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Wenn die Musik verklingt

In letzter Zeit ist die alte Dame Ella nicht mehr gut beisammen. Sie wird langsam vergesslich. Wie um Himmels willen ist sie zum Beispiel auf dieses Segelboot gekommen? Und wie gelangt sie wieder sicher an Land? Doch Ella ist nicht ganz allein. Ihre Gitarre ist auch an Bord, und damit der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit. Die Musik hilft ihr, sich zu sammeln und zu erinnern. Zwar nicht an die jüngsten Geschehnisse, dafür an das London zur wilden Rock’n’Roll-Zeit, als Ella eine blutjunge erfolgreiche Musikerin war. An Freunde, die sie viel zu früh verabschieden musste. Und an Robert, ihre große Liebe.


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950737
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR MEINE GROSSELTERN, JOHN UND JEAN, OHNE DEREN GESCHICHTEN DIESE GESCHICHTE NICHT ERZÄHLBAR GEWESEN WÄRE.

Griechische Mythen erzählen von Orpheus, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine verlorene Geliebte Eurydike zurückzubekommen. Sein Transportmittel war die Musik – Musik, die Götter zum Weinen brachte, Musik, die Flüsse stillstehen ließ und die ganze Natur besänftigte. Seine Hymnen kennen wir heute nicht mehr, aber wir können ihre Stimmen benutzen, sodass wir unsere eigene Eurydike zurückholen können.

Musikwissenschaftler streiten darüber, wie viele solcher Stimmen, sogenannte Tonarten, es gibt. Manche sagen fünf, andere neun, wieder andere zwölf. In diesem Buch kommen die sieben gebräuchlichsten vor, die in der Antike auftraten. Die Zahl Sieben war im Altertum wichtig – die sieben Götter des Olymp, die sieben Tage der Woche, die sieben Lebensphasen des Menschen. Die Sieben ist eine mystische, eine magische Zahl, und vielleicht gelingt diesem kleinen Buch ja ein wenig Magie.

Ich glaube nicht an Götter, aber an Musik. Musik kann uns die Toten nahebringen, wenigstens für eine Weile. Könnten wir sie treffen, in den sonnendurchfluteten Feldern des Gesangs, blieben wir gewiss für immer dort.

JACK SHAPIRO,
DIE LIEDER DER TOTEN

1
DAS KIND

Der Sturm weckt mich auf. Ich muss eine ganze Weile weg gewesen sein. Das Boot ruckelt wie eine Achterbahn, und das Meer ist laut. Ich blinzele auf die Uhr. Die roten Zahlen sagen, es ist halb zwei nachts, aber ich habe die Uhr nicht gestellt, seit wir losgefahren sind … Wo war das noch mal? Irgendwo anders. Jedenfalls nicht zu Hause. Inzwischen kann ich die Zeit nicht mehr schätzen. Jetzt als alte Schabracke. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Ich starre auf die blinkenden Punkte der Uhr: : : : : : :

Jemand hämmert an die Tür.

»Mum? Bist du wach?«

»Abigail?«

Die Tür geht auf. »Ja, Mum, ich bin’s. Macht es dir was aus, wenn ich das Licht einschalte?«

»Nein, warum sollte es?«

Das Licht geht an, und da steht Abigail. Sie scheint durcheinander zu sein und hält sich am Türrahmen fest. Das Schlafzimmer neigt sich auf eine Seite.

»Alles in Ordnung?« Abigail wankt herüber und setzt sich auf mein Bett, wie eine Krankenschwester. Früher war sie tatsächlich Krankenschwester. Ihre kastanienbraunen Haare sind ungekämmt, und ich möchte ihr einen Kamm geben.

»Ich wollte nur nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.«

»Warum?«

»Wegen des Sturms.«

»Ach, ist er schlimm?«

Abigail seufzt. »Ja, Mum, ziemlich schlimm.«

»Ich brauche keine Hilfe.« Ich schaue meiner Tochter ins Gesicht. Sie hat Sommersprossen, aber keine Falten. Sie ist noch so jung.

»Ich weiß, dass du keine Hilfe brauchst, du sture alte Ziege.«

Ich lege mir die Finger wie Hörner an den Kopf und meckere.

Abigail lacht und küsst mich auf die Stirn. »Ich muss David helfen, das Boot in den Griff zu bekommen, und ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst, wenn du mich nicht finden kannst.«

Ich atme tief durch. »Keine Sorge. Geh. Und gib auf dich acht.«

Je älter ich werde, desto weniger spreche ich. Die Wörter sind alle noch in meinem Kopf, aber ich bekomme sie nicht heraus. Und wenn ich es tue, sind sie falsch. Ich sage »Messer«, wenn ich »Gabel« meine, und »hallo«, wenn ich »tschüss« meine. Ich war Musikerin und machte schon immer lieber Musik, als zu reden. Vielleicht ist das die Strafe der Natur – was du nicht nutzt, verkommt. Die eingesperrten Wörter kochen in meinem Kopf vor sich hin wie in einem Dampfkochtopf. Lange, verschlungene Sätze blubbern hoch. Vermutlich ist mein Gehirn in dieser Metapher ein altes Stück Fleisch, das sich langsam im eigenen Saft auflöst. Ich finde es nicht schön, kann aber nichts dagegen tun. Ich lege Abigail einen Arm um die Schultern und deute eine Umarmung an.

»Bis bald, Mum. Schlaf gut.«

Abigail schaltet das Licht aus und schließt die Tür. Ich lege mich wieder zurecht. Der Sturm da draußen im Dunkeln scheint schlimmer zu werden. Ich spüre, wie er unser Boot hebt und senkt. Aus Gewohnheit zähle ich Dinge auf, an die ich mich erinnern kann.

  1. Ich heiße Ella Campbell.

  2. Ich befinde mich auf einem Boot.

  3. Ich bin auf dem Boot, weil ich Urlaub habe.

  4. Ich mache Urlaub mit Abigail, dem Baby und … und … ihm. Abigail hat gerade seinen Namen genannt, aber ich kann ihn mir einfach nicht merken.

  5. Das Boot gehört »ihm«.

Ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern. Den Namen des Mannes, der uns mit in den Urlaub genommen hat. Er benutzt viel Rasierwasser und glaubt, dass ich ganz wild auf Haferbrei und Dudelsäcke bin, weil ich aus Glasgow stamme. Das Einzige, was er in Schottland je besucht hat, sind Golfplätze. Er hat dieses Boot gekauft und segelt es nach England zurück. Er ist ein Idiot, aber das sage ich Abigail nicht.

Wieder bricht eine Welle über uns. Das Boot bebt, und mir wird übel. Wenn es nicht so dunkel wäre, würde ich mich vielleicht wohler fühlen. Bei mir zu Hause (dem Zuhause) geht das Licht an, wenn ich in die Hände klatsche. Das versuche ich jetzt auch, aber es funktioniert nicht. Vielleicht kann mich die Lampe nicht hören, weil der Sturm so laut ist.

»Abigail?«

Keine Antwort. Natürlich kommt Abigail sowieso bald, um nach mir zu sehen. Rechts über meiner Koje ist ein Fenster. Drück dich mit beiden Händen hoch. Vorsichtig, alte Ziege, taste nach dem Bullauge. Ich berührte das kalte Glas mit der Nase. In anderen Nächten konnte ich den Mond oder die Sterne sehen. Eines Nachts sah das Meer wie silberner Samt aus, der auf einer Bühne geschüttelt wird. Ich erinnere mich an das Palladium … oder war es das Lyceum? Ich weiß nicht mehr, welches Stück ich dort gesehen habe. Jetzt ist alles dunkel.

Ich will mich gerade wieder hinlegen, als sich das Boot hebt,

höher,

höher,

höher …

Als höbe jemand uns aus einer Badewanne. Ich fühle mich schwerelos.

Jetzt senkt sich das Boot wieder, klatscht auf die Wellen. Ich werde nach hinten geworfen, aus dem Bett und auf den Kajütenboden. Einen Moment lang vergesse ich zu atmen. Dann kommt der Schmerz. Ich kann kaum meinen eigenen Schrei hören. Zwischen Bett und Tür ist nicht viel Platz, und an irgendwas habe ich mir den Kopf gestoßen. Abgesehen von dem blinkenden Wecker ist es immer noch dunkel. Es ist schrecklich. Wenn ich Abigail und ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihnen sagen, dass ich nach Hause will. »Ein letztes Abenteuer«, wie er es ausdrückt, will ich nicht. Er hat ja keine Ahnung, was das Wort bedeutet.

