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Wehrlos

Als Buch hier erhältlich:

Wie weit würdest du gehen, um dein Kind zu retten?

Als die kleine Nele Hand in Hand mit einem fremden Mädchen über den Spielplatz läuft, scheint es für ihre Mutter Mieke nur ein Spiel zwischen Kindern zu sein. »Komm, wir müssen uns verstecken, schnell!«, hatte das andere Mädchen Nele zugeflüstert. Doch dann wird sie in einen dunklen Wagen gezogen ...

Die Tat ist keine Zufallstat und Nele nicht das einzige verschwundene Kind. Mieke hat einen entscheidenden Fehler begangen – und zudem eine ihr nahestehende Person provoziert. Als der Polizist Ben auf Hinweise aus dem Darknet stößt, versucht Mieke bereits auf eigene Faust, ihre Tochter zu retten. Dadurch bringt sie nicht nur sich selbst in tödliche Gefahr ...


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001363

Leseprobe

Sonntag, 17.17 Uhr, Kinderspielplatz

Es sind nur noch wenige Schritte in eine neue Zukunft. In eine andere Zukunft. Eine, in der das frühere Leben mit Mama und Papa keine Rolle mehr spielt, in der die glücklichen Kindheitstage vergessen sein werden. Die kleinen Füße in Schuhgröße 26, die in grauen Stiefelchen mit applizierten Rosen stecken, laufen immer weiter. Es ist kalt draußen. Die Atemluft des Mädchens gefriert in der Luft. Winzige Wassertropfen, die in der Luft schweben und binnen Sekunden wieder verschwinden werden. Wie sich auflösender Nebel, der lediglich eine Ahnung von dem zurücklässt, was zuvor geschehen ist.

Nur wenige Meter hinter dem Mädchen: die Rutsche, auf der sie vor Minuten noch vergnügt gespielt hat. Immer und immer wieder ging es über ein Kletternetz mit robusten Seilen hinauf auf den Rutschturm. Ein kurzer Blick aus der neuen Perspektive über den kunterbunten Spielplatz, dann mit einem fröhlichen Juchzen über die Rutsche hinab auf die Fallschutzmatten. Großzügig sind diese auf dem Spielplatz des Dorfes ausgelegt worden. Ein Spielplatz sollte ein sicherer Ort sein. Nicht umsonst ist er von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben. Von außen wirkt er nahezu wie ein Käfig, doch nur so kann vermieden werden, dass Kinder ihre Bälle vom Platz schießen und ihnen dann auf die Fahrbahn folgen.

Nele hat nicht mit ihrem Ball gespielt. Sie ist gerade vier Jahre alt, liebt Prinzessinnen, Rutschen und Katzen. Und sie mag Mischa. Den Jungen, mit dem sie so lange gespielt hat, bis das andere Mädchen auftauchte. »Komm, wir müssen uns verstecken, schnell!«, flüstert ihr das andere Mädchen jetzt zu. Es ist einen guten Kopf größer als sie und hält die kleine Kinderhand fest in ihrer. Fast schon zu fest. Sie läuft, Nele läuft neben ihr her. Dass Mischa im Hintergrund fast zu Ende gezählt hat, hören beide Kinder nicht einmal mehr. »Achtzehn, neunzehn, zwanzig – ich komme!« Der kleine Junge steht mit dem Gesicht zu einem Schaukelpfosten. Ob er seine Freundin und das andere Kind wohl schnell finden wird? Der Spielplatz ist überschaubar groß. Im Spielhaus könnten sie sein, hinter einem der Rutschtürme, oder aber hinter dem Busch, der sich auf der Rasenfläche befindet. »Betreten verboten« steht auf einem Schild vor der Wiese. Kinder scheren sich nicht darum. Viele von den Spielplatz-Besuchern können noch nicht einmal lesen.

Mischa schaut zu seiner und Neles Mama. Die beiden stehen seitlich einer Wippe, sehen sich etwas auf einem Handy an. Weihnachtliche Klänge erfüllen die Luft. Die Weihnachtsaufführung im Kindergarten. Nele war als Engelchen verkleidet, sang mit glockenheller Stimme zusammen mit den Kindern ihrer Gruppe etwas von Sternen am Weihnachtsbaum. Sieben Mädchen sind sie in der Kindergartengruppe. Ab Anfang der nächsten Woche werden es nur noch sechs sein. Auch der Kindergarten wird Teil der Vergangenheit sein. Keine fröhlichen Kinderstimmen mehr, keine hellen Fenster, die mit bunten Kinderhänden bemalt wurden. Neles Handabdrücke an einem dieser Fenster werden in den Fokus der Ermittler rücken. In der Hoffnung, dass die bunte Fingermalfarbe nicht zu dick aufgetragen wurde und die Anordnung der Papillarlinien an den Fingern und der Handinnenfläche noch so gut erkennbar ist, dass sie später bei der Identifizierung des Kindes helfen kann.

Mischa hat zu Ende gezählt. Er drückt sich vom Pfosten ab, trippelt ungeduldig auf und ab und scannt dann den Spielplatz. Er sucht nach Neles pinkfarbener Jacke. Die ist so auffällig, dass seine Freundin immer zwischen all den anderen Kindern hervorsticht. Ein kleines, hübsches und nahezu komplett in Pink gekleidetes Mädchen, das so viel Farbe in all das Grau in Grau bringt. Doch die pinke Jacke ist bereits weit von Mischa entfernt. Die Kinderschuhe, die unten mit Blinkioden versehen sind, haben den Spielplatz längst verlassen. Mischa dreht sich im Kreis. Er braucht etwas, bis er den pinken Farbklecks entdeckt. Hinten, auf der Betonfläche, die eigentlich zum Inlineskaten und Fahrradfahren gedacht ist. Da, wo es absolut keine Möglichkeit zum Verstecken gibt. Kein Hindernis, keine Mulde – nur ein kleiner Ein- und Ausgang, der direkt zum Parkstreifen an der Straße führt.

Erst jetzt schauen die beiden Mütter auf. Sie waren nur einen klitzekleinen Moment abgelenkt durch ihre Gespräche, durch Erinnerungen, die für Neles Mutter bald zum wertvollsten Schatz werden.

»Nele!«, ruft die Mutter schließlich. Und noch einmal: »Nele!« Auch Mischas Mutter stimmt mit ein: »Neeeele!« Nur kurz dreht sich das Kind noch um und wird dann von der Hand, die es so erbittert festhält, vom Spielplatz in ein komplett anderes Leben gezogen.

Neles Mama rennt. Erst über den Spielplatz, dann auf die Betonfläche, auf der einige Erwachsene ihren Kindern bei den ersten Versuchen mit Inlineskates helfen. Sie alle haben ihre Rufe gehört. Sie alle haben die beiden Mädchen gesehen. Es wäre so einfach gewesen, die Kinder zu stoppen. So einfach, Nele an ihrer pinkfarbenen Kapuze festzuhalten und die Mädchen durch ein kurzes »Hey, wo wollt ihr denn hin? Deine Mama ruft dich«, aufzuhalten.

Aber sie alle schauen nur zu. Wie die Mutter keuchend und mit großen, schnellen Schritten auf die Betonfläche läuft, jedoch so weit von ihrer Tochter entfernt ist, dass sie sie nicht mehr erreichen kann. Es ist zu spät.

