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Wintermeer und Dünenzauber

Als Buch hier erhältlich:

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Ein nordfriesischer Winter voll Dünenzauber und Liebe

Wenn Jana am Nordseestrand steht und tief durchatmet, weiß sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Hier in St. Peter-Ording ist sie zu Hause, hier gehört sie hin. Alles andere lässt Jana hinter sich und freut sich darauf, hier einen Geschenkladen zu eröffnen. Direkt gegenüber von Ayk Truels Buchhandlung. Als der Buchhändler auffallend oft herüberkommt, beginnt Jana schon fast von gemeinsamen Abenden am Kamin zu träumen. Doch Ayk hat ein Geheimnis und ein ungewöhnliches Anliegen: Jana soll ihm helfen, den Zauber des Meeres einzufangen.


  • Erscheinungstag: 22.09.2020
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675512

Leseprobe

Für Katja,

weil ich immer auf dich zählen kann!

Prolog

»Entschuldigung. Sie müssen mir unbedingt helfen. So was ist mir wirklich noch nie passiert. Eine bodenlose Unverschämtheit ist das!«

Felke ließ das Fernglas sinken, durch das sie zuvor über die im Sonnenschein glitzernden Wellen der Nordsee geschaut hatte. Neben ihr auf der Veranda des Pfahlbaus stand eine ältere Dame, deren empörter Blick sie fixierte. Sie trug ein maritimes Strandkleid. Auf ihrem Kopf saß ein Strohhut, der mit einem dunkelblauen Band und weißen Polka Dots umwickelt war.

»Guten Tag. Was ist denn passiert?«, erkundigte Felke sich. Als Rettungsschwimmerin beaufsichtigte sie nicht nur den Schwimmbereich im Meer, sondern bemühte sich nebenbei auch um ein friedliches Strandleben.

»Den Strandkorb hat man mir streitig gemacht, obwohl ich ihn für zehn Tage gebucht habe. Stellen Sie sich das mal vor!« Die Frau stützte sich mit einer Hand an das hölzerne Geländer des Pfahlbaus, in der anderen hielt sie ein Waffelhörnchen. Das Eis war teilweise geschmolzen und tropfte unbemerkt auf den Holzboden.

»Und meine Strandtasche ist auch gestohlen worden. Darin war auch der Buchungsbeleg. Ich bin ja höchstens fünf Minuten weg gewesen, um ein Eis zu kaufen. Und als ich wiederkam …« Sie machte eine aufgebrachte Handbewegung, warf einen Blick auf das Eis und leckte das Rinnsal von der Waffel.

»Das werden wir klären.« Felke nickte der Frau freundlich zu und schaute über ihre Schulter zu ihrem Kollegen Gunnar, der in der Kammer der Station Listen ausfüllen wollte. »Gunnar, ich bin mal eben weg. Übernimmst du die Strandaufsicht?«

»Aye, aye, Käpt’n«, rief er und legte kurz eine Hand an die Schläfe.

Lächelnd setzte sich Felke ihre Sonnenbrille auf und stieg mit der alten Dame die Treppen vom Pfahlbau der DLRG-Wachstation hinab. Sie folgte ihr bis zu einem Strandkorb, in dem ein Mann und eine Frau saßen. Zu ihren Füßen lag ein Golden Retriever im Sand, der gierig Wasser aus einem Edelstahlnapf schlabberte.

»Das ist meiner«, sagte die alte Frau und zeigte anklagend auf den Strandkorb, bevor sie sich den Rest des Waffelhörnchens in den Mund schob.

»Aber das stimmt doch nicht! Hier muss ein Missverständnis vorliegen«, entgegnete die Frau und stellte die Füße, die sie gekreuzt hatte, nebeneinander auf den Sand. »Wir haben den Strandkorb gemietet. Schon vor zwei Wochen.«

»Das ist ja wohl die Höhe!« Die alte Frau schüttelte bestimmt den Kopf. »Sie denken sich das aus, weil ich nämlich den Strandkorb gemietet habe.«

»Das haben wir bestimmt gleich.« Felke nickte der Dame beschwichtigend zu.