Die Tür ist ganz nah, also taste ich hinauf, irgendwo über mir … Meine Finger streifen etwas, das an einer Schnur baumelt. Ich greife danach und ziehe. Das Licht geht an. Meine Beine haben sich im weißen Laken verheddert. Steh auf, liege da nicht herum, setz dich wenigstens hin. Ich könnte es versuchen, aber das Boot schaukelt wie wild, und ich will nicht wieder umgeworfen werden.

Ich krieche zum Bett und versuche zu schlafen. Aber da höre ich etwas. Ganz schwach. Das Geräusch kommt nicht durch die Luft, sondern durch mein Kissen. Durch den Fußboden und die Wände. Ein hoher, dünner Ton, den der Sturm beinahe erstickt.

Ein Baby weint.

Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Mein Enkel. Er ist vier Monate alt. Oder fünf? Zu klein, um auf das Boot mitgenommen zu werden, so wie ich zu alt dafür bin. Donner erschüttert meine Brust, als ich an das Baby denke. Wenn die Erinnerung etwas vage ist, liegt es daran, dass Babys nun einmal so sind. Verschwommen, noch nicht ganz entwickelt. Vielleicht wird er eines Tages Richter oder Dichter oder Landschaftsgärtner. Aber das kann man noch nicht erkennen, noch behält er es für sich. Ich hoffe, es geht ihm nicht zu schlecht. Das Meer hat ihm zugesetzt. Wie lange sind wir schon auf dem Boot?

Ich schlage die Augen auf und starre ins Licht. Vielleicht ist Abigail bei dem Baby. Manchmal lässt er sich nicht beruhigen, egal wie sehr sie sich bemüht. Kein Wunder bei diesem Sturm. Aber ich habe meine Zweifel und sie werden stärker. Abigail kann das Baby eigentlich sehr gut beruhigen. Überhaupt hat sie etwas Beruhigendes an sich, und das hat sie nicht von mir. Sie muss eine gute Krankenschwester gewesen sein, bevor er sie gezwungen hat, ihren Beruf aufzugeben. Sie sagt zwar, er hätte sie nicht gezwungen, sondern sie selbst hätte …

Das Baby weint immer noch.

Das Boot schaukelt durch Berg und Tal. Aber was hat man mit siebenundachtzig schon zu verlieren? Ich setze mich auf und halte mich am Bett fest. Die Kajütenlampe flackert und geht aus. Ich sitze im Dunkeln und spreche Wörter aus, die eine Siebenundachtzigjährige nicht einmal kennen sollte.

Tief durchatmen!

Ich will zur Tür gehen. Das Boot krängt, und ich werde an etwas Massives, Hölzernes geworfen. Aus der Kajüte, in den schmalen Gang. Das ist das einzig Gute an diesem kleinen Boot: Man kann nicht weit fallen. Im Dunkeln kann ich die Wände an beiden Seiten berühren. Da gibt es noch etwas anderes, etwas Ungewohntes. Ich habe kalte Füße. Der Gang ist überflutet.

Langsam taste ich mich vor, meine Beine drohen mir den Dienst zu verweigern. Vor mir liegen zwei Türen, Abigails Zimmer und ein Gästezimmer, in dem jetzt das Baby untergebracht ist. Auf meiner Seite liegt die Tür des Kinderzimmers.

»Abigail?«

Nur der Sturm antwortet. Ich greife nach dem Türknauf des Kinderzimmers, aber immer mehr Wasser strömt herein. Gehen wir unter? Ein Fuß an der Wand und beide Hände am Türknauf ziehe ich. Die Tür geht auf, und das Weinen wird lauter.

»Abigail? Bist du da drinnen?«

Keine Antwort. Die Dunkelheit macht mich ganz schwindelig. Gäbe es Licht, ginge es mir besser. Ich kann das Baby nicht sehen; Wasser steht auch im Kinderzimmer. Das ist nicht richtig. Ich bin diejenige, die die Tür geöffnet hat, ich habe das Wasser hineingelassen. Habe ich einen Fehler gemacht? Es ist zu spät, umzukehren. Ich gehe weiter, immer dem Weinen nach. Drinnen gibt es nichts, woran ich mich festhalten könnte. In jeder Kajüte befindet sich eine eingebaute Koje, aber das Baby liegt in einem extra aufgestellten Reisebett.

Ein niedriges Bett, praktisch nur eine Matratze direkt auf dem Fußboden.

Konzentriere dich auf das Weinen – es ist noch da. Wie ein Rennschlitten schießt das Boot in ein Wellental. Gerade noch rechtzeitig halte ich mich am Türrahmen fest, und einen Moment lang schwappt kein Wasser mehr um meine Knöchel, sondern in den hinteren Teil des Zimmers. Das Baby wird ganz ruhig. Ist es ertrunken? Mein Sturz wird gebremst, und beinahe verliere ich den Halt. Das Baby hustet und schreit.

Dieses Zimmer ist spiegelverkehrt zu meinem. Im Laufe der letzten Jahre hat sogar Kleidung angefangen, mich zu verblüffen, die Landschaften von Blusen und Unterwäsche überfordern mich. Im Dunkeln ist dieses spiegelverkehrte Zimmer ein brutales Puzzle für mich. Plötzlich blitzt ein helles, blaues Licht auf. In diesem Moment sehe ich das Kind auf der nassen Matratze strampeln. Dann verschwindet das Licht, stattdessen donnert es. Bevor ich vergessen kann, was ich gesehen habe, bewege ich mich in die Richtung.

Das Baby ist außer sich, brüllt im Stakkato, als nähme es sich nicht die Zeit zu atmen, bevor es den nächsten Schrei ausstößt. Es ist nicht das Schreien eines müden, hungrigen oder kranken Babys. Es sind Angstschreie. Ich stolpere über die Matratze, dann greife ich nach seinem warmen, sich windenden Körper. Winzige Hände greifen nach meinen, als ich ihn hochnehme. Für sein Alter ist er groß, und ich habe ihn noch nie selbst hochgenommen. Normalerweise sitze ich inmitten stützender Kissen in einem Sessel. Meine Wirbelsäule knackt. Das heiße Gesicht an meinem, schreit mir das Baby genau ins Ohr.

»Sch, sch, ist ja gut.« Er windet sich in seinem durchnässten Schlafsack und trommelt mit seinen kleinen Fäusten auf mich ein. »Komm schon, Süßer, ich bin ja da.«

Meine Arme zittern vor Anstrengung. Ich will mich einfach nur hinlegen und schlafen. Vielleicht ist es sicherer, wenn ich hierbleibe. Abigail ist wahrscheinlich damit beschäftigt, das Boot in den Griff zu bekommen. Doch dann fällt mir wieder das Wasser ein, das ich hereingelassen habe. Hier können wir nicht bleiben, hier sind wir nicht sicher. Wie bekomme ich das Baby in der Dunkelheit nach oben? Ich denke an sein Nachtlicht. Es ist aus weichem Plastik und eiförmig. Wenn man auf die Spitze drückt, geht es an.

Ich lege das Baby aufs Bett, bücke mich und taste im kalten Wasser nach der Spielzeugkiste. Meine Hände werden taub, als sie über Rasseln, Beißringe, Stoffbücher und Kuscheltiere fahren. Was ich nicht brauchen kann, werfe ich ins Wasser. Endlich bekomme ich das Ei zu fassen. Die Kajüte wird in blaues Licht getaucht, das grün wird, als ich nach dem Baby auf dem Bett schaue. Es schaut mich mit offenem Mund an. Als es sich an die Positionsveränderung gewöhnt hat, fängt es wieder an zu weinen.

»Sch, ganz ruhig. Ich komme ja.«

Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf voller Wasser ist. Ohne große Probleme trage ich das Baby in den Gang. Dann neigt sich das Boot nach achtern und beginnt, wie der Wagen einer Achterbahn, einen steilen Anstieg zu erklimmen, von dessen Gipfel es jäh bergab geht. Ich kann die Treppe zum Salon sehen, aber nicht dahin gelangen.

Warte ab!

