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Weinbergsommer

Als Buch hier erhältlich:

Das einzige, was Annikas tristen Joballtag als Altenpflegerin auflockert, sind die heimlichen Pokerrunden mit dem alten, griesgrämigen Hermann. Als dieser einen längst vergessenen Brief seiner Tochter findet, und beschließt, in Paris nach ihr zu suchen, soll Anika ihn begleiten. Spontan türmen die beiden aus dem Altenheim in Richtung Frankreich. Doch unterwegs stranden sie in dem kleinen elsässischen Städtchen Ribeauville in der gemütlichen Pension von Olivier. Bei Wein und Flammkuchen, zwischen Weinbergen und neuen Freunden erscheint ihnen die Weiterfahrt plötzlich gar nicht mehr so erstrebenswert. Dabei ist Anika natürlich klar, dass es völlig absurd ist, von einer Zukunft im Elsass zu träumen - oder?


  • Erscheinungstag: 08.06.2020
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674249

Leseprobe

1. Kapitel

Es war Montagmorgen, erst halb sechs, und Anika war schon völlig außer Atem, als sie die Bushaltestelle erreichte.

Mit einem Ruck schnappte ihr die Tür vor der Nase zu.

»Zu spät«, rief der Fahrer durch die geschlossene Scheibe, lachte schadenfroh und setzte den Blinker.

Für einen Fluch fehlte Anika schlichtweg die Luft, also hielt sie sich stattdessen am Haltestellenschild fest und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Der Bus zog an ihr vorbei, von einem Vierersitz aus grinsten sie zwei pubertierende Jungs an.

Wie sehr sie diese Woche jetzt schon hasste.

Der nächste Bus kam in zwanzig Minuten, das würde knapp werden. Andererseits hatte der unfreiwillige Frühsport ihr Adrenalin in die Höhe schießen lassen. Einen Kaffee zum Wachwerden vor Schichtbeginn brauchte sie jetzt nicht mehr, auch wenn sie sich vor zehn Minuten noch wie ein Zombie gefühlt hatte. Frühschichten waren einfach nicht ihr Ding. Anika stellte ihre Handtasche ab und hockte sich daneben auf den Bordstein, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen.

Wenn sie Glück hatte, würde es nicht auffallen, dass sie ein paar Minuten zu spät zur Arbeit im Stift kam.

Wenn sie sehr viel Glück hatte.

Natürlich hatte der nachfolgende Bus dann auch eine Fehlfunktion an der Tür und zehn Minuten Verspätung. Um Viertel nach sechs, fünfzehn Minuten nach offiziellem Arbeitsbeginn, schlich Anika endlich durch den Hintereingang ins Seniorenstift. Vielleicht war der Chefin ihr Fehlen noch nicht aufgefallen.

Der Flur im Erdgeschoss war ruhig, die meisten Türen noch geschlossen. Aus dem Zimmer der früheren Köchin Mathilda Wiercziniak hörte sie die Stimme einer Kollegin, wahrscheinlich bekam die Seniorin gerade ihre Diabetesspritze vor dem Frühstück.

Hermann Büchners Tür stand ebenfalls offen, jedoch war kein Laut zu hören. Anika klopfte und trat ein, es war niemand zu sehen. Aus dem Bad hörte sie die Toilettenspülung. Mit drei Schritten war sie an Herrn Büchners Schreibtisch, um zwei Pokerchips abzulegen – ihr Zeichen, dass sie nach Schichtende etwas länger bleiben würde, um mit ihm eine Runde zu spielen.

Zurück auf dem Flur blickte sie sich um. Beinahe hatte sie es geschafft. Sie hastete den Korridor hinunter und wollte gerade aufatmen, als eine schneidende Stimme hinter ihr erklang.

»Auch endlich da, Frau Wendler?« Da war sie, die Haakhorn, die Oberste Heeresleitung, wie Herr Büchner die Pflegedienstleiterin nannte.

Ertappt blieb Anika stehen und drehte sich um. Ihre Chefin stand im Gang, die Hände in die Hüften gestemmt und schüttelte abschätzig den Kopf. »Montagmorgen und schon die erste Verspätung für diese Woche.«

Weshalb hatte eigentlich jedes Mal die Haakhorn Dienst, wenn Anika ein paar Minuten zu spät kam? Der Name allein ließ schon einen Raubvogel vermuten, und genau so sah die Chefin auch aus: Sie war hochgewachsen und hager, dazu besaß sie ein spitzes Kinn und eine lange Nase. Ihre dünnen graublonden Haare waren zu einem strengen Bob geschnitten.

»Es …«, begann Anika, wurde jedoch durch eine helle Stimme unterbrochen.

»Die Frau Wendler hat sich grad noch schnell um mich kümmern müssen.« Frau Doll, heute ganz in Kanariengelb gekleidet, schob ihren Rollator näher. »Ich hatte Probleme mit meinem … na, Sie wissen schon, da unten.« Sie lächelte schelmisch. »Und da ich die Nachtschwestern bei der Übergabe nicht mehr stören wollte, die Armen, hab ich Frau Wendler hier im Flur abgefangen. Da müssen Sie schon mir den Verweis geben.«

Frau Haakhorn schnaufte.

Anika hielt den Atem an.

Nur Frau Doll lächelte, als gäbe es kein Problem auf dieser Welt, ganz die gütige Großmutter. Gleich kneift sie Frau Haakhorn in die Wange und schickt sie einen Kakao trinken, schoss es Anika durch den Kopf.

»Na gut«, rang die Pflegedienstleiterin sich schließlich ab. Mit einem letzten misstrauischen Blick in Frau Dolls Richtung stapfte sie den Flur hinunter.

»Danke«, flüsterte Anika.

Frau Doll zwinkerte ihr zu.

