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Wenn der Tod die Glocken läutet

Als Buch hier erhältlich:

Die Kirchturmglocken läuten, der Messner hängt am Strick. Walli versucht zu deuten, wer brach ihm das Genick?

Als der Messner der Burglbacher St.-Bonifatius-Kirche tot am Strick der Kirchenglocke gefunden wird, ist der Fall für Walli direkt abgeschlossen – schließlich war das ganz klar ein Suizid. Stattdessen widmet sich Walli, einer viel spannenderen Frage: mit wem der Wolfi neuerdings eine »Secret-Affair« zu haben scheint. Denn ihr Sohn, verhält sich seit geraumer Zeit mehr als seltsam. Erst nachdem auch noch die junge Lebensgefährtin des toten Messners spurlos verschwindet, kann Walli sich nicht mehr beherrschen. Sofort nimmt sie ihre Ermittlungsarbeiten auf und stolpert einmal mehr in ein wildes Abenteuer.


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Aus der Serie: Ein Allgäu Krimi
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003176

Leseprobe

HIMMEL ODER HÖLLE

»Unser Schöpfer, der Herrgott und Allmächtige, schenkt Trost all jenen, die getröstet werden müssen. Hoffnung für all die, die bereits aufgegeben haben, und Rettung für diejenigen, die bereits verloren scheinen«, predigt der Pfarrer Hockl während seiner allsonntäglichen Messe lautstark durchs Mikrofon und reckt zur Veranschaulichung seines Vortrages die Hände gen Himmel, als würde er darauf warten, jetzt und in diesem Moment hinaufzufahren zu unserem gepriesenen Herrn. »Ich erzähle euch nun eine kleine Geschichte«, schwadroniert er weiter. »Vor langer Zeit geriet ein kleines Frachtschiff vor der südaustralischen Küste plötzlich in Seenot, als wie aus dem Nichts ein unerwartetes Unwetter heranzog. Wellen, bis zu fünfzehn Meter hoch, brachen über das kleine Boot herein. Das Schlimme war, sie hatten Getreide an Bord, und als das Wasser in den Schiffsbauch drang, quoll das Korn auf. Irgendwann konnten die Außenwände des Schiffs dem großen Druck nicht mehr standhalten und drohten zu zerbersten. Alle Hoffnung auf Rettung war dahin. Der Crew war bewusst, sie waren verloren, doch dann erschien ihnen Paulus, der Apostel. Paulus verlor nie die Hoffnung, egal wie aussichtslos die Situation erschien …«

»Wolfgang!«, zische ich und rüttele meinen Sohn, der neben mir mit hängendem Schädel zusammengesunken in der vordersten Bank hockt und friedlich vor sich hin schlummert, an der Schulter. »Wach auf. Sofort! Ich habe gleich meinen großen Auftritt, Herrschaftszeiten.« Dass das monotone Gerede vom ehrwürdigen Hockl oft einlullend auf seine Anhängerschaft wirkt, ist nix Neues. Mindestens in jeder dritten Reihe gibt es einen, der beseelt vor sich hin schnauft, was nicht selten schon mal in ein lautes Schnarchen übergegangen ist und dann des Öfteren zu handfesten Streitigkeiten unter Eheleuten oder zwischen Eltern und ihren Nachkommen geführt hat. Ich gebe es zu, mir sind das eine oder andere Mal auch schon die Gucken zugefallen, während der Hockl am Altar über uns gepredigt hat. Aber heute, heute darf der Wolfi unter keinen Umständen den Gottesdienst verpennen, schließlich habe ich gleich ganz offiziell meinen ersten Auftritt und performe das erste Mal live vor Publikum und bin schon jetzt ein hibbeliges Nervenbündel.

Nachdem der Mord an unserem Jäger im letzten Sommer durch meine Wenigkeit aufgeklärt werden konnte und ich gerade so noch einmal mit dem Leben davongekommen bin, hatte ich dem Wolfi und der Friedl versprechen müssen, mir einen weniger aufregenden Zeitvertreib zu suchen, als mich in die Mordermittlungen meines Sohnes einzumischen. Der sich übrigens seit geraumer Zeit sogar Oberkommissar bei der Kemptener Polizei schimpfen darf. Ich muss zugeben, ich bin nicht mehr die Jüngste, und Ermittlungen in einem Mordfall können durchaus anstrengend werden. Besonders dann, wenn man von einem psychisch gestörten Mörder gekidnappt und in einem Säurefass rückstandslos aufgelöst werden soll. Darum habe ich auch eingelenkt und im hiesigen Kirchenchor angeheuert. Bei den Landfrauen habe ich übrigens auch schon ein paarmal vorbeigeschaut. Ich hatte der Friedl ihr ständiges Gebettel satt, und so habe ich mich brav gefügt und im Stuhlkreis Platz genommen, während die Berta Breitmeier, meine Busenfeindin Nummer eins in Burglbach, ihren neuesten Dorftratsch in der Runde verbreitet hat. Den Zettel für die offizielle Anmeldung bei den Landfrauen habe ich noch nicht abgegeben. Da will ich mir noch ein bisschen Bedenkzeit einräumen beziehungsweise das Anmeldeformular juristisch vorab prüfen lassen. Nicht dass am Schluss herauskommt, dass ich meine Seele an die Landfrauenvereinigung von Burglbach verkauft habe. Einmal Landfrau, immer Landfrau. Solche sittenwidrigen Gebaren kennt man ja schließlich von der italienischen Mafia oder diversen Sekten, auf die ich aus Angst vor Racheakten nicht näher eingehen will. Landfrau auf Lebenszeit, das würde nämlich nie und nimmer für mich infrage kommen. Mitglied ja, aber eben nur so lange, bis der Wolfi endlich Ruhe gibt.