Das Boot kippt nach vorn, dann rasen wir abwärts, schneller als zuvor. Wie eine olympische Göttin in wallendem Gewand werfe ich mich an die Treppe. Ich setze einen Fuß auf die unterste Stufe, dann auf die nächste und die nächste. Die Treppe zu erklimmen bedeutet in diesem Fall, nach unten zu laufen.

Wir erreichen die oberste Stufe und betreten den Salon, aber ich kann nicht stehen bleiben. Ich habe zu viel Schwung, und das Boot liegt so schräg auf dem Wasser, dass der Fußboden einer polierten Rutsche gleicht. Ich kann mich nicht auf den Beinen halten und gehe unsanft zu Boden. Wir rutschen durch das ganze Zimmer und krachen an die Rückwand.

Ich halte das Baby fest. Ich weiß nicht, ob ich mir irgendwelche Knochen gebrochen habe. Alles tut weh. Der Boden ist hier genauso nass wie unten, aber kein Wasser schwappt umher. Das Baby windet sich an meiner Brust, und das Zimmer wird von wechselnden Farben beleuchtet. Ich schaue mich um und sehe das Nachtlicht des Babys auf dem Boden herumrollen; es wird rot, dann blau, dann grün. Wie ist es dahin gelangt? Abigail muss es gebracht haben, um besser sehen zu können.

Die Tür weht auf und zu und lässt den Regen herein. Papiere fliegen umher, und die Seiten von Abigails Roman werden auf dem Boden wie von Zauberhand umgeschlagen, sie flattern, ohne von der Stelle zu kommen, wie ein verletzter Vogel. Ich schlurfe zur Tür und stoße sie mit einem Tritt zu. Plötzlich ist es still im Zimmer, obwohl vor den Fenstern noch der Sturm tobt. In einer Ecke des Zimmers steht der wippende Babysitz, mit Gurten, damit es nicht herausfällt. Ich schlurfe hin und setze das Baby hinein, dann versuche ich, es aus dem nassen Schlafsack zu befreien.

Ich schaue mich um. Links und rechts stehen Sofas. Auf einem kann ich schlafen. Da werde ich es bequem haben. Aber das Baby weint immer noch ganz schrecklich. Ich könnte es füttern, dann wäre es vielleicht zufrieden, aber Abigail besteht darauf, dass es nur Muttermilch bekommt. Wenn ich wenigstens ein Kinderlied singen könnte, würde es sich vielleicht beruhigen. Aber bei dem tosenden Sturm und dem Geschrei des Babys kann ich mich an keins erinnern. Wie ging das eine noch … »Old McFarmer? Oink-oink-oink?« Ich versuche, es zu summen, aber ich bekomme die Melodie nicht richtig hin.

Im geisterhaften Nachtlicht schaue ich mich wieder um. Ich sehe ein Barometer, integriert in das Steuerrad eines Modellschiffs. Das Bild eines griechischen Dorfs mit weißen Mauern und blauen Kuppeln und Meer im Hintergrund. Eine Gitarre …

Eine Gitarre.

Ich konzentriere mich auf die Gitarre. Sie leuchtet in der blauen Phase des Nachtlichts. Ich kenne sie von früher. Aber ich habe das Gefühl, sie noch nie richtig bemerkt zu haben. Von einem Gestell gehalten, das ihr unter den Bauch und an den Hals fasst, steht sie aufrecht an der Wand.

Ich weiß nicht mehr viel über Gegenstände. Die Mikrowelle an Bord ist einfach nur eine Mikrowelle. Ich kann nicht sagen, wie alt sie ist und ob sie billig oder teuer war. Ein Paar Schuhe ist ein Paar Schuhe. Kugelschreiber und Bleistifte, Gummibälle und Jacken – für mich sind sie wie Bilder in einem Kinderbuch.

Aber … ich weiß viel über diese Gitarre. Eine akustische. Eine Konzertgitarre. Vielleicht dient sie hier nur als Dekoration, aber sie war nicht billig. Das Herstellerlogo am Wirbelkopf – GUILD – besteht aus Intarsien mit Perlmutt. Ja, eine amerikanische M-20. Nylonsaiten. Unter den Saiten steckt ein Plektron. Steg und Hals sind aus mattiertem Rosenholz. Ein Knochensattel. Der Korpus ist aus lackiertem Mahagoni, am Schallloch heller als am Rand.

Es blitzt, und die Form der Gitarre brennt sich in meine Augen. Beinahe falle ich hin. Dann senkt sich der Boden, und ich will weglaufen. Ich greife nach der Gitarre, um nicht hinzufallen, aber ich bekomme sie nicht zu fassen. Ich hoffe, der Idiot, der für die Bootsdeko zuständig war, hat die Gitarre nicht an der Wand festgeschraubt. Ich fingere an dem Haken herum, in dem der Hals steckt, und dann fällt mir das Instrument in die Arme.

Ich bringe meinen Schatz dahin, wo das Baby liegt. Ich setze mich, und meine Beine protestieren gegen die Sitzhaltung einer Vierjährigen im Kinderzimmer. Kann ich noch spielen? Ich weiß es nicht. Früher hat Abigail mich gern spielen gehört. Vielleicht gefällt es auch ihrem Baby.

Die Gitarre ist verstimmt. Ich zupfe die oberste Saite ein paarmal und drehe an ihrem Wirbel herum. Ohne nachdenken zu müssen, mache ich mit den anderen Saiten weiter. Bei der letzten habe ich Sorge, ob nun alle richtig zusammenklingen. Eine Sturmböe peitscht Regen an die Fenster und legt mich einen Moment lang lahm. Die Gitarre scheint für das Stimmen dankbar zu sein. Ich schlage die Saiten mit dem Plektron, und die Gitarre erhebt ihre Stimme über den Sturm.

Das Baby hört auf zu weinen. Der Kleine öffnet die blutunterlaufenen Augen und sieht mich an. Es ist ein vertrautes Gefühl, aber ich weiß nicht, was ich spielen soll. Mit der linken Hand versuche ich, einen Akkord zu greifen, aber meine Finger verhaken sich ineinander. Wenn mir ein Song einfiele, würden die Griffe vielleicht auch wieder zurückkehren. Ich schaue mich um, die verregneten Fenster, das Baby, das Nachtlicht. Ich kenne Songs, die davon handeln. Ich hole heraus, was in den Taschen meines Bademantels steckt. Eine angebrochene Stange Zitronenbonbons, zerknüllte Taschentücher, ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich falte es auf und sehe, dass es eine Broschüre ist …

ANGELTOUREN ZWISCHEN DEN IONISCHEN INSELN

Dieses Wort, ionisch …

Mir fällt eine Melodie ein. Ein Song namens »Das Kind«. Ich muss lächeln. Meine Finger greifen den ersten Akkord, mit der anderen Hand schlage ich die Saiten an. C7. Der Klang entfaltet sich, und wieder wird das Baby still.

Ich summe den ersten Ton. Meine Stimme ist dünn, aber ich spüre die Schwingungen in den Ohren, als der Klang der Gitarre und der in meinem Hals sich aneinander reiben. Ein Gefühl, das ich vergessen hatte. Wann habe ich zuletzt gespielt? Wie tief ist das Meer?

Auf das Leben, das hinter mir liegt, scheint Licht durch eine zerfetzte Wolke. Wo ich stehe, liegt alles im Schatten – das Pflegeheim, die letzten Jahre mit meinem Mann, die Reise, die uns hierhergeführt hat. Ich kann alles sehen, erkenne aber keine Einzelheiten. Am Horizont sehe ich ein paar Morgen goldenen Lichts, meine Kindheit. Zwischen dem Licht und dem Schatten einzelne Sonnenflecken, aber das meiste liegt im Dunkeln. Mein Leben ist mir ein Rätsel. Ich denke an die Strecke zwischen mir und dem goldenen Horizont.

Aber ich habe die Gitarre in der Hand und den Ton im Hals. Ich bin bereit zu spielen. Donner grollt, aber ich ignoriere ihn. Er ist bloß ein angeberischer Perkussionist. Ich schlage den ersten Akkord an und fange an zu singen.

