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Winterküsse unterm Nordstern

Als Buch hier erhältlich:

Folge dem Nordstern und finde die große Liebe

Lappland, das Land der Mythen und Legenden: genau der richtige Ort für Charlotte, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Vom Freund verlassen, ohne Wohnung und ohne erfüllenden Job, steht sie vor den Trümmern ihrer Existenz. Kurzerhand nimmt sie sich den Rat ihres Großvaters zu Herzen und folgt dem Nordstern vom Bodensee immer weiter Richtung Polarkreis. Dort angekommen, führt sie von nun an als Weihnachtselfe verkleidet Touristen durch das offizielle Dorf des Weihnachtsmannes. So skurril ihr neuer Arbeitsplatz auch sein mag, ihre Kollegen nehmen sie herzlich auf, und schon bald kommt sie dem stillen Rentierzüchter Eljas näher. Während im glitzernden Winterland eine neue Liebe erwacht, muss Charlotte lernen, wieder zu vertrauen – wartet hier ihr ganz persönliches Weihnachtswunder?


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001202

Leseprobe

1

Obwohl es erst kurz nach drei Uhr am Nachmittag war, versteckte sich die Sonne seit über einer Stunde hinterm Horizont. Der Himmel schimmerte in seidigem Indigoblau, bot einen herrlichen Kontrast für die Abertausend Glitzerlichter, die im Santa Claus Village jedes Gebäude schmückten. Aus zahlreichen Lautsprechern ertönte Weihnachtsmusik – Wonderful Dream von Melanie Thornton stand heute besonders hoch im Kurs. Beim achten Mal hatte Charlotte aufgehört mitzuzählen, wie oft sie das Lied während ihrer Schicht gehört hatte. Unter den Schuhen der Besucher knirschte der Schnee, selbst auf den meistbenutzten Pfaden blieb er weiß und pudrig. Nicht vergleichbar mit der grauschwarzen Matschepampe, die sie von zu Hause kannte.

Alle Menschen, denen sie begegnete, trugen ein Lächeln auf den Lippen. Dick eingemummelt in Schals und Mützen stapften sie von Attraktion zu Attraktion. Auch zu Charlottes Arbeitsuniform gehörten Mütze und Schal, allerdings keine von den modischen, flauschigen. Was eine waschechte Weihnachtselfe sein wollte, trug eine turmhohe Zipfelmütze aus feuerwehrautorotem Filz, dazu einen in verschiedenen Grüntönen gestreiften Schal sowie ein unförmiges Ensemble aus roten Pumphosen und dicker Fransenfilzjacke mit bunten Knöpfen und lustigen Stickapplikationen. Fäustlinge und Stiefel, ebenfalls in Rot, durften natürlich auch nicht fehlen. Trotz der vielen Kleidungsschichten kroch die Kälte mit jeder verstreichenden Stunde tiefer in Charlottes Glieder. Sie rieb die Hände aneinander, pustete Atem auf den Filz, doch die Wärme erreichte ihre Finger kaum.

Als sie die Jobbeschreibung vor ein paar Wochen im Internet gefunden hatte, hatte sich das alles viel einfacher angehört. »Der Weihnachtsmann sucht Elfen«, hatte da in der Anzeige gestanden. Um als Saisonaushilfe in den hohen Norden Lapplands ziehen zu können, waren nicht einmal besondere Fähigkeiten gefragt gewesen. Teamfähigkeit, Kundenorientierung, Freundlichkeit – mehr musste eine angehende Weihnachtselfe nicht mitbringen, alles andere lernten die Elfenanwärter in einem Jobtraining vor Ort. Nicht einmal Finnischkenntnise waren gefordert. Weil die Gäste überwiegend internationale Touristen waren, war Englisch die gängige Sprache im Weihnachtsmanndorf, und das beherrschte sie fließend. Dass sie sich dennoch auch in der Landessprache verständigen konnte, hatte wahrscheinlich den letzten Ausschlag für die Jobzusage gegeben. Nicht viele sprachen Finnisch. Sie konnte es nur, weil ihre Großeltern zeit ihres Lebens eine besondere Verbindung zu dem Land gehabt hatten. Hier hatten sie sich kennengelernt, als Opa ein junger Soldat gewesen war und Oma ein Mädchen mit großen Träumen. Obwohl sie Opa nach dem Krieg der Liebe wegen nach Deutschland gefolgt war, hatte die Sehnsucht nach ihrer Heimat sie nie verlassen, und diese Sehnsucht hatten sie und Opa an Charlotte weitergegeben.

Heute, an Charlottes erstem echten Arbeitstag am Polarkreis, zeigte sich, wie hart dieser Job tatsächlich war. Im Großen und Ganzen bestand er darin, an einem ihr zugewiesenen Ort zu stehen und Besucherfragen zu beantworten. Die meisten Gäste des Weihnachtsmanndorfs hatten jedoch keine Fragen. Sie waren vollkommen zufrieden damit, Fotos von den niedlichen Häusern, den funkelnden Tannenbäumen, den glitzernden Weihnachtskugeln und grinsenden Schneemännern zu machen. Die Eiseskälte, die ihr anfangs noch erfrischend und winterlich vorgekommen war, setzte ihr mit jeder verstreichenden Stunde mehr zu. Und auch das ewige Lautsprechergedudel machte es nicht leichter.

Nur mit Mühe konnte sie sich verkneifen, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Weihnachtselfen sehnten nicht den Feierabend herbei. Weihnachtselfen waren stets zu hundert Prozent bei der Sache und genossen jede Sekunde ihrer wichtigen Tätigkeit!

Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Ihre Hüfte schmerzte vom langen Stehen. Auch das hatte sie unterschätzt. Wenn sie hinter der Theke eines Pubs bediente, bewegte sie sich die ganze Zeit. Das verziehen die Muskeln viel eher als das Herumstehen in der Kälte. Nur gut, dass Henning keine Ahnung hatte, wie tief sie diesmal gesunken war. Seine Missbilligung hätte ihr den Rest gegeben. Mal wieder hatte sie selbst sich in die Bredouille gebracht. Und warum das alles? Wegen eines lächerlichen Traums. Wegen des Ratschlags eines alten Mannes, der es mit Sicherheit niemals so gemeint hatte, wie sie es aufgefasst hatte. Henning hatte recht, wenn er immer wieder durchblicken ließ, dass sie sich selbst nicht vertrauen konnte. Sie war einfach nicht gut darin, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Mit dem Daumen der rechten Hand rieb sie die Innenseite des linken Handgelenks. Die Stelle, an der sie unter den vielen Lagen Stoff die Tätowierung wusste. Ach Opa, so war das alles nicht geplant gewesen.