Dafür würde sie am Nachmittag ein besonders großes Stück Kuchen bekommen, beschloss Anika, dann hastete sie endlich ins Pflegezimmer. Vanessa, die Kollegin von der Nachtschicht, die noch an einem Tisch saß und Notizen nachtrug, sah so übernächtigt aus, wie Anika sich nach jedem Nachtdienst fühlte. Ihre Frühschicht-Kolleginnen waren schon auf der morgendlichen Runde, und im Speisesaal wurde ebenfalls gewerkelt, Kaffeeduft zog sich durch den Korridor.

Vanessa gähnte und stand auf. Während sie nach ihrer Handtasche suchte und sich eine Jeansjacke überwarf, brachte sie Anika noch schnell auf den neuesten Stand. Dann schlüpfte sie in ihre Straßenschuhe, und mit einem weiteren Winken verschwand sie den Gang hinunter in den wohlverdienten Feierabend. Feiermorgen.

Anika machte sich bereit für einen Tag hoffentlich ohne weitere Zwischenfälle. Unter Frau Haakhorns Radar fliegen, lautete die Devise.

*

»Juhu!«, rief es von der Tür aus.

Hermann schloss die Augen und rührte sich nicht.

»Herr Büchner!«

Vielleicht würde sie wieder gehen, wenn er sich tot stellte. Er hörte ihre vorsichtigen Schritte, das leise Quietschen des Rollators.

Er probierte es mit einem kleinen Schnarcher.

»Ich habe die Mau-Mau-Karten mitgebracht.«

Genau das hatte er befürchtet.

Die Doll musste nun an seinem Bett stehen und sich neugierig zu ihm vorbeugen, das spürte er an dem leichten Luftzug, der seine Nase streifte. Sie roch immer nach diesem grauenhaften Parfüm, das sich nicht entscheiden konnte, ob es schwer oder für kleine Mädchen sein wollte.

»Sie haben doch keinen Anfall? Oder einen Herzinfarkt?«

Beinahe wäre er zusammengezuckt, als sie direkt in sein Ohr sprach.

»Ich rufe besser die OHL.«

Mit einem Ruck setzte Hermann sich auf. »Dann mischen Sie halt schon die Karten!« Er funkelte sie böse an. Die OHL, die Oberste Heeresleitung, hatte ihn vor dem Frühstück schon mit Tabletten – und vor allem ihrer Anwesenheit – genervt.

»Gell, das hat Sie schön erschreckt?«, lachte die Doll. Sie trug heute einen gelben Pullover, eine gelbe Hose, selbst an ihren Rollator hatte sie eine gelbe Schleife gebunden.

»Wir befinden uns in geschlossenen Räumen«, kommentierte Hermann ihren, natürlich ebenfalls gelben, Hut.

»Aber nicht mehr lange.« Gut gelaunt wie üblich zwinkerte die Doll ihm zu. Hermann vermutete, ihre penetrant fröhliche Stimmung lag an dem luftleeren Raum zwischen ihren Ohren, da konnte sich die Sonne sammeln oder diese schreckliche Musik, die sie immer hörte. »Bei dem schönen Wetter spielen wir natürlich im Garten.«

Auch das noch. Wo die Sonne ihn blendete und jeden Moment irgendein anderer Heimbewohner sich zu ihnen setzen und mit seinem dummen Geschwätz nerven konnte. Sein Martyrium heute würde ein ganz besonders schreckliches werden.

Seufzend folgte er der Doll und ihrem Rollator, in dessen Körbchen sie die Mau-Mau-Karten und zwei Flaschen Piccolo liegen hatte.

Ein ordentlicher Scotch wäre ihm lieber gewesen, aber den hatte ihm die Haakhorn schon vor Monaten abgenommen. Vor drei Wochen hatte sie dann seine Notfall-Reserve einkassiert, und gestern war er nicht schnell genug gewesen, sodass er nun auch keine Notfall-Notfall-Reserve mehr besaß.

Die Schwelle der Terrassentür zu überwinden, war für Frau Doll mit ihrem Rollator etwas umständlich.

»Könnten Sie mir kurz helfen?«, schnaufte sie.

Hermann nahm die beiden Piccolos aus dem Korb, die mussten nicht noch mehr durchgeschüttelt werden.

»Sie haben die Prioritäten im Blick.« Mit Anstrengung gab sie ihrem Rollator einen kleinen Schubs, sodass sie es schließlich nach draußen schaffte.

»Ich habe nur Vertrauen in Ihre Fähigkeiten.« Hermann folgte ihr auf die Terrasse.

Die Doll ließ sich am ersten Gartentisch in einen Stuhl fallen. »Ist es nicht wunderbar hier? Wie die Vögel singen und die Bienen summen …«

Und wie Frau Meyerhof hustete, der Böhnisch schmatzte und es überall schon nach dem widerwärtigen Mittagessen roch!

Hermann verzog den Mund.

Frau Doll schob ihren Rollator ein Stück zur Seite und begann damit, die Karten zu mischen.

Mit grimmiger Miene setzte er sich ihr gegenüber. Hoffentlich ging es heute wenigstens schnell. Vielleicht kam ein Sohn zu Besuch oder ein Enkel. Davon besaß die Doll jede Menge.

»Wie haben Sie denn wieder gemischt?«, meckerte Hermann beim Anblick seiner Karten.

»Absichtlich schlecht, um Ihnen eine Ausrede zu geben, wenn Sie verlieren. Es liegt immer an der Badehose, wenn man nicht schwimmen kann.«

Na warte, dachte Hermann. Er war in seiner Pokerrunde nicht umsonst unbesiegbar gewesen.

Während Frau Doll die Piccolos köpfte – endlich tat sie mal etwas Sinnvolles –, legte er eine Pik Acht und dann eine Pik Sieben. Der würde er zeigen, was eine Mau-Mau-Harke war.