»Wir können Ihnen gerne unsere Buchungsbestätigung zeigen. Einen Moment«, schaltete sich der Mann ein. Er kramte in einem Rucksack herum und hielt wenig später einen Zettel in der Hand. »Hier, bitte schön.«

Felke setzte die Sonnenbrille ab, bevor sie das Blatt Papier überflog. Um einen Blick auf die Nummer werfen zu können, ging sie um den Strandkorb herum. »1402. Scheint alles in Ordnung zu sein.« Sie gab dem Mann den Beleg zurück.

»Aber das kann doch gar nicht sein!« Die alte Dame schaute sich hilflos um.

Beruhigend legte Felke ihr eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge. Ich kläre das. Warten Sie kurz hier.«

Sie ging durch den feinen Sand, überprüfte die Nummern auf den Strandkörben in der näheren Umgebung und schaute nach, ob sie belegt waren. In einigen Metern Entfernung wurde sie fündig. Sie winkte die alte Dame aufmunternd lächelnd zu sich.

»Ist das Ihre?« Felke deutete auf eine Tasche, die in einem verlassenen Strandkorb lag.

»Tatsächlich.« Die alte Dame schaute sie verwundert an. »Wie kann das sein?«

»Sie hatten einen Zahlendreher. Ihr Strandkorb hat die Nummer 1420, nicht 1402«, klärte Felke das Missverständnis auf.

Die Dame zog den Buchungsbeleg aus der Tasche hervor. »Stimmt. Hier steht 1420. Meine Güte, bin ich denn schon so tüdelig?« Sie fasste sich mit einer Hand an den Kopf. »Das ist mir jetzt aber unangenehm. Da habe ich das Paar zu Unrecht beschuldigt und Ihre Zeit auch grundlos in Anspruch genommen.«

»Keine Sorge. Auf einem großen Strand, mit so vielen Strandkörben, kann man sich leicht vertun. Da sind schon ganz andere Leute durcheinandergekommen. Was wirklich zählt, ist doch, dass wir Ihren Strandkorb gefunden haben.«

Nachdem Felke sich von der Frau verabschiedet hatte, schlug sie wieder den Rückweg zum Pfahlbau der DLRG ein. Dabei beobachtete sie routinemäßig das Strandgeschehen. Es herrschte Hochbetrieb an der Badestelle St. Peter-Bad. Die Leute genossen den herrlichen Spätsommertag mit einem Buch oder einer Zeitschrift in den Strandkörben oder bunten Strandmuscheln. Möwenschreie gellten durch die Luft. Jugendliche hatten sich zu einer Partie Beach-Volleyball zusammengefunden und baggerten den Ball über ein aufgespanntes Netz. Kinder schipperten in Gummibooten durch die Brandung, und weiter draußen schwebten farbenfrohe Kites über dem Meer. Felke atmete die salzige Brise tief ein und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Sie hatte großes Glück, in St. Peter-Ording geboren zu sein und am schönsten Strand der Welt arbeiten zu dürfen. Ein Leben in der Stadt wäre nichts für sie. Um glücklich zu sein, musste sie das Meer riechen können, sobald sie die Haustür öffnete. Der Sand leuchtete in der Sonne so weiß wie an einem Südseestrand. Und das ganz ohne Palmen und Türkisschimmer des Meeres.

»Problem gelöst. Ich habe den Strandkorb der Frau gefunden. Sie hat sich mit der Nummer vertan«, sagte Felke zu Gunnar, als sie wieder ihre Position auf der Wachstation einnahm.

»Gut.« Er nickte und seufzte leise. »Ich widme mich dann mal wieder dem Schreibkram.«

Felke grinste. »Viel Spaß!«

»Spaß … Ha, ha.« Ihr Kollege verdrehte die Augen und ging zurück ins Holzhaus.

Durch das Fernglas sah das Strandleben nicht minder friedlich aus. Felke beobachtete zwei Jungen in Badehosen, die zusammen in der Brandung standen und Eis am Stiel schleckten. Eine Portion Eiscreme könnte ich mir auch gut gönnen, dachte sie, später. Sie schwenkte mit dem Feldstecher an einem Pfahlbau vorbei, in dem ein Restaurant untergebracht war. Vor dem Zugang über eine Holztreppe herrschte reger Betrieb. Wie immer um die Mittagszeit. Felke nahm den Abschnitt dahinter ins Visier. Auch hier bot sich ihr das Bild eines unbeschwerten Sommertages am Meer. Sie wollte das Fernglas schon sinken lassen, um etwas Sonnencreme auf ihren Armen nachzulegen, da nahm sie plötzlich weiter hinten hektische Bewegungen an einem gelben Fleck wahr. Vielleicht war ein Badegast zu einer Boje geschwommen? Felke stellte die Sicht scharf ein. Nun erkannte sie, was sich weiter hinten auf dem Meer abspielte. Jemand war auf die Nordsee hinausgetrieben worden. Die Person schien in Schwierigkeiten zu sein und versuchte durch heftiges Winken, andere Badegäste auf sich aufmerksam zu machen.