Der Song taumelt aus mir heraus, und das Boot taumelt durch das dunkle Meer. Obwohl meine Hände ganz steif sind, meine Fingerspitzen auf den Saiten schmerzen und meine Stimme krächzt wie ein Geigenbogen, der nicht kolophoniert ist, fühle ich mich ganz leicht. Als stellte ich nach Jahren des Herumhumpelns plötzlich fest, dass ich wie ein Teenager sprinten kann.

Der Klang durchdringt die Kajüte. Wenn ich laut genug spiele, denke ich, kann ich den Sturm zurückdrängen. Der Song ist ganz einfach. Das Wort »ionisch« fällt mir wieder ein. Es gibt eine ionische Spielweise. Einen »Modus«. Eine bestimmte Art, die Tonabstände zu bemessen. Sie ist schon alt. Bevor wir unter »Musik« Händel, Beethoven und Charlie Parker verstanden, gab es Modi. Alt wie die Berge, alt wie das Meer. Diese Modi spielte man auf einsaitigen Instrumenten, Tonpfeifen und Okarinas, Instrumenten aus Tierknochen und ausgehöhlten Schildkrötenpanzern. Andere Songs fallen mir gerade nicht ein, aber ich werde versuchen, mich zu erinnern. Ich werde alles versuchen, um mich wieder so zu fühlen, als renne ich einen Hügel hinab.

Der Song ist nicht lang. Man könnte ihn auf einem einzigen Blatt notieren. Also spiele ich ihn wieder und wieder, schlage die Akkorde an und summe die Melodie. Ich spiele ohne Unterbrechung und schaue dabei das Baby an. Es schaut mich auch an und ist ganz still. Der Sturm prügelt immer noch auf unsere dünne Nussschale ein, immer noch heben und senken wir uns, aber dem Baby werden die Lider schwer. Ich lächle es an. Es sieht mich genauso an, wie es Abigail ansieht. Sein Atem wird gleichmäßig und tief.

Auch als es eingeschlafen ist, spiele ich weiter. Ich möchte es noch etwas genießen. Meine Schwindeligkeit ist inzwischen beinahe angenehm. Mir tun die Knochen weh, und mein salziges Nachthemd kratzt, aber ich will nicht aufhören. Ich schließe die Augen. Vielleicht liegt es am wogenden Meer, vielleicht an der stetigen Wiederholung des Songs, aber mir dreht sich alles. Nicht benebelnd, sondern als befände ich mich in einem langsam rotierenden, gigantischen Strudel. Kreiselt das Boot? Hat jemand dem Meer den Stöpsel gezogen?

Es wird dunkler, und ich halte mich an der Gitarre fest wie an einer Boje und spiele weiter, bis mich der Strudel swuuusch-swuuusch-swuuusch in die Dunkelheit reißt und der Song in meinen Ohren wie herabströmendes Wasser widerhallt.

1936

Noch nie im Leben war Eleanor Campbell so wütend. Ihr Rock ist hochgerutscht, und ihre Knie schrammen über den asphaltierten Schulhof. Die kleinen Fäuste so fest geballt, dass die Haut über den Fingerknöcheln weiß wird, schlägt sie auf Kevin MacAndrews Flanken und Bauch ein. Um sich zu schützen, rollt der sich zusammen wie ein Igel.

»Gib … sie … ihr … zurück!«

Kevin stößt einen wortlosen Schrei aus, bleibt aber eingeigelt. Sollte sein Schrei doch einen Sinn haben, geht er im Lärm der Umstehenden unter. Ella und Kevin sind erst sieben, aber die älteren Kinder greifen nicht ein. Schließlich gibt es Regeln. Der graue Himmel über Glasgow fängt an, seine Schleusen zu öffnen, also muss Ella sich beeilen, bevor ein Lehrer einschreitet. Was sie von Kevin zurückhaben will, umklammert er fest vor seinem Bauch. Noch einmal boxt sie ihn, dieses Mal ins Kreuz. Rene beugt sich über Ellas Schulter, die Hände vor dem Mund, als sei er entsetzt oder könne sich vor Lachen nicht mehr halten – oder beides.

»Gib … sie … zurück, du … kleiner …« Ella sucht nach dem schlimmsten Schimpfwort, das sie kennt. »Du kleiner Scheißer

So stark sie kann, boxt sie ihm in die Rippen, als sie das schreit, und wie der unbezwingbare Drache aus einem Bilderbuch, dessen einzige Schwachstelle von einem Pfeil durchbohrt wird, reißt Kevin die Augen auf. Er macht sich gerade, liegt flach auf dem Rücken und ringt um Atem. Das, worum Ella kämpft, liegt auf seinem Bauch – Renes kalbslederne Federtasche mit einem roten Band am Reißverschluss.

»Ha! Gewonnen!« Ella keucht und kann ihren Sieg nur kurz genießen, bevor sie hochgezogen wird, hoch und nach hinten, am Kragen.

»Hey, lass mich, du Scheißer!«

Das schon einmal benutzte Schimpfwort hat etwas Betörendes, Triumphales. Die Umstehenden stöhnen auf.

»Eleanor Campbell!«

Ella macht große Augen, als sie die Erwachsenenstimme hört, und Angst vertreibt ihre Wut. Sie sieht, dass Kevin von einem anderen Lehrer aufgeholfen wird, während die Schulleiterin sie abführt, auf die Schule zu, und die Menge der Kinder teilt wie Mose das Rote Meer. Im Vorbeigehen hört sie Geflüster.

»Mann, die ist ja verrückt!«

»Wie heißt sie eigentlich?«

»Sie ist eine Rumtreiberin. Die sind alle so.«

»Sie ist keine Rumtreiberin. Rumtreiber gehen nicht zur Schule.«

»Ist sie doch! Das sieht man doch an ihren dunklen Augen und Haaren.«

»Ella Knorr?«

»Nein, Eleanor. Eleanor Campbell.«

»Sie kämpft wie ein Tier.«

Ella wirft einen Blick zurück und sieht Rene. Sie ist der Strafe entkommen, hebt ihre Federtasche auf und drückt sie sich an die Brust. Niemand nähert sich ihr; Rene ist sicher. Ella lächelt und wehrt sich nicht, als die Schulleiterin sie mit einer Hand ins Schulbüro dirigiert.

* * *

»Danke, Ella.«

Rene hüpft, und ihre blonden Korkenzieherlocken hüpfen mit. Wenn Ella richtig gezählt hat, hat Rene ihr seit Schulschluss schon elf Mal gedankt.

»Hör auf, dich zu bedanken«, murmelt sie.

Die letzten drei Stunden hat Ella im Büro der Schulleiterin gesessen und mit einem stumpfen Bleistift Zeile um Zeile auf weiches Papier geschrieben, bis ihre Hand ganz verkrampft war. Zuerst hat sie natürlich eine Tracht Prügel bekommen, zehn Schläge auf den Hintern – die Höchststrafe an der Peterhead-Grundschule. Um nicht schreiben zu müssen, hätte Ella lieber mehr Schläge bekommen.

Drei Stunden waren eine Ewigkeit, vollgestopft mit lauter Ewigkeiten, unterbrochen nur vom lauten Ticken der Bürouhr und einer scharfen Zurechtweisung von der Schulsekretärin, wenn Ella zu schreiben aufhörte. Dann schrieb sie weiter, hörte auf und zählte das Uhrticken, um herauszufinden, wie lange es dauerte, bis die Sekretärin sie wieder zurechtwies. Ihr Rekord lag bei siebenundvierzig. Sie findet, dass die Erinnerung an eine Strafe schnell verblasst, aber diese hier dauerte. Wie damals, als sie die Tinte aus dem Füller ihres Vaters gesogen hatte und ihr die Zunge mit Seife abgeschrubbt wurde.

»Aber du hast sie zurückbekommen!«, flötet Rene glücklich. »Ich hätte das nicht geschafft.«

Zuerst gefiel Ella das Lob, aber seit sie das Schulgelände verlassen haben, hinterlässt es ein komisches Gefühl in der Magengegend. Sie versucht, die Kinder zu ignorieren, die ihren Eltern etwas zuflüstern und auf Ella zeigen, bis auch die Erwachsenen zu ihr herüberschauen. Kevin und seine Eltern hat sie nicht gesehen. Vielleicht sind sie schon nach Haus gegangen.