Ein lautes Lachen riss sie aus den Gedanken. Aus der Plätzchenwerkstatt taumelten zwei Frauen. Sie hatten sich beieinander untergehakt und plapperten ununterbrochen. In breitem amerikanischem Akzent betonten sie, wie amaaaaazing alles hier war: die Blockhäuser, die Lichter, der Schmuck. Sie streckten die Zungen aus den Mündern und kosteten vom Schnee, der in dicken Kissen auf den Tannenzweigen der Weihnachtsbäume lag. Zuerst vorsichtig, dann immer begeisterter naschten sie von den Kristallen und schienen ehrlich überrascht, dass es sich um gefrorenes Wasser handelte. Kein Plastik, kein Styropor und auch kein Eiskonfekt, sondern schlichtes, geschmackloses, gefrorenes Wasser.

Trunken von ihrer unglaublichen Entdeckung wankten die beiden lachend und lauthals staunend auf Charlotte zu.

»Look!«, schrie die eine ihrer Freundin direkt ins Ohr. »Ein Weihnachtself! Hier draußen! Ist das nicht süüüüüüß?«

Die Freundin klatschte begeistert in die Hände.

»Lass uns ein Foto machen. Wir brauchen ein Foto! Das glaubt uns niemand zu Hause.«

Oh, oh. Charlotte ahnte, was das bedeutete. Lächeln, erinnerte sie sich. Lächeln, lächeln, lächeln. Ein Weihnachtself ist immer freundlich. Ein Weihnachtself liest den Gästen des Weihnachtsmanndorfs jeden Wunsch von den Augen ab.

»Dürfen wir ein Foto von dir machen?« Die größere der beiden schrie Charlotte die Frage entgegen.

»Klar.« Sie stemmte die Hände in die Hüften, neigte den Oberkörper ein wenig zur Seite und machte eine ausladende Geste mit den Händen. »So?«

»Oh ja!« Klick, klick, klick. Der Auslöser der Handykamera ertönte ununterbrochen. »Und jetzt mit dem Tannenbaum da drüben! Ich bin übrigens Karen. Und das hier«, sie deutete auf ihre Freundin, »ist Paige.«

»Schön, euch kennenzulernen.« Charlotte gab sich Mühe, so viel Enthusiasmus wie möglich in ihre Stimme zu legen. So nett die beiden sicherlich waren, ihre überschwängliche Art strengte sie jetzt schon an.

»Kannst du vielleicht so tun, als würdest du zaubern?«, fragte Paige. Unauffällig hatten die beiden sie von ihrem Infoposten unter einen der geschmückten Weihnachtsbäume manövriert. »Du weißt schon, so wie die Fee in Cinderella? Als würdest du den ganzen Schmuck gerade erst jetzt an den Baum zaubern.«

»Aber sie hat doch keinen Zauberstab.« Karen runzelte die Stirn.

»Ach, das macht nichts. Elfen können sicher auch ohne Zauberstab zaubern. Sonst könnten sie dem Weihnachtsmann ja gar nicht richtig zur Hand gehen!«

»Meinst du?« Immer noch zweifelnd wandte sich Paige an Charlotte: »Stimmt das? Können Elfen auch ohne Zauberstab zaubern?«

»Ähm …« Meinte sie die Frage wirklich ernst?

»Also, ich glaube, wenn du es genau nehmen willst, können Elfen gar nicht zaubern«, mischte Karen sich wieder in das Gespräch ein. »Schließlich sind Elfen keine Feen. Sie gehören zu einer ganz anderen Gattung magischer Wesen. Elfen sind eher mit Heinzelmännchen verwandt, während Feen …«

Langsam, Schritt für Schritt, entfernte sich Charlotte von den Freundinnen, deren Diskussion sich mit jedem Wort mehr zu einem Streit mauserte. So unauffällig wie möglich verschwand sie zwischen zwei Hütten und bemühte sich, mit der Umgebung zu verschmelzen. Sie durfte ihren Arbeitsplatz nicht verlassen, aber hier, etwas ab vom Schuss, war es zumindest ein wenig ruhiger. Eine Minute lang durchatmen, das künstliche Lächeln sein lassen und nur sie selbst sein, mehr wollte sie gar nicht.

Sie schloss die Augen, atmete die eisige Polarluft ein. Selbst hier draußen war die Luft geschwängert vom Duft der Zuckerplätzchen, die Santa und die Weihnachtsfrau an ihre Besucher verteilten. Aber darunter, tiefer, lag das Aroma von Tannennadeln und endloser Weite. Sie öffnete die Augen, richtete den Blick gen Himmel und suchte nach dem vertrauten Blinken des Nordsterns. Gemeinsam mit ihrem Großvater am Fenster seines Zimmers im Altersheim zu stehen und mit dem Teleskop in die Weite des Universums zu schauen, gehörte zu Charlottes schönsten Erinnerungen. Wie man unter den Abertausenden Lichtern den Polarstern erkannte, hatte Opa ihr als Allererstes erklärt.

Als wäre es gestern gewesen, hörte sie die Stimme des alten Mannes in ihren Ohren.

»Weißt du, was das Besondere am Nordstern ist, Lottilein?«

Sie wusste es. Er hatte es ihr viele Male erzählt. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. Sie wollte es noch einmal hören, wollte, dass er es ihr erklärte. Opas Stimme klang so wunderbar weich und warm, wenn er von den Sternen sprach. Natürlich liebte Charlotte auch ihre Eltern, aber die nahmen sich nie so viel Zeit für sie wie Opa. Ihr Opa war ihr der allerliebste Mensch auf der Welt.

»Das Besondere am Nordstern ist, dass er die ganze lange Nacht über an genau demselben Ort am Himmel bleibt.« Mit dem Finger zeigte er auf den hell leuchtenden Fleck am Firmament. »Er markiert den Nordpol. Für Seefahrer war er deshalb früher der allerwichtigste Punkt im ganzen Universum. Wenn sie sich verloren haben und nicht mehr ein noch aus wussten, dann konnten sie dem Nordstern folgen, und irgendwann hatten sie wieder ein Ziel vor Augen.«

»Wollten denn alle Seefahrer zum Nordpol?«

Opa lachte. »Aber nein, natürlich nicht. Aber wenn sie wussten, wo Norden ist, dann wussten sie auch, wo Süden und Westen und Osten ist. So ist das ganz oft im Leben, weißt du? Oft reicht ein einziger Fixpunkt, eine einzige Sache, die wirklich gut und richtig ist, und der Rest fällt an die passende Stelle.« Er strich ihr mit der Hand über das Haar. Seine Finger zitterten dabei. »Daran musst du immer denken, mein Schatz. Wenn du dich verloren fühlst und nicht mehr weiterweißt, suche deinen Nordstern. Wenn du ihn gefunden hast, kommt der Rest von ganz allein.«

Damals hatte sie nicht verstanden, was ihr Opa ihr sagen wollte, und geglaubt, er spräche von Situationen, wenn Charlotte sich im Wald verlief oder ihre Eltern sie aus Versehen bei einer Fahrt in den Urlaub an einer Tankstelle vergaßen, wie es dem Mädchen in dem Film passiert war, den sie letztens mit einer Schulfreundin gesehen hatte. Heute wusste sie, dass der Ratschlag ihres Großvaters metaphorisch gemeint gewesen war. Dass er ihr hatte sagen wollen, wie wichtig es war, etwas zu haben, woran man glaubte, und dass oft nur eine einzige Konstante im Leben genügte, um nicht im Sturm des Alltags verloren zu gehen. Dennoch hatte sie ihre Faszination für den Polarstern nie verloren. Wie oft hatte sie in den vergangenen Jahren in den Nachthimmel geschaut und nach dem Licht gesucht, das ihr Mut spenden sollte? Wie sehr wünschte sie sich für ihr Leben diese eine Konstante, die ihr die Kraft und den Mut verleihen würde, noch einmal neu anzufangen und an sich zu glauben?