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Ehrlich gesagt war ich gezwungen, mir neben meinen Hobbyermittlungen eine weitere Ablenkung zu suchen, denn in unserem elendigen Kaff ist seit einer Ewigkeit auch nichts Spannendes mehr passiert. Da ist sogar der sonntägliche Gottesdienst unter dem Hockl ein richtiges Highlight. Tagein, tagaus immer dasselbe. Außer einem geknackten Kaugummiautomaten im vergangenen Herbst, wo ich stark annehme, dass das die Kids aus der Westsiedlung waren, die die kleine Sichtscheibe aus Plastik mit einem Feuerzeug bearbeitet haben, um an den süßen Inhalt des Kastens zu gelangen, ist nur ein einziger gestohlener Rasenmäher gemeldet worden. Und da bin ich mir nicht mal sicher, ob der Mogl Heribert nicht selbst etwas mit dem Verschwinden seiner Gartenmaschine zu tun hat, um von der Versicherung abzukassieren. Die Breitmeierin hat da nämlich letzte Woche beim Bäcker Biggl so was angedeutet. Ach, egal. Burglbach ist eben ein elendiges Kaff am Rand vom Nirgendwo. Eben da, wo der Fuchs dem Hasen Gute Nacht sagt, ohne diesen zu verspeisen. Der Wolfi freut sich über mein neuerliches Engagement im Dorf, hat mir aber geraten, im Chor erst einmal den Ball flach zu halten, bevor ich gleich das Dirigentenamt übernehme, das schließlich schon seit dreiundzwanzig Jahren fest in der Hand von der Fetzer Heidi liegt. Das merkt man auch, denn die Lieder, die sie auswählt, sind von vorgestern. Hier muss unbedingt ein frischer Wind rein, das ist klar, aber bis jetzt sträubt die Heidi sich noch vehement gegen meine Idee, das Image des Chors mit einem moderneren Sound etwas aufzupolieren. All meine gut gemeinten Tipps und Anregungen, ein paar fetzigere Lieder ins Repertoire aufzunehmen, so in Richtung Sister Act, sind bei der Fetzer Heidi ausnahmslos auf taube Ohren gestoßen. Aber ich bin guter Dinge, dass ich das über kurz oder lang durchsetzen werde.

Gleich nach der ersten Gesangsstunde wusste ich bereits, dass der Sopran genau das Richtige für mich ist. Und jetzt ist es endlich so weit. Die Ministranten läuten die Glöckchen. Unser Zeichen, dass die Predigt endlich ein Ende hat und wir uns zum Lobgesang aufstellen. Ich bin schon richtig aufgeregt, denn ich habe mir eine Überraschung überlegt, die Fetzer Heidi wird Augen beziehungsweise gleich Ohren machen. Mein erstes Solo, und dann noch vor ganz Burglbach. Ich habe richtig Lampenfieber, aber das haben wohl viele große Künstler.

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Nachdem sich unsere Formation vor dem Altar in Position gebracht hat, die Friedl steht links neben mir, beginnt der Organist Oliver mit seinem Stakkato. Die zahllosen Pailletten auf meinem Kleid flimmern im Licht, das durch die Kirchenfenster hereinfällt und die gesamte Gemeinde in ein buntes Lichtermeer taucht. Discostimmung in der St.-Bonifatius-Kirche von Burglbach. Als die hohen und eindrucksvollen Töne der Orgelpfeifen durch unser Gotteshaus schallen, überkommt mich Gänsehaut, denn die Atmosphäre ist einfach überwältigend, und wir setzen zum ersten Vers der Lobpreisung unseres Barmherzigen an. Der Wolfi horcht aufmerksam zu, das sehe ich auf Anhieb, als ich zu ihm hinüberschiele und er, mit über eins achtzig, aus der Masse neben den Kids in vorderster Reihe deutlich heraussticht. Neben ihm sitzt sein Onkel Wigald, also mein Bruder, der seit über einer halben Stunde mit dem Kopf im Nacken dasitzt und mit offenem Mund das goldene Fresko an der Decke bestaunt. Ein schönes Gefühl, die beiden verbleibenden Männer in meinem Leben heute an meinem großen Tag dabeizuhaben. Voller Inbrunst schmettern wir die Töne in das Kirchenschiff und nähern uns Zeile für Zeile dem Höhepunkt des Liedes. Meinem Überraschungssolo. Wüsste die Heidi, dass ich unseren Organisten dazu überredet, na gut, sagen wir bestochen habe, einen kleinen musikalischen Schlenker vom »Kyrie« zu »Oh happy day« einzubauen, ihr würde glatt der Dirigentenstab aus der Hand fallen.

Gerade als ich mit einem Schritt nach vorn aus der Masse heraustrete, Präsenz ist einfach alles im Showbusiness, beginnen die Kirchenglocken im Turm wie wild zu läuten und verpatzen mir so meinen großen Auftritt. Das lautstarke Gebimmel übertüncht sogar die Orgel vom Oliver, den ich mit Handzeichen dazu anweise, härter in die Tasten zu hauen. Doch auch das bringt nichts, das Schellen ist einfach zu laut. Unsere Dirigentin bricht ab, und wir verstummen brav auf ihr Handzeichen hin. Es scheint fast so, als würde der Herrgott mit seinem unangebrachten Glockenspiel versuchen, meinen Soloauftritt in letzter Sekunde zu verhindern, was in meinen Augen eine ziemliche Frechheit darstellt. Der Pfarrer Hockl plappert irritiert etwas Unverständliches ins Mikrofon, und auch sein Gerede wird vom donnernden Glockenschlag einfach verschluckt. So leicht lasse ich mir mein Solo aber nicht verderben, da kennt der Allmächtige mich aber schlecht, denke ich mir wütend, und so trete ich an unseren Priester heran, der immer noch wie Falschgeld vorm Altar herumsteht und sich unsicher umguckt.

»Ausstellen! Wo kann man das Gebimmel denn ausschalten?«, schreie ich.

»Der Mesner!«, brüllt er, zuckt hilflos mit den Schultern und zeigt auf die kleine Tür, die vom Altarraum abgeht und in die Sakristei führt. Einige Burglbacher halten sich bereits die Hände über die Ohren, und ein paar der Kinder flitzen wie wild gewordene Zombies durch den Gang des Kirchenhauses, als ich vom Altar aus auf die Menge schaue. Nur der Wolfi und der Wigald sitzen immer noch wie angewurzelt an Ort und Stelle in der Kinderbank ganz vorn und schauen sich das Spektakel um sich herum ungerührt an.

»Kruzifix, wo ist denn der Mesner?« Mit einem Achselzucken zeigt mir der Pfarrer, dass er keine Ahnung hat, wo sein Kirchendiener abgeblieben ist.