Ein Kind mit Inlineskates fährt ihr in die Lauflinie, sie strauchelt, fällt auf die Knie. Sie merkt nicht, wie sich spitze Steinchen in ihre Kniescheibe bohren, nimmt den körperlichen Schmerz nicht wahr. Die Welle an Verzweiflung, die sie ergreift, ist nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Wieder: »Neeele!« Die Schallwellen ihres Rufes werden vom Gelände getragen, erreichen noch ihre Tochter, die gerade von einer Hand in ein dunkles Auto gezogen wird. Kennzeichen, ich muss mir das Kennzeichen merken, denkt sich Neles Mama. Doch ihr Blick ist bereits so tränenverschleiert, dass sie weder Buchstaben noch Zahlen erkennen kann. Selbst die pinke Jacke ist verschluckt – im Inneren eines dunklen Wagens, dessen Ziel sie nicht einmal erahnen kann. Zusammen mit ihrem Kind, das sie vermutlich niemals wiedersehen wird. Vier Jahre pures Glück, die mit einem Mal beendet sind.

Sonntag, 17.21 Uhr

Der unsichtbare Ring um ihre Brust schnürte sich immer weiter zu. Er nahm ihr die Luft zum Atmen, sorgte für ein Engegefühl, das sich nicht mit der Weite dieser Welt vereinbaren ließ. Einer Welt, die so groß war, dass es unendlich viele Plätze gab, an die Nele jetzt gebracht werden konnte: Dörfer, Städte, Länder, Kontinente. Und doch hatten alle Plätze eins gemein: Nirgends könnte sie Nele beschützen. Überall wäre Nele ganz auf sich gestellt.

Mareike Ganter schrie. Sie schrie so markerschütternd, dass alle Gespräche um sie herum erstarben. Das Kinderlachen auf dem Spielplatz verstummte, die zuvor so desinteressierten Eltern schauten betreten zu ihr herüber, nicht ohne jedoch zuvor nach ihren eigenen Kindern geschaut zu haben und diese nun so fest wie möglich an der Hand zu halten. Niemand hatte versucht, das andere Kind oder das Auto aufzuhalten. Niemand war hinterhergestürzt, um sich die Bestandteile des Kennzeichens zu merken, die sie selbst nicht hatte ablesen können. Jeder war nur auf sich selbst bedacht gewesen.

Neles Mutter hielt sich mit einer Hand an der Metallabsperrung zum Spielplatz fest, ihre Finger verkrampft um das kalte Eisen gelegt. Sie spürte, wie ihr die Kälte über die für diese Jahreszeit viel zu leichten Sneakers in die Zehen kroch und zentimeterweise immer mehr von ihrem Körper Besitz ergriff. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie konnte dem Auto nicht hinterherlaufen.

»Bitte, schnell, wir brauchen die Polizei, Spielplatz am Ortsende. Vermutlich ist ein Kind entführt worden«, hörte sie da wie durch Watte die Stimme eines ihr unbekannten Mannes.

»Ein kleines Mädchen, pinke Jacke, sie hört auf den Namen Nele. Den Namen hat die Mutter immer wieder gerufen.«

»Ja, in einem dunklen Wagen. Kombi – ja, es war ein Kombi.«

»Keine zwei Minuten her.«

»Bitte kommen Sie schnell.«

Sie hörte die Stimme direkt hinter sich und spürte dann eine Hand auf ihrer Schulter. Sanft, aber bestimmt. Wie bei einem Arzt, der einem Angehörigen den Oberarm streichelte, um ihm dann mit leiser, aber fester Stimme etwas mitzuteilen, das so schlimm war, dass es das Leben der ganzen Familie erschüttern würde.

So, wie wenn er mit vorsichtigen Worten sagen würde: »Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, aber leider konnten wir Ihrem Kind nicht mehr helfen.«

Helfen, ich muss ihr helfen. Sie konnte nicht einfach untätig hier herumstehen. Mareike, die von allen Mieke genannt wurde, schüttelte die Hand von ihrer Schulter ab und rannte nun doch ziellos die Straße entlang, in die das Auto gefahren war. Da dachte sie zum ersten Mal an ihren Mann – sie musste ihren Mann informieren! Er musste wissen, dass sie nicht gut auf seine Tochter aufgepasst hatte. Dass man sie vor ihren Augen entführt hatte. Dabei wollten sie und Nele am Abend gemeinsam einen Kakao mit Marshmallows trinken, und sie hatten überhaupt noch so viele Sachen vor.

Mieke nahm in der spärlichen Straßenbeleuchtung, die die Gemeinde zum Einsparen von Geldern immer weiter reduziert hatte, die eintönigen Hausfassaden wahr. Putz, der längst abblätterte und dringend erneuert werden musste. Die Häuser hier waren meist weiß verputzt, zeigten nur noch ein schmutziges Grau. Niemand hatte Mut zur Farbe. Nele hätte ein rosafarbenes Haus gewollt – definitiv. Sie liebte Pink. Selbst der Weihnachtsbaum hatte pinke Kugeln gehabt.

»Pink, Mama, ich will einen pinken Baum!«, hatte Nele immer wieder betont und war dabei auf und ab gehüpft. Die Weihnachtszeit war für sie mehr als aufregend gewesen – auch, weil sie genau da Geburtstag hatte. Ihr persönliches Christkind, ihr größter Wunsch.

Der noch immer beleuchtete Weihnachtsbaum, der auf einer der wenigen vorderen Veranden stand, schien wie ein Relikt aus einer anderen Welt. Einer Welt, die weiterhin Liebe und Frieden verhieß und entgegen allen Tragödien dieser Welt weiter fröhlich blinkte und als Symbol für Lebenskraft stand.

Oh mein Gott, Nele, was wollen sie von dir? Hoffentlich lassen sie dich leben! Mieke spürte das Brennen in ihrem Hals. Die verstärkte Atmung in Kombination mit der kalten Luft tat ihr nicht gut. Bei jedem Atemzug machten sich die Luftröhre und ihre Lunge bemerkbar.

Nicht aufgeben, du darfst nicht aufgeben! Sie zog ihren Schal vor Mund und Nase und hatte das Gefühl, dass das Brennen etwas nachließ. Da vorne, die Kreuzung. Aber dann? In welche Richtung sie wohl mit Nele gefahren waren?

Hilfe, sie brauchte dringend Hilfe. Sie schluchzte. Wo blieb nur die Polizei? Mieke rannte mitten auf die Kreuzung. So könnte sie sich besser orientieren – hoffte sie. Sie drehte sich verzweifelt um die eigene Achse, fand aber keinen Anhaltspunkt, der ihr irgendwie weiterhelfen könnte. Keine Reifenspuren auf der nassen Fahrbahn, auf die jetzt leichter Regen tropfte.

In weiter Ferne raste ein Wagen mit erhöhtem Tempo in Richtung Ortsausfahrt.

Sonntag, 17.28 Uhr, Streifenwagen

Der durchdringende Ton des Martinshorns ging Polizist Ben Andersen immer noch bis auf die Knochen. Der schrille Ton versetzte ihn weitaus mehr als ein Notruf in Alarmbereitschaft, jagte das Adrenalin durch seinen Körper und ließ ihn Alltagssorgen ausschalten. Er atmete flacher und angestrengter als sonst, konzentrierte sich ganz auf die Fahrbahn vor ihm. Seine Kollegin Imke Hansen saß still neben ihm. Acht Kilometer, und sie wären am Einsatzort: einem Spielplatz in einem Vorort von Münster.

»Moritz01 an alle verfügbaren Einheiten: mutmaßliche Kindesentführung. Vierjähriges Mädchen in Wagen gezerrt. Dunkler Kombi auf der Flucht.«

Wieder wurde der Funkspruch wiederholt, der sie bereits alarmiert hatte.

»Moritz09 ist unterwegs.«

Es waren insgesamt rund acht Kilometer von der Dienststelle zum Einsatzort. Zehn Minuten von der Alarmierung bis zum Eintreffen am Ort der Entführung.

»Dunkler Kombi.« Ben schüttelte den Kopf.