Sie öffnete die Augen, legte den Kopf in den Nacken. Die Krempe ihres Elfenhuts verdeckte ihr die Sicht, aber dort oben war er irgendwo. Ihr Nordstern. Wenn sie im Stillen ihre Wünsche an ihn richtete, musste er sie doch erhören. Nie war sie ihm näher gewesen als jetzt, direkt am Polarkreis.

Wie aus dem Nichts traf sie auf einmal ein Schlag gegen die Körpermitte. Sie taumelte einen Schritt nach hinten, ruderte mit den Armen. Ein hohes Quieken begleitete den Unfall.

»Entschuldigung!« Kaum sah Charlotte wieder klar, erkannte sie das Mädchen, das direkt vor ihr stand. Die Kleine mochte acht, vielleicht neun Jahre alt sein und ging Charlotte bis knapp unter die Brust. Lange, hellblonde Haare fielen ihr von unter einer flauschig weißen Bommelmütze über die Schultern bis beinah zur Mitte des Rückens. Sie trug auch einen weißen Mantel, ihre Augen waren groß vor Schreck, aber sie schien sich schnell zu fangen, denn sie lächelte schon wieder. »Isä sagt immer, ich soll nicht rennen. Tut mir leid, dass ich dich nicht gesehen habe!« Isä hieß Papa auf Finnisch.

Verschwörerisch zwinkerte Charlotte der Kleinen zu. »Keine Angst, von mir erfährt dein Isä bestimmt nichts. Aber verrätst du mir denn, wohin du so eilig wolltest?«

»Zu dem Briefkasten!« Mit der freien Hand deutete das Mädchen auf einen der zahlreichen Briefkästen aus rotem Gusseisen, die überall im Santa Claus Village verstreut standen. Wer seinen Brief nicht beim Weihnachtsmann persönlich abgeben wollte, konnte seinen Wunschzettel dort einwerfen.

»Isä wartet schon mit dem Auto auf dem Parkplatz und hat gemeint, ich muss mich beeilen. Dabei wollte ich dem Weihnachtsmann die Briefe so gerne selber geben.« Die Kleine biss nervös auf ihrer Unterlippe herum. »Aber die Schlange war so lang, und ich habe ewig gebraucht, bis mein Brief fertig war. Ich hab wirklich alles reingeschrieben, was wichtig ist.«

»Wirklich?!« Charlotte riss die Augen auf. Jede Verlegenheit des Mädchens war vergessen.

»Mhmm.« Geflissentlich nickte sie. »Und Isä hat auch einen Brief an Santa geschrieben.«

»Das ist sehr klug von ihm. Auch große Leute sollten immer etwas haben, das sie sich von Herzen wünschen, und nur, wenn Santa von den Wünschen weiß, kann er sie erfüllen.«

»Isäs Wünsche stehen alle da drin.« Sie hob die Briefe ein wenig an. »Wir kommen jedes Jahr hierher, aber sonst hat er immer nur das aufgeschrieben, was ich ihm gesagt habe. Diesmal musste er sich selbst etwas einfallen lassen. Darauf habe ich bestanden.« Die Kleine nickte mit so viel Nachdruck, dass der Bommel auf ihrer Mütze wild tanzte. Charlotte konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. In den Augen des Mädchens war das hier eine wichtige Angelegenheit, und die Kleine verdiente es, dass Charlotte sie ernst nahm.

»Das hast du sehr gut gemacht. Sicherlich nimmt Santa sich ganz viel Zeit für eure Briefe und liest sie mit großer Freude.«

»Kannst du ihm die Briefe vielleicht geben?« Beinah schüchtern jetzt hielt sie Charlotte die beiden Umschläge hin. »Ich muss zurück.«

»Aber der Briefkasten ist doch direkt dort drüben. Soll ich dir helfen?«

»Bitte? Du bist nett. Ich will lieber, dass du sie ihm gibst. Sicher ist sicher.«

»In Ordnung.« Halb seufzend, halb lachend nahm Charlotte die beiden Umschläge von dem Mädchen entgegen. Wenn sie gleich Feierabend hatte, konnte sie sie ohne Umstände zu den anderen Briefen im Hauptpostamt legen. Dort wurden die Wunschzettel der Kinder von Mitarbeitern des Weihnachtsmanndorfs sortiert und, wenn möglich, in einem neutralen Umschlag an ihre Eltern in aller Welt weitergeleitet, damit sich möglichst viele Kinderwünsche an Heiligabend erfüllten. Bis dahin steckte sie die Briefe des Mädchens in die Manteltasche. Noch hatte sie eine geschlagene halbe Stunde Dienst, und die sollte sie lieber mitten im Getümmel verbringen.

»Ich habe die Briefe persönlich einer Weihnachtselfe übergeben! Jetzt bekommt sie Santa ganz bestimmt.«

»Jetzt sitz doch ruhig, Eveliina. Du rutschst noch aus den Gurten. Das ist gefährlich!« Ja, Eljas wusste, dass er übertrieb. Der Kindersitz seiner Tochter gehörte zu den sichersten seiner Klasse. Ehe er sich für ein Modell entschieden hatte, hatte er sich zahlreiche Testberichte zu Gemüte geführt. Diese Dinger waren dafür gemacht, Zusammenstöße mit Überschlag und allem Drum und Dran zu überstehen. Ganz sicher würden sie ihre Sicherheit nicht aufgrund von ein wenig kindlichem Enthusiasmus einbüßen, aber Eljas konnte nicht aus seiner Haut. Eveliina war sein Ein und Alles. Allein der Gedanke, ihr könnte etwas zustoßen, raubte ihm den Verstand.

