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Winterglühen

hier erhältlich:

Kleine Stadt – große Gefühle!

Rosie Cox liebt ihre Heimatstadt. Trotzdem ist es manchmal anstrengend, wie sehr sich die Menschen hier für die Angelegenheiten ihrer Nachbarn interessieren. Inzwischen weiß jeder, dass sie und ihr Mann Zach sich vor kurzem haben scheiden lassen, und dass Richterin Olivia eine sehr ungewöhnliche Sorgerechtsvereinbarung entschieden hat. Es werden nicht die Kinder sein, die die Wohnung wechseln, sondern Zach und Rosie. Endlich sind sich die beiden wieder einmal einig: Das kann nur schiefgehen


  • Erscheinungstag: 27.10.2020
  • Aus der Serie: Cedar Cove
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675840
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Freunde,

willkommen in Cedar Cove, Washington, ganz gleich, ob ihr zum ersten Mal hier seid oder zum dritten Mal. Winterglühen ist der dritte Band dieser Buchreihe. Es ist immer etwas los in Cedar Cove, und die Bewohner freuen sich, dass ihr euch entschieden habt, an ihrem Leben Anteil zu nehmen. Olivia, Grace, Jack, Charlotte und all die anderen brennen darauf, euch über sämtliche Entwicklungen und Ereignisse zu informieren. Auch diesmal erwarten euch Rätsel, Geheimnisse, Liebesgeschichten und eine Menge Spaß.

Wer von euch in einer Kleinstadt lebt, so wie ich, wird feststellen, dass es in Cedar Cove nicht anders zugeht als in anderen Kleinstädten überall auf der Welt. Die Inspiration für diese Buchreihe lieferte mir meine eigene Heimatstadt Port Orchard in Washington. Dort gibt es tatsächlich eine Stadtbücherei mit einem Wandgemälde auf der Frontseite des Gebäudes, einen Jachthafen, einen Park am Wasser und jede Menge netter Leute. (Die Griesgrame und Miesepeter leben selbstverständlich alle in Olalla!) Natürlich entspringen die Menschen in diesem Buch nur meiner Fantasie, und etwaige Ähnlichkeiten mit Bewohnern meiner Heimatstadt sind rein zufällig.

Jetzt taucht ein in das Leben meiner guten Freunde in Cedar Cove, und lauscht ihren Geschichten.

Übrigens würde ich mich freuen, von euch hören. Erreichen könnt ihr mich über P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366 oder über meine Webseite unter www.debbiemacomber.com. Und jetzt lehnt euch zurück, macht es euch bequem, und habt viel Spaß beim Lesen …

Liebe Grüße

Debbie Macomber

Die Hauptpersonen

Olivia Lockhart: geschiedene Familienrichterin in Cedar Cove, Mutter von Justine und James. Wohnt in der Lighthouse Road Nummer 16.

Charlotte Jefferson: verwitwete Mutter von Olivia, wohnt schon ihr ganzes Leben lang in Cedar Cove.

Justine (Lockhart) Gunderson: verheiratet mit dem Fischer Seth Gunderson, Mutter von Leif.

Seth Gunderson: verheiratet mit Justine. Dem Paar gehört das Lighthouse Restaurant.

Stanley Lockhart: von Olivia geschieden, Vater von James und Justine. Lebt in Seattle.

Will Jefferson: Olivias Bruder, Charlottes Sohn. Verheiratet, lebt in Atlanta.

Grace Sherman: Olivias beste Freundin, Bibliotheksleiterin, Mutter von Maryellen und Kelly. Verwitwet, lebt in der Rosewood Lane Nummer 204.

Maryellen Sherman: älteste Tochter von Grace und Dan, Geschäftsführerin der Kunstgalerie in der Harbor Street, Mutter von Katie. Geschieden.

Kelly Jordan: Maryellens jüngere Schwester, verheiratet mit Paul, Mutter von Tyler.

Jon Bowman: Kunstfotograf und Küchenchef, Vater von Maryellens Tochter Katie.

Jack Griffin: Zeitungsreporter und Chefredakteur des Cedar Cove Chronicle.

Zachary Cox: Steuerberater, Vater von Allison und Eddie Cox, geschieden von Rosie Cox. Der Wohnsitz der Familie befindet sich im Pelican Court Nummer 311.

Rosie Cox: geschiedene Frau von Zachary Cox, arbeitet als Lehrerin und teilt sich das Sorgerecht für die Kinder mit ihrem Ex-Mann.

Cliff Harding: Ingenieur im Ruhestand und Pferdezüchter, geschiedener Vater von Lisa, die in Maryland lebt. Grace Sherman und er führen eine wechselhafte, komplizierte Beziehung. Er wohnt in der Nähe von Cedar Cove.

Cecilia Randall: Ehefrau des Marinesoldaten und ehemaligen U-Boot-Fahrers Ian Randall, Buchhalterin. Hat ihre Tochter Allison kurz nach der Geburt verloren.

Bob und Peggy Beldon: beide im Ruhestand. Sie haben zwei erwachsene Kinder. Dem Ehepaar gehört das Thyme and Tide, eine Pension im Cranberry Point Nummer 44.

Roy McAfee: pensionierter Polizist aus Seattle, jetzt Privatdetektiv, verheiratet mit Corrie McAfee, die sein Büro führt. Sie haben zwei erwachsene Kinder. Er lebt in der Harbor Street Nummer 50.

Troy Davis: Sheriff von Cedar Cove. Wohnt am Pacific Boulevard Nummer 92.

Warren Saget: Bauunternehmer, ehemals mit Justine Gunderson liiert.

Dave Flemming: Methodistenpastor, verheiratet mit Emily, zwei Söhne. Das Ehepaar wohnt im Sandpiper Way Nummer 8.

1. Kapitel

Kaum hatte Rosie Cox das Familiengericht von Cedar Cove betreten, übermannte sie erneut das Gefühl, kolossal gescheitert zu sein. Obendrein fühlte sie sich verraten und betrogen. Wer würde nicht so empfinden? Nach siebzehn Jahren Ehe – die sie für äußerst gut gehalten hatte – war es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass Zach ihr untreu sein könnte.

Er hatte seine Affäre nie zugegeben. Und obwohl sie ihren Mann weder in einer kompromittierenden Situation überrascht noch klare Beweise für seinen Seitensprung gefunden hatte – keine Streichholzbriefchen aus teuren Restaurants, keine Quittungen für Schmuckkäufe, keine Motelrechnungen –, wusste sie in ihrem Herzen Bescheid. Jede Ehefrau hat ein Gespür dafür, wenn der Mann nicht treu ist.

Rosie hatte sich diese Wahrheit eingestanden. Sie war wütend und hatte ihrer Wut freien Lauf gelassen, indem sie die Scheidung so kompliziert und schwierig machte, wie es ihr nur irgend möglich war. Warum hätte sie Zach schonen oder ihre Ehe kampflos aufgeben sollen? Nein, sie hatte gekämpft, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen.

Als sie sich, die Scheidungsurkunde in der Hand, von der Richterin abwandte, wurde ihr klar, dass sie schon wieder einem Irrtum erlegen war.

Rosie war davon ausgegangen, dass die ganze Wut und Verbitterung der letzten grauenvollen Monate sich verflüchtigen würden, wenn die Scheidung erst einmal rechtsgültig war. Falsch gedacht. Ihr war eine noch schwerere Last auferlegt worden. Denn als sie der Richterin den mühsam ausgehandelten Vertrag über das gemeinsame Sorgerecht vorlegten, lehnte diese die Vereinbarung ab.

Stattdessen wies Olivia Lockhart darauf hin, dass es für die psychische und emotionale Stabilität der Kinder schädlich sei, sie alle paar Tage zwischen den Wohnungen der Eltern hin und her pendeln zu lassen. Allison und Eddie bräuchten ein geordnetes Leben, erklärte Richterin Lockhart. Außerdem hätten die beiden Kinder nicht um die Scheidung gebeten. Manche Leute hielten die Urteilssprüche der Richterin für innovativ, aber Rosie sah das anders. Ihrer Meinung nach mischte sie sich vielmehr ungebührlich ein. Oder hatte gar den Verstand verloren. Denn – verrückter ging es wohl kaum – sie hatte den Kindern das Haus zugesprochen, und das bedeutete, dass Rosie und Zach ständig hin und her ziehen mussten.

Wenn das nicht lächerlich war! Und absolut unmöglich.

Nun, da die Scheidung rechtskräftig war, würden Rosie und Zach sich eine Lösung für ihre Wohnsituation einfallen lassen müssen. Noch bevor sie den Gerichtssaal verlassen hatte, dämmerte Rosie, wie ungeheuerlich sich die richterliche Forderung, der sie trotz allem zugestimmt hatten, auf ihr Leben auswirken würde.

»Rosie«, wandte sich ihre Anwältin Sharon Castor an sie, als sie im stillen Gang vor dem Gerichtssaal standen. »Wir müssen uns mit Ihrem Ex-Mann besprechen.«

Ein Blick in Sharons Gesicht genügte, und Rosie wusste, dass die Juristin genauso fassungslos war wie sie.

Otto Benson, Zachs Anwalt, trat zu ihnen. Obwohl er sich äußerlich ruhig gab, verriet seine Miene seine Anspannung. Rosie wagte es nicht, Zach anzusehen. Tatsächlich hatte sie es vermieden, ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen, seit sie den Gerichtssaal betreten hatte.

»Wir sollten uns ein Besprechungszimmer suchen, um über die Einzelheiten zu reden«, schlug Otto Benson vor.

Prüfend betrachtete Rosie ihren Ex-Mann, der hinter seinem Anwalt stand. Er wirkte kein bisschen glücklicher mit der richterlichen Entscheidung, als sie selbst es war, aber sie wäre lieber tot umgefallen, als ihm zu zeigen, wie sie sich fühlte.

»Rosie und ich sollten das Problem auch allein lösen können«, erklärte Zach leicht verärgert.

Wenn man bedachte, wie die ganze Sache bisher gelaufen war, standen die Erfolgsaussichten dafür schlecht. »Darf ich dich daran erinnern, dass wir wochenlang um unsere Lösung für das gemeinsame Sorgerecht gefeilscht haben?«, erwiderte sie. Es bereitete ihr Vergnügen, ihm unter die Nase zu reiben, was für ein Blödmann er gewesen war. Vermutlich hoffte Zach darauf, weitere Anwaltskosten zu sparen. Pech für ihn. Wenn ihm weniger Geld blieb, das er für seine Freundin ausgeben konnte, war das nicht ihr Problem.