»Was machen Sie denn da?«

Die schrille Stimme der Obersten Heeresleitung durchbrach ihr trautes Spiel. Hermann hatte gerade zum dritten Mal gegen die Doll verloren, und er vermutete, sie schummelte. Wahrscheinlich hatte sie die Siebenen und Achten irgendwo in den Untiefen ihrer sehr gelben Ärmel versteckt.

Er legte die Karten hin und sah die Haakhorn an, die seine leere Sektflasche an sich riss. »Sie sollen doch keinen Alkohol trinken, Herr Büchner, das wissen Sie ganz genau.«

»Als ob da Alkohol drin ist.« Er blinzelte zur Flasche hinauf. Was hatte so ein Prosecco? Zwölf Prozent? Dreizehn höchstens.

»Herr Büchner«, hob die Haakhorn an, die in ganzer Körperlänge neben ihm aufragte. Sie schien sich regelrecht aufplustern zu wollen, was bei ihrer dürren Figur jedoch eher komisch wirkte.

Bevor sie sich richtig aufregen konnte, trat Anika zu ihnen und sagte: »Die Malteser sind da. Herr Büchner, Sie haben jetzt Ihren Arzttermin.«

Heute war wirklich ein grauenhafter Tag. Immerhin war er nun sowohl vor der OHL als auch der Doll gerettet. In diesem Haus musste man ja dankbar für die kleinsten Gnaden sein.

»Anika, wo haben Sie denn gesteckt?«, wandte sich die Haakhorn nun an die junge Pflegerin. Ihre schlechte Laune hatte ein neues Ziel.

»Bei Frau Wiercziniak.« Anika wurde rot.

Bevor die OHL, die schon wieder Luft holte, wegen irgendeines eingebildeten Vergehens auf Anika losgehen konnte, schob Hermann seinen Stuhl geräuschvoll nach hinten.

Die Haakhorn schien sich an seinen Arzttermin zu erinnern und begnügte sich mit einem mahnenden Blick in Richtung Anika, bevor sie davonrauschte.

»Keine Sekunde länger hätte ich dieses dürre Weibsbild ertragen«, grummelte er im Anschluss, als er neben Anika her zum Vordereingang schlurfte.

»Die Pflegedienstleitung hat’s auch nicht leicht«, sagte Anika, aber in ihren Mundwinkeln konnte er die Andeutung eines Lächelns erkennen.

»Weshalb mischt die sich überhaupt ein? Reicht ihr das nicht, wenn sie Sie durch die Gegend scheuchen kann?« Er war immer noch sauer wegen seiner Flasche Scotch.

Anika machte eine unbestimmte Geste mit der rechten Hand. »Wenn wir Frau Haakhorn nicht hätten, würde es hier drunter und drüber gehen«, sagte sie schließlich diplomatisch. »Es würde den ganzen Tag nur Karten gespielt und Schnaps getrunken.« Nun zwinkerte sie ihm zu, und Hermann musste wider Willen grinsen. Ihre gute Laune war ansteckend. Er blickte sie von der Seite an. Wie üblich trug Anika ihre langen dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der Pony fiel ihr in die Stirn, eine gelöste Strähne kräuselte sich an ihrer Schläfe.

»Sie sind der alten Ziege gegenüber viel zu loyal«, stellte er fest.

Nicht umsonst war Anika die einzige Pflegerin hier, die er … ertrug. Mögen, nein, er mochte niemanden, das wäre zu viel gesagt. Unter Umständen hegte er vielleicht einen Hauch Sympathie für sie. Sie konnte Poker spielen und brachte so ein bisschen Ablenkung in sein tristes Leben, das ansonsten aus schlechtem Essen, Ärzten und Frau Doll bestand. Na gut. Vielleicht mochte er Anika ein winziges bisschen. Er hatte jedenfalls einen gewissen Beschützerinstinkt ihr gegenüber entwickelt. Das Mädchen war hübsch mit ihren großen braunen Augen und der Stupsnase. Sie war nicht besonders groß, ein bisschen kleiner sogar als er selbst, und er war in den letzten Jahren etwas eingegangen, auch wenn er beim Arzt grundsätzlich noch sein altes Gardemaß von einsdreiundsiebzig angab. Neulich hatte er den einen Heimarzt – diesen jungen, er konnte sich seinen Namen nicht merken – dabei erwischt, wie er Anika ganz ungeniert in den Ausschnitt geglotzt hatte. Na, so ein Pech, dass Hermann im Anschluss seine Urinprobe über den Schoß des Flegels gekippt hatte, so ein dummes Versehen. Unbewusst schnaubte er.

Anika bezog das offenbar auf die Sanitäter, die am Eingang auf ihn warteten, und beeilte sich, mit ihnen zu sprechen. Er hatte heute einen Termin beim Spezialisten, der Heimarzt hatte ihm eine Überweisung geschrieben. Ganz unrecht hatte Anika also nicht, die Anwesenheit der Sanitäter regte Hermann immer noch auf. Als ob er ein debiler alter Sack wäre. Als ob er nichts mehr allein tun könnte.

Alles wurde einem vorgeschrieben: Wann man duschen musste, wann im Aufenthaltsraum sitzen, wann einer Gruppe Kindergartenkinder bei einer dümmlichen Tanzveranstaltung zusehen, wann man essen musste, was man essen musste – oder nicht durfte. Ganz davon abgesehen, dass alles, was man ihnen hier vorsetzte, ein grauenhafter Fraß war. Selbst der Kuchen schmeckte mehlig und klumpig. Herrgott noch mal, war es ein verdammter Mist, alt zu sein.