»In einem Gotteshaus flucht man nicht, das sollten Sie aber wissen, Herrschaftszeiten«, maßregelt er mich.

»Also ehrlich, man braucht ja wohl nicht päpstlicher sein als der Papst«, erwidere ich und ernte einen vernichtenden Blick. Auf dem Hockl seine Missbilligung kann ich jetzt jedenfalls nicht eingehen. Das ohrenbetäubende Läuten muss aufhören, und zwar sofort. Und wenn der Kirchendiener gerade eben abgängig ist – wer weiß, wo der sich gerade herumtreibt –, muss ich halt für Abhilfe sorgen, wenn sich sonst niemand verantwortlich fühlt und auf die Idee kommt, das lautstarke Gebimmel endlich abzudrehen. Immerhin habe ich Tage, nein, sogar Wochen, für meinen Auftritt geprobt und mir fest vorgenommen, mein Solo hier und heute der Menge zu präsentieren. Koste es, was es wolle! Stunden habe ich dafür in der Tiefgarage meiner Villa Kunterbunt gestanden und meine Arie gegen die Betonwände geschmettert. Der Klang dort unten ist nämlich erstklassig und lässt meine Stimme glockenklar erklingen. Jedes Mal habe ich von meinem eigenen Gesang Gänsehaut oder, wie die Friedl es in ihrem Allgäuer Dialekt nennen würde, Hennabrupfa bekommen.

Ich greife nach unserem Pfaffen und ziehe ihn an seiner Stola hinter mir her und hinein in die Katakomben unserer St.-Bonifatius-Kapelle. Die Sakristei ist klein, und durch die verzierten Bleiglasfenster dringt auch nur wenig Licht ins Innere. In dem winzigen quadratischen Raum steht neben einem kleinen Tischlein nur ein altertümlicher Holzstuhl sowie in der Ecke ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel darüber.

»Wo ist der Ausschalter?«, rufe ich und schaue mich suchend um.

»Da drinnen, denk ich«, ruft der Hockl und öffnet einen unscheinbaren Metallkasten, der neben einer weiteren schmalen Tür an der Wand hängt und aussieht wie ein stinknormaler Stromkasten, den jeder von uns zu Hause hat. So unscheinbar der Kasten äußerlich wirkt, darin verbirgt sich die reinste Schaltzentrale, stelle ich fest, als ich die Metalllade öffne. Ich will nicht übertreiben, aber das müssen an die dreißig Knöpfe sein. Einige davon blinken rot auf, und ich schaue ratlos zu unserem Gottesmann herüber.

»Welcher ist denn der richtige?«, schreie ich gegen den ohrenbetäubenden Lärm an, und er zuckt nur wieder nichts wissend mit den Schultern.

»Da kenne ich mich nicht aus. Das macht immer der Xare.« »Das kann ja sein, aber der Xaver ist im Moment nicht da, also …?«

»Die Einweisung vom Glockenbauer in die neue Anlage hat nur er absolviert. Da war ich auf der Jugendfreizeit …«, ruft unser Hochwürden und schaut dabei unschuldig drein.

»Männer und Technik!« Ich entschließe mich kurzerhand dazu, jeden der Knöpfe und sogar den Hebel an der Seite einfach einmal auszuprobieren. Irgendeiner wird schon der richtige sein, denke ich mir und frage mich, wer in Gottes Namen so blöd war und vergessen hat, dieses Schaltgewusel ordnungsgemäß zu beschriften. Im Handumdrehen wäre es dann nämlich still, und ganz Burglbach würde nicht am heiligen Sonntag vom tosenden Glockenschlag beschallt werden. »Was sollen denn da nur die Atheisten von uns denken?«, rufe ich dem Hockl zu, doch der scheint nicht verstanden zu haben, was ich meine. »Jetzt spinnen die wieder, die g’spinnerten Katholiken.« Ja, ihr habt richtig gehört. Seit gut zweieinhalb Jahren haben sich auch ein paar auswärtige Atheisten in unserem Dorf niedergelassen. Im Neubaugebiet, hinter der Schule, gibt es nun einen Haufen Uneingeborene. Und ich prophezeie euch, sollte das laute Gebimmel nicht sogleich aufhören, kommt noch mindestens eine gebürtige Burglbacherin zur Glaubensabstinenz hinzu, Zement!

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Ich drücke sämtliche Schalter, und mehrfach geht das Licht im Kirchenraum an und wieder aus, wie bei der eindrucksvollen Lasershow in unserer damaligen Dorfdisco, dem »Schlager Garten«, zu seinen besten Zeiten. Doch das metallische Dröhnen der Glocken hört einfach nicht auf.

»Wir müssen da rauf!«, rufe ich und zeige mit dem Finger gen Zimmerdecke.

»Kommen Sie, da geht’s lang«, krakeelt er, und diesmal ist der Pfarrer Hockl derjenige, der mich hinter sich her schleift. Er öffnet die kleine Holztür, die ins Treppenhaus führt, und die stickig warme Luft, die uns entgegenschlägt, ist nur halb so unangenehm wie das immer noch lauter werdende Läuten des massiven Gusswerks. Bei jedem Schlag pocht mein Herz, und meine Trommelfelle drohen von dem tosenden Krach zu zerbersten. Noch eine Etage, denke ich erschöpft, als ich atemlos innehalte und den Teppich aus toten Fliegen unter mir bemerke, die scharenweise am Boden liegen und bei jedem Glockenschlag in Schwingung geraten und leblos über den Beton tanzen.