»Aber Isääää!« Den letzten Buchstaben zog sie in die Länge, Eveliinas liebste Weise, ihm zu zeigen, dass er ihr schrecklich auf die Nerven ging. »Du hörst mir gar nicht zu.«

»Ich höre dir zu, Häschen. Also, wie war das mit den Briefen?«

»Ich habe sie einer der Elfen gegeben. Und ich habe mich mit ihr unterhalten.«

»Das ist ja super.«

»Die Elfe wird doch nicht vergessen, unsere Briefe an Santa weiterzugeben?«

»Ganz sicher nicht.«

»Und glaubst du, der echte Santa liest wirklich alle Briefe von allen Kindern? Oder suchen die Schauspieler im Weihnachtsmanndorf nur die wichtigsten Briefe aus? Ich hoffe, unsere Briefe werden ausgesucht, wenn das so ist. Also zumindest deiner. Meiner ist nicht so wichtig. Wenn ich das nächste Mal bei Mummo bin, schreibe ich einfach noch mal einen Brief und lege ihn mit Hafergrütze und Milch in die Scheune. Dann holen die echten Elfen ihn ab und bringen ihn zu Santa und …«

Eljas blendete das Geplapper seiner Tochter aus. Ihm war es ein Rätsel, wie sie nach einem derart langen Tag noch so viel Energie haben konnte. Vielleicht hätte er ihr doch nicht die heiße Schokolade erlauben sollen, nachdem sie sich schon mit Zuckerstangen, Nougatkonfekt, glasierten Äpfeln und Schokoladenplätzchen den Bauch vollgeschlagen hatte. Eine Überdosis Zucker sorgte bei Eveliina immer dafür, dass aus seiner aufgeweckten Achtjährigen eine überdrehte Achtjährige wurde. Und wenn dann auch noch Müdigkeit dazukam … Er wollte es sich lieber gar nicht erst ausmalen. Die Liveversion dieses ganz besonderen Spektakels würde er bald genug erleben.

Die Fahrt vom Santa Claus Village zu ihrem Zuhause dauerte nicht lange. Seine Rentierweiden grenzten an das Freizeitparkgelände an, und das war gut so. Für die Tiere bedeutete es weniger Stress, wenn er sie von seinem Hof ins Weihnachtsmanndorf brachte, damit die Touristen auf seine Rentierschlittenfahrten aufmerksam wurden. Im November und Dezember war bei ihnen Hochsaison. Da veranstaltete er mit seinen beiden Angestellten täglich zwei bis drei solcher Schlittenfahrten. Dazu kamen Hofführungen, während der die Besucher sehen konnten, wie die Tiere bei ihm lebten, und Rentierwanderungen, bei denen jeder Teilnehmende ein Tier bekam, das er am Zügel durch die Winterwälder führte, sowie Polarlichtsafaris. Dass er sich trotzdem in jedem Advent zumindest einen Tag Zeit nahm, um ihn ganz allein mit Eveliina zu verbringen, gehörte zu ihrer Tradition.

Er liebte die Zeit mit seiner Tochter, doch mindestens genauso sehr liebte er das Nachhausekommen. Sicher, das Santa Claus Village mit all seinen Dekorationen, den tausend Lichtern, dem Lametta und den Glitzergirlanden bot einen spektakulären Anblick. Doch je mehr Zeit er dort verbrachte, desto mehr wusste er die Stille in den Wäldern zu schätzen. Nur eine Reihe Eislaternen, die er gemeinsam mit Eveliina gebaut hatte, erleuchtete den Pfad von der Hauptstraße zu ihrem Wohnhaus. Ein großes Holzschild mit der Aufschrift Jalonen Rentierfarm wies Besuchern den Weg. Er drosselte die Geschwindigkeit. Unter den Reifen seines SUV knirschte der Schnee. Wie immer hatten sie ein einzelnes Licht im Wohnzimmer angelassen, als sie am Morgen das Haus verlassen hatten. Eveliina mochte es so. Sie fürchtete sich davor, in ein düsteres Haus zurückzukommen, und so begrüßte sie auch heute ein goldener Schimmer, der in einem leuchtenden Band aus dem Wohnzimmerfenster ins Freie floss.

Eljas stoppte den Motor. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Eveliinas Geplapper aufgehört hatte. Über die Schulter sah er zu seiner Tochter auf die Rückbank.

Sie war eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, kuschelte sich an die Ohrstütze des Kindersitzes. Ihr Mund stand einen winzigen Spalt offen, ihre Wimpern malten perfekte kleine Halbmonde auf die Wangenknochen. Zwischen ihren Kringellocken lugte die Spitze eines Ohres hervor. Sein kleines Mädchen. Sein Engel. Wärme durchflutete ihn. Ein Gefühl von so unbändiger Liebe, dass er manchmal glaubte, sterben zu müssen, wenn er sich erlauben würde, das volle Ausmaß seiner Emotionen für dieses wundervolle Wesen zu fühlen, das seine Tochter war.

Er zog die Handbremse an, stieg ins Freie, umrundete den Wagen und öffnete die hintere Autotür. So vorsichtig es ging, löste er Eveliinas Sicherheitsgurt. Sie wachte auf, tat jedoch, als würde sie immer noch schlafen, und brummte etwas Unverständliches. Natürlich könnte sie auch alleine zum Haus gehen. Himmel, seit ihrem letzten Wachstumsschub passte sie kaum mehr auf seinen Arm. Aber so groß sie mittlerweile war, manchmal genoss sie es, noch klein zu sein, und ihm ging es ebenso. Solange er es irgendwie schaffte, würde er ihr Spiel mitspielen und sie wie früher vom Auto ins Haus tragen. Ihr starker Isä sein, ihr Held.

Er hob sie aus dem Sitz. Sie schmiegte ihre Arme um seinen Nacken, ihr warmer Atem streifte seinen Hals.

Es bedurfte einiges an Geschicklichkeit, den Haustürschlüssel aus der Jeanstasche und ins Schloss zu fummeln, ohne Eveliina dafür abzusetzen.

Schließlich gelang es ihm doch. Im Windfang streifte er sich die Stiefel von den Füßen und trug Eveliina schnurstracks in ihr Zimmer im ersten Stock des Gebäudes. Es roch kalt und nüchtern im Haus, so wie ein Haus eben roch, das den ganzen Tag leer gestanden hatte. Nur in Eveliinas Prinzessinnentraum von einem Zimmer lag eine leichte Note von künstlichem Erdbeeraroma und Bastelkleber in der Luft. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder mit ihren Duftstiften gemalt und vergessen, danach zu lüften. Sacht ließ er sie auf die Matratze des Bettes sinken. Nicht einmal, als er ihr die Schuhe auszog, rührte sie sich. Erst als er sie auch von Mantel, Schal, Mütze, Socken, Pullover und Hose befreite, flatterten ihre Augenlider. Vielleicht war sie doch müder, als er geglaubt hatte. Im Halbschlaf wehrte sie sich gegen seine Bemühungen. Sie meckerte etwas Unverständliches.

»Pssst«, machte er, »gleich kannst du weiterschlafen.« Während er mit der einen Hand ihr Gesicht streichelte, lüpfte er mit der anderen das Deckbett für sie. »Ab unter die Decke mit dir.«

Sie strampelte mit den Beinen, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schlief diesmal richtig ein. Um ihre Beine steckte er die Decke zu einem Nest fest. Genau so mochte sie es. Er küsste sie auf die Stirn, murmelte einen Gutenachtgruß und verließ das Zimmer. Ein Abend ohne Zähneputzen würde sie nicht umbringen. Ebenso wenig, wie dass er sie in Strumpfhose und T-Shirt schlafen ließ, statt darauf zu bestehen, dass sie einen Schlafanzug anzog. Sie hatten Schlimmeres überstanden. Was für eine Rolle spielte da die richtige Schlafetiquette?