Die Hände zu Fäusten geballt, knurrte Zach etwas Unverständliches vor sich hin. Wahrscheinlich ist es besser, dass ich das nicht gehört habe, dachte Rosie, stolz auf die Selbstbeherrschung, die sie aufbrachte.

»Was verleitet dich zu der Annahme, dass wir uns ohne Vermittler auf irgendetwas einigen können?«, fragte sie sarkastisch.

»Na schön«, murrte Zach und zog dabei einen Schmollmund, der Rosie an ihren neunjährigen Sohn erinnerte. Als sie ihren Ex-Mann jetzt anschaute, konnte sie kaum glauben, dass sie Zachary Cox jemals geliebt hatte. Er war nicht nur selbstgefällig, streitsüchtig und selbstgerecht, sondern hatte auch keine Ahnung, was es bedeutete, ein Ehemann und Vater zu sein. Zugegeben, Zach war zweifellos ein gutaussehender Mann. Mehr noch, seine äußere Erscheinung spiegelte den erfolgreichen Geschäftsmann wider, den Profi. Obwohl ihrer Meinung nach jeder, der ein bisschen Verstand besaß, ihn sofort als Buchhalter abstempeln würde. Um seine dunklen Augen lag ein verkniffener Zug, so als verbrächte er zu viele Stunden des Tages damit, Tabellen mit winzigen Zahlen zu betrachten. Dennoch wirkte er mit seinen breiten Schultern – die von seinem teuren Anzug vorteilhaft betont wurden – und seinem dichten dunklen Haar durchaus attraktiv. Früher war er Wettkampfsportler gewesen, und auch heute noch lief er regelmäßig seine Runden und hielt sich fit.

Seine straffen Muskeln hatten Rosie immer begeistert, wenn sie ihm beim Liebesakt mit den Händen über den Rücken gestrichen hatte. Natürlich war es inzwischen Monate her, dass sie ein Bett miteinander geteilt hatten, und ihr letztes Liebesspiel lag noch sehr viel länger zurück.

Rosie konnte sich nicht einmal an das letzte Mal erinnern. Wenn sie gewusst hätte, wie das Ganze enden würde, hätte sie es vielleicht mehr zu schätzen gewusst, wäre länger neben ihrem Mann liegen geblieben und hätte seine Umarmung intensiver genossen. Eines stand jedenfalls fest: Seit dem Tag, an dem ihr Mann Janice Lamond als seine persönliche Assistentin eingestellt hatte, hatte er kein Interesse mehr an Rosie gezeigt.

Der Gedanke daran, wie ihr Mann eng umschlungen mit Janice dalag, drohte sie fast zu ersticken, und sie schob das Bild vor ihrem geistigen Auge mit Gewalt beiseite. Zorn und Abscheu gegen die Untreue ihres Mannes – nein, ihres Ex-Mannes – stiegen ihr bitter in die Kehle.

Zachs erhobene Stimme holte sie zurück aus ihrer Gedankenwelt. Anscheinend hatte er sich damit einverstanden erklärt, dass ihre Anwälte sich mit der zusätzlichen Komplikation ihres Scheidungsurteils befassten. Otto Benson bemühte sich gerade um ein leeres Besprechungszimmer.

Nachdem man ihnen in der Gerichtsbibliothek einen Raum zugewiesen hatte, in dem sie sich ungestört besprechen konnten, setzten Zach und sein Anwalt sich an eine Seite des Tisches, Rosie und ihre Anwältin an die gegenüberliegende Seite.

Selbst ihre Anwälte wirkten überfordert mit der Situation. »Ich kann nicht behaupten, jemals von einem solchen Urteil gehört zu haben«, eröffnete Sharon das Gespräch.

»Geht mir genauso.« Otto Benson runzelte die Stirn. »Dass ich so etwas noch erlebe!«

»Fein«, meinte Zach kurz angebunden. »Es ist ein ungewöhnliches Urteil, aber wir sind beide erwachsen. Wir können eine Lösung dafür finden. Mir war es ernst damit, den Kindern Priorität einzuräumen.« Dabei funkelte er Rosie zornig an, als wollte er unterstellen, ihr wäre es einerlei gewesen.

»Wenn das tatsächlich so wäre, hättest du dir zweimal überlegt, ob du mit diesem Flittchen schläfst.« Eigentlich hatte Rosie sich nicht streiten wollen, aber wenn ihr Ex-Mann wirklich besorgt um das Wohlergehen ihrer Kinder wäre, hätte er nicht sein Ehegelübde gebrochen.

»Ich weigere mich, diese Bemerkung einer Antwort zu würdigen«, presste Zach zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Außerdem, wenn du öfter zu Hause gewesen wärst, statt dich für jede nur denkbare Sache freiwillig zu melden, jede nur denkbare Sache außer deinen Kindern, dann …«

»Und ich bin nicht bereit, dir zu gestatten, mir die Schuld für das zu geben, was du getan hast«, fiel Rosie ihm ins Wort. Ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten waren Zach ein Dorn im Auge. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie jedes Ehrenamt aufgeben und sich eine bezahlte Arbeit suchen müssen. Hoffentlich war er jetzt zufrieden, denn zum ersten Mal seit der Geburt der Kinder war Rosie nicht mehr Vollzeitmutter.

»Ich dachte, wir sitzen hier zusammen, um über das Scheidungsurteil zu sprechen«, meinte Zach mit gelangweilter Miene, die er offensichtlich vor allem ihretwegen aufgesetzt hatte. »Wenn wir stattdessen nur Beleidigungen austauschen wollen, würde ich es vorziehen, unsere Anwälte nicht dafür zu bezahlen, dass sie zuhören.«

Er hat recht, ging es Rosie durch den Kopf. Es verschaffte ihr eine kleine Befriedigung, dass Zach für die Honorare beider Anwälte aufkommen musste. Schließlich war er derjenige mit dem hochbezahlten Job, während sie im Moment Auffrischungskurse belegte, um mit ihrem Lehrerdiplom etwas anfangen zu können. Auffrischungskurse, die ebenfalls Zach bezahlte. Ein weiterer Triumph für sie, ein weiteres Zugeständnis von ihm.

Sie hatte sich bereits beim South Kitsap School District beworben, und angesichts ihrer Beziehungen sollte sie keine Schwierigkeiten haben, im September als Aushilfslehrerin eingestellt zu werden.

»Lassen Sie uns eine Liste der Dinge erstellen, auf die wir uns einigen können«, kam Sharon kurzerhand zur Sache, ohne die Feindseligkeit zwischen Rosie und Zach zu beachten. »Obwohl Ihre Ehe zu Bruch gegangen ist, erklären Sie beide, dass die Bedürfnisse Ihrer Kinder für Sie absolute Priorität haben.«

Sie nickten beide.

Sharon lächelte. Sie agierte stets nüchtern und sachlich. »Gut, dann haben wir eine vernünftige Ausgangsbasis.«

»Ich möchte Ihnen beiden zu Ihrer Einstellung gratulieren«, ergriff Otto Benson das Wort und holte einen Notizblock aus seiner Aktentasche, als wollte er beweisen, dass er sein Honorar verdiente. Zach hatte sich den bestmöglichen Juristen gesucht, und Rosie hatte es ihm gleichgetan. Dementsprechend hoch fielen ihre Anwaltskosten aus.

»Oh ja«, meinte Zach sarkastisch. »Wenn wir noch ein bisschen besser miteinander auskämen, wären wir vielleicht sogar verheiratet geblieben.«

»Du weißt, wer an dieser Scheidung die Schuld trägt«, fauchte Rosie.

»Oh ja, das weiß ich«, parierte er. »An wie vielen Abenden warst du tatsächlich zu Hause? Wie viele Abendessen hast du für die Familie zubereitet? Wenn du es nicht mehr weißt, ich schon. Es waren verdammt wenige.«

Sharon seufzte vernehmlich. »Okay, die Kinder haben oberste Priorität, und im Moment steht ihnen das Haus zu. Das bedeutet, Rosie wird sich eine Wohnung suchen müssen, in der sie an drei Tagen der Woche leben kann, wenn Zach bei den Kindern ist.«

Eine eigene Wohnung? Der Schock durchfuhr Rosie wie ein Blitz, und sie sah überrascht auf.

»Und sie wird für die Hälfte der Hypothekenzahlungen für das Haus aufkommen müssen«, fügte Zach hinzu und lächelte sie dabei wohlwollend an.

»Aber das kann ich nicht …« Auch das war Rosie noch nicht in den Sinn gekommen. So weit hatte sie nicht vorausgedacht. »Ich habe noch keine Arbeitsstelle – wie soll ich mir zusätzlich zu allem anderen noch eine Wohnung leisten können?« Das Ganze war in höchstem Maße unfair. Ganz bestimmt musste doch auch Zach einsehen, dass eine derartige Forderung unsinnig war. Sie hatte schließlich auch noch ein Leben und konnte sich nichts Neues aufbauen, wenn jeder Penny, den sie verdiente, für zwei Wohnungen draufging.

Rosie starrte Zach an. Er erwiderte ihren Blick ohne erkennbare Regung.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Sharon.

»Lassen Sie hören.« Zachs Anwalt klang, als wäre er ausgesprochen gespannt, wenn nicht sogar verzweifelt auf der Suche nach einer praktikablen Idee.

»Wenn Zach drei Tage pro Woche bei den Kindern im Haus verbringt, dann steht seine Wohnung doch leer. Richtig?« Sharon wandte sich an Zach.

Auch Rosie musterte ihn aufmerksam, denn im Grunde fragte die Anwältin ihn damit, ob er vorhatte, Janice und ihren Sohn, der im gleichen Alter wie Eddie war, in seine Wohnung mit einziehen zu lassen.

»Die Wohnung wird leer stehen«, erklärte Zach mit Nachdruck.