Ella fühlt sich so schwer, als könnte sie kaum die Füße heben. Möglicherweise liegt es an dem gefalteten Papier, das sich wie ein Backstein in ihrer Tasche anfühlt. Andauernd muss sie an den Text denken, den ihr Vater noch unterschreiben muss – ein Pakt mit dem Teufel. Zwei Wochen keine Spielpausen, Mittagessen im Schulbüro, stillsitzen und lesen, während die Geräusche vom Schulhof durchs Fenster dringen.

»Ich will nicht nach Hause.«

Sie sagt das leise und ist sich nicht sicher, ob Rene es gehört hat. Sie flüstert, weil es eigentlich keiner hören soll und es ein Eingeständnis von Schwäche ist. Rene kommt näher und legt einen Arm um Ella.

»Tut mir leid …«

Die meisten Kinder ihres Jahrgangs werden von den Eltern abgeholt, aber sie und Rene wohnen so nah bei der Schule, in der angrenzenden Bedlay Street, dass sie allein nach Hause gehen dürfen, aber nur zusammen. Sie gehen zu einem ihrer beiden Häuser, und eine der beiden Mütter gibt ihnen etwas zu essen. So geht das jeden Wochentag, außer mittwochs. Dann hat Rene Gitarrenunterricht bei Mr. Veitch, und ihre Mutter holt sie später dort ab.

Sie bringt ihren Gitarrenkoffer morgens mit in die Schule, er ist etwas kleiner als ein normaler Koffer, aber riesig im Vergleich zu Rene, blau angemalt und mit einem Apfelbaum auf der einen Seite – ein Werk ihres Vaters. Um diesen Gitarrenkoffer beneidet Ella Rene mehr als um alles andere, und er ist der Grund, warum Ella die Mauchlens für steinreich hält.

Ella hat die Gitarre nur einmal gesehen, weil Rene eingebläut worden ist, den Gitarrenkoffer erst nach der Schule zu öffnen, zu Beginn der Gitarrenstunde. Aber Ella hat ein gutes Gedächtnis. Wie eine Kamera, sagt ihr Vater. (Manchmal, wenn sie sich an etwas erinnern möchte, macht sie leise »klick«, als würde sie mit den Augen ein Foto schießen, wie mit einer richtigen Kamera.) Ella kann die Augen schließen und dann die Gitarre sehen. Der Korpus hat die Farbe von Karamell, die Wirbel schimmern wie sechs Perlen in einem dunkellila Samtkästchen. Die Gitarre riecht sogar teuer. Nur ein Mal hat Ella die Saiten mit den Fingern angeschlagen und dem perlend schnurrenden Geräusch gelauscht, bevor Rene den Koffer schnell wieder zumachte.

Ella beginnt zu sprechen und ahnt schon, was ihr Plan sein wird, bevor sie darüber nachdenkt.

»Statt nach Hause zu gehen, könnten wir in den Park …«

Ohne etwas zu sagen, nimmt Rene ihre Hand und geht weiter. »Wenn wir in den Park gehen, kommen wir zu spät nach Hause … Mum würde sich Sorgen machen.«

Rene schaut sich nach ihrem älteren Bruder Robert um. Ella kann ihn nirgends entdecken.

Sie kann sich nicht erinnern, wann Robert einmal nicht da war, obwohl sie das Gefühl hat, in all den Jahren kaum mehr als zehn Worte mit ihm gewechselt zu haben. Robert ist quasi Renes Schatten. Meist begleitet er die Freundinnen auf dem Weg zur und von der Schule, um sicherzustellen, dass sie keinen Unsinn anstellen. Aber manchmal bleibt er stehen, um mit einem Freund zu sprechen.

Wenn sie bei Rene zu Hause sind, sitzt Robert oft mit einem Buch aus der Bibliothek in einer Zimmerecke. Bücher ohne Bilder. Bücher mit staubfarbenen Umschlägen. Ella glaubt, dass er sehr klug ist. Das beeindruckt sie, aber es irritiert sie auch. Sie denkt, Robert schaut auf sie herab, auf sie und Rene, wie auf einfältige Kreaturen, obwohl sie nur zwei Jahre jünger sind als er. Ella will ihm beweisen, dass sie kein Kleinkind mehr ist, aber sie will auch wissen, was an all den Büchern so interessant ist.

»Wir würden Ärger kriegen«, sagt Rene.

»Ich habe schon Ärger …« Ella lässt die Worte in der Luft hängen und spricht das »deinetwegen« nicht aus.

»Stimmt«, räumt Rene ein. »Aber warum willst du zu spät kommen? Wir können doch vor dem Kamin spielen. Vielleicht macht Mama uns sogar Pfannkuchen.«

Da hat Rene recht. Einen Nachmittag verbringen sie immer bei Ella, den nächsten bei Rene, und heute ist Rene dran. Renes Mutter macht ihnen Pfannkuchen mit Butter oder bringt ihnen Cracker und Käse. Manchmal brät sie jedem Mädchen eine Bratwurst, und dann essen sie sie mit Brot, das ins Bratfett getunkt wird. Sie müssen alles mit Robert teilen, aber er will meist nicht viel abbekommen und reicht Ella die Keksdose immer zuerst. Sollte das Essen nicht so gut sein wie bei Ella zu Hause, sagt Rene es jedenfalls nicht.

Ihr knurrt der Magen, und einen Moment lang erwägt Ella, ihren Plan sausen zu lassen. Aber nein – der Brief in ihrer Tasche wiegt schwer, so schwer, dass ihre Strickjacke auf einer Seite herunterhängt. Ihr Vater ist ein stiller Mann, was ihn umso angsteinflößender macht, wenn er wütend wird. Ella wünscht, er würde sie einfach anschreien, aber er lässt seine Wut nicht heraus. Die Mietshäuser auf beiden Seiten machen die Straße zu einer Schlucht, aus der es kein Entkommen gibt, sodass ihr nichts anderes übrig bleibt, als schnurstracks in ihr Verderben zu marschieren.

»Nein, lass uns in den Park gehen. Nicht weit, nur bis hinter dem Hügel.«

Renes Hand wird kurz schlaff, und Ella fürchtet, Rene an die vorwärtstreibende Schlucht verloren zu haben. Doch dann schließt sie sich wieder fest um Ellas.

»Also gut. Gehen wir in den Park.«

Ella lächelt und fühlt sich sofort besser. Sie ist sich ganz sicher, dass es ein guter Plan ist. So gut, als hätte sie ihn gar nicht selbst gefasst. Sie werden in den Park gehen. Sie werden sich verstecken, bis Ella sich sicher ist, dass sie vermisst werden. Dann werden sie nach Hause gehen. Ihre Mum wird so erleichtert sein, dass ihr der Brief von der Schulleiterin egal sein wird. Sie wird sich einfach nur freuen, dass die Mädchen in Sicherheit sind.

* * *

»Können wir jetzt gehen?«, fragt Rene zum fünften Mal.

»Nur noch fünf Minuten«, sagt Ella zum fünften Mal.

Niemand sonst ist im Park, fast niemand. Eigentlich ist es kein Park, sondern ein Stück unbebautes Land ganz oben am Ende der hügeligen Bedlay Street. Auf der anderen Seite des Hügels stehen ebenfalls Mietshäuser und die Sighthill Church, in die sie sonntags zum Gottesdienst gehen. In östlicher Richtung liegt der eingezäunte Petershill-Fußballplatz. Es gibt keine Bäume, aber alle bezeichnen dieses Stück Land als »Paddys Park«, und keiner weiß, warum.

Sie befinden sich unweit des Springburn Parks mit seinem Musikpavillon, den Wintergärten und überquellenden Blumenkübeln. Doch selbst Ella würde nicht einmal davon träumen, sich so weit von zu Hause wegzubewegen. In Paddys Park sehen sie aus wie das, was sie sind – zwei Kinder, die nach der Schule im Freien spielen.

Ella weiß nicht, wie lange sie schon hier sind. Es fühlt sich an wie Stunden, aber hier gibt es keine Uhr. Sie kann die Uhr schon gut lesen und mag Uhren. Manchmal drückt sie ein Ohr an die Uhr ihres Vaters und lauscht dem Ticken in dem Gehäuse, dem unsichtbaren Mechanismus, der wie eine winzige Fabrik hämmert und jeden einzelnen Moment fabriziert.

