Erinnerung hatte. »Fandest du? Wir waren wirklich ein ziemliches Trio, nicht wahr? Wir haben es dir und den anderen Jungs nicht immer leicht gemacht.«

»Nicht immer? Eigentlich nie. Wenn ihr zu dritt wart … allein warst du mir lieber.«

»Ich hoffe, heute weißt du es besser.«

»Was weiß ich besser?«

»Dass man mit einer italienischen Frau lieber vorsichtig sein sollte.«

Elias schüttelte den Kopf, und Valeria warf ihm einen langen Blick zu, ehe sie weitaus ernster fortfuhr. »Ich bin damals geflohen. Hab es nicht mehr ausgehalten. Wenn deine beiden besten Freundinnen auf eine solch fürchterliche Weise ermordet werden … Es tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe.«

»Kein Grund, dich zu entschuldigen. Nach all dem, was geschehen ist, denke ich, jeder hätte so gehandelt.«

»Nein. Nicht jeder. Manche hätten auch versucht zu bleiben. Wären bei denen geblieben, die die Ereignisse ebenso schlimm getroffen haben wie sie selbst. Aber ich konnte es einfach nicht.« Sie seufzte. »All diese Zeit der Ungewissheit und der Suche, all das Misstrauen … diese Tage waren die schlimmsten meines Lebens. Als dann klar wurde, dass sie tot waren, da war es für viele fast schon so etwas wie eine Erleichterung, so kam es mir vor … und dann gab es da Momente, in denen ich ihnen am liebsten gefolgt wäre. In einer der tiefen Schluchten, da hätte ich am liebsten alles beendet. Und dann kam die Festnahme. Xaver Baumann.«

Elias nickte. Sie fuhren aus dem Tunnel wieder hinaus unter den freien Himmel, und die Serpentinen der Straße wanden sich weiter hinauf in die Höhe. Graue Wolken türmten sich auf, dazwischen schob sich die Sonne hervor, eine funkelnde Goldmünze am Himmel.

»Baumann. Neunzehn Jahre alt damals. Geistig behindert, wie dann festgestellt wurde. Es gab einige Hinweise, die auf seine Täterschaft deuteten, aber schlussendlich konnten ihm die Ermittler damals nichts beweisen.«

»Es kam nie zu einer Anklage«, ergänzte Elias, und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Valeria sah nun, was das raue, harte Leben hier oben in den Bergen aus ihm gemacht hatte, sie sah den Schmerz, den frühen Verlust seines Vaters, der die Familie hatte sitzen lassen, sah die Kälte und die langen, schneereichen Winter. »Baumann wurde vor ein paar Jahren wegen einer anderen Sache festgenommen und angeklagt. Er hat eine Joggerin aus heiterem Himmel angegriffen, eine Urlauberin. Man hat ihn eingewiesen …« Da war etwas, ein Zucken in seinen Augen, ein Schmerz, der hindurchhuschte.

»Und weiter?«

»Vor sieben Monaten kam er wieder hierher zurück.«

»Das ist nicht dein Ernst?« Valeria sah, wie sich seine Fingerknöchel um das Lenkrad krampften, als wollte er es erwürgen.

»Es ist mein voller Ernst«, erwiderte er. »Er lebt seitdem wieder bei seiner Mutter. Nur zwei Dörfer weiter, hinten im Gebirge.«

»Die jetzt zuständigen Ermittler wissen doch davon?«

»Sicher. Das war mit das Erste, was ich denen gesagt hab.«

»Und?« Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, dachte sie.

Doch Elias klang, als hätte er in den letzten Stunden so viel geredet, gerufen und Erklärungen abgegeben, dass seine Stimme kurz davor stand, sich mit einem heiseren Krächzen zu verabschieden. »Und sie werden es, wie sie es formuliert haben, berücksichtigen. Wahrscheinlich heißt das, dass man gar nichts unternehmen wird, nicht wahr?«

»Nein, das denke ich nicht. Man wird mit Baumann sprechen – vielmehr, das hat man bereits getan, darauf wette ich. Aber das bedeutet nicht, dass es einen Zusammenhang gibt.«

»Nicht?«, wiederholte Elias ungläubig.