»Gunnar! Badegast in Not«, rief Felke und zog sich schon hastig Schuhe, Shorts und T-Shirt aus.

»Ich rufe die 112 zur Verstärkung!«, rief er.

Felke griff nach dem Gurtretter, der neben dem Eingang zum Holzhaus lag, und rannte ohne ein weiteres Wort los. So schnell sie konnte, sprintete sie über den Strand.

Inzwischen waren auch ein paar Badegäste auf die Notlage des Schwimmers aufmerksam geworden und gaben Felke Handzeichen. Sie rannte in die Brandung und stürzte sich kopfüber ins kühle Meer. Mit kräftigen Kraulbewegungen kämpfte sie sich durch die salzigen Wellen. Dabei versuchte sie den Schwimmer nicht aus den Augen zu verlieren. Doch irgendwann konnte sie ihn nicht mehr sehen, nur das gelbe Etwas, das auf den Wellen trieb, was sie aus der Nähe als Luftmatratze identifizieren konnte.

Felke spürte eine Welle der Panik aufsteigen, rang sie aber nieder. Wo war der in Not geratene Mensch nur? Bisher hatte sie noch jeden Badegast wieder sicher an Land gebracht. Sie holte tief Luft und tauchte.

Als waschechtes Küstenkind war sie quasi in der Nordsee groß geworden und darin geübt, die Augen im Salzwasser geöffnet zu halten. Felke hatte keine Angst vor dem Meer. Sie kannte sich bestens mit Tiden und Strömungen aus. Da! Ein paar Meter vor sich sah sie einen menschlichen Körper unter der Wasseroberfläche schweben.

Sie schwamm mit kraftvollen Zügen auf ihn zu und schob mit ein paar geübten Handgriffen die Arme über den Auftriebskörper und legte den Gurtretter an. Mit einer Hand hielt sie den Gurtretter im Bereich der Verbindungsleine an einer der Metallösen fest. Mit der anderen zog sie den Auftriebskörper um den Brustkorb der Person stramm. Felke hatte dieses Prozedere schon so oft durchgeführt, dass sie die nötigen Handgriffe routiniert und zügig vollführte.

Erst als der zu Rettende mit dem Gurtretter fixiert war und wieder an der Wasseroberfläche trieb, bemerkte sie, dass sie ein Mädchen aus dem Wasser zog. Es hatte langes dunkles Haar. Mehr konnte sie in der aufgewühlten Nordsee nicht erkennen.

»Ich bin da und bringe dich jetzt an Land«, sprach sie das Mädchen an, das kein Lebenszeichen von sich gab.

In dem mittelstarken Seegang schwamm Felke um das Kind herum, um es zum Strand ziehen zu können. Erst als das Mädchen mit einer Welle in ihre Richtung gespült wurde, schaute sie ihm ins Gesicht.

Ihr Atem stockte. Oh, nein! Sie kannte das Mädchen. Es war Paula. Eines der Kinder von der Gastronomenfamilie Fahrenkoog, die in St. Peter-Dorf ein beliebtes Fischrestaurant betrieb.

Felke ermahnte sich still, nicht die Nerven zu verlieren. Ruhe bewahren war angesagt. Sie war Rettungsschwimmerin, und ihre Aufgabe war es, in Not geratene Personen so schnell wie möglich an Land zu bringen. Felke umfasste Paula im Brust-Schulter-Schleppgriff und begann zu schwimmen. Das Mädchen trieb wie eine Puppe auf der Wasseroberfläche.

Schnell, sagte Felke sich, sie musste sich beeilen, schneller schwimmen. Sie musste Paula retten. Das war das Einzige, woran sie denken konnte.