Ohne Licht zu machen, fand er seinen Weg ins Wohnzimmer. Er wusste auch so, dass die dritte und sechste Stufe von oben knarzten, und übersprang sie. Seit Jahren nahm er sich immer wieder vor, sie zu reparieren, aber stets kam etwas dazwischen.

Unten angekommen, zog er sich den Mantel aus. Er schlüpfte in seine Hausschuhe, ging zurück in die Küche und räumte die Spülmaschine aus. Im Kühlschrank guckte er, was er noch dahatte, um Eveliina eine Brotzeit für morgen in der Schule zu machen. Er war nicht ganz bei der Sache. Aus Versehen fiel eine der Kinderzeichnungen von der Kühlschranktür, die dort und an allen anderen Küchenschränken die Fronten zierten. Wie die Zeit verging! Die ersten Zeichnungen hatte noch Lennja hier aufgehängt – krakelige Kopffüßler einer Dreijährigen. Nach und nach bekamen die Darstellungen mehr Details. Aus Kopffüßlern wurden Strichmännchen. Einzelheiten kamen dazu: Sonnen, Häuser, Rentiere, Autos. Neuerdings wirkten Eveliinas Werke wie Röntgenbilder. Oft waren die Körperumrisse ihrer Figuren auch unter den Kleidern sichtbar, sie hatte ein Haus gemalt, in dem man auch von außen sehen konnte, was innen vorging. Eine Mutter, die mit einem Mädchen an einem Tisch saß, während der Vater ein Essen zubereitete.

Apropos Essen zubereiten. Er klaubte die heruntergefallene Zeichnung vom Boden auf und richtete seine Konzentration zurück auf das Innenleben des Kühlschranks. Viel gab es nicht her. Für ein Käsebrot genügte es aber. Dazu legte er einen Becher Kinderjogurt in die Snackbox. So blieb ihm die Arbeit in der Früh erspart, wenn erfahrungsgemäß im Hause Jalonen alles drunter und drüber ging.

Endlich war er dran. Sollte er sich einen Tee machen oder doch lieber ein Glas Wein? Zur Feier des Tages. Alkohol erlaubte er sich nur selten. Es hatte eine Zeit gegeben, da war die Verlockung zu groß gewesen, am Grund einer Flasche Vergessen zu suchen. Nur seine Verantwortung für Eveliina hatte ihn davon abgehalten, vollkommen abzurutschen.

Aber ein Gläschen am Ende eines langen, anstrengenden Tages musste erlaubt sein. Er angelte sich eine Flasche Roten aus dem Weinregal, entkorkte sie und nutzte die Zeit, in der der edle Tropfen atmete, um den Kamin im Wohnzimmer anzufeuern. Wie fast alle finnischen Holzhäuser kühlte auch seines schnell aus. Umso gemütlicher wurde es, sobald ein Feuer knisterte.

Mit geübten Handgriffen schichtete er ein paar Scheite auf und brachte das Anzündholz zum Brennen. Fasziniert sah er den Funken dabei zu, wie sie Nahrung fanden, zu Flammenzungen anwuchsen. An einigen der dünneren Zweige waren noch Nadeln gewesen. Binnen Sekunden duftete der ganze Raum nach Kiefernnadeln und Fichtenharz.

Erst als er sicher war, dass auch die größeren Scheite im Kamin Feuer gefangen hatten, richtete er sich wieder auf. Aus der Vitrine im Esszimmer holte er sich ein Rotweinglas und schenkte sich ein. In öligen Wolken haftete die kostbare Flüssigkeit an der Innenwand. Eljas schwenkte das Glas, inhalierte das intensive Bukett des Riojas. Aromen von tiefroten Beeren, Pflaumen, sogar eine Note Tabak erschnupperte er in dem Duft. Das Tannin addierte eine leichte Bitterkeit zu dem ersten Schluck. Genussvoll schloss er die Augen, spürte dem Geschmack nach. Die Dekokissen, in die er sich lehnte, hatte noch Lennja besorgt. Nur nicht denken, sagte er sich. Nicht an die Vergangenheit. Nicht an die Zukunft. Nicht daran, dass er diesen Wein allein trank, und das schon seit fünf Jahren. Fünf lange Jahre, in denen es niemanden in seinem Leben gab, mit dem er Augenblicke wie diesen teilen konnte.

Als er die Augen öffnete, fiel sein Blick auf das einzige Foto auf dem Kaminsims. Für Eveliina hatte er noch zusammen mit Lennja ganze Alben mit Schnappschüssen und Erinnerungsbildern an ihre gemeinsame Zeit gefüllt. Doch offen sichtbar schmückte nur dieses eine Foto von ihnen das Haus. Mehr hatte er nicht ausgehalten. Am Anfang nicht und auch jetzt nicht. Der Name Lennja bedeutete die Lichtbringende, und genau das hatte sie gemacht. Mit ihrer Fröhlichkeit und Liebe hatte sie die Welt in einen helleren, lustigeren, besseren Ort verwandelt. Ihr Strahlen, selbst auf dem Foto, traf ihn auch jetzt noch, nach all den Jahren, bis ins Mark.

Den Rest des Glases leerte er in einem einzigen Zug. Ob er sie mit seiner Einsamkeit verriet?

Einmal nachschenken, dachte er sich. Nur einmal. Um leichter einzuschlafen. Um den Gedanken und der Leere in seinem Inneren ein Schnippchen zu schlagen. Doch daraus wurde nichts.

Ein herzzerreißender Schluchzer zerriss die Stille um ihn her.

»Isäääää!« Selbst gedämpft durch die Kinderzimmertür klang die Verzweiflung ins Eveliinas Stimme überdeutlich.

Sofort war er auf den Beinen. »Ich komme, Häschen. Isä ist gleich da.«

Eveliina war aufgewacht. Sie hatte schlecht geträumt und Durst und wusste nicht recht, wie sie vom Auto ins Bett gekommen war. Nichts, was sich nicht mit einem Glas Wasser, einer Umarmung und ein wenig Geduld richten ließ.

Ohne es zu wissen, hatte seine Tochter ihn einmal mehr davor bewahrt, eine Dummheit zu begehen.

2

Etwas knisterte, als Charlotte im Begriff war, ihren Elfenmantel in den Spind zu hängen. Irritiert runzelte sie die Stirn und griff in die Manteltasche.

Ach herrje, die Briefe! Sie hatte doch tatsächlich vergessen, ihr Versprechen an das Mädchen von heute Nachmittag einzulösen und die Briefe im Weihnachtsmannpostamt abzugeben. Genau das war wohl der Grund, warum die Elfen normalerweise keine Post an Santa annehmen sollten. Im geschäftigen Elfenalltag ging so etwas gerne unter, und dann hatte man den Salat. Sie hielt die beiden Schreiben immer noch in der Hand, als eine aufgeregte Stimme sie zusammenzucken ließ.