»Was halten Sie davon …« Sharon schaute sie beide abwechselnd an. »… wenn Rosie sich in der Wohnung einquartiert, während Sie im Haus wohnen? Wenn ich mich recht entsinne, sagten Sie, die Wohnung habe zwei Schlafzimmer?«

Zahlreiche Einwände schossen Rosie durch den Kopf. Sie wollte nichts mit Zach zu tun haben. Und ganz sicher wollte sie nicht in eine Situation gebracht werden, in der sie in seiner Nähe sein musste oder mit seinen Sachen konfrontiert war – beziehungsweise mit den Dingen, die ihnen früher gemeinsam gehört hatten. Außerdem wollte sie absolut nichts über die Beziehung mit seiner Freundin wissen.

»Kommt gar nicht in Frage, dass ich Rosie in meine Wohnung lasse.« Offenbar hatte Zach ebenfalls Bedenken. »Wir sind geschieden. Das hat uns Monate gekostet. Rosie wollte raus aus der Ehe, und sie hat ihren Willen durchgesetzt.«

»Du hast den ersten Schritt getan und bist ausgezogen«, rief sie ihm voller Verachtung ins Gedächtnis.

»Falsch. Du hast mich rausgeworfen.«

»Falls du es nicht mehr weißt: Du hast mich dazu gedrängt, mit einem Anwalt zu sprechen.« Sie konnte es einfach nicht fassen, wie er die Fakten zurechtbog.

Zach schnaubte spöttisch und sah Sharon an. »Mein Fehler.«

Rosies Anwältin hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie, das ist nur ein Vorschlag – so können Sie beide Geld sparen.« Sie wandte sich an Rosie. »Sie müssten schon großes Glück haben, eine Wohnung für weniger als fünf-, sechshundert Dollar zu finden. Selbst wenn es nur eine Einzimmerwohnung ist.«

»Zach wird dafür zahlen müssen …«

»Den Teufel werde ich tun!«

»Die Scheidung ist ausgesprochen«, stellte Otto Benson klar. »Zach ist lediglich für die Dinge verantwortlich, die bereits vereinbart worden sind.«

Rosie sah zu ihrer Anwältin hinüber, und die nickte zögernd. Plötzlich war der Punkt erreicht, an dem Rosie nicht noch mehr ertragen konnte. Sie hatte nicht nur ihren Mann verloren, sondern musste jetzt obendrein ihr Zuhause aufgeben. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie mühsam unterdrückte. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass sie Zach zeigen würde, was er ihr antat.

Einen scheinbar endlos langen Moment herrschte Schweigen, bevor Zach schließlich das Wort ergriff. »Na schön, ich gestatte Rosie, sich an den Tagen in meiner Wohnung einzuquartieren, an denen ich bei den Kindern im Haus bin, solange sie bereit ist, einen Teil der Miete zu übernehmen.«

Ihr war nur allzu bewusst, dass ihr keine andere Wahl blieb, aber sie hatte ihren Stolz, und an den wollte sie sich unter allen Umständen klammern. »Unter einer Bedingung«, erklärte sie und hob den Kopf.

»Was denn jetzt noch?«, fragte Zach und seufzte leidgeprüft.

»Ich will nicht, dass du diese Frau ins Haus lässt. Unser Haus soll ein sicherer Ort für die Kinder bleiben. Mit anderen Worten: Ich will nicht, dass Allison und Eddie deinen Weibern ausgesetzt sind.«

»Wie bitte?« Zach funkelte sie an.

»Du hast mich gehört«, erklärte sie mit Nachdruck und begegnete dabei unerschrocken seinem zornigen Blick. »Diese Scheidung war für die Kinder schon schwer genug, auch ohne dass du Janice oder irgendeine andere Frau, mit der du dich einlässt, in mein Zuhause bringst. Ich will, dass das Haus für deine … deine Flittchen tabu ist.«

»Meine Flittchen?«, feixte Zach. »In Ordnung, keine Flittchen. Und für dich gilt dasselbe. Ich will auch nicht, dass du irgendwelche Männer ins Haus lässt. Keine heißen Typen, keine jugendlichen Liebhaber, keine …«

»Das musst du gerade sagen«, unterbrach Rosie ihn, um sich seinen Hohn nicht länger anhören zu müssen. Seit siebzehn Jahren hatte sie andere Männer keines Blickes gewürdigt. Nicht ein einziges Mal, seit sie Zach kennengelernt hatte.

»Bist du nun einverstanden oder nicht?«, fragte er.

»Natürlich bin ich einverstanden!«

»Gut.«

»Bestens.«

In Gegenwart ihrer Anwälte einigten sie sich noch in einigen anderen Punkten, und Sharon setzte rasch einen Vertrag auf. Otto Benson prüfte ihn genau, dann unterschrieben Zach und Rosie das Dokument.

Als Rosie schließlich das Gerichtsgebäude verließ, fühlte sie sich, als hätte sie eine Fahrt auf stürmischer See hinter sich und wäre von einer Sturzwelle nach der anderen erfasst worden. Seit Wochen hatte ihr vor diesem Tag gegraut, und doch hatte sie sich zugleich danach gesehnt, weil sie die Scheidung endlich hinter sich haben wollte. Jetzt war sie sich nicht sicher, was sie empfand. Sie spürte nur einen tief sitzenden Schmerz, der sie zu überwältigen drohte.

Der neunjährige Eddie warf mit seinem Basketball Körbe vor dem Haus, als Rosie in die Einfahrt des Pelican Court Nummer 311 einbog. In wenig mehr als einem Monat würde die Schule wieder beginnen. Vielleicht geriet ihr Leben dann wieder in etwas ruhigeres Fahrwasser.

Eddie fing den Ball auf, klemmte ihn sich unter den Arm und wartete, bis sie das Auto in der Garage geparkt hatte. Aus traurigen dunklen Augen schaute er seine Mutter an, als er zur Seite trat, um sie an sich vorbeifahren zu lassen.

Die fünfzehnjährige Allison wärmte sich in der Küche gerade einen Hotdog zum Mittagessen auf. Sie drehte sich um und starrte Rosie aus funkelnden Augen trotzig an. In diesem Augenblick ähnelte sie Zach ganz besonders.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Eddie, der Rosie in die Küche gefolgt war und den Basketball immer noch unter dem Arm trug.

»Ganz gut, schätze ich.«

Die Mikrowelle piepte, und Allison holte das dampfende Würstchen heraus, ohne Brötchen. Anscheinend war ihr der Appetit plötzlich vergangen, denn sie stellte den Teller achtlos auf die Arbeitsplatte und musterte Rosie.

»Es gibt da eine … kleinere Komplikation«, verkündete Rosie. Sie hielt nichts davon, ihren Kindern die Wahrheit vorzuenthalten, zumal sie direkt davon betroffen waren.

»Was für eine Komplikation?«, fragte Eddie und zog sich einen Küchenstuhl heran. Den Ball legte er auf den Küchentisch und hielt ihn mit einer Hand fest. Allison verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Sie gab sich gelangweilt, verließ aber nicht einfach das Zimmer, wie sie es sonst so oft tat.

Mit einiger Mühe gelang es Rosie, ein gewisses Maß an Begeisterung für das Urteil von Richterin Lockhart vorzutäuschen. »Nun ja … ihr beide werdet nun doch nicht alle paar Tage hin und her ziehen müssen.«

Allison und Eddie schauten einander überrascht an. Bemüht, freudig zu klingen, erläuterte Rosie die Entscheidung der Richterin und erklärte kurz, wie das Ganze nun funktionieren sollte.

»Du willst damit sagen, dass Dad hier wohnen wird?«, fragte Eddie irritiert. Rosie konnte gut verstehen, dass er durcheinander war. Ihr ging es ganz genauso. Die überraschende Wendung verwirrte und verärgerte sie. Und machte sie obendrein unglücklich. Dieses Gefühlswirrwarr beschrieb, was sie im Moment vom Leben ganz allgemein hielt.

»Euer Vater wird einen Teil der Zeit hier im Haus wohnen«, erklärte Rosie, um jedem Missverständnis vorzubeugen. Sie hatte sich damit einverstanden erklärt, das bisher als Nähzimmer genutzte Gästezimmer für diesen Zweck zu räumen. Die Nähmaschine konnte sie problemlos im großen Schlafzimmer unterbringen.

»Oh.« Eddie klang enttäuscht, aber dann leuchteten seine Augen auf, als ihm klar wurde, dass er seinen Vater zurückbekam, wenn auch nur für die Hälfte der Woche. »Ich finde das cool!«

»Ich nicht!«, rief Allison. »Diese ganze Scheidung ist einfach nur Mist.« Damit rannte sie aus der Küche.

Rosie sah ihr nach und wünschte sich, sie wüsste, wie sie wieder einen Zugang zu ihrer Tochter finden könnte. Sie sehnte sich danach, Allison in die Arme zu schließen und zu drücken, ihr zu versichern, dass alles gut werden würde, aber das Mädchen ließ keine Nähe zu. Jedenfalls nicht von Rosie.

»Mach dir keine Sorgen wegen Allison«, sagte Eddie. »Sie freut sich in Wirklichkeit, dass Dad nach Hause kommt, auch wenn es immer nur für ein paar Tage ist, aber das will sie dir unter keinen Umständen zeigen.«

2. Kapitel

Schweißtropfen rannen Grace Sherman über das Gesicht, und die intensive Hitze dieses Nachmittags mitten im Juli sorgte dafür, dass ihr das T-Shirt am Körper klebte. Sie tunkte die Farbrolle in die hellgelbe Wandfarbe, mit der sie ihr Schlafzimmer neu strich. Als Bibliothekarin hatte sie zwar etliche Bücher zum Thema Instandhaltung von Wohnräumen ausgeliehen und gelesen, aber Renovierungs- und Reparaturarbeiten gingen ihr alles andere als leicht von der Hand. Dan hatte immer darauf bestanden, sich allein um alle anfallenden Arbeiten am Haus zu kümmern. Im Alter von fünfundfünfzig Jahren plötzlich auf sich allein gestellt, sah Grace sich nun permanent mit ungewohnten und herausfordernden Situationen konfrontiert.

»Ich hoffe, du weißt zu schätzen, was für eine gute Freundin ich dir bin«, sagte Olivia Lockhart hinter ihr. Auch sie war damit beschäftigt, den schmutzig-weißen Wänden mit gelber Farbe ein frisches Antlitz zu verleihen. Solange Grace denken konnte, waren sie enge Freundinnen. Vorsichtig bewegte Olivia sich um das Mobiliar herum, das sie in der Mitte des Schlafzimmers zusammengeschoben und mit alten Laken abgedeckt hatten.