»Damit kommt in etwa jedes zweite Fahrzeug infrage.« Imke stöhnte. »Anonymer kann man mit einem Kind kaum untertauchen.«

»Schneller auch nicht!« Ben schaute auf die Hinweisschilder, die in Richtung Autobahn deuteten. Gleich zwei Autobahnen verliefen hier – die A1 und die A43. Weiter oben im Norden gab es mit der A30 eine Schnellanbindung an die nahegelegenen Niederlande. Mit Wegfall der stationären Grenzkontrollen im Schengenraum war es nicht nur für Urlauber und Grenzpendler einfacher geworden, sondern vor allem auch für Personen, die schnellstmöglich aus anderen Gründen über die Landesgrenzen mussten.

Ben bog auf den Innenstadtring ab und verschaffte sich per Martinshorn Gehör. Die Fahrzeuge vor ihm wichen auf die rechte Spur aus, schafften somit Raum für das Einsatzfahrzeug, das schnellstmöglich die Stadt verlassen musste.

Noch sieben Kilometer.

Der Polizist trat heftig in die Bremsen. Ein roter Kleinwagen wechselte vor ihm von der rechten auf seine Spur. Ben betätigte die Lichthupe, sah kurz im Rückspiegel des Autos vor ihm das erschrockene Gesicht der noch jungen Fahrerin. Ben bedeutete ihr mit einer schnittigen Handbewegung, die Spur zu räumen, wechselte dann selbst kurz auf die rechte Spur, um seine Fahrt schnellstmöglich fortzusetzen.

»Laute Musik«, mutmaßte Imke ärgerlich. »Es ist doch immer das Gleiche. Niemand denkt daran, dass man auch die Einsatzwagen noch hören können muss.«

Ben schwieg. Er drückte den Fuß noch etwas fester aufs Gaspedal, war froh, dass die anderen Auto- und Fahrradfahrer umsichtiger reagierten und er schnell auf die Ausfallstraße traf.

Noch sechs Kilometer.

Sie ließen die letzten Häuserzeilen der Stadt hinter sich, bogen mit dem Wagen um die Kurve.

»Verdammt noch mal!« Ben fluchte und bremste das Einsatzfahrzeug erneut ab. Die Schranken zu den quer über die Fahrbahn verlaufenden Bahngleisen waren geschlossen, kündigten das Herannahen der Regionalbahn an. Einmal stündlich bot sie hier Berufspendlern die Möglichkeit, so bequem wie möglich in die Stadt zu gelangen.

»Verdammter Mist«, stimmte auch Imke mit ein, lehnte sich nach vorne und ließ sich dann stöhnend wieder in ihren Sitz fallen. »Das hängt alles von uns ab, oder?«

»Ich hoffe einfach, dass eine andere Streife vor uns vor Ort ist.«

»Ringfahndung?«

»Da kümmert sich sicher das Präsidium drum. Aber wegen des Fußballspiels stehen nicht so viele Einheiten zur Verfügung. Heute ist Lokalderby.«

»Sie müssen die Autobahnauffahrten kontrollieren.«

»Das werden sie schon.«

»Aber …«

»Ja, du hast recht«, formulierte er ihren Gedanken zu Ende. »Vermutlich nur nicht schnell genug.«

Alles andere als schnell öffneten sich dann auch die Bahnschranken wieder. Ben schaltete vom ersten in den zweiten Gang, verließ endlich den Ort und gelangte auf die Bundesstraße.

Noch fünf Kilometer.

Ben hatte die Zahlen klar im Kopf: Laut BKA waren im Jahr 2020 insgesamt 14.614 Kinder im Alter bis einschließlich 13 Jahren vermisst gemeldet worden. Mehr als 97 Prozent von ihnen konnten wieder angetroffen oder aber ihr Schicksal geklärt werden. Einige blieben jedoch für immer verschwunden.

»Mehr als 1600«, murmelte er.

»Mehr als 1600 was?«, fragte Imke nach.

»So viele Kinder sind seit 1951 in Deutschland verschollen. Spurlos. Niemand weiß, was mit ihnen passiert ist.«

»Uff«, Imke biss sich auf die Unterlippe, starrte auf die nur durch die Scheinwerfer des Streifenwagens beleuchtete Straße. »Ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die bei der Ermittlung vielleicht etwas Entscheidendes übersehen.«

»Ich auch nicht.« Ben schaltete die Scheibenwaschanlage an, sprühte per Druckknopf das Gemisch aus destilliertem Wasser und Frostschutzmittel auf die verdreckten Scheiben. Schneematsch und Streusalz wichen in die Außenbereiche der Scheibe, als die Wischerblätter rhythmisch hin- und herjagten.

Noch vier Kilometer.

Ben verlangsamte kurz das Tempo, als ein Kombi von der Gegenfahrbahn nach links auf eine Nebenstrecke abbog und dabei ihre Fahrbahn überquerte. Ein dunkelhaariges Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, das vermutlich hinter seinem Vater auf der Beifahrerseite saß, hob nahezu zaghaft die Hand, um die Polizei auf sich aufmerksam zu machen und ihr zu winken. So wie es viele Kinder taten. Es schien enttäuscht, dass Ben und Imke nicht zurückwinkten. Sonst schalteten sie auch gerne zur Freude der Kinder kurz das Blaulicht an.

Doch das Blaulicht war bereits an, drehte sich noch schneller als Bens Gedanken.

Was, wenn wir am Einsatzort eine wichtige Spur übersehen? Was, wenn wir das verschwundene Kind nicht wiederfinden? Was, wenn wir in die falsche Richtung ermitteln? Oder aber in die falsche Richtung fahren?

Noch drei Kilometer.

»Ich kenne den Spielplatz«, sagte Ben. »Ich war mit meinen Töchtern auch schon da.«

»Wie alt sind die beiden noch einmal?«

»Helen ist acht, Luisa vier.«

»So alt wie das verschwundene Mädchen.«

»Ich mag gar nicht darüber nachdenken.« Ben klang ungeduldig. Er hatte das Gefühl, dass die Wegstrecke in den Stadtteil so viel länger war als sonst. Er wohnte am Ort des Verschwindens, fuhr die Strecke fast täglich. Er genoss die kurze Fahrt von der Dienststelle nach Hause. Ein paar Kilometer, um abzuschalten, um auf andere Gedanken zu kommen. Um noch kurz über die Geschehnisse vom Dienst nachzudenken und dann ganz einzutauchen in sein Privatleben. Er und seine Töchter. Das perfekte Dreierteam.

Noch zwei Kilometer.

Er spürte ein klein wenig Erleichterung, als er in der Ferne endlich die ersten Lichter des Ortes sah. Bald wären sie da. Er wusste genau, wo sich der Spielplatz befand. Der beliebteste Spielplatz in der Gegend, Treffpunkt von Jung und Alt. Ab dem Grundschulalter ließen viele Eltern ihre Kinder hier allein hin. Jeder kannte jeden. Was sollte schon passieren? Hatte er nicht aus genau diesem Grund diesen Wohnort gewählt?

Aufwachsen in einem beschaulichen Stadtteil, in dem man sich keine Sorgen machen musste und die Kinder auch mal aus den Augen lassen durfte. Vermutlich war diese vermeintliche Sicherheit einer Mutter oder einem Vater nun zum Verhängnis geworden. Das konnte passieren, wenn die Aufmerksamkeit nachließ.

Imke griff zum Funkgerät.

»Moritz01 von Moritz09, bitte kommen.«

»Moritz01 hört.«

»Moritz09 übernimmt. Wir sind gleich an der Einsatzstelle.«

»Moritz01 hat verstanden.«

Imke setzte ihre dunkle Wollmütze mit der Aufschrift »Polizei« auf, warf einen kurzen Kontrollblick in den Innenspiegel auf der Beifahrerseite und schob zwei ihrer blonden Haarsträhnen unter die Mütze. Dann zog sie sich die Lederhandschuhe über.

Noch ein Kilometer.