»Hey, Newbie!« Eine junge Frau war zu ihr in die Umkleidekabine der Saisonkräfte geschlüpft. Das Gesicht kam Charlotte vage bekannt vor. Die andere hatte kinnlange, zu einem fransigen Bob geschnittene blonde Haare, ein kleines, spitzes Gesicht und große, blaue Augen. An den Namen konnte sich Charlotte nicht erinnern.

»Wir wollten gleich mit ein paar Leuten ins Silver Barman gehen, kommst du mit? Wir müssen doch auf deinen ersten offiziellen Tag anstoßen.«

Reflexartig steckte Charlotte die beiden Briefe in ihre Anoraktasche. Zuletzt holte sie ihre Schuhe aus dem Schließfach. Wie auch ihre Arbeitsstiefel waren die dick gefüttert. Ohne ging es hier oben am Polarkreis nicht. Dennoch tat es gut, nach dem langen Tag in den Elfenstiefeln die Zehen bewegen zu können.

»Das Silver Barman?« Die Frage schien ihr zumindest höflicher, als damit herauszuplatzen, dass sie keine Ahnung hatte, wer die andere war.

»Ja, den Pub ein paar Hundert Meter die Straße runter. Da gehen wir immer hin, wenn wir mal unter uns sein wollen. Klar, ab und zu verirren sich auch Touristen in Mattias’ Laden, aber die meisten bleiben eher im Feriendorf oder fahren zum Abendessen in die Stadt.«

»Oh. Ähm. Ja, ich …«

Die andere prustete los. »Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, oder? Geschweige denn, wer ich bin.« Grinsend streckte sie die Hand zum Gruß aus. »Ich heiße Karlīna«, stellte sie sich vor. »Das ist die zweite Weihnachtssaison, die ich hier als Elfe mitmache. Für mich ist das der perfekte Semesterjob. Wenn ich nicht gerade fleißige Gehilfin für Santa spiele, studiere ich Anthropologie in Riga.«

Charlotte schlug in den Gruß ein. »Schön, dich kennenzulernen. Sorry, dass ich mich nicht an deinen Namen erinnern konnte.«

»Ach, keine Ursache. Am Anfang ist es immer viel. Deshalb musst du auch unbedingt mitkommen. Nach einem Abend im Silver Barman sind wir allerbeste Freundinnen, versprochen.« Ohne auf eine Antwort von Charlotte zu warten, drehte sie sich um und marschierte davon. Erst in der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Was ist jetzt? Kommst du? Die Elfenbande wartet.«

Charlotte nickte.

Tatsächlich war es nicht weit vom Santa Claus Village zum Pub, doch schon die wenigen Minuten genügten, um die Kälte der Luft auf Charlottes Haut prickeln zu lassen. Im Mondlicht bildete ihre Atemluft kleine Wolken. Jedes Mal, wenn ein Windhauch an den Ästen der eingeschneiten Kiefern und Fichten rüttelte, regnete es winzige Eiskristalle auf sie hernieder.

Umso wärmer schlug ihnen die Luft im Inneren der Bar entgegen. Augenblicklich streifte Charlotte sich Mütze und Schal ab. Karlīna steuerte auf einen Tisch rechts neben dem Tresen zu. In einer Nische saßen dort gut eine Handvoll Leute. Der gesamte Pub wirkte sehr rustikal. Die Wände bestanden aus unbearbeiteten Baumstämmen, das Giebeldach, bis zu dem man von innen aufschauen konnte, aus eng geschnürtem Reisig. Tische, Bänke, der Tresen – alles war aus rohem Holz gezimmert. Auch die Dekoration griff das Blockhausthema auf. Von einer Wand grinste ein Elchkopf aus Plüsch, vergilbte Postkarten bedeckten eine komplette Nische. Auf krummen Regalbrettern reihten sich hinter der Bar zahlreiche Flaschen. Trinkgläser hingen in langen Reihen von unten an dem Bartop.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel riss Charlottes Aufmerksamkeit an sich. Es war ein überlebensgroßer Plastikschneemann mit Bewegungsmelder, der jedes Mal, wenn jemand an ihm vorbeiging, zu dem blechernen Refrain von Jingle Bells tanzte und sang. Das wenige Licht der Deckenlampen reflektierte von den Kugelkränzen in Grün, Gold und Rot, die alle Fenster umrahmten.

Von den fünf Gästen, die in der Nische saßen, sahen nur zwei zu den Neuankömmlingen auf. Die anderen drei waren zu sehr damit beschäftigt, aus runden Bierdeckeln einen Turm zu bauen.

»Hey, hey, seht, wer da kommt. Karlīna bringt uns Frischfleisch!« Ein Junge ergriff als erstes das Wort. Wobei: »Junge« stimmte nicht ganz. »Mann« schien Charlotte jedoch ebenso unpassend. Sie schätzte den Kerl auf Anfang zwanzig. Verblasste Aknenarben zogen Krater in seine Wangen. Er hatte lange Glieder, einen langen Hals und sehr knochige Schultern, doch sein Grinsen besaß die richtige Mischung aus Spitzbübigkeit und Offenheit, die ihn garantiert schon so manches Mal davor bewahrt hatte, in Ärger zu geraten.

»Halt die Klappe, Joost. Du verschreckst Charlotte noch.« Eine nicht gerade sanfte Backpfeife von Karlīna wirbelte Joosts Haare auf. An Charlotte gewandt, erklärte sie: »Dieser Verrückte ist Joost. Er kommt aus den Niederlanden und ist auch schon zum zweiten Mal dabei. Die hübsche Dame zu seiner Rechten ist Lilou. Sie ist Street-Art-Künstlerin und kommt aus Paris. Elfe ist sie aus Passion. Stimmt’s, Lilou?«

»Stimmt genau.« Die Angesprochene schenkte Charlotte ein warmes Lächeln. Mit ihren haselnussbrauen, schulterlangen Haaren, dem fransigen Pony und dem eleganten, ovalen Gesicht sah sie aus wie eine junge Sophie Marceau. Selbst wenn Karlīna Charlotte nicht verraten hätte, dass Lilou Künstlerin war, hätte sie die Kreative in der jungen Frau erkannt.

»Schön, dich kennenzulernen, Charlotte.« Ihr französischer Akzent war noch charmanter als ihr freundliches Lächeln. Sie rutschte auf der Bank ein wenig zur Seite. »Setz dich zu mir.«

Ehe auch Karlīna in der Nische Platz nahm, klopfte sie mit der Faust zweimal auf die Tischplatte. Die Platte vibrierte, der Bierdeckelturm wackelte, dann brach er zusammen. Murrend wandten nun auch die anderen drei ihre Aufmerksamkeit zu ihnen.