Rausschleichen musste er sich spätabends, in Dunkelheit gehüllt, ohne sich von einer Pflegerin erwischen zu lassen. Was für ein Glück, dass der Edeka die Straße hinunter bis zehn Uhr geöffnet hatte. Um die Uhrzeit waren die Nachtschwestern noch mit der Übergabe beschäftigt und niemand war besonders aufmerksam. Und Gott sei es gedankt, brauchte er noch keinen Rollator. Frau Doll hörte man ja schon meilenweit quietschen, die musste ihre Bestellungen immer ihren vielen Kindern oder Enkeln mitgeben.

Rein aus Rebellion hatte Hermann sich neulich eine Schachtel Zigaretten gekauft. Nicht, dass er jemals geraucht hätte, aber hier ging es ums Prinzip. Grimmig und unter leichter Übelkeit hatte er die erste Zigarette noch direkt vor dem Laden geraucht. Mit der Vorstellung vom entsetzten Haakhorn’schen Gesichtsausdruck hatte er seinen Ekel soweit unterdrücken können, dass er Zug um Zug überstand.

Anika führte ihn jetzt zu einem der Sitze in dem weißen Kleinbus, wo er ihr auf die Finger klopfen musste, als sie ihn anschnallen wollte.

»Müssen Sie immer so störrisch sein?«, seufzte sie und zog ihre Hand zurück.

Die Sanis schoben gerade Herrn Eckhart nach hinten auf die Rollstuhlladefläche und zurrten ihn fest.

»Helfen Sie lieber dem«, knurrte Hermann, während er mit unsicherem Griff den Gurt einzustecken versuchte. Es dauerte etwas länger, als ihm lieb war, vor allem, weil Anika ihn dabei besorgt beobachtete. Sie kümmerte sich erst um den Eckhart, als Hermann zufriedenstellend gesichert war.

Immerhin waren sie zu zweit im Auto und erledigten damit mehrere Arzttermine in einem Aufwasch. Gut. Denn für ihn allein hätte es keine Sanis gebraucht.

*

Durch seinen Arztbesuch schaffte Hermann Büchner es nicht zum Mittagessen, und Anikas Kollegin Nasrin kümmerte sich darum, ihm später etwas zu essen aufs Zimmer zu bringen. Anika selbst musste sich stattdessen mit dem schon lange währenden Streit zwischen dem Bewohner Herrn Heidrich und Frau Doll herumschlagen, die eine Tochter und zwei ihrer Enkel zu Besuch hatte. Die beiden Jungs spielten, wie es für zwei Kinder im Grundschulalter üblich war, nicht in Zimmerlautstärke, was wiederum Herrn Heidrich so auf die Palme brachte, dass Anika nach diversen Schlichtungsgesprächen froh war, als ihr Feierabend nahte. Kurz bevor Anika endlich nach Hause gehen konnte, wurde sie im Flur erneut von der Pflegedienstleiterin abgefangen.

»Frau Wendler, würden Sie bitte kurz mitkommen?«

Nicht zweimal am gleichen Tag! Sie hatte bereits eine Abmahnung. Und was jetzt das Problem war, konnte Anika sich denken.

»Frau Wiercziniak war Köchin«, verteidigte sie sich.

Die Haakhorn zog eine Augenbraue hoch.

»Bei allem Verständnis für die Überbelastung in der Küche,« – und Anika besaß viel Verständnis, war es in ihrem Job doch nicht anders – »… das Essen ist für eine Bewohnerin, die zwei Sterne erworben hat, eine Zumutung.« Und deshalb hatte Anika der Wiercziniak von »Foodora« erzählt, einem Lieferservice, der einem das Essen von beinahe jedem Restaurant nach Hause brachte. Heute Mittag hatte es sehr indisch geduftet, als Anika am Zimmer der alten Köchin vorbeigelaufen war.

»Frau Wendler, Sie …« Für einen Moment sah die Haakhorn sie mit zusammengekniffenen Lippen an, dann schüttelte sie den Kopf und winkte ab. »Es geht ausnahmsweise nicht um Ihre eigenmächtigen Handlungen.« Mit schnellen Schritten marschierte sie den Flur hinunter, und Anika musste sich beeilen, ihr zu folgen.

Im Büro der Pflegedienstleiterin wartete eine Frau mit silbrigem Kurzhaarschnitt. Sie war ein ganzes Stück kleiner als Anika, und Anika schätzte sie auf Mitte fünfzig. Ihr deutliches Übergewicht verlieh ihr Pausbacken und ließ sie gutmütig wirken. Sie lächelte und gab Anika zur Begrüßung die Hand. »Sie sind Herrn Büchners Pflegerin?«

»Also, wir haben hier eigentlich keine fest zugeteilten Patienten«, begann Anika und blickte zu ihrer Chefin, die nur mit den Schultern zuckte.

»Sie kommen am besten mit ihm klar«, sagte die Haakhorn.

Das stimmte natürlich, während »diese Person« wohl der netteste Ausdruck war, den Hermann Büchner je für die Pflegedienstleiterin übrig gehabt hatte.

Anika wandte sich an die rundliche Besucherin: »Was kann ich denn für Sie und Herrn Büchner tun?«

Die Frau deutete auf einen Karton auf dem Schreibtisch, den sie offenbar mitgebracht hatte. »Den haben die Nachmieter seiner Wohnung auf dem Dachboden entdeckt. Es sind Fotos, Briefe, Erinnerungen. Weil sie nicht wussten, was sie damit machen sollten, haben sie ihn bei uns vorbeigebracht. Im Sozialamt«, fügte sie hinzu, als sie Anikas fragenden Blick bemerkte.

»Wir haben nach der Bewilligung seiner Pflegestufe die Überstellung zu Ihnen angewiesen und die Wohnung leer geräumt.«

»Er hat keine Verwandten.« Anika nickte. Üblicherweise kümmerten sich die Kinder, manchmal Geschwister, seltener Nichten oder Neffen um die Bewohner. Herr Büchner hatte niemanden.