»Moritz09, eure genaue Position?«

»Moritz09 befindet sich an der Ortseinfahrt. Wir sind gleich da.«

»Okay, Moritz09, Ringfahndung wird eingeleitet. Wir brauchen dringend ein Foto von dem Mädchen.«

»Moritz01 von Moritz09, verstanden! Foto schicken wir gleich.«

Jeder hatte Fotos seines Kindes auf dem Smartphone. Ein enormer Vorteil bei der Ermittlungsarbeit. Sie könnten binnen Minuten erste Bilder des vermissten Mädchens ans Präsidium schicken.

Sonntag, 17.35 Uhr, Kinderspielplatz

Mieke wurde durch das herannahende Martinshorn aus ihrer Trance geholt. Sie riss sich aus den Armen ihrer Freundin Denise, die sie festgehalten hatte, stürmte auf den Polizeiwagen zu. Sie wartete kaum ab, dass die beiden Polizisten ihre Türen geöffnet hatten.

»Meine Tochter – Nele«, stammelte sie atemlos. »Entführt.«

Sie deutete auf die Richtung, in die der Wagen gefahren war. Sie erhoffte sich, dass die Polizei endlich die Verfolgung aufnehmen würde. Stattdessen schob der Polizist, der sich mit Ben Andersen vorstellte, sie sanft zur Seite, ging mit ihr ein paar Schritte vom Streifenwagen weg.

»Sie sind die Kindsmutter?«

»Ich … ja. Mieke … Mareike Ganter.«

»Ihre Tochter ist wie alt?«

»Vier.« Nein, sie wollte das nicht. Sie wollte nicht befragt werden. Sie wollte doch nur ihre Tochter zurück. »Nele, sie heißt Nele. Sie ist in ein Auto gezogen worden. Das stand hier, halb hinter der Hecke vom Spielplatz versteckt.«

Sie deutete auf den nun verlassenen Spielplatz. Die Besucher, die sich vormals um Schaukeln und Rutschen gedrängt oder aber auf Bänken dem bunten Treiben auf der Betonfläche zugeschaut hatten, befanden sich nun irgendwo zwischen Spielplatz und Kreuzung. Auf Positionen, von denen aus sie die Verzweiflung einer Mutter und die Befragung der Polizei genau mitbekamen. Sie hielten sich als Zeugen bereit. Sie zückten aber auch ihre Smartphones und filmten den Streifenwagen, der die sonst so unaufgeregte Gegend nun in einen düster wirkenden Ort verwandelte, der unaufhörlich in flackerndes blaues Licht getaucht wurde. Aufmerksamkeit war jedem Filmer hier gewiss.

»Nun hören Sie doch auf zu filmen«, rief die Polizistin den Schaulustigen zu, sprach dann kurz mit ihrem Kollegen und führte Mieke schließlich zu einem eintreffenden Krankenwagen.

»Ich möchte, dass die Sanitäter Ihnen eine warme Decke geben und ein Auge auf Sie haben«, erklärte sie und stützte Mieke bei ihren wackeligen Schritten.

Mieke setzte wie mechanisch einen Fuß vor den anderen. Sie bewegte sich vorwärts, ging im Tempo der Polizistin und hatte doch das Gefühl, keine Kontrolle mehr über ihren Körper zu haben. Sie zitterte unaufhörlich – trotz der dicken Winterjacke. Ihre Tränen liefen warm an ihren kalten Wangen hinab. Ihr Herz wummerte laut in ihrer Brust. Immer wieder im gleichen Takt. »Ne-le-ist-weg, Ne-le-ist-weg, Ne-le-ist-weg.«

Sie wollte schreien, hatte aber keine Kraft mehr dazu. Ein Sanitäter half ihr in den Krankenwagen, drückte sie behutsam, aber bestimmt auf die Trage. Half ihr dann dabei, auch ihre Beine hochzulegen.

Sie hörte die Stimme ihrer Freundin Denise. Bruchstückhaft und schmerzhaft bohrte sie sich in ihr Bewusstsein.

»Nele …«

»Ja, genau. Wir haben uns auf dem Spielplatz getroffen.«

»Ein dunkler Kombi … selbst nur kurz gesehen.«

»Leider kein komplettes Kennzeichen … was mit M.«

»Ein Kind … Es war ein anderes Kind. Ein Mädchen.«

Dann wieder die Stimme der Polizistin: »Ben, die Personalien. Nimm mit den Kollegen die Personalien auf.«

»Den Notruf hat ein Mann abgesetzt«, nahm sie nun etwas deutlicher Denise’ Stimme wahr. »Puh, den habe ich noch nie gesehen. Jeans, helle Mütze, eine dunkle Winterjacke. Eben war er noch hier, aber nein. Jetzt sehe ich ihn nicht mehr, tut mir leid.«

Denise’ Sohn Mischa quengelte. »Mama, mir ist kalt. Ich will nach Hause, bitte!«

»Ja, Schatz, gleich«, beschwichtigte Denise.

Nach Hause. Mieke wollte auch nach Hause. Sie wollte nicht hier sein – und sie wollte schon gar nicht ohne Nele nach Hause. Warum verdammt tat denn niemand etwas? Sie sah zwei weitere Streifenwagen, die Polizisten besprachen sich. Schließlich löste sich der Polizist Andersen aus der Gruppe, kam auf sie zu.

»Frau Ganter, haben Sie ein Foto Ihrer Tochter auf dem Smartphone? Am besten eins von heute. Mit der Kleidung, die sie heute getragen hat.«

Mieke nickte, richtete sich etwas auf. Sie zog ihre Tasche, deren Henkel sie die ganze Zeit über fest umklammert hatte, zu sich. Nestelte darin herum, fand ihr Handy, wischte mit ihrem Finger über das Display. Nele lächelte sie auf dem Hintergrundbild an. Die großen dunklen Augen, denen sie nichts abschlagen konnte. Die süßen Grübchen, die sich bildeten, wenn Nele lächelte. Sie konnte sich nicht von dem Bild ihrer Tochter abwenden.

»Frau Ganter?«, fragte der Polizist. Und dann noch einmal: »Frau Ganter?«

Mit tränenverschleiertem Blick schaute Mieke in seine Richtung, die Finger fest um das Handy geschlossen, die Fingerkuppen auf dem Bild ihrer Tochter. Wie eine letzte Liebkosung für Nele, wie ein letzter Gruß. Sie schluchzte auf, unfähig, sich zu bewegen oder die Fotos in ihrer Handygalerie durchzuscrollen. Jedes Bild erzählte eine eigene Geschichte, rief schmerzhafte Erinnerungen hervor. Dabei war die Welt doch nur wenige Minuten zuvor noch in Ordnung gewesen. Ihre Welt …

Denise nahm ihr sanft das Telefon aus der Hand, streichelte ihr über den Oberarm. Sie merkte nichts von der sanften Bewegung. Ihre dicke Winterjacke ließ kein anderes Gefühl zu ihr durch als das des Grauens und der Eiseskälte, die nicht nur von ihrem Körper Besitz ergriff. »Lass mal, Mieke, ich mache das.«

Dann sprach Denise mit dem Polizisten, erklärte ihm, dass sie die Bilder vor nicht einmal einer Stunde von den Kindern gemacht hätten. Kurz vor Einsetzen der Dämmerung.

»Nele, lächele doch bitte mal kurz in die Kamera.«

»Mama, ich spiele doch mit Mischa.«

»Nur kurz, mein Schatz. Nur für ein Bild.«

»Muss das sein?«, hatte Nele leicht genervt gefragt.

»Ja, es geht auch ganz schnell. Dann kannst du weiterspielen.«

Mieke hatte eine Serie von Bildern gemacht. Das schönste hatte sie später noch bearbeiten wollen. Sie legte gerne Filter auf ihre Fotos. Und sie zog Nele immer gut an. Sie liebte es, wenn sie niedlich aussah.