Ella sieht ihre Freundin an, die mit Blick nach Norden, weg von der Bedlay Street, auf dem Hügel sitzt und an den Schnallen ihres Ranzens herumspielt. Von hier aus können sie die Kirche sehen, und irgendwie haben sie das Gefühl, die Kirche könne auch sie sehen. Ella glaubt an IHN, hat aber mit SEINEN Geboten und Regeln zu kämpfen. Sie findet, der Priester übertreibt, wenn er ihr jeglichen Spaß verbietet.

Rene hustet.

Rene Mauchlen ist alles, was Ella nicht ist – blond, mit rosigen Wangen und (wenigstens nach Ellas Einschätzung) reich. Später wird Ella es lächerlich finden, dass sie Renes Familie für reich hielt. Sie wohnt in derselben Straße, in der gleichen Zweizimmerwohnung. Aber sie besitzt nicht nur ein Radio, sondern auch ein Grammofon und mehr als ein Dutzend glänzende Schallplatten. Es gibt immer Schokoladenpulver in der Kakao-Schublade und Kekse in einer Dose. Die Tür ihres gusseisernen Herds hat Messingscharniere, die bei der Gasbeleuchtung wie Goldbarren glänzen, während die Herdplatten in Ellas Wohnung einfach nur schwarz sind.

Und dann ist da natürlich die Gitarre.

Rene hustet jetzt minütlich, aber das ist Ella gewohnt. Rene hustet oder niest andauernd, vor allem im Winter. Sie hat sogenanntes Asthma, was wie eine Erkältung ist, nur dass es nicht wieder weggeht. Jeden Morgen muss sie deswegen Medizin einnehmen – eine Art Sirup, der angeblich nach Erdbeeren schmeckt, aber Rene sagt, er schmeckt, als ob man an einem Penny leckt. Wenn das Asthma besonders schlimm ist, kommt sie nicht zur Schule. Ella findet das klasse, aber Rene sagt, es macht keinen Spaß. Wenn kein Wind weht, rollt sich der Rauch von den Hausdächern und den Fabriken über der Stadt zusammen wie eine Katze auf einem Teppich. Dann ist das Asthma am schlimmsten. Rene setzt sich dann an den Rand des Schulhofs und sieht furchtbar konzentriert aus.

»Lass uns etwas spielen«, sagt Ella, aber in Gedanken ist sie ganz woanders. Jedenfalls muss sie dafür sorgen, dass Rene noch eine Weile hierbleibt.

»Hmmm …« Rene schaut sich in dem öden Park um. »Was denn?«

Ella seufzt und setzt sich neben die Freundin. »Ich sehe was, was du nicht siehst?«

»Okay. Ich fange an.« Rene denkt nach. Dann sagt sie: »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit … G an.«

Ella schaut in den grauen Himmel.

* * *

Als sie schließlich aufbrechen, ist der Himmel dunkel, und überall in der Bedlay Street sind die Lampen an. Auf den Dächern links und rechts der Straße rauchen die Schornsteine. Je kälter es wurde, desto stiller ist Rene geworden, aber sie atmet schnell. Wärmend legt sie die Arme um sich. Ella presst die Zähne zusammen, damit sie nicht vor Kälte klappern. Sie gehen die Straße bis zu Ellas Haustür mit der Gaslaterne hinunter. Das Licht flackert vor den flaschengrünen Kacheln der Hauswand, die jeden Dienstag geschrubbt werden. Sie könnten erst zu Rene gehen, wo sie ja erwartet werden, aber Eleanor will Rene an ihrer Seite haben, damit sie ihre Geschichte bestätigen kann, falls ihre Mutter ihr nicht glauben sollte.

Sie gehen die Treppe zum dritten Stock hinauf und klopfen an. Drinnen hören sie Geräusche, und dann macht Ellas Mum die Tür auf und steht mitten in einem goldenen Lichtschein. Sie trägt ihre Schürze, und ihre Haare stecken in Lockenwicklern aus Papier.

»Na, Mädels? Solltet ihr heute nicht bei Lorna sein?«

Lorna ist Renes Mum. Ella wird schlagartig klar, dass ihr Plan nicht funktioniert hat – sie waren die ganze Zeit draußen, und ihre Mum hat sie kein bisschen vermisst. Keines der Mädchen sagt etwas, und so stehen sie in der Wärme, die durch die offene Tür kommt, wie vor den Kopf geschlagen von ihrem Versagen.

»Dann kommt erst mal rein, bevor die Wohnung auskühlt. Kommt schon! Ich koche euch einen Tee.«

Ella und Rene folgen ihr, immer noch ganz verdattert. Hier gibt es zwei Zimmer, es sei denn, man zählt den Flur mit. Das erste Zimmer rechts ist Ellas. Das zweite ist das Wohnzimmer, in dem Ellas Eltern auf einem Klappbett schlafen. Sie gehen hinein, und Ella zittert vor Hitze, die ihr den Rücken hochkriecht. Es brennt ein Feuer, und etwas blubbert in einem Topf auf dem Herd. Es riecht nach Bügelwäsche.

»Was möchtet ihr, Mädels? Hat Lorna euch schon etwas zu essen gegeben?«

Ellas Mum dreht sich um und spricht Rene an, die aber nicht antworten zu können scheint. Ella möchte etwas sagen, womit sie ihren Plan doch noch retten kann, aber ihr fällt nichts ein, bevor ihre Mum sagt:

»Rene? Alles in Ordnung, Süße? Du bist ganz blass.«

Ella sieht ihre Freundin an, die mit weit aufgerissenen Augen dasteht. Ella glaubt, es liegt daran, dass sie beim Lügen erwischt worden sind. Rene öffnet und schließt den Mund ein paarmal, wie ein Fisch, der ans Flussufer gespült wurde, dann tritt sie einen Schritt vor.

»Rene?«

Ellas Mum tritt im selben Moment einen Schritt vor, gerade rechtzeitig, um Rene aufzufangen. Sie greift dem Mädchen unter die Arme, aber Rene rollt der Kopf auf eine Schulter. Sie ist ohnmächtig geworden.

Ella steht einfach nur da. Was kann sie tun? Sie versteht nicht, was hier vorgeht. Immerhin scheint ihre Mutter es zu verstehen. Stöhnend hebt sie sie hoch.

»Weg da«, sagt sie, aber Ella rührt sich nicht und steht ihrer Mutter im Weg. »Bewegung, Eleanor!«

»Wo willst du denn hin?«

»In dein Zimmer.« Ihre Mutter geht an ihr vorbei, und Ella sieht die verschrammten Sohlen von Renes Schuhen an ihrem Gesicht vorbeiziehen.

»Mein Zimmer? Warum?«

»Weil ich da noch kein Feuer angezündet habe und das Bett gemacht ist.«

»Was hat sie denn?«

»Sie ist ein bisschen durch den Wind. Wahrscheinlich weil es hier drinnen so warm ist und sie ganz durchgefroren war.«

Ella folgt ihr in den Flur, und ihre Mutter schaut sich zu ihr um.

»Wo kommt ihr jetzt her?«

Ella senkt den Blick und sagt nichts. Schuld rumort in ihrem Bauch. Ihre Mutter stößt die Zimmertür mit Renes Füßen auf. Die Lampen brennen noch nicht, Holzscheite liegen zum Anzünden bereit im Kamin. Aus dem Wohnzimmer dringt kaum Wärme bis hierher, und Ella sieht ihren dampfenden Atem. Als Rene auf ihrem Bett liegt, geht ihre Mutter ins Wohnzimmer zurück, um Wasser und eine Kerze zu holen, mit der sie die Lampen anzündet.

Ella tritt zu ihrer Freundin ans Bett. Sie haben öfter zusammen gespielt, dass eine von ihnen Dornröschen oder Schneewittchen war und auf den Kuss des Prinzen wartete, aber Rene konnte nicht gut stillliegen – sie ist ein Zappelphilipp und stets darauf gefasst, dass jemand sie durchkitzeln will. Jetzt aber spielt sie diese Rolle perfekt. Ella streckt die Hand aus, um Renes Wange zu berühren, als deren Lider zucken. So erschrocken, als hätte sie sich verbrannt, zieht Ella die Hand zurück.

»Rene?«

Ihre Freundin macht ein Geräusch, das kein Wort ist, bevor Ellas Mutter mit einer brennenden Kerze zurückkommt.