»Nein. Aber nicht mit ihm zu sprechen können sie sich nicht erlauben.«

»Du kennst ihn nicht, den zuständigen Ermittler. Dieser Birkner, er glaubt, Nora wäre nur von zu Hause fortgelaufen. Er glaubt, mein Bruder und sie hätten sich gestritten. Er würde ihm etwas verheimlichen, das denkt er.«

»Und was noch? Ist das alles?«

»Er traut uns beiden nicht. Das genügt doch. Und nur deshalb steckt er nicht alle Energie in diese Suche.«

»Deshalb willst du, dass ich ihm ein wenig auf die Finger klopfe?«

»Ich will, dass Nora gefunden wird. Ganz gleich, wer das tut. Ich will, dass es aufhört. Was immer vor einundzwanzig Jahren seinen Anfang nahm, muss enden. Das ist alles, was ich will. Und …« Er zögerte, und als er fortfuhr, klang er rau und angeschlagen, als wäre dies der Augenblick, in dem sich die Erschöpfung endgültig seines Körpers bemächtigte. »… Du … na ja, du bist hier, weil du die Einzige bist, der ich wirklich zutraue, diese Sache zu lösen. Und ich habe mit Cristina gesprochen.«

»So ist das also.«

»Du solltest wenigstens einmal mit ihr reden. Valeria. Deine Mutter macht sich Sorgen. Immer noch, nach all dieser Zeit.«

»Du weißt, dass ich auch ihretwegen gegangen bin. Dass ich … eine Zeit lang auf der Straße gelebt habe.«

Für einen Moment war sie wieder zurück in der Vergangenheit. Die dichten Wälder, die Teufelsschlucht, in der sich der aufsteigende Nebel sammelte. Francesco, ihr Vater, der an seiner Pfeife schnitzte, sich zu ihr herumdrehte, als er ihre Füße auf dem staubigen Boden in der Werkstatt hinter dem Haus hörte. Seine große Hand, die ihre kleine umschloss.

Es ist gerecht, hörte sie seine Stimme. Es ist gerecht, kleine Löwin.

»Val?«

Die Worte holten sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie blinzelte.

»Sie vermisst dich«, sagte Elias langsam, als fürchtete er, dass sie ihm über den Mund fahren würde. »Seit dem Tod deines Vaters ist sie einsam.«

»Sie hat es gehasst. Dass wir herkamen, weil Papa hier im Bergwerk Arbeit gefunden hatte. Dass es so anders war. Ich dagegen habe das Leben hier genossen. Ich war frei. Aber als sie damit anfing, ihn immer mehr für ihre Situation verantwortlich zu machen, habe ich begriffen, dass sie dachte, sie hätte … hätte ihm nicht hierher folgen sollen.« Valeria spürte, wie sich eine alte unterdrückte Wut aufs Neue in ihr breitmachte: Ihre Mutter hatte ihren Bruder Rafael zum Gehen gebracht. Das hatte ihn erst in Guscinos Hände getrieben. Und das würde sie ihr nie verzeihen. Aber diese Worte behielt sie für sich.

Elias warf ihr einen Blick zu. »Überleg’s dir einfach.«

»Dafür ist jetzt ohnehin keine Zeit. Hoffen wir, Nora bald wohlauf zu finden, das ist am wichtigsten.«

Er nickte, doch hatte Valeria den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte.