»Igitt, warum hat’s hier so viele Leichen?«, schreie ich dem Hockl zu, der um einiges fitter scheint und mittlerweile einen ganzen Stufenabsatz Vorsprung hat. Beim letzten Absatz bleibt er aber plötzlich wie angewurzelt stehen, legt seinen Kopf in den Nacken und starrt in die Höhe. Als ich mich die letzten Stufen entlang des Metallgeländers nach oben hieve, sehe ich es auch: den kerzengerade hängenden Leichnam, um dessen Hals das Ende eines dicken Seils gewickelt ist. Bei jedem Glockenschlag wird der Leichnam mehrere Meter wie eine Puppe in die Höhe gerissen und Kopf voraus gegen die Kante der Kirchturmglocke gedonnert. Natürlich ist der Schädel des Toten nicht für diesen ohrenbetäubenden Lärm verantwortlich, das übernimmt der dicke Schlegel im Inneren des gusseisernen Monstrums, der rhythmisch gegen die Innenseite des Gongs schwingt. Doch das bizarre Bild, wie der leblose Körper fast schon metaphorisch wieder und wieder versucht, in den Himmel aufzufahren, ist kaum auszuhalten. Es scheint fast so, als könnte der Herrgott sich nicht so richtig entscheiden, ob er den Toten ins Paradies schicken oder ins Fegefeuer verbannen will, denn jedes Mal, wenn der tote Körper am Scheitelpunkt gegen das Eisen donnert, zieht ihn das Gegengewicht der Glocke wieder ruckartig nach unten.

»Xare, Sakradi! Komm da runter, Zefix, sofort!«, brüllt der Hockl aufgebracht, als er aus seiner Starre erwacht und versucht, nach dem Hosenbein des Mesners zu greifen, als dieser gerade wieder auf dem Weg nach oben an uns vorbeirauscht. Ist unser Ehrwürden jetzt etwa völlig übergeschnappt?, frage ich mich und kann gerade noch seine Hand zurückhalten, bevor er auch noch von der unbändigen Kraft des Gegenzugs nach oben gerissen wird. Als der Hockl in seinem wallenden Gewand neben mir und kreidebleich zu schwanken beginnt, schalte ich blitzschnell und drücke den Gottesmann zu Boden. Einen weiteren Toten kann ich hier und jetzt nämlich überhaupt nicht gebrauchen. Eine Leiche pro Tag reicht vollkommen, würde ich meinen und schaue in das blauviolett angelaufene Gesicht des toten Mesners, der gerade wieder an uns vorbeifährt.

An der gegenüberliegenden Wandseite entdecke ich plötzlich den baugleichen grauen Kasten, an dem ich mich schon erfolglos in der Sakristei versucht habe.

»Sie bleiben da sitzen und rühren sich nicht vom Fleck, verstanden?«, schreie ich dem blassen Priester zu, der verwirrt zu mir aufschaut und mich anglotzt, als hätte er gerade eine sakrale Erscheinung. Sein kaum sichtbares Nicken signalisiert mir, dass er begriffen hat. Die Kirchenglocke schlägt unterdessen unbarmherzig weiter und lässt das Metallgitter unter mir beben wie die neue Hyperschallvibrationsplatte im Fitnessstudio, bei der mein gesamter Mageninhalt regelmäßig auf links gedreht wird. Ich hangele mich vorsichtig an dem Stahlgeländer entlang, um auf die Rückseite des quadratischen Rundlaufs zu gelangen. Bevor ich den Kasten aufreiße, fürchte ich bereits, ein ähnliches Knopfsammelsurium wie in der Sakristei vorzufinden. Doch als ich die Lade zur Seite hin öffne, bin ich überrascht, als sich nur ein einziger großer roter Notschalter darin befindet. Mit einem Schlag hat sich’s ausgebimmelt. Zwar hallt der letzte Gongschlag wie Nachwehen sekundenlang durch den Turm, doch dann kehrt endlich Ruhe ein. Ich fühle mich wie nach einem Konzert, nachdem ich zwei Stunden lang von zigtausend Dezibel beschallt wurde. In meinen Ohren herrscht Totenstille, könnte man im wahrsten Sinne des Wortes behaupten. Auch der Mesner hält endlich inne, kommt direkt in Augenhöhe vor mir zum Stehen und starrt mich mit hervorgequollenen Augäpfeln an. Ich dachte eigentlich, dass der tote Jäger im letzten Jahr mit seinem zerschossenen Hackfleischgesicht das Schlimmste war, das ich je gesehen habe, doch das dunkelviolett gefärbte Antlitz des Mesners mit den blutunterlaufenen und hervorgetretenen Augen, die aussehen, als könnten sie jeden Moment platzen und mich von oben bis unten mit schleimiger Masse besudeln, ist wirklich ein Anblick des Grauens. Auch die dick angeschwollene blaue Zunge, die ihm seitlich aus dem Mund ragt, geht mir durch Mark und Bein, und ich bin mir sicher, selbst Hollywood könnte diesen entsetzlichen Anblick in einer neuen Horrorverfilmung nicht besser nachstellen.

ERDNUSSFLIPS AM HEILIGEN SONNTAG

»Was ist denn hier los, Mama? Was hast du gemacht?«, ruft der Wolfi außer Atem und hält sich am Geländer des Stufenabsatzes fest. Offensichtlich ist mein Junge noch weniger in Form als ich, was ich mit einem Hauch von Genugtuung zur Kenntnis nehme. Schließlich war es der Wolfi, der mir erst vor ein paar Wochen vorgehalten hat, dass ich in meinem Alter dringend etwas mehr Sport treiben müsste, als nur im Fitnessstudio mit den jungen Mädels über die »lateste« Mode zu quasseln und die Trainingszeit lediglich auf dem Rüttelboard abzusitzen. Ob das eine Anspielung auf meine Figur sei, wollte ich von ihm wissen, was er vehement verneinte und angeblich nur auf den gesundheitlichen Aspekt hinweisen wollte. Als ich ihm dann vorgeworfen habe, dass er sich doch mit haufenweise ungesundem Zeug vollstopft und mittlerweile eine Kugel vor sich herschiebt, als würde er kurz vor der Niederkunft stehen, hat er mir doch dann tatsächlich übel genommen, und wir haben geschlagene drei Tage kein einziges Wort mehr miteinander geredet.

»Wie, was ich gemacht habe?«, frage ich und schaue verdutzt vom Wolfi zum Xare, der mich mit seinem toten Blick immer noch taxiert, als würde er mich gleich aufspießen. »Gar nix! Ich bin …«

»Der hing schon hier, als wir heraufgekommen sind«, mischt sich der Pater plötzlich ein und erhebt sich, ohne den Blick auch nur eine Millisekunde von seinem toten Diener abzuwenden. Leichenblass wie er in seinem Priestergewand da an der Brüstung lehnt, beginnt er nun hektisch, ein Kreuzzeichen nach dem anderen in die Luft zu zeichnen, und murmelt wie im Wahn irgendwelche unverständlichen Stoßgebete herunter.