»Sie hat heute Jeans und eine pinke Winterjacke getragen«, verschaffte Mieke sich aus dem Krankenwagen Gehör. Ihre Stimme brach, aber sie konnte sie noch beherrschen. »Und graue Stiefel mit Rosen-Applikationen. Rosarote Rosen mit etwas Glitzer.«

»Kopfbedeckung?«, fragte der Polizist knapp.

»Ein Strickset. Schal und Mütze selbst gestrickt. Türkis.«

»Haben Sie zuvor etwas Verdächtiges bemerkt?« Der Polizist senkte die Stimme und stieg zu ihr in den Krankenwagen.

»Nein, wirklich nicht.«

»Denken Sie bitte noch einmal nach. Ihre Freundin sagte etwas von einem anderen Kind. Kannten Sie das Kind?«

Mieke schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe das Mädchen noch nie zuvor gesehen.« Es war vielleicht drei oder vier Jahre älter als Nele. Ein Mädchen, es war doch einfach nur ein anderes Mädchen.

»Grundschulalter«, tippte Denise. »Aber wirklich, das Kind ist auch mir nie zuvor aufgefallen.«

»Vermutlich ortsfremd«, rief der Polizist seiner Kollegin zu, sprach dann etwas in sein Funkgerät, das Mieke nicht verstand.

»Wir werden die Fotos Ihrer Tochter ans Präsidium schicken. Von dort aus geht das Bild an alle Polizeidienststellen.«

Mieke nickte.

»Wir werden alles tun, um Ihre Tochter zu finden«, versicherte ihr der Mann, tätschelte dabei unbeholfen ihre Hand. »Ist der Vater des Kindes schon informiert?«, fragte er dann.

Mieke schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann ihn nicht erreichen.«

»Geschäftsreise«, mischte sich Denise ein. »Thomas ist ständig auf Geschäftsreise. Er ist in der IT-Branche tätig und viel unterwegs.«

»Stimmt das, Frau Ganter?«

»Ja«, pflichtete sie leise bei. »Mein Mann ist oft unterwegs.« Eigentlich waren sie längst getrennt, er längst ausgezogen. Verdammt, sie wusste nicht einmal, wo genau er jetzt wohnte. Irgendwo in Hamburg. Definitiv nicht mehr bei ihr und Nele – seit Wochen.

»Wo hält er sich momentan auf?«

»Er … Ich glaube, er musste heute den Zubringerflug nach München nehmen. Und von da aus weiter nach Peking. Oder Shanghai? Ach, ich erinnere mich nicht.« Sie brach wieder in Tränen aus. Versuchte krampfhaft, sich an das letzte Gespräch mit ihrem Mann zu erinnern. Peking oder Shanghai? Wohin hatte er gewollt? Es war ihr so egal gewesen. Hauptsache, sie musste ihn so schnell nicht wiedersehen.

»Rufen Sie ihn bitte noch einmal an«, forderte Ben Andersen sie auf. Er wartete, bis sie über die Kurzwahltaste ihren Mann angerufen hatte. Es kam keine Verbindung zustande.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, immer noch nicht. Er hat das Telefon nicht an.« Miekes Hand zitterte, als sie das Smartphone enttäuscht sinken ließ und dem Polizisten die Nummer ihres Mannes gab. Thomas musste unbedingt erfahren, was mit Nele geschehen war.

Sonntag, 17.58 Uhr, Auto der Entführer

Neles Atmung war flach, aber stetig. Sie hatten sie mit einer Mischung aus Chloroform und Diazepam betäubt, um für eine schnelle Bewusstlosigkeit zu sorgen. Nicht, weil sie ein kleines Kind nicht gefügig machen konnten, sondern weil sie Aufmerksamkeit vermeiden wollten. Der Vorteil bei Operationen im Winter war eindeutig, dass die Dunkelheit viel verbarg und dass die noch verbliebene Weihnachtsstimmung das Aufmerksamkeitslevel der Menschen herabsenkte. Niemand achtete auf andere, niemand scherte sich darum, wie das neue Jahr für andere verlaufen könnte. Hauptsache, die eigenen Neujahrsvorsätze wurden umgesetzt und das Jahr legte einen fabelhaften Start hin.

Deshalb mussten sie vermeiden, dass ein Kind diese Heile-Welt-Trance zum Jahresanfang durch aufgeregtes Winken oder Rebellieren in einem dunklen Wagen störte. Sie hatten sogar auf verdunkelte Scheiben verzichtet. Ein absolutes Klischee rund um Entführungen. Nele lag friedlich und ohne Fesseln auf der Rückbank. Dem Kind ging es gut. Denn noch hatte es keine Ahnung von dem, was es erwarten würde. Die Frau am Steuer hatte jedoch kein Mitleid mit dem Mädchen. Wie jedes Mal, wenn sie den Fahrdienst übernahm. Sie hatte in ihren Kreisen einen Ruf zu verlieren.

Über den Rückspiegel fing sie den Blick von Amira auf, die sie zum wiederholten Mal eingesetzt hatten. Sie würde diesen einfachen Fang nachher positiv erwähnen. Das würde Amira vor Drangsalierungen schützen. Das Kind hatte sich bislang an alle Abmachungen gehalten. Es war leicht, Kinder entsprechend zu beeinflussen. Man musste nur die passenden Knöpfe drücken. Mit Nele hatten sie jedoch andere Pläne als mit Amira.

»Lilly, was hältst du von Lilly?«, fragte sie Amira. »Das ist doch ein süßer Mädchenname. Sollen wir den festhalten?«

Amira nickte kaum merklich und schaute dann angestrengt aus dem Seitenfenster. Ihre Hand ruhte auf dem Knie des kleinen Mädchens. Die zarte Geste konnte die Frau am Steuer nicht wahrnehmen. Auch die Tränen, die dem älteren Mädchen langsam die Wangen hinunterliefen, sah sie nicht.

»Ja, Lilly ist gut«, sagte die Frau dann mehr zu sich selbst. »Das werde ich später genauso vermerken.«

Auf dem Beifahrersitz nickte der Mann, der das Kind in das Hintere des Wagens gezogen und ihm das ins Chloroform-Gemisch getränkte Tuch unter die Nase gehalten hatte. Boris wurde er genannt, aber die Frau war sich sicher, dass es nicht sein richtiger Name war. Fast alle hatten sie Decknamen. Boris war der Mann fürs Grobe. Auch sein Name sicher ein Klischee. Boris sprach nicht viel und führte nur das aus, was ihm aufgetragen worden war. Abgesehen davon, dass er einen ziemlich festen Händedruck hatte und die Kinder kaum beachtete, wusste sie nicht viel über ihn. Wenn sie ihn nur anhand seiner Mimik und seines Körperbaus beurteilen müsste, würde sie ihn irgendwo bei einem Inkasso-Unternehmen verorten.

Sie wusste jedoch, dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Boris und sie hatten einiges gemeinsam: Es gelang ihnen beiden hervorragend, keine Zweifel an ihren Versionen aufkommen zu lassen. Andere hätten das »Lügenkonstrukt« genannt. Doch es gab definitiv immer zwei Wahrheiten.

Die Wahrheit im Heck ihres Wagens hatte mit der kleinen Nele vom Spielplatz nichts mehr zu tun. Das würde das Kind noch schmerzlich erfahren müssen. Das Mädchen bewegte sich und stöhnte leise. Eine typische Reaktion, wenn die Kinder langsam das Bewusstsein wiedererlangten und die Wirkung der Betäubungsmittel nachließ. In Neles Alter waren die Kinder oft so benommen und verschüchtert, wenn sie wieder zu sich kamen, dass weitere Maßnahmen nicht nötig waren. Vermutlich aber würde das Kind für längere Zeit in einen Dämmerschlaf fallen. Die Anwesenheit von Amira würde ihm sicher guttun. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn es darum ging, das Kind beruhigen zu müssen. Die Kinder hatten zuvor zusammen gespielt, sie hatten gemeinsam Spaß gehabt. Amiras Händedruck und ein paar liebevolle Worte ihrerseits würden Wunder bewirken.