»Jetzt, wo sich auch diese Schwachköpfe endlich dran erinnert haben, wie man Neuankömmlinge behandelt: Das sind Lachlan, Gabriela und Valentina.« Jedes Mal, wenn Karlīna den entsprechenden Namen sagte, hob die jeweilige Person die Hand. »Und gemeinsam sind wir die Elfenbande. He, Mattias!« Über die Schulter brüllte sie nach dem Mann hinter der Bar. Ihm hatte das Pub wohl seinen Namen zu verdanken. Er war ein massiger Kerl, über dessen runden Bauch sich ein rot-weiß kariertes Holzfällerhemd spannte und dessen silberweiße lange Haare direkt in einen silberweißen, langen Bart übergingen. Trotz der Haarfarbe wirkte er seltsam alterslos. Sein Gesicht zeigte kaum Furchen, er könnte dreißig sein und fünfzig.

»Eine Runde Sahti für die Elfenbande.«

Statt zu antworten salutierte Matthias grinsend in Karlīnas Richtung.

Diese ließ sich mit einem tiefen Seufzen auf die Bank fallen, dann ging ein Ruck durch sie und sie richtete ihren Blick wieder auf Charlotte. »Du trinkst doch Bier, oder? Wobei Sahti ja irgendwie nicht wirklich was mit dem Bier zu tun hat, das man sonst so kennt. Hast du es schon mal probiert?«

Charlotte schüttelte den Kopf. Karlīnas Energie schien kein Ende zu nehmen. Dabei hatte auch sie einen ganzen Tag als Santas Gehilfin hinter sich.

»Da hast du auf jeden Fall was verpasst!«

»Der Legende nach ist Sahti das älteste noch existierende Bier der Welt«, mischte sich der junge Mann ins Gespräch ein, den Karlīna zuvor als Lachlan vorgestellt hatte. »Die Rezeptur ist angeblich über tausend Jahre alt. Statt Hopfen wird es mit Wacholder gewürzt und auch über Wacholderzweigen geläutert.«

»Und falls du es bisher nicht herausgefunden hast …«, Joost fiel Lachlan ins Wort, »… ist unser schottischer Freund hier Lebensmittelchemiker.«

»Echt?« Charlotte machte große Augen. Sie hätte Lachlan für vieles gehalten, aber sicher nicht für einen Naturwissenschaftler. Chemiker waren in ihrer Vorstellung immer typische Nerds. Lachlan mit seinen schwarzen Haaren, dem blassen Teint und den stechend blauen Augen dagegen könnte ohne Weiteres auf Magazincovern abgebildet sein. Er wirkte älter als die anderen am Tisch, eher Mitte bis Ende zwanzig und damit immer noch gut und gerne vier oder fünf Jahre jünger als sie.

Der Gedanke breitete sich als dumpfes Brennen in ihrer Magengegend aus, und auch, was Lachlan dann sagte, machte es nicht besser.

»Na ja, das habe ich zumindest studiert. Eigentlich plane ich, die Landwirtschaft meiner Eltern zu übernehmen. Ich hab so viele Ideen dafür. Alles auf Bio umzustellen und viel mehr auf Qualität statt auf Quantität zu setzen und so. Große Gewinne bringt Landwirtschaft heutzutage sowieso nicht mehr. Wenn man in dem Bereich dennoch bestehen will, muss man eine Nische finden. Etwas, das die eigenen Produkte zu etwas Besonderem macht.« Weil er sah, dass Charlotte nichts darauf zu antworten wusste, unterbrach er sich kopfschüttelnd. Ein halbes Lächeln zupfte an seinem rechten Mundwinkel. Charlotte wollte wetten, dass er diesen Blick über Jahre hinweg perfektioniert hatte.

»Sorry«, nuschelte er und sah sie aus großen Augen von unten herauf an. »Manchmal weiß ich nicht, wann ich besser aufhören sollte zu reden. Aber jetzt bist du dran. Was machst du, wenn du nicht gerade am Nordpol Touristen im Elfenkostüm durch einen Freizeitpark führst?«

»Ich …« Weiter kam sie nicht. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, das drückende Gefühl in ihrem Magen breitete sich aus. So fühlte sich Scham an.

Um das abwartende Schweigen von Lachlan zu überbrücken, stieß sie ein kurzes Lachen aus. Der Ton geriet zu hoch, beinah panisch. »Ich bin gerade dabei, mich neu zu orientieren.« Das klang zumindest besser als Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll, auch wenn es – streng genommen – dasselbe meinte. Doch wie sollte sie diesen jungen Menschen erklären, dass es ihr gelungen war, ihr gesamtes Leben mit Anlauf gegen die Wand zu fahren? Dass alles, worauf sie in den letzten zwölf Jahren gesetzt hatte, sich als Schimäre erwiesen hatte? Lachlan und die anderen wirkten so … frei. Sie waren jung und unbeschwert, sie hatten Ziele und Träume und besaßen den Glauben daran, dass sich diese Ziele erreichen ließen. Dass es in ihrer Hand lag, was sie aus ihrem Leben machen wollten. Charlotte war dreißig Jahre alt – das war nicht wirklich alt. Aber im Vergleich zu den anderen hier am Tisch kam sie sich geradezu verbraucht vor. Wie ein ausgelatschtes, löchriges Paar Schuhe, weggeworfen und vergessen. Jahrelang hatte es gute Dienste geleistet, aber nach einer Weile freute man sich auf ein neues Paar. Ein schickeres, moderneres, und für sie blieb nur noch die Altkleidersammlung.

Zum Glück rettete Mattias sie mit seinem Auftauchen. Er schob ein Tablett mit sechs bis zum Rand gefüllten Gläsern auf den Tisch.

»Sechs Sahti für die Herrschaften. Bitteschön. Lasst es euch schmecken. Kippis!« Eins nach dem anderen wanderten die Gläser vom Tablett auf den Tisch. Das Bier besaß einen warmen, aber trüben Karamellton und nur wenig Schaum. Im Nu waren die Gläser verteilt. Auch vor Charlotte landete eines.

»Cheers«, meinte Lachlan.

Ihm folgend hoben auch die anderen ihre Getränke.

»Oder Kippis, wie die Finnen sagen«, fügte Karlīna erklärend hinzu.

»Santé«, sagte Lilou, »Salud«, wünschte Gabriela und »Saluti« Valentina,

»Jetzt du!«, verlangte Joost. »Wie sagt man cheers auf Deutsch?«

»Prost!«

»Prost!«, wiederholten die anderen grinsend, und dann tranken sie. Das hieß: Charlotte nippte, und das war auch gut so. Nicht, dass sie von sich behaupten könnte, eine große Bierkennerin zu sein, doch der Geschmack des Sahti überraschte sie. Um ein Haar hätte sie den Schluck zurück ins Glas gespuckt. Dem Bier fehlte jede Kohlensäure. Dick und ölig rann es über die Zunge und verbreitete einen intensiven, süß-sauren Geschmack in ihrem Gaumen. Den zweiten Schluck ging sie noch vorsichtiger an, konzentrierte sich auf die ungewöhnlichen Aromen. Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hatte, schmeckte es gar nicht so übel. Ein wenig wie Banane auf Pumpernickel. Sehr malzig und intensiv.