»Ich rufe jetzt Verstärkung. Niemand langt was an, dass das klar is?«, meint der Wolfi und zückt sein Telefon. »Servus, Michl, der Wolfi am Apparat. Du, ich brauch Verstärkung. Schaut ganz so aus, als hätt sich hier einer aufgeknüpft. Naa, den Sanka kannst dir sparen, da ist nix mehr zu machen. Ich glaub zwar, dass des eine ganz klare Kiste ist, schaut für mich nach Suizid aus, aber ruf trotzdem mal den Trutschlik an. Sonntag hin oder her, das ist mir doch wurscht. Die Spusi auch, jep. Sicher ist sicher. Meine Rede, Freddy! Kirchturm Burglbach. Servus.«

»Ich wusste gar nicht, dass du hellsehen kannst.«

»Wieso hellsehen?«, fragt er verwirrt und stupft den toten Xare mit der Spitze eines Kugelschreibers an, den er aus der Innentasche seines Blousons fischt.

»Jesses, der ist ja maushi«, kreischt plötzlich eine schrille Stimme hinter uns, und der Wolfi und ich fahren erschrocken herum. Die Breitmeierin, gefolgt von ihrem debilen Äffchen, steht unerwartet auf der obersten Stufe und spickt schwer schnaufend an uns vorbei. »Rüdiger, schau«, japst sie und zeigt mit dem Finger auf den Gehängten, der sich durch Wolfis Stupser wie in Zeitlupe um die eigene Achse dreht. Es scheint fast so, als würde der Xare sich uns ein letztes Mal und von jeder nur erdenklichen Seite präsentieren wollen.

»Verflucht noch mal, was fällt euch eigentlich ein, schleicht’s euch, aber zackig!«, herrscht mein Sohn, der Polizeioberkommissar, die Berta und deren Anhang an, und ich muss sagen, sein scharfer Ton gefällt mir. Vor allem, wenn dieser einmal ausnahmsweise nicht mir gilt, denn davon, dass ich Leine ziehen soll, hat der Wolfi mit keiner Silbe was erwähnt. Nur unter Protest drehen die beiden ab und stiefeln Etage für Etage wieder hinab, und wäre unsere Zusammenkunft hier oben nicht einem so schrecklich traurigen Anlass geschuldet, ich würde den Wolfi für seinen Schneid feiern. Aus Pietätsgründen verzichte ich aber darauf, bei ihm abzuklatschen. Apropos Pietät, was macht eigentlich unser Hochwürden?

»Darf ich auch?«, stammelt er kaum hörbar, nickt in Richtung Treppenabsatz und faltet fast schon flehend seine Hände.

»Natürlich, Hochwürden. Bleiben’s aber unbedingt in der Nähe, ge. Einer meiner Kollegen wird Sie …«, der Wolfi schaut erneut zum hängenden Leichnam, »… später noch zum Xaver befragen müssen.«

»Verstehe, mhm …«, erwidert der Hockl monoton und wendet sich zum Gehen.

»Eines noch, Ehrwürden. Können Sie dafür sorgen, dass außer meinen Kollegen niemand sonst hier oben aufkreuzt?«

»Aber sicher, Wolfgang, das werde ich«, verspricht er pflichtbewusst und stapft ohne einen weiteren Kommentar und ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen davon.

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»So, und jetzt zu dir, Mama. Wie bist du überhaupt hier heraufgekommen?«

»Zu Fuß, Wolfi.«

»Zefix, du weißt ganz genau, was ich meine.«

»In einem Gotteshaus flucht man nicht!«

»Mamaaa!«

»Schon gut, reg dich nicht auf, ich will’s ja nur gesagt haben …«

»Also?«

»Zusammen mit dem Hockl habe ich versucht, das Gebimmel unten in der Sakristei abzudrehen.«

»Und?«

»Hat nicht funktioniert.«

»Und dann?«

»Herrschaftszeiten, Wolfgang. Und dann und dann und dann. Dann sind wir hier raufgestiegen. Denselben Weg wie du übrigens, bevor du fragst, welchen Weg wir genommen haben, und et voilà …«, ich zeige auf den Toten am Galgen, »… haben wir den Xare hier gefunden.«

»Hat er da noch gelebt?«

»Er war schon lila.«

»Okay, gut.«

»Nix ist gut. Ich weiß nicht, was eine Leiche Gutes an sich haben soll.«

»Ich wollte nur sichergehen, dass du und der Hockl nicht wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden könnt.« »Wie bitte?«, rufe ich empört und glaube mich verhört zu haben.

»Beruhig dich, Mama. Die Frage muss ich stellen. Gehört zum Prozedere einer jeden guten Ermittlung. Wobei, Ermittlungen braucht’s wohl hier wahrscheinlich eher nicht. Sieht ganz so aus, als hätte der Gute hier den Freitod gewählt.«

Als die Verstärkung endlich eintrifft, wird es zunehmend voll hier oben, und ich bin gezwungen, der Spusi und dem Trutschlik von der Gerichtsmedizin Platz zu machen. Dass ich mich als Zeugin nicht weitläufig vom Fundort der Leiche entfernen soll, muss man mir natürlich nicht zweimal sagen, und so stehe ich jetzt einen Treppenabsatz tiefer und beobachte die Arbeiten an dem leblosen Mesner von da. Nachdem Dutzende Fotos aus jeder nur erdenklichen Perspektive geschossen wurden, wird unser Mesner, der Xaver Allgaier, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, vom Strick genommen und auf einer weißen Plastikplane vorsichtig abgelegt. Glücklicherweise verfügt der Trutschlik über einen eindrucksvollen Bariton, der an den Wänden des Kirchturms widerhallt und gut hörbar bis zu mir herunterdringt. So verpasse ich auch kein einziges Detail der Leichenschau, die er aufmerksam und gewissenhaft in sein kleines Aufnahmegerät spricht. Ich erfahre, dass es an den Händen keine sichtbaren Hinweise auf Kratzspuren gibt, die Leichenstarre noch nicht vollends ausgeprägt ist und am Hemdkragen vom Xare die obersten zwei Knöpfe fehlen. Warum die letzte Information überhaupt von Bedeutung sein soll, kapier ich zwar nicht ganz, aber kurz darauf wird auch schon ein Beamter von der Spurensicherung abbestellt, um im Glockenschacht danach zu suchen.