»Ssssshhhh«, hörte sie Amira da auch schon flüstern. »Alles ist gut. Schlaf noch ein wenig. Ich bin bei dir.«

Xenias Herz hüpfte. Nur ein kleines bisschen. Fast schon eine Art Familienidylle. Zu einer anderen Zeit hätte sie das durchaus genossen. Doch mittlerweile hatte sie begriffen, dass das Leben andere Pläne mit ihr hatte. Dass er andere Pläne mit ihr hatte.

Das Radio dudelte leise vor sich hin. Noch hatte es keine Sondermeldung wegen einer mutmaßlichen Entführung gegeben. Seit sie vom Spielplatz weggefahren waren, war eine knappe halbe Stunde vergangen. Es war Zeit, wieder von der Autobahn zu fahren. Wenn jetzt die Meldungen rausgingen, würde sich die Polizei zuerst an den Autobahnabfahrten positionieren. Sie würden auf Landstraßen ausweichen müssen. Xenia war sich sicher, dass sie schon weit genug gefahren war, um jeder Art von Ringfahndung zu entgehen. Ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, könnten sie bald irgendwo anhalten, das Auto neu betanken und den Kindern – sofern sie sich denn vorbildlich verhielten – einen Schokoriegel kaufen. Für die kleine Nele wäre es möglicherweise der letzte Schokoriegel.

Sonntag, 18.01 Uhr, Kinderspielplatz

Ben war im Gespräch mit Sanitäter Hendrik Mertens. Sie waren sich bereits in der vergangenen Woche zweimal bei Verkehrsunfällen begegnet. Mertens legte eine Infusion bei Mieke Ganter und strich ihr eine Haarsträhne aus dem verweinten Gesicht. Die, die bei Bewusstsein waren, beruhigte diese Geste. Bei denen ohne Bewusstsein hoffte er, damit zu ihnen vorzudringen. Wir sind hier, wir kümmern uns um dich. Und bei denen, die es vermutlich nicht schafften – so wie der junge Raser in der Nacht zu Samstag –, war es ein letzter Gruß. Anstelle der Angehörigen, die in solchen Momenten nicht bei ihnen sein konnten. Niemand sollte allein sterben müssen.

»Wie geht es ihr?«, fragte Ben leise und deutete auf Mareike Ganter, die mit geschlossenen Augen auf der Liege lag.

»Sie bekommt jetzt ausreichend Flüssigkeit per Tropf, damit sie nicht dehydriert. Und etwas zur Beruhigung.« Mertens spritzte ihr ein Beruhigungsmittel und schloss dann die Elektrolytlösung an die Infusion an.

Ben gegenüber verzog er mitleidig den rechten Mundwinkel. Sobald die Wirkung des Beruhigungsmittels nachließ, würde sie mit voller Wucht wieder in der Realität landen.

»Neuigkeiten?«, fragte Mertens kurz.

»Nein, nichts. Die Fahndung läuft.«

»Jetzt glotzt doch nicht so!«, brüllte Mertens und stellte sich breitbeinig in die Tür des Krankenwagens. »Habt ihr nichts Besseres zu tun?« Wild gestikulierend forderte er die Schaulustigen auf, das Weite zu suchen.

Die Blaulichter der drei Streifenwagen und des Krankenwagens sorgten zusammen mit der überall noch eingeschalteten Weihnachtsbeleuchtung für ein surreales Zusammenspiel romantischer und bedrohlicher Atmosphäre. Hier trafen zwei Welten aufeinander, die sich mit der friedlichen Stimmung zum Jahresanfang nicht vereinbaren ließen. Die Gesichter der Passanten bewegten sich zwischen Neugierde, Anspannung und Entsetzen.

»Hey, du da. Herkommen!«, forderte Ben einen jungen Mann auf, der mit seinem Smartphone auf die Einsatzfahrzeuge hielt, die Kamera seines Handys zwischendurch auf sich selbst schwenkte und in die Linse sprach. Er schien verärgert, dass Ben sein Tun unterbrach, steckte das Handy aber in seine Tasche und ging auf den Polizisten zu.

»Name, Alter, Wohnort?«

»Noah Bennecke, 19 Jahre, ich wohne hier im Ort, gleich da drüben. Ich studiere in Münster.«

»Wo warst du zum Zeitpunkt des Verschwindens des Mädchens?«

Der Student drehte den Schirm seines Käppis nach hinten, gab pflichtschuldig Antworten auf alle Fragen des Beamten. »Wie fast alle anderen vermutlich auf dem Spielplatz. Hören Sie, ich habe auf der Lehne einer Parkbank gesessen und mit meinem Smartphone Musik gehört. Ich habe fast nichts mitbekommen.«

»Kinder beobachtet?«

»Was? Nein, natürlich nicht! Das heißt. Klar, ich habe Kinder gesehen. Aber deswegen war ich doch nicht da. Wissen Sie eigentlich, wie ätzend das ist, als junger Mensch in so einem Kaff zu wohnen? Zu Hause streiten sich meine Alten wie jedes Jahr von Weihnachten an bis zum Dreikönigsfest. Und wo will man hier schon groß hin? Hier gibt es fast nichts bis auf diesen Park.«

»Ganz konkret: Ist dir das verschwundene Mädchen aufgefallen?«

Noah schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Ein Kind von vielen. Ich habe fast die ganze Zeit über nur auf mein Handy geschaut. Instagram und TikTok. Ich folge der Clubszene verschiedener Städte und meinen Freunden und Kommilitonen. Da hat es gerade jetzt über den Jahreswechsel viele neue Fotos und Videos gegeben. Silvesterfeiern, Neujahrskater und so. Ach, und Tänzchen unterm Weihnachtsbaum, für die Oma und Opa herhalten mussten. Die gehen gerade auf TikTok voll ab«, erklärte er grinsend.

»Die … gehen voll ab?«

»Ja, wie Kinder und Tierbabys halt. Omas und Opas sind auch immer gut für etliche Klicks. Wollen Sie mal eins der Videos sehen?«, fragte er und holte sein Handy wieder aus seiner Gesäßtasche.

Ben winkte ab. »Und Sie wollen also nichts mitbekommen haben?«

»Anfangs nicht, nein. Aber irgendwann habe ich diesen markerschütternden Schrei gehört. Obwohl ich die Musik laut anhatte. Irgendwie war da nur dieser Schrei. Ich habe die Kopfhörer abgenommen und habe noch die Frau auf die Straße laufen sehen. Die anderen standen wie angewurzelt da. Aber die Frau, die jetzt da im Krankenwagen liegt, die hat geschrien.«

»Und dann?«

»Ich habe immer wieder das Wort ›Kindesentführung‹ gehört. Lautes Gemurmel, Geschrei, Schritte und dann jemanden, der immer wieder schrie: ›Absicht, das muss Absicht gewesen sein.‹ Ich bin aufgesprungen und auch in Richtung Ausgang gelaufen. Ein dunkler Kombi ist mit quietschenden Reifen weggefahren. Aber das ging alles so schnell. Ich konnte die Fahrzeugmarke nicht richtig erkennen, und ich habe auch das Mädchen nicht gesehen. Also ich habe von der eigentlichen Entführung gar nichts mitbekommen.«

Ben zeigte ihm ein Foto des Kindes.

»Ja, vielleicht. Bei den Schaukeln. Die da vorne. Die quietschen immer so hartnäckig. Irgendwann ist dieses Quietschen von jetzt auf gleich verstummt. Ich habe erst durch den Schrei und durch die einsetzende Hektik überhaupt etwas mitbekommen.«

»Sie sagten, Sie wären viel in den sozialen Netzwerken unterwegs. Haben Sie irgendetwas von heute gepostet? Vom Spielplatz? Von der Zeit danach?«

Ben sah Noah an, dass er eigentlich nicht antworten wollte.