»Du hast dich freiwillig gemeldet«, stellte Grace klar und wischte sich mit dem Unterarm über die schweißnasse Stirn. Im Zimmer war es stickig und heiß. Es regte sich kein Lufthauch darin, obwohl die Fenster teilweise geöffnet waren.

Nachdem sie erfahren hatte, dass der Mann, mit dem sie seit vierunddreißig Jahren verheiratet war und der seit April des Vorjahres als vermisst galt, tot war, wurde Grace von Schlaflosigkeit gequält. Sie verstand nicht, warum. Olivia hatte vorgeschlagen, das Schlafzimmer neu zu streichen, weil sie glaubte, eine andere Farbe könne vielleicht den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt einläuten. Blassgelb war eine beruhigende, optimistisch stimmende Farbe. Vielleicht sprang ihr Unterbewusstsein ja darauf an. Als Olivia den Vorschlag gemacht hatte, hatte es nach einer guten Idee geklungen, zumal sie angeboten hatte, Grace bei der Arbeit zu helfen. So war Olivia nun mal. Im Laufe der Jahre hatten die beiden Freundinnen einander in jeder Lebenslage beigestanden, ob es nun um kleinere häusliche Krisen ging oder um Ereignisse, die das ganze Leben auf den Kopf stellten.

»Wie konnte ich nur glauben, dass wir diese Sache an einem Tag erledigen können?«, stöhnte Olivia. Sie richtete sich auf und drückte beide Hände ins Kreuz. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Arbeit das sein würde.«

»Was hältst du von einem Glas Eistee?« Grace war selbst mehr als reif für eine Pause. Sie malerten jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit, tatsächlich waren es wohl nur etwa eine oder zwei Stunden. Allerdings hatten sie zuvor die Möbel verrücken und eine Menge Vorbereitungen treffen müssen, hatten den Fußboden abgedeckt, damit er keine Farbkleckse abbekam, und die Fenster abgeklebt.

Olivia legte ihre Farbrolle aus der Hand. »Hervorragende Idee.«

Grace wickelte beide mit Farbe getränkten Farbrollen in eine Plastiktüte und eilte in die Küche. Als Olivia sich die Hände gewaschen hatte, standen zwei hohe Gläser gefüllt mit Eistee bereit. Buttercup, Grace’ Golden-Retriever-Hündin, kratzte an der Fliegengittertür, und Grace ließ sie gedankenverloren ins Haus. Hechelnd schleppte sich die Hündin in die Küche und streckte sich unterm Küchentisch auf den kühlen Bodenfliesen aus.

Grace ließ sich auf einen Stuhl fallen, setzte das im Nacken verknotete Tuch ab und schüttelte ihre Haare zurecht. Sie trug sie inzwischen kürzer als früher, da sie sich keine Gedanken mehr darüber machen musste, was ihrem Mann gefiel und was nicht.

Nachdem sie ein paar Jahre zuvor miterlebt hatte, welches Leid Olivia während ihrer Scheidung durchgestanden hatte, wollte Grace sich selbst niemals scheiden lassen, aber als Dan spurlos verschwunden war, hatte sie keine andere Wahl gehabt. Aus finanziellen Gründen war eine Scheidung die einzige Lösung gewesen.

Das war jetzt ein paar Monate her. Als sie dann erfuhr, was wirklich mit Dan geschehen war, war selbst das nicht überraschend für sie gewesen. Natürlich war sie erleichtert, dass seine Leiche gefunden worden war, aber sie hatte bereits die schlimmste Trauer und die heftigsten Schuldgefühle hinter sich. Quälende Ungewissheit, Zweifel, Selbstvorwürfe – all das hatte sie schon nach Dans Verschwinden durchgemacht, und deshalb konnte sie sich nicht erklären, warum sie auf einmal unter Schlaflosigkeit litt.

»Das war die beste Idee, die du heute hattest«, erklärte Olivia, als sie sich auf einen Stuhl sinken ließ. »Gleich gefolgt vom Auflegen der Creedence-Clearwater-Revival-CD«, fügte sie hinzu. Sie hatten sich beide von der Musik ihrer Jugend gefangen nehmen lassen, und so war ihnen gar nicht aufgefallen, wie heiß und unbehaglich ihnen war, bis der letzte Song der CD verklang.

»Wir sind vielleicht nicht mehr so beweglich wie vor dreißig Jahren, aber einen Rollator brauchen wir noch lange nicht«, sagte Grace, und Olivia stimmte ihr fröhlich lächelnd zu.

»Ich habe von deinem letzten Urteil gehört«, fuhr Grace fort und lächelte ihre Freundin an. Obwohl sie schon den ganzen Nachmittag Seite an Seite gearbeitet hatten, war ihnen wegen der Musik kaum eine Gelegenheit geblieben, sich zu unterhalten.

»Du meinst den Fall mit dem gemeinsamen Sorgerecht?«, fragte Olivia.

Grace nickte. »Die ganze Stadt spricht darüber.« Es war nicht das erste Mal, dass Olivia eine umstrittene Entscheidung im Gerichtssaal fällte.

Olivia verdrehte die Augen. »Na, wenigstens hat Jack diesmal nichts in seiner Kolumne darüber geschrieben.«

Damit brachte sie das Gespräch also auf Jack Griffin. Gut. Grace hatte schon nach einer Gelegenheit gesucht, das Thema anzuschneiden. Seit mehr als einem Jahr gingen Jack und Olivia miteinander, und Grace mochte den Mann aus dem simplen Grund, dass er ihre Freundin glücklich machte. Seitdem sie den Chefredakteur der Lokalzeitung traf, war Olivia … entspannter. Unbeschwerter. Dann aber, vor ein paar Wochen, hatten die beiden sich zerstritten. Im Grunde ging es nur um eine Meinungsverschiedenheit – und seitdem redeten sie nicht mehr miteinander. Olivia war deshalb unglücklich, auch wenn sie das nicht zugeben wollte.

»Wo wir schon von Jack reden«, sagte Grace gut gelaunt, »was gibt es Neues bei euch beiden?« Ihrer Meinung nach war Jack genau der Richtige für ihre Freundin. Er war geistreich, lustig und gerade unverschämt genug, um interessant zu sein.

Olivia blickte auf. »Ich will nicht über Jack reden.«

»Dann eben nicht. Erzähl mir was von Stan.«

Stan war Olivias Ex-Mann, der mittlerweile mit seiner zweiten Frau in Seattle lebte, in letzter Zeit aber recht regelmäßig in Cedar Cove auftauchte. Irgendetwas musste im Busch sein, aber leider schwieg sich Olivia verdächtig darüber aus.

»Du hast gehört, was mit Stan und Marge los ist?«, fragte Olivia überrascht. »Wer hat dir davon erzählt? Mom oder Justine?«

»Niemand hat mir was erzählt. Ich warte darauf, dass du mich aufklärst.«

Olivia nahm einen großen Schluck von ihrem Eistee und blickte dann auf. Verunsicherung stand in ihrer Miene.

»Irgendwas belastet dich doch«, drängte Grace.

»Stan und Marge lassen sich scheiden.«

Der Schock traf Grace tief. Das war tatsächlich eine Neuigkeit, eine gewaltige sogar. Kein Wunder, dass Stan so häufig nach Cedar Cove kam. Für seine Besuche nutzte er oft den Vorwand, seine Tochter Justine und seinen Enkelsohn sehen zu wollen, der vor wenig mehr als zwei Wochen geboren worden war. Grace erschien Stans plötzliches Interesse an seiner Familie ein wenig suspekt, vor allem weil er seine damalige Frau und die Kinder im Sommer 1986 verlassen hatte. Jordan, Olivias und Stans aufgeweckter Dreizehnjähriger, war an einem heißen Nachmittag im August jenes Jahres mit Freunden schwimmen gegangen und ertrunken. Seine Zwillingsschwester Justine hatte seinen leblosen Körper in ihren Armen gehalten, bis die Sanitäter kamen. Dieser Tag warf einen Schatten auf Olivias ganzes Leben – er war der Wendepunkt gewesen, die Grenze zwischen dem Glauben an eine sichere Welt und dem Wissen, dass sie trügerisch sein konnte.

Olivias und Stans Ehe zerbrach nach Jordans Tod, aber Grace hatte sich schon immer gefragt, ob Stan nicht schon vorher eine Affäre mit Marge gehabt hatte. Auch wenn sie das Olivia nie erzählt hatte, der Verdacht hielt sich hartnäckig.

»Hast du dazu nichts zu sagen?«, fragte Olivia.

Grace war beinahe überrascht, dass die Ehe von Stan und Marge so viele Jahre gehalten hatte. Die Tinte auf der Scheidungsurkunde war kaum getrocknet, als Stan die andere Frau geheiratet hatte. »Es tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat«, murmelte sie. Ganz der Wahrheit entsprach das nicht.

»Mir auch«, sagte Olivia wehmütig und erschöpft.

Dann endlich fiel der Groschen. Grace hätte schon viel früher die richtigen Schlüsse ziehen können, und am liebsten hätte sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. »Stan will dich zurück, richtig?«

Einen Moment wirkte es, als wollte Olivia nicht antworten, aber dann nickte sie.

Zorn wallte in Grace auf. Wie konnte er es wagen! Wie konnte Stan es wagen, sich nach so vielen Jahren wieder in Olivias Leben zu drängen und von ihr zu erwarten, dass sie ihn mit offenen Armen willkommen hieß. Der Mann hatte vielleicht Nerven! Obendrein war sein Timing perfekt – ausgerechnet jetzt, da Olivia Jack kennengelernt hatte. Mit Sicherheit gefiel ihm der Gedanke, dass seine Ex-Frau mit einem anderen ausging, überhaupt nicht.

»Genau aus diesem Grund habe ich dir nicht von Stan erzählt«, murmelte Olivia. »Ich kann deutlich sehen, wie wütend du auf ihn bist.«

»Ich kann’s nicht ändern!«, meinte Grace.