»Und du? Wie steht es mit dir? Gibt es da jemanden?«

»Jemanden …« Elias nickte. Ein düsterer, trauriger Ausdruck huschte über sein Gesicht, wie ein Wolkenschatten, der sich für immer vor die Sonne gelegt hatte. »Es gab jemanden. Sarah. Sie ist tot. Es ist schon eine ganze Weile her.«

»Tot? Das … tut mir sehr leid.«

»Sie wurde krank. Krebs, der gestreut hat. Es ging alles viel zu schnell.«

»Elias …«

»Nein, schon gut.« Sie spürte, dass er unbedingt das Thema wechseln wollte. »Sieh mal.« Er deutete voraus. »Wir sind oben.«

Sie fuhren ins gleißende Sonnenlicht hinein, das sich in einer weiten Hochebene ausbreitete. Schroffe, mit Felsen übersäte Berghänge, Wälder und dahinter die Spitzen und Gipfel der schneebedeckten Drei- und Viertausender umgaben sie, und dazwischen das Dorf, das die Straße berührte, die auf der anderen Seite des Tals zum Gotthard hinaufführte.

»Eigerstal«, sagte Elias. »Wie du es in Erinnerung hast.«

»Na ja. Nicht ganz.« Valeria sah sich um. »Alt und neu. Die ganzen neuen Skipisten, die Lifte. Fast wie übergestülpt. Man könnte auch sagen, die Einheimischen hier oben haben ihre Seele verkauft.«

Die Straße machte eine Biegung, trug sie zwei Kilometer weiter und führte dann über einen Kreisel an einem Neubaugebiet vorbei, wo sich einige Villen befanden – edle Holz- und Natursteinfassaden, Sportwagen in den Einfahrten. Dahinter tauchte das saftige Grün eines Golfplatzes zwischen neu gepflanzten Erlen und Pappeln auf.

»Das ist alles Teil des geplanten Resorts, des Ski-alpin-Projekts. Eigerstal soll das neue St. Moritz werden, jetzt, wo die Investoren ihren Willen bekommen haben«, erklärte Elias.

»Die Investoren? Wer sind die?«

»Ausländer. Wir sind gleich da.«

Die Straße wand sich in Richtung Eigerstal, doch führte sie nicht hinein. Erst als Elias abbog und sie die große Straße in Richtung eines kleineren Zubringers verließen, erreichten sie den größten der drei Orte, das gut zweitausend Einwohner umfassende Dorf, das sich zwischen den Hängen der umliegenden Bergriesen versteckte. Valeria sah die Tankstelle, die schon damals, als sie hier gelebt hatte, außer Betrieb gewesen war, und die alten Grand Hotels mit den Holzfassaden am Straßenrand, die in den Zwanzigern erblüht waren, ehe sie in ihren langen Dämmerschlaf fielen.

Es gab auch ein neues Hotel, es war ein mächtiger Bau – ein in einem asiatisch stromlinienförmigen Design konstruiertes Gebäude mit mehreren Giebeldächern, aus denen zahllose Schornsteine hervorragten.

»The Hokkaido«, sagte Elias. »Das neue Prunkstück.«

Valeria betrachtete die Fassade aus den vielen Hunderten edlen Holzelementen, die längs und quer verliefen. Dazwischen waren zurückgesetzte Balkone der einzelnen Suiten in den oberen Stockwerken angebracht. Akkurat geschnittene Zierhecken umgrenzten das Gelände. Der ganze Komplex strahlte eine luxuriöse und zugleich fernöstlich anmutende Zurückhaltung aus, wie ein Zen-Garten, der in ein exklusives Hotel verwandelt worden war.

»Das ist recht hübsch. Extravagant, aber nicht übermäßig prunkvoll. Hat sicher nicht wenig gekostet«, sagte sie.