»Genau«, bestätigte die Sozialarbeiterin. »Nachdem er das zweite Mal zu Hause schwer gestürzt war, hat man ihm im Krankenhaus gut zugeredet und anschließend für die Pflegestufe und die Heimunterbringung gesorgt.«

Die Heimunterbringung, der er immer noch äußerst skeptisch gegenüberstand, obwohl er seit einem knappen Jahr im Stift wohnte. Der Verlust seiner Selbstständigkeit machte ihm sichtlich zu schaffen, was sich in Spitzen gegen das Personal, vor allem gegen die OHL, äußerte.

»Anscheinend hatte man die Kiste bei der Wohnungsräumung übersehen«, sagte die Sozialarbeiterin jetzt. »Und ich dachte, bevor wir sie wegschmeißen …« Sie zuckte etwas hilflos mit den Schultern.

»Das ist sehr nett von Ihnen.« Anika lächelte sie an und nahm den Brief auf, der zuoberst im Karton lag. Er war ungeöffnet. »Regina Legrand«, las sie den Namen der Absenderin vor. »Klingt Französisch.« Herr Büchner hatte nie eine Regina erwähnt. Von einer Katharina hatte sie beim Pokerspielen erfahren, eine Sabine hatte es wohl auch mal gegeben, aber Regina, nein, der Name sagte ihr nichts. Sie legte den Brief zurück und griff nach einem Foto, das eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen zeigte: Das Kind saß auf einer Schaukel in einem Garten und grinste in die Kamera, die Mutter stand dahinter. Hermann Büchners Familie? Anika sah die Besucherin an. »Vielen Dank. Er wird sich sehr freuen.«

Die Frau blickte auf die Uhr und biss sich entschuldigend auf die Lippe. »Ich habe es leider ganz schrecklich eilig. Aber Sie kümmern sich darum, ja?«

Anika nickte und fasste den Karton unter, als Frau Haakhorn die Besucherin verabschiedete.

Es war so furchtbar kahl in Hermann Büchners Zimmer. Ihren Vorschlag, vielleicht ein Bild aufzuhängen, hatte er mit einer Bemerkung darüber quittiert, dass er schließlich nicht zum Vergnügen im Seniorenstift sei.

Vielleicht würde er ihr erlauben, die Fotos aufzuhängen.

Die Pappkiste seitlich auf die Hüfte gestemmt, machte Anika sich auf den Weg zu Hermann Büchners Zimmer. Sie klopfte an die hellbraune Zimmertür und drückte einen Augenblick später die Klinke hinunter.

»Wo bleiben Sie denn so lange?« Herr Büchner richtete sich in seinem Sessel auf.

»Wie üblich der Sonnenschein in Person.« Anika grinste ihn an. »Was hat denn der Arztbesuch ergeben?«, fragte sie dann.

»Ach, die haben doch alle keine Ahnung.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, doch bevor sie weiter nachhaken konnte, winkte der alte Mann ab. Als er sah, dass sie den Karton auf den Tisch am Fenster stellte, erhob er sich. »Was ist das?«, fragte er.

»Ihre Vergangenheit.«

Seine Lippen wurden schmal. »Brauche ich nicht.« Er ließ sich zurück in seinen Sessel sinken. Irgendetwas in seinem Blick ließ sie vermuten, dass aus dem geplanten Pokerspiel heute nichts mehr werden würde.

»Es könnte Ihnen vielleicht ein bisschen Heimatgefühl zurückgeben«, versuchte Anika es weiter. »Frau Doll hat auch überall Fotos ihrer Kinder und Enkel und Nichten und Neffen an der Wand. Wenn wir …«

»Was die Spinnerte tut, muss ich noch lange nicht machen.«

»Sie haben nicht einmal alle Briefe geöffnet.« Sie griff in den Karton, holte den obersten von Regina Legrand heraus und hielt ihn dem alten Mann entgegen.

Herr Büchner verschränkte die Arme vor der Brust. Das war nun wirklich Kindergarten. Anika seufzte. »Ich lasse den Karton einfach mal hier. Vielleicht haben Sie später ja noch Lust, ihn durchzusehen«, sagte sie dann.

»Nein!« Die Heftigkeit, mit der Herr Büchner ihr das Wort entgegenschleuderte, erschreckte sie. Er war ein alter Griesgram, aber selten wirklich aufgebracht. Es war mehr Gewohnheit, aus der heraus er meckerte. Doch jetzt wirkte er richtiggehend wütend: Mit der Faust schlug er auf die Armlehne seines Sessels.

Anika sah ihn lange an. Sie drehte den Brief in ihren Händen und fragte schließlich ruhig: »Sie haben mir noch nie von ihr erzählt. Wer ist Regina Legrand?«

Zuerst dachte sie, er würde explodieren. Sein Gesicht wurde rot, seine Augen funkelten vor Wut, er bewegte die Lippen, als wollte er gleich anfangen zu schreien. Sie erwartete ein: Das geht Sie einen feuchten Scheißdreck an. Oder: Verschwinden Sie.

Aber dann schien ihn seine Kraft zu verlassen und er sackte im Sessel in sich zusammen. Der alte Mann schüttelte den Kopf, sagte aber kein Wort. Seine Zähne mahlten, sie konnte die Muskeln in seinem Kiefer zucken sehen.