»Frau Schimmel? Simone Bayerl mein Name. Ihr Sohn schickt mich, um Ihre Aussage zu protokollieren.«

»Was, jetzt? Aber …«

»Ja, dafür bin ich da«, antwortet die junge Kadettin und hält mir ihren Notizblock vor die Nase.

»Das passt mir im Moment aber überhaupt nicht«, antworte ich gestresst und verpasse vielleicht gerade elementare Informationen vom toten Xaver, die der Rechtsmediziner in sein Tonband spricht. »Fangen Sie beim Pfarrer Hockl an. Sein Gedächtnis ist wie ein Sieb. Und wir beide wollen doch nicht, dass am Schluss seine Aussage noch große Lücken aufweist und damit wertlos wird, oder?«, flunkere ich und hoffe, die eifrige Polizistin macht sich endlich vom Acker.

»Ehm …«, stammelt sie etwas unsicher und schaut den Treppenabsatz hinauf, als würde im Anblick des Leichnams die Antwort liegen.

»Ich will Ihnen nicht dreinreden, aber was glauben Sie, wie der Oberkommissar Schimmel das finden würde, wenn herauskommt, dass Sie bei der Zeugenbefragung unnötig Zeit verplempert haben?«, flüstere ich und zwinkere ihr verschwörerisch zu.

»Okay, vielen Dank für den Tipp, Frau Schimmel«, bedankt sie sich ebenfalls flüsternd und sucht, Gott sei Dank, endlich das Weite.

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Hoffentlich habe ich jetzt nichts Wichtiges verpasst, wenn man schon mal ungestört an einem Leichenfundort herumlungern kann. Der Pathologe hat wohl gerade die Köpertemperatur gemessen, denn er hält auf seinem Tonband fest, dass der Körper vom Xare noch nicht vollständig erkaltet ist, was in Anbetracht der hier herrschenden Temperaturen wohl auch kaum möglich ist. Hatte ich schon erwähnt, dass ich hier in meinem Glitzerfummel aus Polyester fast zerfließe und mir vorkomme, als würde ich in einem überdimensionalen Dörrautomaten stecken? Kein Wunder, dass die toten Fliegen bei jedem Schritt unter mir knirschen wie krosse Erdnussflips, die ich so gern abends vor der Glotze verspeise. Die Totenstarre sei auch noch nicht sehr weit fortgeschritten, referiert er weiter, und ich lausche gespannt seinen Schilderungen. Lediglich der Kiefer und die oberen Extremitäten seien bis jetzt, es ist gerade erst einmal kurz nach elf, von der Muskelstarre betroffen.

»Die Verletzung am Hinterkopf gefällt mir nicht«, erklärt der Chef der Gerichtsmedizin. »Die muss ich mir in der Patho noch mal genauer anschauen.«

»Die kommt doch sicherlich von der Glockenkante hier, schau mal, da klebt noch das Blut dran«, höre ich den Wolfi.

»Wie gesagt, das muss ich mir in der Gerichtsmedizin noch mal genauer anschauen. Es sieht zwar alles nach Suizid aus, aber ausschließen kann ich im Moment noch gar nichts, erst wenn der Körper vollständig untersucht wurde.«

»Kannst du denn wenigstens schon den Todeszeitpunkt bestimmen, Trutschi?«, höre ich meinen Sohn ungeduldig fragen.

»Nenn mich nicht so.«

»Wie?«

»Trutschi, Wolfgang. Nenn mich nicht Trutschi.«

»Okay, dann Jochen Knochen? Jochen, der Mann mit den Knochen«, unkt der Wolfi in seinem pubertären Leichtsinn, und obwohl ich die zwei Mannsbilder von hier unten aus kaum sehen kann, muss ich allein vom Zuhören ihres dummen Geschwätzes kichern. »Spaß beiseite. Also, Jochen, Todeszeitpunkt war wann?«

»Wolfgang, wie lange kennen wir uns jetzt?«

»So an die sieben Jahre bestimmt.«

»Und in all diesen Jahren, habe ich mich da schon jemals voreilig auf einen genauen Todeszeitpunkt festgelegt?« »Dann eben unvoreilig ungefähr?«, mosert der Wolfi retour. »Du machst mich fertig. Wie hält das deine Neue nur mit dir aus?«

Von was redet der Trutschlik da? Welche Neue? Als der Wolfi antwortet, dengelt plötzlich ein Mitarbeiter von der Spurensicherung mit seinem silbernen Metallkoffer gegen das Treppengeländer und verursacht einen riesigen Lärm im gesamten Turm.

»… Schätzungsweise vor zwei bis vier Stunden. Nachdem hier drinnen aber eine Bullenhitze herrscht, können es auch gut bis zu sechs Stunden sein. Frag mich noch mal, wenn ich meine Untersuchungen und die Labortests abgeschlossen habe«, höre ich den Jochen Knochen nun sagen.

»Also … heute Abend?«

»Wolfgang, welcher Tag ist heute?«

»Sonntag!«

»Genau, und was mache ich an Sonntagabenden?«

»Die Bundesliga einmal nicht schauen? Mensch, Trutschi, Sonntag hin oder her, ich kannte den Xare. Der Kerl hat drei Kinder, und die werden Fragen haben.«

»Verstehe«, erwidert der Chefpathologe der Kemptner Rechtsmedizin. »Aber alles zu seiner Zeit. Ich habe noch drei Leichen in der Warteschleife. Dein Toter hier muss also noch ein bisschen warten, bis er an der Reihe ist. Und es heißt, er hatte drei Kinder. Präteritum, Wolfgang! Grundschulwissen dritte Klasse.«

»Klugscheißer!«

»Hey, das habe ich jetzt aber nicht gehört!«, goschelt der Trutschlik und lacht dabei.