»Ja«, gab er schließlich kleinlaut zu. Er wirkte beschämt und ehrlich.

»Zeigen Sie bitte mal«, forderte Ben ihn auf und hielt die Hand auf, um das Smartphone entgegenzunehmen. Die Instagram-Seite von NoBe01 war noch geöffnet, zeigte Einsatzwagen im Bereich zwischen dem Spielplatz und der Kreuzung des Ortes, einen Überblick über den Spielplatz und ein Foto der spielenden Nele. Aufgenommen per Zoom aus einer anderen Ecke des Spielplatzes.

»Woher haben Sie das?«, fragte Ben streng.

Noah zuckte mit den Schultern. »Das ist nur geteilt. Der Hashtag #findetnele geht im Netz bereits steil. Die Netzwelt ist einfach schneller unterwegs als die Polizei«, sagte er nicht ohne Stolz.

Sonntag, 18.10 Uhr, Auto der Entführer

Die Geschwindigkeitsanzeige zeigte konstant 130 km/h. Richtgeschwindigkeit in Deutschland. Wer nicht schneller fuhr, verhielt sich komplett unauffällig. Sie waren in Ascheberg auf die A1 gefahren, hatten ganz bewusst die nächstbeste Autobahnauffahrt vermieden, waren bereits mehr als 60 Kilometer von der Stadt entfernt. Sonntags, sie griffen fast immer sonntags zu, wenn es keinen Feierabendverkehr gab und die Lkw von der Autobahn verbannt waren. Verderbliche Ware musste besonders schnell ans Ziel. Auch, weil sich ihre Kunden bereits die Finger danach leckten.

Mit jedem Kilometer, den sie zwischen den Ort der Entführung und dem Zwischenlager verbrachten, entspannte sich Xenia mehr, fühlte weniger Schuld auf ihren Schultern lasten. Sie drehte das Radio lauter, summte fröhlich zu den Liedern mit, die vom WDR in die Region geschickt wurden, lachte laut auf, als sie passend zu Wolfgang Petrys »Ruhrgebiet« das Kreuz Dortmund-Unna passierte. Zufall und damit genau das, was auf sie nicht zutraf. Sie hatte sich jahrelang bewähren müssen: Loyalität, Verschwiegenheit, Zuverlässigkeit. Damit konnte sie dienen – bis zur Selbstaufgabe.

Boris starrte mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck aus dem Seitenfenster, sprach kein Wort. Boris war der Mann für Taten – und für das Ausführen von Befehlen. Er reagierte deshalb sofort, als Xenia sich erstmals seit der Abfahrt vom Spielplatz an ihn wandte:

»Schreib ihm, dass Phase eins bestens geklappt hat. Die Ware ist unterwegs.«

Sonntag, 20.16 Uhr, Wohnhaus Familie Maier

Denise schloss die Tür hinter den Beamten, verriegelte die Tür dann mehrfach. Das tat sie sonst nie. Sie hatte das Gefühl, Mischa beschützen, das Böse draußen vor der Tür lassen zu müssen. Mischa lag in seinem Bett, behütet und verstört. Er hatte seit dem Nachmittag nicht mehr mit ihr gesprochen. Kein Wort – und auch keine Widerworte wie sonst. Er hatte sich ohne Protest seinen Schlafanzug anziehen lassen, hatte ohne Murren die Zähne geputzt und war dann in sein Bett gestiegen.

»Mama, kannst du heute bitte das Licht anlassen?«

Diese Angst im Dunkeln, sie wusste, dass sie sich nun verstärkt hatte. Das Böse kam im Dunkeln, schlich sich ungesehen von hinten an, beobachtete aus der Nacht, machte sich ohne Zeugen breit und umhüllte einen, bevor man überhaupt eine Ahnung davon hatte, dass es überhaupt existierte.

»Frau Maier, was ist mit dem Wagen auf dem Parkstreifen vor dem Spielplatz?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, ich habe ihn einfach nicht wahrgenommen. Da stehen immer Autos. Ich … Er ist mir nicht aufgefallen, alles wirkte so normal.«

Dabei war die Normalität nichts als eine Illusion. Hinter jedem noch so normal und freundlich wirkenden Lächeln konnte sich etwas verbergen, jede noch so fröhliche und ausgelassene Situation konnte problemlos kippen. So wie heute. Fröhliches Kinderlachen, nur Minuten später abgelöst durch die Schreie einer Mutter und das betroffene Schweigen anderer Eltern.

Denise fühlte sich schuldig. Sie hatte die beiden Mädchen noch vor Mieke entdeckt. Sie hatte gesehen, dass Nele immer weiterlief. Aber sie hatte Mieke nicht darauf aufmerksam gemacht. Sie hatte sich nichts dabei gedacht und sich nicht verantwortlich gefühlt.

»Ist Ihnen das andere Mädchen vorher aufgefallen?«

»Ja, natürlich. Ich habe das Kind gesehen. Es wollte mit Nele und Mischa spielen. Ein Kind, ein ganz normales Kind. Hätte ich denn Verdacht schöpfen müssen?«

»Das wollen wir eigentlich von Ihnen wissen.« Der Polizist, den sie vor sich hatte, wirkte ernst und interessiert, drängte sie nicht, aber dass er den Kugelschreiber immer wieder klicken ließ, machte sie mehr als nervös.

»Mir ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Die Kinder wollten doch einfach nur spielen.«

»Frau Ganter hat ausgesagt, dass die Kinder überhaupt nicht mit dem Mädchen spielen wollten.«

Denise schwitzte. Sie erinnerte sich noch genau an die anfängliche Zurückhaltung der beiden Kinder. Sie waren so in ihr eigenes Spiel vertieft gewesen, waren gerutscht, hatten Fangen gespielt, dann für ein Fantasiespiel Grashalme aus der Rasenfläche gezogen.

»Wir machen gerade Salat«, hatte Nele schüchtern geantwortet. Sie und Mischa wollten weiterspielen – allein.

»Jetzt seid doch nicht so! Lasst das Mädchen mitspielen. Sie hat so lieb gefragt. Wie heißt du denn?«, hatte sie mit einer Frage helfen wollen, das Eis zwischen den Kindern zu brechen. Das Kind hatte sie nur angeguckt, aber nicht auf ihre Frage geantwortet. Sie hatte es darauf geschoben, dass das Kind vielleicht nicht mit Fremden reden sollte.

»Das hier sind auf jeden Fall Nele und Mischa.«

Das Mädchen hatte sich nur für Nele interessiert, sie hatte es gleich bemerkt. Aber auch das war doch normal. Mädchen spielten häufig am liebsten mit anderen Mädchen.

»Nun kommt schon, Kinder. Spielt doch einfach alle zusammen. Es ist doch viel schöner, wenn ihr zu mehreren seid.« Es war vor allem sie gewesen, die die Kinder ermutigt hatte. Es war ein gutes Gefühl gewesen, die Kinder kurz darauf zu dritt zu sehen. Sie wollte genau das: Mischa sollte andere Kinder nie ausschließen, sondern immer integrieren. Denise legte in ihrer Erziehung sehr viel Wert auf Sozialkompetenz.

Mieke und sie hatten sich im Supermarkt kennengelernt. Beide hatten vor dem Regal mit den Backzutaten gestanden, weil sie mit ihren Kindern Weihnachtskekse backen wollten. Vanillekipferl. Doch es war nur noch eine Packung Vanillinzucker übrig gewesen. Kurzerhand hatten sie entschlossen, gemeinsam zu backen. Mieke hatte ob des ungewöhnlichen Vorschlags von einer wildfremden Frau erst gezögert, dann aber sogar ihre eigene Küche zur Verfügung gestellt.