Als sie schon dachte, keine Antwort mehr zu erhalten, presste er hervor: »Meine Tochter.«

*

Es war halb neun am Abend und Anika gähnte sich durch die Unterhaltung mit Marlene. Nach ihrem Streitgespräch war Anika nicht mehr zum Pokerspielen bei Herrn Büchner geblieben, stattdessen hatte sie auf dem Weg nach Hause ständig über seine Enthüllung nachgedacht. Irgendwann hatte Marlene angerufen, und weil sie sich aufgrund der vielen Spätschichten in letzter Zeit kaum gesehen hatten, hatte Anika einem Treffen zugesagt. Nun saßen sie in Marlenes Lieblingslokal, einer durchgestylten Cocktailbar, deren tätowierter Barkeeper sich genauso fehl am Platz zu fühlen schien wie Anika.

Wenigstens war der Wein nicht schlecht. Marlene saß ihr gegenüber, mit einem rosafarbenen Getränk auf dem Tisch, und erzählte ihr von den wichtigen Themen des Lebens: Männern.

»Mit Leon läuft es supergut«, sagte Marlene gerade.

»War das nicht der, der sich nach dem Sex zwei Wochen nicht gemeldet hat?«, fragte Anika und versuchte, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken. Sie war seit über siebzehn Stunden wach, und ihr Wecker würde in genau siebeneinhalb Stunden klingeln. Lange konnte sie nicht mehr bleiben.

»Da musste er verarbeiten, wie nah wir uns gekommen sind. Seine Gefühle haben ihm Angst gemacht.«

»Das hat er gesagt?« Anika zog die Augenbrauen zusammen.

»Es läuft supergut«, wiederholte Marlene.

»Das freut mich.« Anika fuhr mit der Hand den Stiel ihres Weinglases entlang. »Heute war eine Sozialarbeiterin mit einem Karton voller Erinnerungen bei uns.« Die Sache ging ihr nicht aus dem Kopf. »Herr Büchner, einer meiner Patienten, hat offenbar eine Tochter.«

Als Marlene nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Er hat nie von ihr gesprochen. Und es fiel ihm sichtlich schwer, mir überhaupt davon zu erzählen. Was wohl passiert ist?« Vielleicht war sie gestorben. Sonst hätte sie sich doch sicher gekümmert, kümmern müssen, als Herr Büchner ins Stift umgezogen war.

»Ach, was wird schon gewesen sein.« Marlene zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht ist er deshalb manchmal so traurig.« Anika sah auf ihre Finger. »Er wirkt oft schlecht gelaunt, Vanessa stöhnt immer. Aber das ist nur … seine Fassade. Dahinter ist er eigentlich ein netter Kerl.« Dessen war Anika sich sicher. Vielleicht sprach sie einfach »Büchnerisch«, im Gegensatz zu allen anderen. »Und der Tod eines Kindes, ja, das kann einen aus der Bahn werfen.«

»Apropos Kinder.« Marlene sah sie an. »In letzter Zeit überlege ich ja auch öfter mal, ob ich nicht doch welche will. Wenn das mit Leon weiter so gut läuft …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür und ein Pärchen betrat den Raum.

Dummerweise waren gerade nicht viele Menschen in der Bar, und auf noch dümmere Weise saß Anika genau so, dass sie dem Blick des Mannes nicht ausweichen konnte.

»Hallo Holger«, sagte sie und nickte seiner blonden Begleitung mechanisch zu.

»Anika.« Sein Blick flog von ihr zu der Blonden an seiner Seite und zurück zu Anika. Dann blickte er Marlene an, den Barkeeper und floh schließlich ans andere Ende des Raums. Die Blondine folgte ihm verwirrt.

»Wart ihr nicht … war das nicht … was?«, fragte Marlene, als sie bemerkte, dass Anika versuchte sie vom Weiterreden abzuhalten.

»Er hat sich einfach nicht mehr gemeldet.« Anika zuckte mit den Schultern. Sie hatten sich über eine Dating-Plattform kennengelernt und sich wirklich gut verstanden. Hatten lange geschrieben und sich ein paar Wochen lang gedatet. Vor zwei Wochen hatte sie dann das letzte Mal etwas von ihm gehört. Seitdem hatte er auf ihre Nachrichten nicht mehr geantwortet. Ghosten nannte man das wohl.

Es war ja nicht so, als wären sie ganz offiziell und fest zusammen gewesen. Alles, was unter drei Monaten lag, zählte Anika noch in Wochen. Dennoch … es hätte etwas Schönes draus werden können.

»Ach, Liebes, das tut mir so leid!« Marlene drückte ihre Hand.

»Es ist nicht die erste Beziehung, die mein Schichtdienst zerstört hat«, sagte Anika schließlich. Sie war kein Morgenmensch, Frühschichten machten sie fertig. Aber immer nur Spät- oder sogar Nachtschichten waren zu schlecht für ihr Sozialleben. Während sie Frau Doll bettfertig machte, Frau Wiercziniak ihre Diabetesspritze gab, Herrn Büchner ein Wasser brachte oder die Pokerkarten wegnahm, gingen ihre jeweiligen Dates mit anderen Frauen aus.

Sie drehte sich um und erhaschte einen Blick darauf, wie die Blondine einen Arm auf Holgers Schulter legte.

»Also, Leon würde so etwas nicht machen«, proklamierte Marlene stolz. Dann fasste sie Anikas Hand. »Liebes, vielleicht musst du dir mal überlegen, was du falsch machst, dass dir so etwas immer wieder passiert.«

Der Barkeeper sah Anika fragend an. Sie stürzte den Rest ihres Weißweins hinunter und nickte. »Noch einen.«

2. Kapitel

Trotz der Kopfschmerzen, die aufgrund des gestrigen Abends und eines, vielleicht eher zwei Gläsern Wein zu viel hinter ihren Schläfen hämmerten, erschien Anika überpünktlich zur Arbeit, um ihrer Chefin keine weitere Angriffsfläche zu bieten.