Dachte Olivia ernsthaft darüber nach, sich mit Stan auszusöhnen? Das wäre das Schlimmste, was sie tun konnte, und wenn Olivia das nicht selbst wusste, würde Grace sich nicht zieren, es ihr zu sagen. Stan hatte seine erste Frau nie zu schätzen gewusst. Er schien sich nie allzu viele Gedanken darüber gemacht zu haben, was er ihr und ihren Kindern damit antat, dass er sie verließ. Stan hatte immer nur an sich gedacht, an seine Bedürfnisse, seine Wünsche.

»Ich weiß, was du über ihn denkst«, sagte Olivia leise.

»Du nimmst ihn doch wohl nicht wieder auf? Das würdest du nicht ernsthaft in Betracht ziehen, oder?« Der Gedanke war Grace so zuwider, dass ihr die Worte kaum über die Lippen kamen.

Verwirrung und Unsicherheit spiegelten sich in Olivias Gesicht, und das war so untypisch für sie, dass Grace sich zusammenreißen musste, um nicht aufzustehen und ihre Freundin zu umarmen.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Olivia.

Grace nickte nur. Sie bemühte sich, ihren Gesichtsausdruck so neutral wie möglich zu halten.

»An dem Tag, an dem Leif geboren wurde«, begann Olivia und betrachtete dabei den Inhalt ihres Glases, als stünden darin die Antworten, die sie brauchte, »haben Stan und ich in Erinnerungen geschwelgt. Das war wunderschön.«

»Du hattest drei Kinder mit ihm«, sagte Grace, bemüht, ihre eigene negative Sicht auf die Situation auszublenden.

»Wir waren viele Jahre glücklich miteinander.«

Dem konnte Grace nicht widersprechen, dennoch hatte Stan ihre Freundin emotional zugrunde gerichtet. Sie wusste nur zu gut, wie lange Olivia gebraucht hatte, um nach Jordans Tod und dem Scheitern ihrer Ehe ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

»Was ist mit Jack?« Wahrscheinlich war es ein Fehler, seinen Namen ausgerechnet jetzt zur Sprache zu bringen, aber es interessierte sie wirklich. »Weiß er Bescheid?« Das vermutete Grace stark. Wahrscheinlich war das der Grund für ihre aktuellen Probleme miteinander.

Olivia nickte und schloss die Hand fester um ihr Glas. »Willst du wissen, was er getan hat?« Zorn funkelte in ihren braunen Augen. »Ich schwöre dir, jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, koche ich vor Wut.«

Das klang nicht gut.

Olivia wartete nicht auf eine Antwort. »Jack hat mir ein Ultimatum gestellt. Er behauptet, Stan würde sich schon seit Monaten um mich bemühen und ich müsste mich entscheiden – entweder er oder Stan.«

»Jaaa?«, entgegnete Grace und zog das Wort dabei in die Länge. »Und worauf willst du hinaus?«

»Ich will darauf hinaus«, erklärte Olivia betont geduldig, »dass ich kein Pokal bin, den man gewinnen kann. Außerdem bin ich nicht bereit, Jacks blöde Spielchen zu spielen.«

»Spielchen … Mir scheint, du bist hier diejenige, die Spielchen spielt.«

»Ich?«, fragte Olivia empört.

»Ja, du. Erwartest du ernstlich, dass Jack einfach nur zusieht und Däumchen dreht, während Stan sich in dein Leben zurückdrängt?«

»Nein, aber ich erwarte von ihm, dass … dass er ein bisschen Tatkraft beweist. Wenn ich ihm so wichtig bin, wie er behauptet, dann könnte er mich doch mindestens wissen lassen, was er für mich empfindet.«

Grace runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass er dir das nicht gesagt hat?«

»Mir gesagt? Wohl kaum. Vor einem Monat kam er zu einem ziemlich unglücklichen Zeitpunkt bei mir vorbei. Stan hatte bei mir übernachtet …«

Grace konnte nicht verbergen, wie sehr sie das schockierte. »Stan …«

»Nicht auch noch du!«, rief Olivia verärgert. »Wenn du es unbedingt wissen musst: Er hat oben in James’ altem Zimmer geschlafen. Das war eine völlig unschuldige Geschichte. Ich fasse es einfach nicht, dass du glaubst, ich hätte ihn in mein Bett gelassen …«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, erwiderte Grace, die unbedingt genau wissen wollte, was geschehen war. »Red weiter, sag mir, was passiert ist.«

»Jack und ich waren an jenem Morgen verabredet, aber er tauchte früher auf als geplant und brachte Kaffee und Donuts mit. Und dann kam Stan in Justines altem Bademantel und Pantoffeln die Treppe herunter. Er sah ausgesprochen lächerlich aus, aber das tut nichts zur Sache.«

»Und natürlich ist Jack vom Schlimmsten ausgegangen.« Er musste voreilige Schlüsse gezogen haben, genauso wie Grace es beinahe getan hätte.

»Natürlich«, bestätigte Olivia. »Ich bin ihm nachgelaufen und habe versucht, die Situation zu erklären, aber er hörte einfach nicht zu. Er sagte, wenn ich zu Stan zurückwill, dann ist ihm das recht.«

Erneut zog Grace die Brauen hoch. »Bist du sicher, dass er das gesagt hat?«

Olivia zögerte. »Vielleicht nicht mit diesen Worten, aber das war die Botschaft, die er rüberbrachte. Ich muss schon sagen, es hat mich wütend gemacht, dass er tatsächlich glaubt, ich würde mit Stan schlafen, obwohl das mit uns doch etwas Ernstes war.«

Allmählich formte sich ein Bild vor Grace’ geistigem Auge. »Seitdem hast du nichts mehr von ihm gehört, richtig?«

»Richtig. Mom meint, ich sollte ihn anrufen.« Langsam hob Olivia ihren Blick und schaute Grace an. »Siehst du das auch so?«

Sie zuckte mit den Schultern. Wenn sie in dieser Situation wäre, würde sie das vermutlich tun, aber …

»Die Sache ist die«, fuhr Olivia fort und biss sich auf die Unterlippe. »Ich möchte, dass Jack ein bisschen Einsatz zeigt. Beweist, dass ihm etwas an mir liegt. Wenn er mich ehrlich liebt, dann sollte er doch um mich kämpfen.«

»Um dich kämpfen?« Sie konnte es förmlich sehen: Jack und Stan einander gegenüber in der Einfahrt, die geballten Fäuste erhoben. Das Bild war ausgesprochen komisch. »Du meinst, du willst, dass er Stan zum Faustkampf herausfordert? Oder …« Sie grinste, als sie sich die beiden im Regency-Stil gekleidet und Pistolen schwingend vorstellte. »… zum Duell?«

»Nein, natürlich nicht«, wehrte Olivia ungeduldig ab. »Ich möchte nur, dass er mir irgendwie zeigt, dass ich ihm mehr wert bin als sein dummer männlicher Stolz. Das ist alles.« Sie senkte den Blick. »Er benimmt sich wie ein verletzter kleiner Junge.«

»Ich schätze, er ist verletzt.«

»Ja und? Ich auch! Er ist sofort zu dem Schluss gelangt, dass ich die Nacht mit Stan verbracht hatte, obwohl wir schon so lange ein festes Paar waren. Wenn er wirklich glaubt, dass ich zu der Sorte Frau gehöre, bin ich ohne ihn besser dran.«

»Gib ihn nicht so schnell auf.«

»Das ist jetzt fast einen Monat her, Grace.« Langsam und traurig schüttelte sie den Kopf. »Was soll ich denn sonst glauben? Offenbar ist es in Ordnung für ihn, die Beziehung einfach aufzugeben.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Grace. »Bist du bereit, dich von Jack abzuwenden?«

Sie antwortete nicht sofort. »Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich.

Das war ermutigend. »Was wirst du tun?«

»Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Kommt Zeit, kommt Rat, schätze ich.«

Grace nickte, trank ihren Tee aus, stand auf und stellte ihr Glas ins Spülbecken. »Lass uns wieder an die Arbeit gehen.«

»Moment«, hielt Olivia sie auf, die noch immer auf ihrem Stuhl saß. »Wenn wir schon beim Thema Männer sind – erzähl mir, wie es zwischen dir und dem gutaussehenden Rancher läuft.«

Am liebsten hätte Grace laut aufgestöhnt. Sie hätte es wirklich vorgezogen, nicht über Cliff Harding reden zu müssen. Seit fast einem Jahr waren sie nun ein Paar. Sie hatten sich kennengelernt, kurz nachdem Grace ihre Scheidung eingereicht hatte. Erst nachdem die Scheidung rechtsgültig war, hatte Grace sich tatsächlich mit ihm verabredet, aber Cliff hatte ihr schon vorher zu verstehen gegeben, dass er sich für sie interessierte. Und obwohl sie seine Gefühle erwiderte, war ihr aus irgendeinem Grund nicht wohl dabei, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten.

»Was ist los?«, fragte Olivia.

»Ich bin mir nicht sicher«, murmelte sie, »und genau da liegt das Problem.«

»Du meinst, ein anständiger, wundervoller Mann tritt in dein Leben, und du weißt nicht, ob dir das gefällt oder nicht?«

Grace ignorierte den leicht sarkastischen Ton ihrer Freundin. »Dan und ich haben sehr jung geheiratet«, sagte sie, und da Olivia sie offensichtlich nicht so einfach davonkommen lassen wollte, setzte sie sich wieder an den Tisch. »Wir waren noch Teenager. Und dann ist Dan nach Vietnam geschickt worden. Aber trotz allem, trotz der Probleme, die wir hatten, habe ich nie einen anderen Mann auch nur angesehen.«

»Ich weiß«, sagte Olivia leise und beruhigend.

»Wenn ich Cliff nur ein ganz klein wenig ermutigen würde, würde er mich bitten, ihn zu heiraten.«

»Am Tag von Dans Beerdigung war er so lieb zu dir.«

Dem konnte Grace nur zustimmen. Nach dem Leichenschmaus hatte Cliff vor ihrer Tür gestanden und sich rührend um sie gekümmert. Sie war erschöpft gewesen – geistig, körperlich, emotional. Doch er hatte sie an jenem Nachmittag getröstet, sie zu Bett gebracht und ihr etwas zu essen gekocht. Noch nie war Grace jemandem begegnet, der so aufmerksam war wie Cliff Harding, und die Gefühle, die das in ihr weckte, machten ihr Angst.