Sie und die Kinder hatten richtig viel Spaß gehabt. Sie hatten Weihnachtslieder gesungen, Kekse ausgestochen und schließlich sogar eine Mehlschlacht veranstaltet. Die erste in ihrem Leben. Das war über ein Jahr her. Sie konnte nicht behaupten, dass Mieke und sie engste Freundinnen wären, aber sie verstanden sich sehr gut und trafen sich regelmäßig.

»Wir haben Nele sogar noch ermutigt, mit dem Mädchen zu spielen. Das Kind war immer wieder hinter Nele und Mischa hergelaufen. Wir haben uns darüber gewundert, dass sie so an Nele interessiert war und unbedingt mit ihr spielen wollte, aber hätten wir sie etwa wegjagen sollen?«

Denise spürte, dass sie genau das hätten tun sollen. Die Kinder hatten unter sich bleiben wollen. Ihr wurde schlecht, wenn sie nur daran dachte, dass sie Nele in Gefahr gebracht hatte.

»Hören Sie: Jemand, der sein Kind auf den Spielplatz bringt, möchte, dass es dort Spaß hat, sich austobt, meinetwegen an seine Grenzen geht und jedes Mal etwas höher aufs Klettergerüst hinaufsteigt. Ich rechne jederzeit damit, dass es Blessuren gibt. Einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten und Trost-Gummibärchen habe ich immer in meinem Rucksack. Aber nie – und wirklich nie – würde ich mein Kind oder das meiner Freundin einer ernsthaften Gefahr aussetzen.«

»Haben Sie das andere Kind denn als Gefahr erlebt?«

»Nein, natürlich nicht. Wir haben uns nach der Mutter umgesehen, aber niemanden entdeckt, den wir dem Kind eindeutig zuordnen konnten. Aber auch das ist nicht verwunderlich. Das Kind war ein paar Jahre älter als unsere Kinder. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder in dem Alter allein auf dem Spielplatz sind.«

Ungewöhnlich sicher nicht, aber trotzdem fahrlässig, dachte sie. Sie müsste dafür sorgen, dass sie Mischa mehr abschottete. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass es auch Mischa hätte treffen können. Der jedoch war so zurückhaltend, dass er niemals mit dem Mädchen mitgegangen wäre.

»Wer könnte Interesse an Nele haben?«

»Wie meinen Sie das?«

»Die meisten Missbrauchs- und Entführungsfälle lassen sich auf Täter im persönlichen Umfeld zurückführen. Gibt es jemanden, der Interesse daran haben könnte, Nele in seine Gewalt zu bringen?«

»Nein, absolut nicht. Mieke hat nie etwas erwähnt.«

»Wie ist das Verhältnis der Eheleute Ganter?«

»Mieke und Thomas? Okay, soweit ich weiß.« Sie hatte Thomas nie als jähzornig erlebt, Nele war bis auf wenige Ausnahmen immer bei Mieke, aber sie hatte nie schlecht über ihn geredet – auch nicht nach der Trennung.

»Können Sie uns das andere Kind bitte so genau wie möglich beschreiben?«

Denise konzentrierte sich: »Sie war etwa 125 cm groß, vielleicht auch etwas größer. Dunkle geflochtene Haare, eine dunkle Hose und eine dunkelblaue Daunenjacke.«

Denise sah das Mädchen wieder genau vor sich. Die dunklen Zöpfe hatten unter der grauen Pudelmütze hervorgelugt, leicht struppig an den Enden. So, als ob die Spitzen schon ewig nicht mehr geschnitten worden wären. Es waren unterschiedlich farbige Haarbänder benutzt worden. Grün vielleicht und gelb? Jedenfalls hellere Farben. Das Kind hatte eine deutliche Zahnlücke gehabt und war gezielt auf Nele und Mischa zugegangen. Sie hatte sich zu Nele hinuntergebeugt und direkt nach ihrer Hand gefasst: »Komm, lass uns spielen.«

Nele hatte sich losgerissen, doch das Kind hatte sie in ein Versteckspiel verwickelt. Als Mischa schließlich mit dem Zählen dran gewesen war, hatte Nele die Hand des Mädchens doch noch ergriffen. Sie hatte noch gesehen, wie Nele in ihrer pinken Jacke neben dem Kind hergelaufen war, dann aufgrund ihrer Rufe kurz gezögert hatte, aber von dem Mädchen mit sich gerissen wurde – immer weiter zum Ausgang hin. Sie würde dieses Bild nie vergessen: Nele in ihrer pinken Jacke und den kleinen Stiefeln mit den applizierten Blumen. Daneben das nahezu komplett dunkel gekleidete Kind mit seiner schlichten Daunenjacke. Es wäre nirgendwo aufgefallen. Das Mädchen war so gekleidet, dass es nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.

Denise sprang auf und rannte in den Flur.

Sie griff nach ihrer Handtasche, die am Garderobenhaken hing, kam damit ins Wohnzimmer zurück und kippte sie vor den erstaunten Blicken der beiden Polizisten auf dem Couchtisch aus. Alte, zusammengeknüllte Kassenbons, eine Packung Kaugummi, Taschentücher, zwei Matchboxautos von Mischa, Damenhygieneartikel, Pflaster und ihr Handy.

Sie entsperrte das Display mit ihrem Daumenabdruck, öffnete die Bildergalerie und scrollte dann durch die Fotos, die sie am späten Nachmittag gemacht hatte. Nele und Mischa auf der Rutsche. Nele und Mischa, die lachend die Köpfe zusammensteckten. Mieke, die gedankenverloren in den Himmel schaute – und im Hintergrund das Mädchen, das sie auf jedem Bild aus der Ferne zu beobachten schien. Mal stand das Kind hinter einem jungen Mann, der auf der Lehne einer Parkbank saß, mal halb versteckt hinter dem Rutschhäuschen.

»Da, das ist sie«, stieß Denise hervor und hielt den beiden Beamten ihr Telefon hin.

»Das Mädchen?«, fragte der ältere Polizist.

»Ja, genau.« Sie tippte mit ihrem Fingernagel auf das Bild des Mädchens. Sie scrollte durch die Fotos. Doch auf keinem war das Kind klar zu erkennen. Es sah aus wie jedes x-beliebige Mädchen in dem Alter. Enttäuscht ließ Denise das Handy wieder sinken.

»Ich versteh das alles nicht«, flüsterte sie. »Die Kinder waren doch nur zum Spielen verabredet. Sie wollten einfach nur spielen …«

Sonntag, 20.52 Uhr, World Wide Web

Die Medien wurden in einer gemeinsamen Mitteilung von Polizei und Staatsanwaltschaft rund drei Stunden nach dem Verschwinden von Nele erstmals informiert. Zu einem Zeitpunkt, als die Entführung des Mädchens längst in den sozialen Netzwerken die Runde gemacht hatte.

GEMEINSAME MITTEILUNG VON POLIZEI UND STAATSANWALTSCHAFT

Mutmaßliche Kindesentführung von Dorf-Spielplatz

(ots) Münster – Nach einer mutmaßlichen Entführung bittet die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe. In den frühen Abendstunden ist um kurz vor 18 Uhr die vierjährige Nele G. vom am Ortsende gelegenen Spielplatz im Stadtteil Wolbeck verschwunden. Das Kind wurde vor den Augen der Mutter vom Spielplatz gelockt und in einen dunklen Kombi gezogen. Es gibt widersprüchliche Angaben zur Farbe des Wagens, sicher ist jedoch, dass es sich um ein dunkles Fahrzeug handelt. Es sind bislang nur Kennzeichenfragmente bekannt, so beginnt die Ortskennung nach übereinstimmenden Zeugenangaben mit einem »M«, als letzte Ziffer der numerischen Zuordnung ist die »7« bekannt.

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