»Eine zweistellige Millionensumme, nach dem, was man so hört. Weiter oben im Gebirge bauen sie noch ein zweites, kleineres, aber das steckt gerade mitten im Rohbau fest … Es gibt nur Gerüchte, wieso es dort nicht vorangeht. Und ja, von außen ist es eher zurückhaltend. Ich glaube, die Diamanten stecken tiefer im Inneren.«

»Wie es sein sollte«, erwiderte Valeria mit einem Lächeln. »Moment, du glaubst? Du hast es dir noch nicht von innen angesehen?«

»Diese Art von Exklusivität kann ich mir nicht leisten. Die Eigentümer führen auch ein paar Restaurants, bei denen schon das Wasser meinen halben Monatslohn kostet.«

Valeria musste lachen. Für einen Moment war es ihr, als wären sie beide wieder Jugendliche, kaum fünfzehn Jahre alt. Elias’ Stimme hatte so sehr nach seinem damaligen Selbst geklungen, dass es sie mit einem Schlag zurückgeworfen hatte. »Ich könnte es mal testen, oder?«

Er starrte sie an und brachte den Wagen an einer Ampel so abrupt zum Stillstand, dass ein Ruck durch sie beide fuhr. Valeria wurde in den Gurt geworfen. »Du meinst …«

»Ich muss schließlich irgendwo schlafen.«

»Aber nicht da. Das ist …« Elias schüttelte angewidert den Kopf. Er überlegte, dann schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Stell dir mal vor, wir müssen etwas besprechen. Etwas Wichtiges, das nur mich und dich angeht und nicht die anderen Polizisten. Willst du das wirklich da drin machen?«

»Weißt du etwas Besseres? Etwas Geheimeres?«

Er nickte. »Oh ja. Das weiß ich.«

7

Der Hof versteckte sich in den Wäldern und lag am Ende einer schmalen Straße, die durch Eigerstal hindurch und ins Gebirge hinaufführte. Eine Frau in ihren Vierzigern begrüßte sie – langes hellblondes Haar, das sie mit buntem Stoffband aus der Stirn hielt, die Hände erdig von der Gartenarbeit, das Lächeln warm und herzlich – wie sich herausstellte, eine vor zwölf Jahren zugewanderte Norwegerin, die in Eigerstal einen kleinen Gemischtwarenladen und hier oben eine Pension betrieb. Elias kannte sie gut, Nora und Hanna, die siebzehnjährige Tochter der Norwegerin, waren Freundinnen.

»Valeria, Margaret Haldirsen. Margaret, das ist Valeria Ravelli, eine gute …«

»… Freundin«, beendete Valeria seinen Satz.

Weil Elias Margaret bereits aus dem Wagen angerufen hatte, wussten sie, dass die kleine Ferienwohnung noch frei war, und Valeria beschloss nach einem kurzen Blick auf das nah am Waldrand gelegene Gebäude, dass sie bleiben und Elias’ Empfehlung folgen wollte.

Tannen standen in Reihe hinter dem aus dunklen Holzbalken gezimmerten Chalet. Die weit ausladenden Äste überragten das Dach, das mit moosüberwucherten Ziegeln gedeckt war. Tannenzapfen lagen auf dem vom Regen aufgeweichten Boden. Der Geruch von Moder wehte aus dem nahen Wald heran. Valeria blickte hinüber. Im Unterholz, zwischen den Stämmen, lauerte Dunkelheit und Nebel, und für einen Moment war sie überzeugt, dass sich dort etwas bewegt hatte, eine haarige Hand, die einen der Äste beiseiteschob. Sie dachte an ihren Albtraum und ballte die Faust.

Die Rückkehr macht dich nervös, irrational. Verdräng es. Lass es nicht an dich heran.

Ein leises Miauen ließ sie hinabblicken. Eine weiß-schwarz gefleckte Katze musterte Valeria aus einiger Entfernung – das Tier hatte verschiedenfarbige Augen, eins war grün, das andere durchdringend blau. Etwas an ihrem Blick sagte ihr, dass die Katze sie nicht mochte.

»Mina«, sagte Margaret Haldirsen, »aber geben Sie besser acht. Sie lässt sich von niemandem anfassen, außer von mir. Ist mir zugelaufen, todkrank und völlig entkräftet. Sie muss irgendwo in den Bergen etwas Falsches gefressen haben.«

Die Katze fauchte leise und verschwand im Gestrüpp, das neben einem kleinen Schuppen wucherte.