»Ich weiß, dass Cliff es ernst meint«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »aber seit Dans Verschwinden bin ich abgesehen von ihm mit niemandem ausgegangen.«

»Du meinst, wenn du jetzt ausschließlich mit einem Mann ausgehst, tappst du in dieselbe Falle wie damals in der Highschool?«, fragte Olivia. »Ist das dein Problem?«

»Ich wollte mich nie scheiden lassen oder Witwe werden. Aber nun bin ich beides. Ich schätze, ich will mich derzeit noch nicht auf einen Menschen festlegen. Im Moment bin ich einfach noch nicht bereit, eine neue Beziehung einzugehen.« Jetzt hatte sie es ausgesprochen, und kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, begriff sie endlich, was geschah und warum.

»Grace?« Olivia musterte sie fragend.

»Das ist es«, hauchte sie. Die Schlaflosigkeit, die Ängste, all das ergab plötzlich einen Sinn. Sie hätte ihr Schlafzimmer nicht neu streichen müssen, um sich von den Erinnerungen an ihren toten Mann zu befreien. Ja, einige der Dinge, die Dan ihr in dem Brief mitgeteilt hatte, den er ihr unmittelbar vor seinem Tod geschrieben hatte, beunruhigten sie. Sie musste darüber nachdenken, aber dennoch hatte Dan sehr wenig mit dem zu tun, was sie in den letzten Wochen so sehr beschäftigt hatte. Ihre Ängste hingen vielmehr mit ihrer Beziehung zu Cliff zusammen. Was sie brauchte, waren Zeit, Raum und Freiheit, um zu entdecken, wer sie war, wer sie sein wollte und was sie sich von ihrem Leben erhoffte. Sie brauchte eine Chance, sie selbst zu sein, und das konnte sie nur allein schaffen.

»Grace?«

»Ich mag Cliff sehr«, flüsterte sie. »Das tue ich wirklich, aber ich bin noch nicht bereit, mich so zu binden. Noch nicht … ich kann es einfach nicht.« Obwohl sie fast in Tränen ausbrach, empfand Grace ein unglaubliches Gefühl von Erleichterung, und zum ersten Mal seit Dans Beerdigung wusste sie, dass sie in der kommenden Nacht gut schlafen würde.

»Du musst es Cliff sagen«, drängte Olivia.

»Ich weiß.« Sie musste einen Weg finden, es ihm zu erklären, ohne ihn zu verletzen oder seine Freundschaft zu riskieren. »Ich möchte mich gern weiter mit ihm treffen, aber ich möchte frei sein, mich auch mit anderen Männern zu verabreden.« Laut ausgesprochen klang das unfair und selbstsüchtig, aber es entsprach der Wahrheit, und die Wahrheit einzugestehen fiel Grace häufig schwer, vor allem sich selbst gegenüber.

3. Kapitel

Als das Morgenlicht in ihr Schlafzimmer fiel, rollte sich Maryellen Sherman vorsichtig auf den Rücken, erstaunt, wie viel Entschlossenheit und Mühe es kostete, ihren hochschwangeren Körper zu verlagern.

Ihre Schwester hatte sie vorgewarnt, es werde Tage geben, an denen sie sich fühlen werde wie das Michelin-Männchen, aber Maryellen konnte sich dennoch nicht entsinnen, jemals glücklicher gewesen zu sein.

»Jetzt ist es bald so weit«, sagte sie und rieb mit der Hand über ihren prall gespannten runden Bauch. Catherine »Katie« Grace strampelte und reckte sich, und Maryellen beobachtete staunend, wie sie sich unter ihrer Bauchdecke bewegte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es bereits halb neun war – Zeit aufzustehen. Sie kämpfte sich in eine sitzende Position hoch, starrte auf ihre Füße hinunter und stellte fest, dass sie sie nicht mehr sehen konnte. Tatsächlich war es bereits Wochen her, seit sie zum letzten Mal ihre Zehen gesehen hatte.

Unbeholfen stand sie auf und stützte beide Hände gegen die Wirbelsäule. Ihr Rücken schmerzte, und das war wenig überraschend. Das hatte sie davon, dass sie auf einer durchgelegenen, alten Matratze schlief. Wenn sie erst einmal in Bewegung war, würde sie sich schnell besser fühlen. Barfuß tappte sie in die Küche und setzte Wasser auf, um sich einen Kräutertee zu brühen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, begutachtete sie die vier Umstandsoberteile, die auch außer Haus noch tragbar waren.

Sie hatte diese Schwangerschaft nicht geplant und versucht, sie vor dem Vater des Kindes geheim zu halten – keine besonders kluge Idee, aber sie war verzweifelt gewesen. Jon Bowman, ein Künstler, dessen Werke in der Galerie ausgestellt wurden, die sie leitete, hatte trotzdem von dem Baby erfahren, und er hatte unerbittlich darauf bestanden, eine Rolle im Leben seiner Tochter zu spielen. Sehr zu Maryellens Missfallen, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Hätte sie Jon kein Besuchsrecht eingeräumt, wäre er deswegen vor Gericht gezogen, und das wollte sie lieber vermeiden.

Maryellen mochte ihn und bewunderte sein beachtliches Talent. Was ihr am wenigsten an ihm gefiel, war noch nicht einmal seine Schuld: Es war ihm vollkommen mühelos gelungen, ihre sinnliche Seite zum Leben zu erwecken. Bis zu jener Nacht im November des letzten Jahres war sie davon ausgegangen, dass sie ihre sexuellen Bedürfnisse für alle Zeit begraben hatte, zusammen mit ihrer gescheiterten Ehe. Jon hatte ihr das Gegenteil bewiesen.

Den schlimmsten Fehler ihres Lebens hatte sie begangen, als sie noch das College besuchte. Damals war sie schon einmal ungeplant schwanger geworden, und sie hatte sich von ihrem Freund und künftigen Ehemann manipulieren lassen. Auf sein Drängen hin ließ sie ihr Kind abtreiben. Diese Entscheidung hatte sie sich nie verzeihen können.

Diesmal war sie fest entschlossen, ihr ungeborenes Kind zu schützen. Diesmal wollte sie auf nichts und niemanden hören, nur auf ihr eigenes Herz. Sie wollte dieses Kind, liebte dieses Kind. Was als erschreckender Fehler begonnen hatte, war zu einer wertvollen zweiten Chance geworden.

Sie war schockiert gewesen, als sie erfuhr, dass Jon unbedingt an Katies Leben teilhaben wollte, dass er ihr sogar damit drohte, gegen sie vor Gericht zu ziehen, wenn sie ihm das Besuchsrecht für seine Tochter verweigerte. Doch ihr blieb keine Möglichkeit, sich seinen Forderungen zu widersetzen, also hatte sie sich schließlich widerwillig mit seinen Bedingungen einverstanden erklärt.

Der Teekessel pfiff, als sie ihre Kleidung zurechtgelegt hatte. Während sie sich mit einer Hand den Rücken massierte, goss sie das kochende Wasser in die Teekanne. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freuen werde, wenn ich endlich wieder Kaffee trinken darf«, murmelte sie an ihre ungeborene Tochter gewandt.

Dann stieg sie unter die Dusche und zog sich an. Da sie nur halbtags arbeitete, konnte sie sich in aller Ruhe ein Frühstück aus Toast, Joghurt und Tee gönnen. Erst am Mittag musste sie in der Kunstgalerie in der Harbor Street sein. Sie liebte ihren Job und genoss die Freundschaft, die sie mit vielen der ortsansässigen Künstler verband. Jon war Fotograf, seine Werke – überwiegend Naturaufnahmen – waren atemberaubend schön und bewiesen sein großes Einfühlungsvermögen. Nachdem sie ihn abgewiesen hatte, hatte er entschieden, seine Werke andernorts auszustellen. Erst war ihr diese Entscheidung gut und sinnvoll vorgekommen, aber in Wahrheit fehlten ihr seine Besuche in der Galerie, und der Galerie fehlten die Einnahmen, die seine Fotografien eingebracht hatten.

Zunächst hatte Maryellen vor allem Jons Talent beeindruckt, aber auch den Mann selbst fand sie faszinierend. Er war bescheiden und geradeheraus – und ausgesprochen zugeknöpft, was Details über sein eigenes Leben anging. Obwohl sie mehr als drei Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet hatte, wusste sie nichts über seine künstlerische Ausbildung und ebenso wenig über seinen persönlichen Hintergrund. Er hatte ihr lediglich erzählt, dass er ein großes Grundstück von seinem Großvater geerbt und sich darauf ein Haus gebaut hatte. Wenn sie ihm Fragen stellte, zog er sich entweder zurück oder wechselte das Thema. Einladungen zu einem geselligen Beisammensein schlug er meistens aus. Deshalb war sie sehr überrascht gewesen, als er im letzten Jahr eingewilligt hatte, zu einer Halloween-Party zu kommen. Sie hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, um ihn einzuladen, und keinen Moment daran geglaubt, dass er tatsächlich erscheinen würde. An jenem Abend hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, und damit hatte alles angefangen. In den darauffolgenden Tagen lernte Maryellen ihn so gut kennen wie jeden anderen in Cedar Cove und vermutlich sogar besser. Das Baby in ihrem Bauch strampelte, und sie lächelte in sich hinein. Dass sie ihn besser kannte als die meisten, war offensichtlich.

Dieser Mann, der der Vater ihres Kindes war, hatte sie sehr beeindruckt. Jon hatte sein Haus selbst entworfen und gebaut, er arbeitete als Küchenchef im Lighthouse Restaurant, und zugleich wurde er als Fotograf im Pazifischen Nordwesten und darüber hinaus immer berühmter und bekannter.

»Ich habe dich nicht vor Mittag erwartet«, sagte Lois Habbersmith, als Maryellen um halb zwölf und damit etwas vor der Zeit die Galerie betrat.

Bis vor Kurzem war Lois ihre Assistentin gewesen, doch man hatte ihr vorübergehend die Leitung der Galerie übertragen, solange Maryellen sich im Mutterschaftsurlaub befand. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass Lois der Sache mehr als gewachsen war.

»Wann hast du deinen nächsten Arzttermin?«, fragte Lois.