Glücklicherweise blieb ihr eine Konfrontation mit der Haakhorn erspart, und sie konnte ihre frühmorgendliche Runde in Ruhe absolvieren und sogar noch einen Kaffee trinken. Den hatte sie heute auch nötig.

Bevor sie nach dem Frühstück Herrn Büchners Zimmer betrat, zögerte sie einen Augenblick.

»Wenn Sie die Winterkorn sind, können Sie gleich wieder gehen!«, schallte es ihr entgegen, als sie schließlich die Türklinke heruntergedrückt hatte. Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

Mit der Nachtschwester Vanessa hatte der alte Büchner ebenfalls Probleme. Es war ein Mysterium, weshalb sie selbst sich mit ihm verstand, dachte Anika. Sie versuchte, ihre Erleichterung darüber zu verbergen, dass ihn das gestrige Erlebnis offenbar nicht allzu sehr mitgenommen hatte. »Frau Winterkorn ist eine sehr geschätzte Kollegin«, begann sie und wartete nur darauf, dass er sie unterbrach.

»Hören Sie mir auf mit dem Sermon!« Und da ging das Gemecker auch schon los. »Holen Sie lieber die Karten raus.«

»Erst die Tabletten.« Sie hielt sein Pillendöschen in die Höhe.

»Die hat mir diese unselige Person schon aufgezwungen.«

Anika kniff die Augen zusammen. Eigentlich war das heute ihre Aufgabe, die Uhrzeiten waren festgelegt. Aber Herr Büchner wirkte nicht so, als würde er sie anlügen, denn wenn er das sonst tat, verschränkte er immer seine Finger, und die waren gerade nur damit beschäftigt, im Schreibtisch nach den Pokerchips zu suchen. Die Karten befanden sich wie üblich bei Anika, sein Blatt in der linken Kitteltasche, ihr Blatt rechts, übrig geblieben vom angefangenen Spiel vor drei Tagen. Seitdem sie ihn vor zwei Monaten beim Mogeln erwischt hatte, bestand sie darauf, die Karten mitzunehmen. Leider reichte die Zeit nur beim Nachtdienst, um spätabends, wenn die übrigen Bewohner fast alle schon schliefen, ein halbes Stündchen oder länger zu spielen. Wenn sie Frühschicht hatte, knapste Anika sich ein wenig Zeit nach Feierabend ab, bei Spätschichten kamen sie gar nicht zum Spielen.

Herr Büchner gab gern der Obersten Heeresleitung die Schuld, dass die Zeit hinten und vorne nicht reichte, aber für den engen Zeitplan konnte Frau Haakhorn nichts. Die Pflegedienstleiterin versuchte auch nur, mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ein Seniorenstift zu leiten. Und die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten waren einfach nicht die besten. Es fehlte hinten und vorne an Personal und an Geld, um die Patienten optimal zu betreuen, und erst recht an ein wenig Extrazeit, die man mit den Lieblingen unter den Bewohnern verbringen konnte. Aber das würden weder Frau Haakhorn noch Anika ändern können.

»Jetzt kümmern wir uns erst mal um Ihre Werte.« Anika griff nach dem Blutdruckmessgerät.

»Werte, Werte«, grummelte Herr Büchner. »Ich verreck hier doch eh. Auf ein paar Tage früher oder später kommt es da auch nicht an. Dann wird wenigstens ein Bett frei.«

»Frau Doll würde Sie sehr vermissen«, sagte Anika, während sie die Binde um seinen Arm festzog und absichtlich kein Wort über sich selbst verlor.

Jetzt stahl sich so etwas wie ein Lächeln auf sein Gesicht. »Sehen Sie, Anika, deshalb mag ich Sie. Sie haben Humor.« Er lachte schnaubend. »Ausgerechnet die Doll! Was für ein Pech ich auch immer habe.«

»Sie wird heute Nachmittag sicher noch bei Ihnen vorbeikommen.«

»Himmel hilf. Eine weitere Stunde Mau-Mau mit der Doll und ihrem Gequatsche, und Sie können mich zu den Ausgetickten bringen.« Herr Büchner deutete nach oben, wo im zweiten Stock eine spezielle Station für die Demenzkranken eingerichtet war. »Die Frau ist noch dümmer als die Winterkorn, und das ist eine Leistung.«

Bevor Anika ihn für seine Worte rügen konnte, fuhr er fort: »Sie sind im Vergleich dazu der reinste Lichtstrahl. Natürlich, unter Blinden ist die Einäugige Königin, aber immerhin, Sie verstehen die grundlegenden Pokerregeln.«

Anika biss sich auf die Lippe. Einerseits sollte sie wirklich absolut keinen weiteren Tadel von der Haakhorn kassieren. Andererseits war der gestrige Nachmittag für Herrn Büchner sehr aufwühlend gewesen, auch wenn er heute wieder zu seiner üblichen Form auflief. Und wieder andererseits – Anika musste gestehen, dass sie viel zu neugierig war, was Regina Legrand betraf und hoffte, dass er während des Spiels ein wenig redseliger wurde.

»Ein Viertelstündchen«, sagte sie schließlich, griff nach den Karten in ihrer Kitteltasche und rückte sich einen Stuhl zurecht.

Es konnte losgehen.

Das Glück war auf ihrer Seite: Sie hatten schon Chips für fünf Euro, einen Kaffee vom Bäcker gegenüber (der dünne Kaffee, den die Bewohner angeboten bekamen, war untrinkbar, fand Herr Büchner) und einen Schokoriegel im Topf. Anika besah sich ihre Karten ein letztes Mal, aber nein, sie hatten sich nicht geändert. »Full house.« Grinsend breitete sie das Blatt aus.