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Als der Leichnam zum Abtransport auf eine Bahre gehoben wird, wird mir erst bewusst, dass drei Burglbacher Kinder an diesem Sonntag von Halbwaisen zu Vollwaisen geworden sind. Als die Bärbel, dem Xaver seine Frau und Mutter der drei gemeinsamen Kinder, vor ein paar Jahren starb, war das ein schwerer Schlag für die ganze Familie, die etwas außerhalb von Burglbach einen landwirtschaftlichen Milchviehbetrieb führt. Die Bärbel liegt nicht weit von Adalberts Grab entfernt, denke ich traurig und werde, als ich an meinen verstorbenen Ehemann denke, plötzlich ganz sentimental.

»Du bist noch da? Alles in Ordnung, Mama?«, fragt der Wolfi mit besorgter Stimme und berührt mich sanft an der Schulter, als er die paar Stufen zu mir herunterkommt. »Ich habe gerade an den Papa denken müssen«, sage ich etwas bedrückt und blinzle eine aufkommende Träne beiseite. Dass der Adalbert, mein geliebter Göttergatte und einziger Seelenverwandter in diesem Universum, jetzt schon über fünf Jahre tot ist, ist für mich immer noch schwer zu begreifen. Wie müssen sich denn dann nur die Allgaier-Kinder fühlen, wenn nach der Mama nun auch noch der Papa dahingeschieden ist?

»Kann ich was für dich tun?«, unterbricht der Wolfi meine Gedanken.

»Geht schon, danke.«

»Hat die Simone deine Aussage schon aufgenommen?«

»Die Neue, meinst du? Ja, ähm, nein. Die musste dringend weg«, antworte ich und habe schon ein schlechtes Gewissen, der jungen Polizeianwärterin in den Rücken zu fallen. »Sie ist unten beim Hockl, um ihn zuerst zu befragen«, füge ich schuldbewusst hinzu.

»Alles klar, ich hab hier jetzt noch ein bisschen zu tun«, sagt er, schaut verträumt auf sein Telefon und lächelt irgendwie abwesend, was ich angesichts der menschlichen Tragödie hier im Turm überaus unangebracht finde.

»Wolfgang?«

»Äh, ja. Also sobald die Simone deine Aussage notiert hat, kannst du gehen. Wir sehen uns dann später daheim«, sagt er verwirrt und wendet sich bereits wieder den Stufen zu, die zur Empore der Kirchenglocke und dem Fundort der Leiche führen.

»Gut, mach ich. Ach, Wolfi, weißt du schon, warum der Xaver sich das Leben genommen hat?«

»Nein«, meint er einsilbig, und ich stapfe die Stufen hinab, die ich kaum zwei Stunden zuvor noch so unbedarft hinaufgeklettert bin.

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Nachdem ich in der kleinen Sakristei brav meine Aussage bei der Simone gemacht habe und anschließend aus dem Seitenausgang hinaustrete, steht immer noch die halbe schaulustige Gemeinde versammelt vor unserer St.-Bonifatius-Kirche und plappert wild durcheinander.

»Da ist sie. Walliii, hier …«, schreit die Breitmeierin und fuchtelt wild mit ihren Händen hinter dem polizeilichen Absperrband, das die aufgebrachte Menge im Zaum halten soll. »Sag schon, Walli, wer ist der Tote, der sich in unserem heiligen Kirchturm erhängt hat?«, schreit sie, und ihre schrille Stimme überschlägt sich schier vor Sensationsgier.

»Genau, sag schon. Wir wollen es auch wissen!«, ruft die Cilli Hanebichler, meine Busenfeindin Nummer zwei, seitlich hinter dem breiten Kreuz der Breitmeierin hervor. »Sagt mal, habt ihr überhaupt keinen Anstand?«

»Aha, die feine Dame, die ausschaut, als würde sie irgendwo über den roten Teppich flanieren, hält sich wohl wieder mal für was Besseres«, kommentiert die Berta, und die Menge grölt. Gerade als mir wieder einfällt, warum ich die Burglbacher Bagage so hasse, braust die Friedl in ihrem Goggomobil heran, bremst, dass die Reifen ihrer Kiste nur so quietschen, und kommt direkt vor dem Haupteingang der St. Bonifatius zum Stehen.

»Walli, steig ein!«, ruft sie mit dem Wigald auf der Rückbank aus dem heruntergekurbelten Fenster und winkt mich hektisch zu sich herüber. Dankbar nutze ich ihr Angebot und hüpfe in ihr grünes Froschmobil.

»Gib Gas!«, schreie ich, als ich die tobende Berta mit ihrer »silly« Cilli im Rückspiegel entdecke, wie sie auf die Fahrbahn treten und uns füßisch verfolgen.

BISIWASSER UND CO.

»Tee?«

»Nein.«

»Kaffee?«

»Bitte nicht.«

»Walli!«

»Einen laktosefreien Cappuccino mit Milchschaumberg würde ich nehmen.«

Mit schüttelndem Kopf – warum sie das macht, ich weiß es auch nicht – stellt die Friedl sich an den Herd und setzt Wasser auf. Nachdem wir den Wigald zurück ins Wohnheim gefahren haben, war mir nach Gesellschaft.

»Jetz erzähl endlich, was war denn da in da Kirch bloß los?«, fragt sie und stellt zwei wirklich unästhetische Kaffeebecher vor mich auf den Tisch. »Herrgott, von dem lauta G’läut bi i ja fascht d’ohrad worra«, mault sie und bereitet, ungeachtet meiner Vorlieben, den Trichter für einen stinknormalen Filterkaffee vor, den ich gleich nach Tee auch auf den Tod nicht ausstehen kann. Eigentlich würde ich an dieser Stelle längst protestieren, doch heute, nach dem hässlichen Fund unseres toten Mesners, ist mir jegliche Lust an einer Diskussion zuwider, und ich werde mir ohne den geringsten Widerstand Friedls gebrühtes Bisiwasser zu Leibe führen.

»Unser Mesner hat sich im Turm das Leben genommen«, sage ich betroffen und rühre in einer Dauerschleife das bittere Gebräu in dem orangefarbenen Werbebecher des örtlichen Bauhofs um.