»Morgen früh.« Ihre Rückenschmerzen schienen schlimmer zu werden. Maryellen zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

Lois musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Nein«, gab Maryellen zu. »Ehrlich gesagt habe ich merkwürdige Rückenschmerzen.« Ihr wurde bewusst, dass dieser Schmerz sich regelmäßig abzuschwächen schien, um dann wieder stärker zu werden. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass das womöglich gar keine Rückenschmerzen waren, sondern erste Wehen eingesetzt hatten.

Als wäre sie zu derselben Erkenntnis gelangt, ging Lois einmal um sie herum. »Meine Wehen fingen immer im Rücken an.« Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. »Maryellen, glaubst du, das könnten die ersten Wehen sein?«, fragte sie.

»Ich … vermutlich sollte ich die Zeit zwischen diesen … Schmerzen stoppen, oder?«

Lois klatschte aufgeregt in die Hände. »Das ist ja großartig!«

»Lois, Lois, ich weiß nicht, ob das Wehen sind. Ich habe nur … so ein merkwürdiges Gefühl.«

Maryellen warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wann sie das letzte Mal diesen seltsamen Schmerz gefühlt hatte, der von ihrem Rücken auszustrahlen schien.

»Deine Mom soll bei der Geburt dabei sein, richtig?«

Maryellen nickte. Sie erinnerte sich vage daran, dass ihre Mutter erwähnt hatte, am Mittwoch zu einer Bibliothekarenkonferenz nach Seattle fahren zu wollen. Heute war Mittwoch. Grace besaß zwar ein Handy, aber Maryellen wusste, dass sie ständig vergaß, das Gerät einzuschalten. Oder auch es auszuschalten, mit der Folge, dass der Akku häufig leer war. Noch war es nicht nötig, ihre Mutter zu informieren, entschied sie. Ihr blieb eine Menge Zeit, und schließlich war sie sich nicht einmal sicher, dass sie bereits Wehen hatte. Womöglich war das nur ein falscher Alarm. Etliche Leute hatten sie davor gewarnt, dass das passieren könne.

Als sie ein paar Stunden später allein zu Haus war, stellte sich diese Frage nicht mehr. Maryellen wusste, dass es sich nicht um einen falschen Alarm handelte. Was als dumpfer Schmerz im Rücken begonnen hatte, hatte sich inzwischen in ihrem ganzen Körper ausgebreitet, und die Wehen traten alle fünf Minuten auf. Also griff sie nach dem Telefon und wählte die Handynummer ihrer Mutter.

Genau wie sie vermutet hatte, war Grace’ Handy entweder ausgeschaltet oder hatte keinen Empfang, oder der Akku war leer. Wie auch immer! Tief Luft holend schloss Maryellen die Augen. Blieb noch ihre Schwester. Kelly hatte sich großartig verhalten, seit sie von Maryellens Schwangerschaft wusste. In letzter Zeit standen sie einander sehr viel näher als in den vergangenen Jahren, seit sie Teenager gewesen waren.

Nach fünfmaligem Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter von Kelly und Paul. In der Hoffnung, gelassen und ruhig zu klingen, sprach Maryellen eine Nachricht auf Band. »Kelly, hi. Hör mal, es sieht so aus, als hätte ich erste Wehen. Noch habe ich Dr. Abner nicht angerufen, und ich bin sicher, dass mir noch viel Zeit bleibt, aber ich dachte, du solltest Bescheid wissen.« Weil sie nicht wollte, dass ihre Schwester erriet, wie nahe sie bereits einer Panikattacke war, fügte Maryellen hinzu: »Mom kommt erst später von ihrer Bibliothekarenkonferenz zurück. Wenn du also Zeit hast, ruf mich doch bitte an. Ich … ich habe niemanden, der mich ins Krankenhaus fährt.« Als sie auflegte, war es endgültig um ihre Fassung geschehen.

Sie wandte sich ab, und im selben Moment durchzuckte sie ein so heftiger Schmerz, dass sie beinahe zusammengeklappt wäre. Sie spürte, wie Flüssigkeit an ihren Beinen hinunterlief. Die Fruchtblase war geplatzt.

Während sie in einer Pfütze aus Fruchtwasser stand, versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Da sie fürchtete, jede Bewegung könne ihr Kind gefährden, verharrte sie an Ort und Stelle und streckte die Hand nach dem Telefon aus. Für einen Moment hielt sie inne, denn sie wusste nicht, wen sie anrufen sollte.

Plötzlich wurde es ihr sonnenklar. Sie musste sich die Nummer von der Auskunft geben lassen, und als sie sie schließlich wählte, betete sie, Jon möge zu Hause und in der Nähe seines Telefons sein.

Doch niemand nahm ab. Vor Frust wäre Maryellen beinahe in Tränen ausgebrochen. Jetzt drohte sie wirklich in Panik zu verfallen. Verzweifelt wehrte sie sich dagegen und kämpfte darum, die Ruhe zu bewahren. Auf gut Glück wählte sie die Nummer des Lighthouse Restaurants. Vielleicht war er ja bei der Arbeit.

Die Frau, die sich meldete, war höflich und freundlich. Sie bat Maryellen, in der Leitung zu bleiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit erklang Jons Stimme, und sein knapper Gruß verriet ihr unmissverständlich, dass er nicht sonderlich erfreut über diese Störung war.

Verängstigt und nahezu verzweifelt flüsterte Maryellen heiser: »Jon … ich brauche Hilfe …«

Weiter kam sie nicht. »Wo bist du?«

»Zu Hause. Meine Fruchtblase ist geplatzt.«

»Ich bin in fünf Minuten bei dir.«

Erleichterung überwältigte sie, und sie blinzelte rasch, um die Freudentränen zu unterdrücken, die ihr in die Augen stiegen. »Danke«, setzte sie an, aber die Verbindung war bereits unterbrochen.

Nur wenige Minuten später hörte sie, wie vor ihrem kleinen Mietshaus eine Autotür zugeschlagen wurde. Inzwischen hatte sie Dr. Abner angerufen und erfahren, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte. Der Arzt wollte, dass sie sich sofort in die Entbindungsstation des Krankenhauses begab.

Jon hielt sich nicht mit Anklopfen auf, sondern stürzte einfach zur Tür herein. Er trug noch seine weiße Kochkleidung, die mit etlichen Flecken übersät war. Offenbar hatte ihr Anruf ihn in der mittäglichen Hektik erwischt. Seit einigen Wochen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Zuletzt Anfang des Sommers, als sie sich auf sein Besuchsrecht für das Baby geeinigt hatten. Trotz der Hektik, die nun in seinem Blick stand, sah er großartig aus. An konventionellen Maßstäben gemessen, hätte sie Jon nicht als gutaussehenden Mann bezeichnet. Seine Gesichtszüge waren zu scharf geschnitten, sein Gesicht war lang und schmal, seine Nase wirkte fast wie der Schnabel eines Habichts, aber Maryellen hatte eine bittere Lektion lernen müssen, was attraktive Männer anging. Und obwohl Jon auf den ersten Blick keine Frau ins Schwärmen brachte, hatte sie bei näherer Betrachtung seinen starken Charakter erkannt, den sie äußerst anziehend fand.

»Hi«, grüßte sie ihn mit schwacher Stimme, den Blick zu Boden gesenkt, auf die Pfütze, in der sie stand.

»Du steckst also in einem kleinen Dilemma.« Sein Lächeln wärmte und tröstete sie.

»War es dir ernst damit, dass du Katies Geburt miterleben möchtest?«, fragte sie. Nun, da er hier war, hatte sich ihre Panik völlig in Luft aufgelöst.

»Das würde ich sehr gern, wenn es geht.«

»Sieht ganz so aus, als wärst du gerade zu demjenigen ernannt worden, der mich in die Entbindungsklinik fährt.«

Mit drei raschen Schritten durchquerte er das Zimmer und hob sie auf seine Arme, als wäre ihr beachtliches Gewicht eine Kleinigkeit für ihn.

Sie wollte protestieren, wollte darauf hinweisen, dass sie viel zu schwer für ihn war, aber sie tat es nicht. Zum ersten Mal, seit sie vergeblich versucht hatte, ihre Mutter zu erreichen, fühlte Maryellen sich beschützt. Sicher. Er half ihr, sich umzuziehen, und trug sie dann zur Tür hinaus.

Vorsichtig setzte er sie in sein Auto. »Ist dein Koffer gepackt?«, fragte er.

Sie nickte. »Vollständig bis auf meine Zahnbürste.«

»Ich hole sie und deinen Koffer. Bin gleich wieder da.«

Damit ließ er sie allein. Als er zurückkam, überrollte sie gerade wieder eine Wehe. Seitdem die Fruchtblase geplatzt war, waren die Schmerzen viel stärker geworden. Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück und atmete aus, während sie versuchte, sich alles, was sie im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte, in Erinnerung zu rufen.

Als sie die Augen wieder öffnete, saß Jon bereits auf dem Fahrersitz.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

Ihr fiel auf, wie blass er geworden war, und sie schenkte ihm ein Lächeln, um ihn zu beruhigen.

Später erinnerte sie sich kaum mehr an die Fahrt von Cedar Cove nach Silverdale, wo die Geburtsklinik lag. Jon schwieg, und sie brachte ebenfalls kein Wort über die Lippen, weil sie sich auf die erlernten Atemtechniken konzentrierte, während er den Wagen geschickt durch den Verkehr steuerte.

In der Klinik angekommen, wurde es hektisch um sie herum. Man zog ihr OP-Kleidung an, bereitete sie vor, half ihr in ein Bett und schloss sie an einen Wehenschreiber an. Jon verschwand, und sie fragte sich, ob er sie nur abgeliefert hatte und zurück zur Arbeit gefahren war. Vermutlich, denn schließlich hatte sie ihn mitten in seiner Schicht angerufen.

Dann lag sie allein in einem gemütlichen Zimmer, umgeben von allerlei technischen Geräten, die sie vom Schmerz ablenken sollten. Leise Musik schallte durch den Raum, und es gab sogar einen Fernseher, für den Fall, dass sie sich etwas anschauen wollte, aber nichts davon interessierte sie.

Die Wehen waren allen Vorwarnungen zum Trotz viel heftiger, als sie erwartet hatte. Im Geiste zählte sie die Sekunden, wenn eine Wehe sie überfiel, sich von ihrem Rücken ausgehend nach vorn vorarbeitete und ihren Bauch zusammenzog.