»Gestern die Doll und heute Sie.« Herr Büchner kniff die Augen zusammen, als er seine Karten auf den Tisch warf. »Da geht was nicht mit rechten Dingen zu.«

Unschuldig zuckte Anika mit den Schultern. »Pech in der Liebe, Glück im Spiel.« Die Uhr am Fernseher zeigte ihr an, dass die Viertelstunde, die sie dem Spiel gegeben hatte, seit sieben Minuten vorbei war. Also sammelte sie die Karten wieder ein und erhob sich. Bevor sie sich jedoch verabschiedete, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu dem Karton mit den Briefen und Bildern. Es sah nicht so aus, als hätte der alte Mann ihn angerührt. Der Brief zuoberst war immer noch ungeöffnet.

»Haben Sie …«, begann Anika, wurde jedoch durch Stimmen an der Tür unterbrochen.

Der Heimleiter Herr Mitritz, Frau Haakhorn und einer der Heimärzte betraten das Zimmer. Der Arzt musste eine Urlaubsvertretung sein, Anika kannte ihn nicht. Seine lange schlaksige Gestalt wirkte fast komisch neben dem kleinen dicken Mitritz, dessen unterste Hemdknöpfe über dem Hosenbund bald zu platzen drohten.

Sie versuchte, das Namensschild des Weißkittels zu lesen, aber seine Schrift war noch unleserlicher als die von Vanessa. Irgendwas mit M?

»Hoher Besuch.« Herr Büchner funkelte die Gruppe an, aber wenn Anika sich nicht täuschte, lag Unsicherheit in seinem Blick.

Es gab nicht viele Gründe, weshalb diese drei gemeinsam einen Zimmerbesuch machten. Hatte Herr Büchner nicht gesagt, dass der Arztbesuch gut verlaufen war? Oder halt nein, eigentlich war er überhaupt nicht auf ihre Frage eingegangen. Das war seine typische Art, unangenehmen Themen auszuweichen. Weshalb hatte sie nicht gleich geschaltet? Ihre Gedanken waren beim Rätsel um Regina Legrand gewesen, beantwortete sie sich die Frage sofort selbst.

Sie stellte sich neben Herrn Büchner und legte reflexartig eine Hand auf seine Schulter. Er grummelte leise, schüttelte sie aber nicht ab.

Der Heimleiter trat einen Schritt vor und verschränkte seine Hände vor dem Bauch. »Herr Büchner, es geht um die Untersuchungsergebnisse.«

Also doch.

Der Arzt blickte Anika stirnrunzelnd an, doch Herr Büchner sagte schnell: »Sie bleibt hier.«

»Ihr Hausarzt hat ja schon mit Ihnen gesprochen«, erklärte der Mediziner umständlich. »Der Krebs ist leider so weit fortgeschritten, dass …«

»Krebs?« Anika biss sich auf die Zunge. Sie hatte nicht unterbrechen wollen, aber weshalb erfuhr sie das erst jetzt?

Der Arzt redete weiter, als hätte sie nichts gesagt: »… dass wir schnellstmöglich eine Chemotherapie beginnen wollen. Die palliative Wirkung …«

Nun wurde er von Herrn Büchner unterbrochen. »Ich geh ganz sicher nicht in ein Krankenhaus.« Der alte Mann wurde unruhig.

»Die palliative Wirkung«, fuhr der Arzt gereizt fort, ohne auf den Einwand einzugehen, »ist darauf ausgerichtet, den Verlauf der Erkrankung im Weiteren zu verlangsamen und die Symptome zu reduzieren.«

»In die Diakonieklinik kriegen Sie mich nicht«, wiederholte Herr Büchner. »Das Heim ist schlimm genug. Da können Sie mir gleich hier die Todesspritze in den Hintern jagen.«

Erneut wurde sein Einwand ignoriert. »Vor allem Schmerzlinderung und die Erhaltung der Lebensqualität stehen im Fokus der …«

»Erhaltung von Lebensqualität?«, fragte Herr Büchner ungläubig. Er schien wütend zu werden. Er zog seine Augenbrauen zusammen, als er den Arzt anfuhr: »Mit der vollgeschissenen Windel an eine Krankenhausdecke starren ist doch kein Leben und schon gar keines mit Qualität. Dass ich nicht lache!«

»Die Behandlung muss nicht in einer Klinik stattfinden. Wir können Ihnen auch ambulante Möglichkeiten hier im Heim bieten, allerdings wird der Transport zur Chemo mit der Zeit anstrengend für …« Erneut wurde er unterbrochen.

»Hab ich richtig gehört? Den Verlauf verlangsamen?« Der alte Mann schnaubte. »Wenn ich ins Gras beißen muss, dann wenigstens kurz und schmerzlos.«

Herr Mitritz, dessen Gesicht mittlerweile stark gerötet war, tupfte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirnglatze. »Und genau darum, um Ihre Schmerzfreiheit, geht es Herrn Dr. Brunner mit seinem Vorschlag«, sagte er.

Der Arzt unterstützte ihn salbungsvoll: »Manchmal sind Patienten schlecht informiert, Herr Büchner. Wir wollen nur Ihr Bestes. Die Palliativmedizin kann …«

»Die Palliativmedizin kann mich am Arsch«, explodierte der alte Mann in diesem Moment. »Und Sie ebenfalls alle miteinander!«

Dr. Brunner und Herr Mitritz, die beide etwas hatten sagen wollen, sowie die Haakhorn, die ungeduldig mit ihrem Fuß auf den Boden tippte, hielten abrupt inne. Alle starrten ihn an.

»Was Herr Büchner damit sagen möchte«, unterbrach Anika die entstandene Stille und drückte kurz seine Schulter, »ist, dass er gern selbst entscheiden möchte, wie er mit seiner Krankheit umgeht.«

Jetzt starrten alle sie an. Dr. Brunner kniff die Augen zusammen und betrachtete ihr Namensschild. »Und Sie sind?«, fragte er.

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