»Bist du wieder bei uns, Süße?«

Ellas Mutter schaut auf Rene hinab, deren Gesicht das flackernde Licht der brennenden Kerze widerspiegelt, wie auf einem Gemälde von Florence Nightingale.

»Mm«, macht Rene. Besser kann sie im Moment wohl nicht sprechen.

»Gut.«

Ellas Mum stellt sich auf die Zehenspitzen, um die Lampen anzuzünden, indem sie die Kerze an den rußgeschwärzten Lampendocht hält, bis eine Flamme hochschießt, die Ellas Mum durch eine Drehung des Rädchens bändigt, mit dem man den Docht hoch und runter schrauben kann. Obwohl sie seit zwei Jahren Strom in der Wohnung haben, hat der Hausbesitzer die Gaslampen nie ersetzt. Morgen soll ein Mann kommen, der sie abmontieren und brandneue elektrische Lampen installieren wird. Ella kann es gar nicht erwarten. Sie glaubt, man wird sich dann vorkommen, als lebte man in der Zukunft.

Ihre Mutter kommt ans Bett und schiebt Ella zur Seite.

»Trink einen Schluck, Süße. Dann geht es dir besser.«

Rene nickt, versucht, den Kopf vom Kissen zu heben, und schafft es nicht. Eleanors Mum hebt ihr den Kopf an und führt ihr das Glas an die Lippen.

»Ich wünschte, dein Dad wäre zu Hause …«, murmelt sie in Ellas Richtung, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann sagt sie deutlich bestimmter: »Eleanor, geh und hole Lorna. Hole Mrs. Mauchlen.«

»Mam?«

»Tu’s einfach, Eleanor.«

* * *

Als Ella mit Mrs. Mauchlen im Schlepptau zurückkehrt, sitzt Rene aufrecht im Bett, nippt Tee und isst eine Scheibe Toastbrot mit Butter. Sie ist blass und hustet ein paarmal so stark, dass ihr die Augen tränen, aber sie versichert allen, es gehe ihr gut. Mrs. Mauchlen hat den ganzen Weg lang die Hände gerungen und gejammert und ist sichtlich böse auf Ella, die nicht erklären kann, was passiert ist. Beide werden jetzt ausgeschimpft, weil sie so lange draußen waren, aber von einer Strafe ist nicht die Rede. Rene klettert ihrer Mutter auf den Rücken, um sich nach Hause tragen zu lassen, und legt ihr die Arme um den Hals.

Als sie aus der Wohnung treten, schaut Rene Ella über die Schulter an, und Ella sieht, dass sie ihr durch ihren Blick etwas mitteilen will, aber Ella weiß nicht, ob es Reue, eine An- oder Entschuldigung sein soll. Später wird ihr das zu schaffen machen. Obwohl sie sich genau an diesen Blick erinnern kann, weiß sie immer noch nicht, was er zu bedeuten hatte. Dann verschwinden die beiden.

* * *

Ein neuer Tag bricht an. Ella schwingt die Beine aus dem Bett, ihre Zehen sinken in den farbenfrohen Teppich, den ihre Mum aus Stoffresten gemacht hat – Stoffreste, die sie in Stramin geflochten hat. Als sie in der Schule 1001 Nacht lasen, hat Ella sich die fliegenden Teppiche wie ihren vorgestellt. Jetzt ist er kälter, als sie erwartet hat. Im Nachthemd geht sie ans Fenster, und statt den Vorhang zur Seite zu ziehen, geht sie darum herum und stellt sich vor ihn, als beträte sie eine Bühne.

Es hat geschneit. Ist es dafür nicht zu früh? Ella ist sich nicht sicher. Aber es hat geschneit. Bestimmt ist es kein guter Schnee. Keiner für Schneebälle oder einen Schneemann oder zum Rodeln. Ein dünnes weißes Tuch, das Straßen und Dächer bedeckt, so weit Ella sehen kann. Jede Regenrinne ist auf einer Seite mit Eis bedeckt, und die Dachziegel sind wie versilbert. Nur die warmen Schornsteine sind schneefrei.

Sie weiß, dass es nicht stimmt, aber Ella wird das Gefühl nicht los, dass heute Weihnachten ist. Ein Tag mit Geschenken, besonderem Essen und ohne Schule. Es ärgert sie, dass sie diesen Gedanken nicht loswird, denn sie wird sehr enttäuscht sein, wenn sie ihre Schuluniform anziehen muss. Ohne Rene macht die Schule keinen Spaß, und die war schon die ganze Woche nicht da, seit sie den Nachmittag im Park verbracht haben.

Schlafen kann Ella jetzt nicht mehr. Lieber schaut sie einmal nach, ob ihre Eltern im Nebenzimmer schon wach sind. Manchmal blinzelt sie durch den Türspalt, um zu sehen, ob das Klappbett schon weggeräumt ist. Wenn das nicht der Fall ist und sie sieht, wie sich die Körper ihrer Eltern asynchron heben und senken, setzt sie sich in den Flur und summt Lieder, bis sie aufwachen und sie bemerken. Manchmal krabbelt sie dann zwischen sie in ihr Bett, obwohl ihr Dad das nicht mag. Ella liebt diese Morgen.

Heute ist die Sache klar. Das Bett ist weg, und die Tür steht ein Stück offen. Es leuchtet sanft – die Lampen sind angezündet. Und für einen Schultag riecht es seltsam. Nach gebratenem Speck. Ella atmet tief ein und kann es nicht fassen. Sie hat tatsächlich die Zeit vorgespult und es ist Weihnachten, das ist die einzige Erklärung, die ihr einleuchtet.

Unwillkürlich muss sie lächeln, geht weiter, ergreift den Türknauf und tritt in die Wärme und das Licht und den Duft des Zimmers. Sie steht an der Stelle, wo vorher das Klappbett gestanden hat, und schaut ihre Mutter und ihren Vater erwartungsvoll an, die bestimmt schon mit Geschenken auf sie warten.

Sie haben sie nicht gesehen.

Beide drehen ihr den Rücken zu, ihre Mutter beugt sich über den eisernen Herd und bewegt den Speck in der Pfanne mit dem Holzlöffel, den sie beim Kochen für alles benutzt – für süße Klöße, Zwiebelsuppe, Reispudding mit Marmelade. Meist sitzt Ellas Vater dann auf einem Stuhl, poliert seine Schuhe oder schneidet sich die Fingernägel. Immer ganz ruhig und verschlossen, als sei er noch nicht richtig wach und bewegte sich in Trance.

Aber heute sitzt er nicht auf seinem Stuhl, sondern steht neben Ellas Mutter, eine Hand auf ihrer Schulter. Inzwischen ist Ella fest davon überzeugt, dass heute wenn schon nicht Weihnachten, so doch ein besonderer Tag ist, und zum ersten Mal ahnt sie, dass etwas nicht stimmt. Einen Moment lang beobachtet sie ihre Eltern und gerät in Versuchung (wie immer, wenn sie unbemerkt in ein Zimmer kommt), sich anzuschleichen und die beiden zu erschrecken.

»Morgen.«

Sie spricht fröhlich, aber nicht zu laut. Trotzdem drehen sich ihre Eltern erschrocken zu ihr um.

»Eleanor!«, sagt ihre Mutter und macht einen zögerlichen Schritt auf sie zu, den Holzlöffel in der Hand. Ihr Vater rührt sich nicht und sagt auch nicht Guten Morgen. Ihre Mutter scheint es sich anders zu überlegen und geht in dem kleinen Zimmer nicht weiter auf sie zu.

Ella umrundet das niedrige Sofa, auf dem sie abends mit ihrer Mutter sitzt, während ihr Dad seinen Platz im Sessel gegenüber von ihnen hat. Ohne das Sofa als Barriere sieht sie, dass etwas auf dem Läufer vor dem Herd liegt. Sie bleibt stehen. Also hatte sie doch recht – es ist Weihnachten, oder sie hat Geburtstag, oder es ist irgendein anderer besonderer Tag, den man nicht jedes Jahr feiert. Ihre Eltern haben ein Geschenk für sie. Ein großes.

Sie betrachtet es. Woher wussten sie, dass sie genau das wollte? Woher wussten sie, dass sie genau so eine Gitarre wie Renes haben wollte?

Nein.