Und noch etwas Gutes hatte der Sahti: Der Alkohol vertrieb die nagende Scham in ihrem Inneren. Jemand bestellte eine Portion Leipäjuusto. Charlotte hatte keine Ahnung, was das sein sollte, bis Mattias mehrere Steingutpfannen brachte, die mit einer weißen, käseartigen Masse gefüllt waren, deren Oberfläche an einigen Stellen gebräunte Hitzeblasen bildete. Dazu kam ein Korb mit mehreren Fladen Brot sowie kleine Tiegelchen mit einer orangefarbenen Marmelade.

»Lasst es euch schmecken«, wünschte der Wirt und wischte sich die Hände an der Bistroschürze ab, ehe er weiter zum nächsten Tisch zog.

»Bedien dich«, forderte Karlīna sie auf. Sie selbst rupfte sich ein Stück Fladenbrot ab, häufte etwas Käse darauf und krönte das ganze mit einem Klecks Marmelade.

Auch die anderen am Tisch langten zu. Keiner schien sich Gedanken darüber zu machen, wem welche Portion gehörte, also folgte Charlotte ihrem Beispiel.

Bevor sie sich den ersten Bissen in den Mund steckte, schnupperte sie an der Kreation. Am intensivsten war das Aroma, das von der Marmelade ausging. Süß-sauer, mit einer feinen Honignote.

»Sind das Preiselbeeren? Ich habe die noch nie so hell gesehen«

»Moltebeeren«, korrigierte Lachlan sie. Er selbst hatte noch einen Bissen im Mund, an dem er versuchte vorbeizusprechen. Mit der einen Hand fächelte er sich Luft zu. Offenbar war die Speise heißer, als er vermutet hatte. Charlotte versuchte sich Henning vorzustellen, wie er mit ihren neuen Kollegen im Silver Barman saß, mit Brotkrumen Käse und Marmelade aus gemeinsamen Pfännchen schöpfte und anschließend das Fett von den Fingern leckte. Die Vorstellung war so absurd, dass sie nicht einmal in ihrer Fantasie Gestalt annehmen wollte.

»Sie sind die Wahrzeichen Lapplands. Wusstest du das nicht? Eine Molteblume ist sogar auf der finnischen Zweieuromünze abgebildet.«

»Wie bitte?« Sie schüttelte den Kopf, versuchte Henning aus ihren Gedanken zu vertreiben. Er verdiente nicht, mit ihr hier zu sein, schließlich wollte er sie nicht. Wie ein löchriges Paar Socken, das für sein neues Leben nicht mehr gut genug war, hatte er sie abgestreift und weggeworfen. Sie sollte seinem Beispiel folgen und so tun, als hätte es ihn nie gegeben. Wie weit sollte sie denn fliehen, bis ihr das gelang? Viel weiter weg als vom Bodensee bis an den Polarkreis ging es schließlich nicht.

»Nichts.« Lachend wischte Karlīna Charlottes Nachfrage beiseite. »Lachlan muss nur mal wieder klugscheißen. Jetzt probier schon.«

Das tat sie. Der Geschmack des Käses erinnerte sie an sehr milden Mozzarella. Nicht schlecht, aber auch nichts Besonderes. Die Überraschung kam, als sie begann zu kauen. Zwischen den Zähnen quietschte der Käse. Überrascht schlug sie sich eine Hand vor den Mund.

Karlīna zwinkerte ihr zu. »Und jetzt weißt du, warum man Leipäjuusto auch Knister- oder Quietschekäse nennt. Gut, oder?«

Und tatsächlich: Je mehr Charlotte von der Spezialität aß, desto leckerer fand sie den Geschmack. Das Brot erinnerte sie von der Textur her an Stockbrot, das sie mit den Kindern während ihres Praktikums im Kindergarten gemacht hatte. Beim Kauen entfaltete es eine angenehme Süße, die einen perfekten Gegenklang zu der Säure der Moltebeeren bildete und von der buttrigen Schmelze des Käses intensiviert wurde. Die Krone setzte dem Ganzen dann aber der Schluck Sahti auf, mit dem sie den Bissen herunterspülte. Die Bitterkeit und Würze des Wacholders und die Sahnigkeit des Biers waren gerade stark genug, um den Gaumen zu reizen, ohne dabei die anderen Aromen zu übertünchen. Zufrieden lehnte sie sich zurück.

Es dauerte nicht lange, bis die Atmosphäre der Bar sie einlullte. Sie lauschte den Gesprächen der anderen, ohne das Gefühl zu haben, etwas beitragen zu müssen. Trotz des kurzen Anflugs von Unwohlsein, als ihr bewusst geworden war, wie viel jünger die anderen Aushilfskräfte waren, fühlte sie sich wohl mit der Elfenbande. Beinah wirkte es, als würden sie instinktiv spüren, dass Charlottes Vertrauen in Menschen vor nicht allzu langer Zeit einen gehörigen Knacks abbekommen hatte. Sie war sich noch nicht sicher, ob der jemals verheilen würde. Doch trotz ihres angeschlagenen Selbstbewusstseins gaben ihr die anderen das Gefühl, Willkommen zu sein, ohne Erwartungen zu stellen. Dazu die komfortable Schwere vom Essen, die wohlige Gleichgültigkeit, die das Bier in ihrem Kopf verbreitete, und die leise Musik aus den Lautsprechern, und es kam immer öfter vor, dass sie ihr Gähnen nur noch mit Mühe hinter vorgehaltener Hand verbergen konnte. Ihre Schauspielkünste ließen allerdings offenbar zu wünschen übrig.

Spielerisch stupste Karlīna sie in die Seite. »Den ganzen Tag in der Eiseskälte zu arbeiten kostet Kraft. Jede und jeder von uns ist am Anfang am Ende des Tages total erschlagen gewesen. Unsretwegen musst du nicht irgendeine bestimmte Zeit hier drinnen absitzen. Wir sind fast jeden Abend hier. Du wirst noch genug Gelegenheiten bekommen, die Schwachköpfe hier näher kennenzulernen.«

»He, wen nennst du einen Schwachkopf?« Joost hatte offenbar nur den letzten Satz mitbekommen. Er angelte sich einen Bierdeckel vom Tisch und warf ihn nach Karlīna. Charlotte wurde das Gefühl nicht los, dass für die beiden der alte Spruch galt: Was sich liebt, das neckt sich.

Sie jedenfalls nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen. Der Ausweg, den Karlīna ihr geboten hatte, kam ihr gerade recht. »Ich mach mich dann mal auf den Heimweg. War schön, euch kennenzulernen.«

»Dito.« Lilou lächelte ein Lächeln, das fraglos die Macht hatte, Herzen zu brechen.

»Du bis jetzt eine von uns«, mischte sich zum ersten Mal Valentina ein. Mit ihr hatte Charlotte sich den ganzen Abend über nicht unterhalten. »Wir hoffen, dich von jetzt an regelmäßig zu sehen. Also, auch außerhalb der Arbeit, meine ich.«

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