»Kommen Sie rein. Ich zeige Ihnen alles.« Margaret Haldirsen griff nach einer Schüssel, die außen auf der Fensterbank stand. Valeria sah, dass Kastanien darin waren. »Ich weiß noch, wie wir die früher gesammelt haben. Erinnerst du dich?«

»Bruchstückhaft, Val«, erwiderte Elias. »Es ist so verdammt lang her.«

Valeria nickte. Natürlich. Warum sollte das alles auch so sehr in seinem Gedächtnis eingebrannt sein wie in ihrem? Er hatte nicht dasselbe erlebt. Sie wandte sich an Haldirsen. »Wir müssen gleich weiter. Ich würde nur meinen Koffer unterstellen.«

»Aber natürlich.«

Die Norwegerin führte sie durch einen schmalen, holzgetäfelten Flur in die Ferienwohnung der Pension. Valeria stellte ihren gelben Rollkoffer neben das frisch bezogene Bett. »Gebt ihr mir einen Moment?«

»Selbstverständlich.«

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, öffnete Valeria den Koffer und entnahm ihm das Holster mitsamt der Dienstwaffe, die sie sich unter der Jacke an der Hüfte befestigte. Valeria schloss den Koffer und stellte ihn neben das Bett. Dann richtete sie die Rollen aus – eine Richtung Norden, zwei andere Richtung Süden und die letzte Richtung Westen, ein Muster, das ihr verraten würde, ob der Koffer in ihrer Abwesenheit bewegt worden war.

»Fertig«, sagte sie, als sie aus dem Zimmer trat, vor dem Elias wartete. »Gehen wir.«

»Wohin zuerst?«, fragte er.

»Zeig mir den Ort, an dem der Hirsch gefunden wurde. Der Hirsch und das Zeichen. Und dann muss ich ihr Zimmer sehen. Noras Zimmer.«

»Das wurde bereits untersucht«, erwiderte er.

»Gründlich? War die Spurensicherung drin?«

»Nein, wieso denkst du …«

»Es ist zum jetzigen Stand noch alles möglich, Elias. Wir können nichts ausschließen.«

Sie verabschiedeten sich von Haldirsen und stiegen in den Pick-up. Elias lenkte ihn in den Wald hinein, auf einen schmaleren Weg, der sich beständig in die Höhe wand. Steine knirschten unter den Reifen. Valeria blickte hinaus. Der Himmel wurde grauer mit jedem Kilometer, den sie tiefer in den Wald hineinfuhren. Schwer beladene Regenwolken stauten sich an den Berghängen. Nebel kroch heran, floss über den Waldweg. Elias stellte das Radio an: Der Moderator erzählte von einem nahenden Tiefdruckgebiet, einem Temperatursturz und baldigem Schnee.

»Ich brauche noch einen eigenen Wagen«, sagte Valeria. »Irgendwas Geländegängiges.«

»Den kann ich besorgen. Unten im Tal gibt es einen Händler, der auch ein paar zum Vermieten hat.«

»Wie lange dauert das? Du musst das nicht tun, meine ich.« Valeria blickte einen Moment auf ihre Hände. Es war so seltsam, zurück zu sein, hier mit Elias in diesem Wagen zu sitzen.

»Heute Abend hast du ihn.«

»Zuvorkommend wie immer«, erwiderte sie, doch entlockte ihr Kommentar Elias nicht eine Regung. Er war fokussiert, die Lippen aufeinandergepresst, Zorn im Blick.