Keine Gitarre wie Renes, sondern Renes Gitarre. Der blaue Koffer mit dem aufgemalten vierfarbigen Apfelbaum – Hell- und Dunkelbraun für den Stamm, Grün für die Blätter und Rot für die Äpfel. Sie kennt diese Malerei von Renes Pa genau, wie ein Gesicht, in dem ihr jede Asymmetrie, jede Falte vertraut ist. Ihre Eltern sagen nichts. Ella sagt nichts. Schweigend kniet sie sich hin.

Ella hat noch nie einen Kindersarg gesehen. Sie war nur auf der Beerdigung ihrer Großtante Lydia. Plötzlich bekommt sie das komische Gefühl, dass sie eine Leiche sehen wird, wenn sie den Deckel aufklappt. Natürlich ist der Koffer dafür nicht groß genug – die Beine lägen zusammengequetscht in dem langen Halsteil.

»Mrs. Mauchlen ist heute Morgen vorbeigekommen …«, fängt ihr Vater an, aber ihre Mutter legt ihm eine Hand auf den Arm, und er hört sofort auf zu sprechen.

Ella krümmt sich über den Koffer und legt eine Hand darauf, dann tastet sie den Deckel ab und öffnet die Schnallen. Sie hebt den Deckel an, der dabei knarzt. In der warmen Beleuchtung des Zimmers ist Renes Gitarre schöner denn je. Ellas Blick wandert über das Blumenmuster rund um das Schallloch, die schimmernden Wirbel, das dicke Samtfutter des Koffers.

Trotz alledem will Ella die Gitarre nicht haben. Sie spürt kein Verlangen nach dieser Gitarre, will sie weder besitzen noch berühren. Diese Abwesenheit von Verlangen ist das Beunruhigendste, was sie je empfunden hat, denn sie ist komplett und allumfassend. Ella denkt, dieses Nicht-Wollen muss ein Versehen sein, und greift nach der Gitarre.

Langsam hebt sie sie an Hals und Korpus aus dem Koffer und legt sie sich auf die Knie. Die Saiten rührt sie nicht an. Sie will keinen Ton hören. Sie legt beide Hände auf die Saiten, damit sie schweigen, als hielte sie sich eine Hand vor den Mund. Sie hofft, die Gitarre schweigt für immer.

* * *

Ella nimmt an, dass sie immer noch auf Rene wartet, weil sie ein Kind ist. Sie bezweifelt, dass Erwachsene erwarten, ihre verstorbenen Freunde an der nächsten Straßenecke oder auf den Stufen vor ihrer Haustür zu sehen, wo die Verstorbenen sitzen und auf einen warten, weil sie mit einem spielen wollen. Sie bezweifelt, dass sie den gleichen Stich in der Magengrube spüren, wenn sie an die Verstorbenen denken. Sie bezweifelt, dass Erwachsene menschenförmige Löcher in der Welt sehen. So etwas Dummes passiert einem nur als Kind, denkt sie und kann gar nicht abwarten, bis sie zu groß dafür wird.

Sie geht zur Beerdigung, und nichts deutet unter all den Klassenkameradinnen darauf hin, dass sie Renes beste Freundin war. Irgendwo in der Menge erspäht sie Robert, aber sie spricht nicht mit ihm. Er trägt ein schwarzes Jackett und eine schwarze Krawatte, schwarze Shorts und eine schwarze Kappe. Das alles muss extra für die Beerdigung angeschafft worden sein. Ella findet, mit seinen dürren weißen Beinen sieht er aus wie eine Krähe. Sie sieht, wie alle möglichen Verwandten ihn umarmen. Es wirkt, als wollten sie den Atem aus ihm herauspressen, und am liebsten hätte Ella ihnen befohlen, damit aufzuhören. Robert steht einfach nur da und rührt sich nicht, bis sie von ihm ablassen.

In der Schule setzt Ella sich jetzt an den Rand des Schulhofs. Nicht weil sie trauert, sondern weil sie nicht weiß, was sie sonst tun soll. Nach der Schule geht sie jeden Tag nach Hause, verbringt die Abende mit ihren Eltern und hört mit halbem Ohr, was im Radio läuft, bis es Zeit wird, ins Bett zu gehen, was sie dann klaglos tut. Sonntags gehen sie zur Kirche, aber die Samstage ziehen sich endlos in die Länge, so lang wie der gesamte Rest der Woche.

Ella verschwindet im Hintergrund. Die Menschen nehmen kaum noch Notiz von ihr. Sie wird zu einer Art Geist. Das macht ihr nichts aus. Schließlich ist es ja ihre Schuld.

* * *

Einen Monat nach der Beerdigung sitzt Ella auf einer niedrigen Mauer am Rand des Schulhofs, den Rücken an den Zaun gelehnt. Sie betrachtet ihren eigenen Schatten. Die Dezembersonne scheint eigentlich nicht, aber die Wolkendecke ist sehr dünn. Während sie so dasitzt, nähert sich ein anderer Schatten und überkreuzt ihren, sodass ein Fleck entsteht, der dunkler ist als jeder einzelne Schatten.

»Hallo, Eleanor.«

Sie schaut auf und sieht eindrucksvolle rotbraune Locken, die ein ernstes Gesicht wie ein Heiligenschein umspielen. Würde Ella sagen, Robert Mauchlen sehe wie ein Engel aus, wäre es nicht unbedingt ein Kompliment. Er sieht aus wie einer dieser Engel aus dem Alten Testament, die sie aus der Kirche kennt und denen der Allmächtige heikle Aufträge erteilt hat – den Teufel zu verbannen, Adam und Eva aus dem Paradies zu vertreiben, über Ägypten hinwegzurauschen und die Seelen aller erstgeborenen Kinder zu rauben. Robert sieht aus, als hätte er etwas auf dem Herzen, mehr als jeder andere gewöhnliche Neunjährige.

Ella hat diesen Augenblick schon erwartet. Sogar darauf gehofft. Sie möchte von Robert beschimpft werden. Er soll sie anschreien. Ihr die Schuld an Renes Tod geben. Angst kriecht ihr in den Bauch, aber sie freut sich schon auf die Erleichterung, die eine Strafe mit sich bringen würde. Robert steht da, als wolle er etwas sagen. Aber die Worte kommen nicht heraus. Dann schnellt seine Hand vor, und er legt Ella etwas in den Schoß. Daraufhin setzt er sich neben sie.

Ella fühlt ihr Herz rasen. Das Ding in ihrem Schoß ist in braunes Papier eingewickelt. Sie nimmt an, dass es etwas Ekliges ist. Ein Hundehaufen zum Beispiel. Oder Insekten – eine Handvoll Ohrenkneifer und Tausendfüßler. Sie widersteht dem Impuls, das Päckchen auf den Boden zu werfen, und fasst es an einer Ecke mit Daumen- und Zeigefingerspitze an. Das braune Papier öffnet sich beinahe wie eine Blume.

Mitten auf dem Papier liegt das größte Stück Tablet, das Ella je gesehen hat. Von allen Süßigkeiten, die Ella und Rene am liebsten mochten – Saure Pflaumen, Brausestangen, Pfefferminzbonbons –, waren Butter-Tablets ihre allerliebsten. Mrs. Mauchlen macht sie selbst aus einer Dose Kondensmilch und einer großen Tüte Zucker in einer Pfanne, und dann rührt sie um, bis ihr der Arm wehtut und das Ganze sich zu einer Masse verbindet, die an den Rändern krümelig und in der Mitte ganz weich ist. Ellas Mum kann das nicht; sie lässt die Masse zu lange kochen, sodass sie hart wie Karamell wird.

Ella bricht ein Stückchen ab und steckt es sich in den Mund. Der Zucker legt sich an ihren Gaumen, kitzelt im Rachen, und es dauert ein Weilchen, bis Ella glauben kann, dass es echtes Tablet ist. Schnell wickelt sie den kostbaren Rest wieder ein und steckt ihn unter ihre Strickjacke, bevor jemand mitbekommt, was sie da hat. Dann überlegt sie, was sie zu Robert sagen soll. Stattdessen stellt er ihr eine Frage.

»Was tust du am liebsten?«

Früher hätte Ella gesagt, am liebsten spielt sie mit Rene.

»Radio hören.«

»Ach ja?« Robert hebt die Augenbrauen. »Was denn?«

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