»Maryellen?«, erklang Jons Stimme leise.

Sie riss die Augen auf und sah ihn in der Tür stehen. Schlagartig überkamen sie Erleichterung und Dankbarkeit. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen hoch. »Kannst du bei mir bleiben?«, fragte sie voller Hoffnung.

»Wenn du das möchtest.«

Ja, das wollte sie. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht klar gewesen, wie sehr sie sich wünschte, ihn bei sich zu haben, wie sehr sie ihn brauchte. Nicht etwa irgendwen, nein, ihn.

Er betrat das Zimmer, setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und betrachtete den Monitor des Wehenschreibers. Obwohl er keine Stunde des Geburtsvorbereitungskurses besucht hatte, schien er genau zu wissen, was er sagen und tun musste, um ihr beizustehen. Als sie sich auf die Seite legte, rieb er ihr den Rücken und flüsterte ihr beruhigend zu. Seine Stimme gab ihr Mut, während er ihr immer wieder sagte, wie gut sie das alles mache.

Die Wehen wurden immer länger und immer heftiger, und während einer, die fast eine Minute andauerte – es war die längste Minute ihres Lebens –, wurde der Schmerz überwältigend. Sie wimmerte leise.

»Tun Sie doch was!«, fuhr Jon die Schwester an, die gerade in diesem Augenblick zufällig das Zimmer betrat. »Sie erträgt diese Schmerzen nicht.«

Die Frau lächelte gütig. »Maryellen hat sich für eine natürliche Geburt entschieden. Wir respektieren ihre Wünsche.«

»Mir geht es gut«, sagte Maryellen, obwohl sie sich fragte, wie lange sie wohl durchhalten würde. »Darf ich deine Hand halten?«

Sofort war Jon auf den Beinen und beugte sich zu ihr. Er stützte seinen Ellenbogen auf dem Bett ab und bot ihr seine Hand an. Von diesem Augenblick an klammerte sie sich an ihn. Als es so weit war, dass sie pressen musste, war Jon bei ihr. Er hatte den Kopf dicht zu ihrem geneigt und den Arm um ihre Schultern gelegt. Dr. Abner betrat den Raum, also konnte es jetzt nicht mehr lange dauern.

Jon stellte sich dem Arzt vor und wandte sich dann wieder Maryellen zu, redete leise mit ihr, ermutigte und unterstützte sie. An ihn gelehnt, presste sie voller Mühe und hechelte heftig zwischen den Wehen.

Bei der nächsten Wehe packte sie Jons Hand noch fester und presste erneut, stöhnend vor Anstrengung. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Und dann erblickte ihre Tochter das Licht der Welt. Maryellen keuchte auf, als Catherine Grace ihren ersten schwachen Schrei ausstieß.

Stolz und Liebe erfüllten Maryellen, ihre Augen schwammen in Tränen. Sie lächelte zittrig zu Jon hoch und sah erstaunt, dass auch ihm Tränen über die Wangen liefen.

»Willkommen, Katie«, flüsterte sie.

Jon sah sie erstaunt an. »Katie, nicht Catherine?«

Maryellen nickte. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Tochter Katie zu nennen. »Catherine scheint mir ein bisschen hochgestochen für so ein winziges Baby, meinst du nicht?« Katie, so hatte seine Mutter geheißen, und Maryellen wollte ihm diese Freude machen – zu Ehren seiner Mutter, die er offensichtlich geliebt hatte.

Jon betrachtete das rote, vom Schreien verzerrte Gesicht des Kindes. »Danke«, flüsterte er und legte den Arm fester um Maryellens Schultern. Dr. Abner übergab ihre schreiende Tochter an die Krankenschwester.

»Sie können mit mir kommen, Dad«, sagte diese an Jon gewandt. »Ich werde Ihre Kleine jetzt wiegen und waschen, und dann können Sie Ihr Mädchen im Arm halten.«

Jon schien stumm um Maryellens Einverständnis zu bitten. Unter Freudentränen nickte sie. Nichts auf der Welt konnte mit diesem Gefühl mithalten, mit diesem wunderbaren Triumphgefühl, dieser Freude, dieser Liebe. Denn Maryellen wusste bereits, dass sie ihr Baby liebte, und die Macht dieser Liebe nahm ihr Herz gefangen wie nichts, was sie jemals empfunden hatte.

Jon und die Schwester gingen zum anderen Ende des Zimmers. Zwar konnte Maryellen nicht alles verfolgen, was dort geschah, aber sie sah Jons Miene, als die Frau ihm Katie in die Arme legte. Die Ehrfurcht und das Hochgefühl, die sich in seinem Gesicht widerspiegelten, rührten sie zutiefst. Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich.

»Sie ist schön«, formte er mit den Lippen und wiegte ihre Tochter beschützend in seiner Armbeuge.

Der Wunsch, sie zu halten, wurde übermächtig, und Maryellen streckte die Hände nach ihrem Baby aus. Sofort kam Jon zu ihr herüber und legte ihr Katie in die wartenden Arme.

So wird es auch künftig sein, begriff Maryellen. Sie würden lernen müssen, ihre Tochter zu teilen. Zusammenzuarbeiten. Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückzustellen – zugunsten von Katies.

Es klopfte an der Tür, doch Maryellen beachtete es nicht. Stattdessen betrachtete sie Catherine Grace. Ihr winziges Gesicht war immer noch rot, die Augen fest geschlossen, als sei ihr das Licht im Zimmer zu hell.

Jon hielt ihr einen Finger hin, und Katie schloss ihre winzige Hand darum.

Eine junge Frau, anscheinend eine ehrenamtliche Helferin, schaute zur Tür herein. »Draußen ist eine Mrs. Sherman. Sie sagt, sie soll Ihnen bei der Geburt beistehen.«

»Das muss meine Mutter sein«, erklärte Maryellen lächelnd.

Die Frau erwiderte ihr Lächeln. »Ich schicke sie ins Zimmer.«

Ein paar Minuten später betraten ihre Mutter und Kelly das Zimmer. Sie bombardierten Maryellen mit Fragen, und ohne dass sie es bemerkte, war Jon gegangen.

Sie hatte sich nicht einmal bei ihm bedanken können.

Während sie darauf wartete, dass die Stadtratssitzung eröffnet wurde, holte Charlotte Jefferson ihr Strickzeug hervor. Sie bedauerte, dass sich nicht mehr Einwohner von Cedar Cove für die Lokalpolitik interessierten. Allerdings wohnte auch sie erst zum zweiten Mal einer Stadtratssitzung bei. Bis vor Kurzem hatte sie städtischen Angelegenheiten kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

»Hallo, Louie«, grüßte sie und nickte dem Bürgermeister höflich zu, als er den Sitzungsraum betrat. Sie saß allein in der zweiten Reihe.

»Wenn ich recht informiert bin, darf man gratulieren«, sagte Louie Benson, als er an ihr vorbeiging. Die Bensons gehörten zu den alteingesessenen Familien von Cedar Cove. Louies jüngerer Bruder Otto galt als einer der besten Rechtsanwälte in der Stadt.

»Ja, ich habe einen Urenkel«, bestätigte Charlotte. »Meinen ersten.«

»Und Grace Sherman ist Großmutter geworden, zum zweiten Mal, glaube ich.«

»Letzte Woche erst.« Grace war genauso stolz auf ihre erste Enkelin, Maryellens Baby, wie auf ihren Enkelsohn, den kleinen Tyler von Kelly und Paul. Charlotte fand es großartig, dass ihre Tochter Olivia und deren beste Freundin jetzt beide Großmütter waren. Sie hatten sich schon immer nahegestanden, und ihre Freundschaft war ein Segen für sie beide.

»Es ist ungewöhnlich, Sie bei Stadtratssitzungen zu sehen«, fuhr der Bürgermeister fort. »Und natürlich auch ein Vergnügen.«

»Meine Anwesenheit hat einen Grund.« Charlotte zerrte heftig an ihrem Garn, während sie weiterstrickte.

»Gibt es etwas, was ich tun kann?«, fragte der Bürgermeister. Offenbar ahnte er bereits etwas.

Und Charlotte hatte gehofft, er würde diese Frage stellen. »Ich möchte beantragen, dass die Stadt eine eigene Klinik bekommt. Meines Erachtens ist es eine Schande, dass wir immer noch keine haben.« Die nächsten Krankenhäuser lagen mindestens zehn bis fünfzehn Meilen entfernt in der Gegend von Bremerton, und dort mussten die Leute oft Stunden in der Notaufnahme warten. Eine Stadt der Größe von Cedar Cove konnte leicht eine Klinik unterhalten. Aber Charlotte hatte klare Vorstellungen davon, wie diese Klinik sein sollte, nämlich eine, die allen in Cedar Cove offenstand, ein echtes städtisches Gesundheitszentrum.

»Hören Sie, Charlotte …«

»Eine Klinik mit gestaffelten Gebühren, die alle Patienten aufnimmt«, fiel sie Louie ins Wort, denn seine Ausflüchte wollte sie nicht hören. »Ich weiß, dass Medicare- und Medicaid-Patienten sich freuen würden, wenn sie bei medizinischen Problemen nicht ganz bis Bremerton oder Silverdale fahren müssten.«

»Da stimme ich Ihnen zu, aber …«

»Zu viele meiner Freunde gehen nicht zu einem Arzt, weil sie Angst vor den Kosten haben.«

»Ja, das ist mir bewusst, aber …«

»Louie Benson, jetzt reden Sie wie ein Politiker.«

»Hören Sie, Charlotte, Sie und ich, wir wissen doch beide, dass das Bürgermeisteramt genau genommen ein repräsentatives Amt ist. Die Stadt wird von einem angestellten Manager geleitet. Wenn Sie mit Matthew Harper über die Einrichtung eines städtischen Gesundheitszentrums auch für sozial Benachteiligte reden wollen, dann nur zu, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass unser Budget das nicht hergibt.«

Na schön, wenn es nötig war, würde sie mit dem Manager darüber reden. »Das werde ich tun.«

Der Bürgermeister wirkte, als sei ihm ein wenig unwohl bei dem Gedanken. Rasch warf er einen Blick über die Schulter. »Darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fragte er dann deutlich leiser.

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