»Was macht Noras Vater?«

»Nino ist ohne Unterlass draußen. Er sucht im Wald, in jeder Schlucht und jeder Höhle.«

»Die alte Krähenhöhle. Gibt es die noch?«

»Ja.« Er warf ihr einen langen Blick zu. »Sie ist nicht eingestürzt, falls du das meinst. Dafür ist dieser Berg viel zu zäh. Aber er hat fünf Bergsteigern das Leben gekostet in den letzten fünfzehn Jahren und ist genauso bösartig wie eh und je.« Er bremste. »Wir kommen nicht weiter. Den Rest müssen wir gehen.«

Laub bedeckte den Boden, klebte feucht an ihren Schuhen, als ihr Elias bedeutete, dass es nun an der Zeit war, den Weg zu verlassen und sich direkt zwischen die Bäume zu schlagen. Mitten hinein in den Wald. Valeria kam ein Erinnerungsfetzen in den Sinn, als wäre er mit dem kalten Wind von den uralten Gletschern direkt zu ihr herabgeweht: Dieses Waldstück nannte man vor einundzwanzig Jahren den Jakobsforst. Hier hatte sich ein Einheimischer, der erfahrene Bergarbeiter Jakob Leitner, das Leben genommen. Er war tagelang verschwunden gewesen, ehe man seine Leiche in seiner Hütte fand. Später flüsterten sich die Alten in Eigerstal zu, etwas Dunkles hätte von Leitner Besitz ergriffen. Ein Schatten, der sich auf seinen Geist gelegt hatte. Er war zu lange im Bergwerk, erzählten sie sich. Er war zu lange in den einsamen Tiefen, sagten die anderen, und hat dort etwas gesehen, das niemand sehen sollte. Diese Dunkelheit ist in ihn eingedrungen und hat ihn nie wieder losgelassen.

Valeria fragte sich, ob seine alte Hütte noch immer stand, trotzig in den Schnee und Regen ragte.

»Ja, ich weiß«, meinte Elias ironisch. »Kein Ort für eine sonnenverwöhnte Italienerin.«

Sie schnaubte. »Wann hast du Nora zuletzt gesehen?«

»Das war vor drei Tagen. Hab mit Nino und ihr zu Abend gegessen, dann wollte sie sich einen Film ansehen, aber nach einer halben Stunde sagte sie, dass ihr ein bisschen schlecht sei, und ging ins Bett.«

»Und?« Valeria warf ihm einen interessierten Blick zu, während sie über den mit braunem Laub bedeckten Waldboden gingen, einem Ziel entgegen, das nur Elias kannte.

»Und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

»Weißt du, wie spät es da war?«

»Nino und ich haben statt des Films dann Fußball geschaut. Der FC Bern spielte, und da fiel das 2:0. Es war gegen halb elf.«

Valeria schob einen tief hängenden Tannenast zur Seite und duckte sich ein wenig, damit er sie nicht streifte. »Halb elf. Montag.«

»Genau.«

»Am nächsten Tag wäre wie üblich Schule gewesen?«

»Ja. Sie geht auf das Gymnasium unten in Altdorf.« Valeria hörte, wie seine Stimme bei diesen Worten fast brach. Es schien ihm schwerer zu fallen, über die zerbrochene Routine zu sprechen als über die jetzige Ausnahmesituation.

Sie sah zu den Tannenwipfeln hinauf, als eine Windböe aufkam und das Gehölz ächzen ließ. »In der Sache gibt es jede Menge Unbekannte. Wann hat Nino bemerkt, dass sie verschwunden war?«

»Am nächsten Morgen natürlich«, erwiderte er. »Er erzählte mir, sie sei manchmal vor ihm wach, aber dann wiederum an manchen Tagen kaum aus dem Bett zu kriegen. Als sie dann nicht auftauchte, ging er nachsehen. Das Bett war zerwühlt. Als hätte sie … ich weiß nicht. Vielleicht schlecht geträumt. Oder mit jemandem gekämpft. Ihrem Entführer, vielleicht.« Er seufzte. »Das Fenster stand offen. Als er reinkam, war es verdammt kalt, es hatte reingeregnet, der Teppichboden vor dem Fenster war völlig nass.«