»Was, da Xare? Den Xare von d’Bärbel, moinsch du?«

»Ja, Friedl, genau den. Als ich mit dem Hockl den Turm rauf bin, um endlich den Krach abzudrehen, haben wir ihn entdeckt.«

»Heilige Mutter Gottes, des ka doch it woahr sei!«, ruft sie ungläubig und zeichnet ein Kreuzzeichen in die Luft. »Mei, wisser denn die Kind’ scho B’scheid?«, fragt sie trübsinnig, und ich zucke ahnungslos mit den Schultern.

»Das übernimmt sicherlich der Wolfi«, beruhige ich sie. »Die Bärbel … Die hast du doch näher gekannt, nicht wahr?«

»Ja, scho.« Sie seufzt und erzählt, dass sie gemeinsam mit der Frau vom Xaver für jegliche Dorfveranstaltungen die Kuchen gebacken und diese dann mit ihr zusammen am Standl an die Besucher verkauft habe. »Die Bärbel isch so jämmerlich ei’ganger. Des war it mit azuseher. Di Kind … Mei, was müsser denn di Kind no als ertrager«, jammert sie und hält bestürzt die Hände vors Gesicht. Einen Moment lang herrscht Stille, weil niemand so recht weiß, was man zu diesem traurigen Familiendrama sagen soll. »D’ Xare hot doch erscht letzsch Johr, die eu, wie hoißt se no glei … Sina war’s, glaub, kennaglernt«, unterbricht die Friedl unser Schweigen und kruschtelt in dem Zeitungsstapel herum, der auf einem der orangefarbenen Plastikstühle neben ihr liegt.

»Was, der Xare hatte wieder eine neue Partnerin?«, frage ich überrascht, und sie berichtet mir, was sie über die Allgaiers weiß. So hat der Xaver vor knapp einem Jahr eben diese Sina während seines Rehaaufenthalts an der Ostsee kennengelernt. Das deutlich jüngere Fräulein soll in der Kurklinik als Physiotherapeutin tätig und dafür zuständig gewesen sein, dem Xaver seine von der harten Arbeit auf dem Bauernhof lädierten Bandscheiben wieder in Schwung zu bringen. Als ich anmerke, dass diese Sina ganz offensichtlich auch noch etwas ganz anderes bei unserem bäuerlichen Witwer in Schwung gebracht hat, winkt die Friedl entsetzt ab. Über so heikle Themen spekuliere sie nicht, lässt sie empört verlauten und stützt vorwurfsvoll ihre Hände in die Hüften. Bei so was kennt die Friedl einfach keinen Spaß und legt immer noch ein pubertäres Verhalten an den Tag. Sobald ein Thema nur den Hauch einer anzüglichen Note bekommt, läuft sie knallrot an und sucht nicht selten das Weite. Als ich ihr, nur um sie zu ärgern, das letzte Mal eine Szene aus Fifty Shades of Grey vorgelesen habe, hat sie mir das Buch aus der Hand gerissen, damit gedroht, mir den Mund mit Seife auszuwaschen und das Schundwerk in den Scheiterhaufen beziehungsweise in ihren Holzofen zu werfen, sollte ich weiter daraus zitieren. Dass die Friedl mit dem Fritz verheiratet war und tatsächlich zwei Töchter geboren hat, ist kaum zu glauben. Tut sie doch immer so, als wären ihre beiden Schwangerschaften mit der Empfängnis der heiligen Maria Muttergottes gleichzusetzen. Bevor meine jungfräuliche Freundin also noch rotsieht, muss ich schnell das Thema wechseln, denn als ich erwähne, der Xaver, Witwer und Mitte fünfzig, hätte mit der deutlich jüngeren Sina ganz offensichtlich seinen zweiten Frühling erlebt, hält sie sich doch glatt die Ohren zu und stimmt ein Lied der Kastelruther Spatzen an. Ihr Verhalten ist wirklich amüsant, und erst nachdem ich ihr mit Händen und Füßen signalisiere, dass der Inhalt unseres Gesprächs nicht weiter in eine unkeusche Richtung abdriftet, ist sie gewillt weiterzuerzählen. Viel wisse sie aber nicht über die neue Frau des Bauers, nur dass sie eine Pferdenärrin sei und mit ihren Ponys auf dem Allgaier-Hof seit ein paar Monaten Reitunterricht anbiete. Als ich wissen will, warum ich die Sina noch nie im Dorf gesehen, geschweige denn am Sonntag zum Gottesdienst wahrgenommen habe, erwähnt sie, dass die Mecklenburg-Vorpommerin bekennende Atheistin sei und mit den katholischen Bräuchen nichts anfangen könne. Wie passt denn das, bitte schön, zusammen? Der Xaver und seine Bärbel waren seit Jahrzenten beide engagierte Gottesdiener und haben ihr Amt als Mesner im Dorf sehr ernst genommen. Nach ihrer kirchlichen Trauung Anfang der Neunziger haben die beiden jedes ihrer drei Kinder standesgemäß in der St.-Bonifatius-Kirche vom Hockl höchstpersönlich taufen lassen und treu im christlichen Glauben erzogen.

»I woiß itta, was mit dem Kerle plötzlich los war! Der war wie aus’gwechselt. Verschosser bis über beide Ohra war der«, sagt sie und scheint endlich gefunden zu haben, wonach sie in dem Zeitungshaufen gesucht hat. »Schau her, des isch se«, meint sie, legt mir das Burglbacher Dorfblättle vor und tippt auf die quadratische Annonce neben der Werbeanzeige der Metzgerei Schweinsberger, die ihre Blut- und Leberwurstwaren zum Schleuderpreis anbietet. Eine blonde, hübsche junge Frau lehnt lächelnd an einem Pferd und wirbt für Reitunterricht auf dem Hof der Allgaiers.

»Interessant«, meine ich und bin mir sicher, dieses ansehnliche Fräulein noch nie vorher im Dorf bemerkt zu haben. »Der Xare hatte aber einen sehr guten Geschmack, das muss man ihm lassen«, sage ich, und der Friedl ihr Gesichtsausdruck verfinstert sich abermals. Sie läuft zum Küchenbüfett und kommt mit einer Flasche Willi zurück, füllt die beiden Stamperl bis zum Rand und hebt das Glas. »Proscht, Walli!« Der Schnaps brennt zwar wie die Hölle, neutralisiert aber das grässliche Gebräu, das die Friedl Kaffee nennt.

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