»Das Fenster stand offen? Sie könnte aus dem Fenster geklettert sein. Aber hat dieser Birkner das Zimmer auch auf Einbruchsspuren untersuchen lassen?«

Elias nickte. »Er hat es sich selbst angesehen, das habe ich dir doch schon gesagt, aber die Spurensicherung war nicht da. Birkner war auch im Garten unten. Dort an der Hauswand liegt nur Kies, in dem keine Abdrücke zu finden sind, und weiter im Garten … da haben sie nichts entdecken können. Aber sie denken nun, dass Nora nachts aus dem Fenster gestiegen ist. Und ich hab nicht die leiseste Ahnung, wieso sie das getan haben könnte. Birkner meint, sie hätte sich mit ihrer Freundin getroffen. Das kann schon sein, aber … irgendwas ist da doch komisch.«

Valeria bemerkte seine leichte Ungeduld dabei, etwas wiederholen zu müssen. Das kannte sie von Zeugen, denen sie immer und immer wieder dieselben Fragen stellte, um zu überprüfen, ob die Story die gleiche blieb. Sie dachte an die Auflistung der Spuren im internen System RIPOL.

»Du glaubst, es ist etwas anderes geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Dieser Birkner, er misstraut mir und Nino noch viel mehr. Ich erfahre nichts, und das … das macht mir eine Scheißangst.«

Elias duckte sich unter einem tief hängenden Ast hindurch und hielt ihn für sie hoch, sodass Valeria nur ein wenig in die Knie gehen musste. Ein großer moosbewachsener Findling lag auf einer von Tannen umstellten Lichtung, die ihn zu bewachen schienen. Der Wind rauschte in den Kronen und ließ die mit Tannenzapfen behangenen Äste ächzen und knarren.

Valeria spürte, wie Gänsehaut über ihre Arme kroch, sie fröstelte. Du hast die Wälder zu dieser Jahreszeit nie gemocht. Und nach allem, was geschehen ist … Hierher zurückzukommen fühlte sich an, als hätte sie eine gut verschlossene Kammer in ihrem Verstand wieder geöffnet, die eine gut verborgene, gehütete Angst enthielt.

»Alles in Ordnung?« Elias war stehen geblieben und betrachtete sie mit einem mitfühlenden Blick.

»Du weißt es doch. Ich war …«, sie schluckte, um gegen das raue Gefühl in ihrer Kehle anzukämpfen, »… drei Tage verschwunden. Bin durch den Wald geirrt, bis man mich fand. Um es mal so zu sagen: Es ist nicht einfach, wieder hierher zurückzukehren.« Valeria schloss die Augen. Da waren Erinnerungen an ihren Albtraum, aber auch an das, was damals wirklich geschehen war und sich nun mit ihren Träumen vermischte: wie der große schwarze Leichenwagen über die Hauptstraße gefahren war, wie man die abgedeckten Körper ihrer Freundinnen eingeladen hatte … wie kalt sich der Regen auf ihrer Haut angefühlt hatte … die entsetzten Schreie von Stephanies Mutter, das stumme Weinen, als sie auf die verregnete Straße hinausgerannt war, ihre Schuhe hinter ihr auf dem Asphalt liegen blieben …

»Ich weiß. Ich verlange hier viel von dir. Aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden kann.« Elias klang hilflos, als wüsste er nicht so recht, wie er sie erreichen könnte.

Valeria schüttelte die Erinnerungen ab, ein Gefühl, als würde sie Dornen aus ihrer Haut ziehen. »Es geht schon. Es muss.«

»Hier ist es.« Er führte sie um den Felsen herum, der Boden war mit hohem Gras und widerspenstigem, stacheligem Gestrüpp bewachsen. »Hier hat ein Pilzsammler das Tier entdeckt. Das war etwa fünf Stunden, nachdem Nino Noras Verschwinden der Polizei gemeldet hat.«

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