Kurz bevor sie das Ufer mit dem Mädchen erreicht hatte, kam Gunnar ihr entgegengeschwommen. Er half ihr, Paula an den Strand zu bringen. Die bläuliche Lippenfärbung des Mädchens zeigte eindeutige Anzeichen einer Unterkühlung.

»Der Krankenwagen müsste jeden Moment eintreffen«, sagte Gunnar.

»Okay«, brachte Felke atemlos hervor. Ihre Lungen schmerzten vor Anstrengung. Einige Schaulustige hatten sich mit gebührendem Abstand eingefunden und beobachteten die Rettungsaktion. Schon kniete sich Felke neben das bewusstlose Mädchen, das vor ihr im Sand lag, und kontrollierte, ob es atmete. »Keine Atmung feststellbar.«

Felke legte beide Hände auf Paulas Brustbein und begann im Takt von Stayin’ alive mit der Herzdruckmassage. Mit kräftigen rhythmischen Bewegungen drückte sie das Brustbein des Mädchens immer wieder nach unten. In der Ferne erklang ein Martinshorn.

1. Kapitel

Die Räder der Maschine setzten unsanft auf der Landebahn auf. »Herzlich willkommen in Hamburg«, erklang die nasale Stimme des Piloten aus dem Cockpit. »Bitte bleiben Sie noch angeschnallt sitzen, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben und die Anschnallzeichen erloschen sind. Vielen Dank.«

Jana warf einen Blick durch das kleine Fenster neben ihrem Sitzplatz und runzelte die Stirn. Durch die dichte Wolkendecke fiel kein einziger Sonnenstrahl. Hamburg empfing sie mit einem tristen Novembergrau, wie es im Buche stand. Richtiges Schietwetter, dachte sie. Das hatte sie nicht vermisst. Seufzend zog sie den Reißverschluss ihrer Sweatshirtjacke höher und zog ein Tuch aus ihrem Reisegepäck, das sie sich um den Hals band.

»Sieht ziemlich unselig da draußen aus, was?«, sagte ihre Sitznachbarin, die neugierig ihren Hals reckte, um einen besseren Blick aus dem Fenster zu bekommen. »Das schöne Wetter hätte ich gerne von Gran Canaria nach Hamburg mitgenommen. Ich spüre jetzt schon wieder meine Gelenke.«

»Mischen Sie am besten auf einen Esslöffel Johanniskrautöl, je drei Tropen Lavendel, Latschenkiefer und Kanuka zusammen. Damit reiben Sie sich dann die schmerzenden Gelenke ein. Das wird helfen«, erwiderte Jana, ohne nachzudenken.

Die alte Dame hob überrascht die Augenbrauen. »Ach, Sie kennen sich aus?«

Jana lächelte. »Ähm, ja … Entschuldigung. Ich habe diese Mischung meinen Kunden auf Cran Canaria immer empfohlen. Bei Gelenkschmerzen gebe ich die Empfehlung schon fast automatisch. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Zusammensetzung schnell auf.«

Nachdem sie einen Stift in ihrer Tasche gefunden hatte, notierte sie die Rezeptur.

»Lassen Sie von Ihrem Hausarzt aber lieber vorsorglich untersuchen, ob bei Ihnen ein Mangel an Vitaminen oder Mineralien vorliegt. Besonders Kalzium und Magnesium sind wichtig für die Bildung von Gelenkflüssigkeiten. Vielleicht fehlt Ihnen da etwas.« Sie gab ihrer Sitznachbarin den Zettel.

»Na, Donnerwetter!« Die Frau warf ihr einen freudigen Blick zu. »Da habe ich ja richtig Glück, dass ich Sie getroffen habe. Nächste Woche habe ich tatsächlich einen Termin bei meiner Hausärztin. Danke für die Tipps.«

Jana schnallte sich ab. Das Flugzeug war zum Stehen gekommen. »Da nicht für. Hauptsache, es hilft gegen die Schmerzen. Dann wollen wir mal.« Sie stand auf und schulterte ihre Umhängetasche, nachdem die Sitznachbarin den Gang betreten hatte.

Als sie das Flugzeug über die Passagierbrücke verlassen hatte, verabschiedete sie sich von der Frau, die sich noch mal bei ihr bedankte, am Gate und machte sich gut gelaunt auf den Weg zur Gepäckausgabe. Erst am Gepäckband, als sie auf ihren Koffer wartete, schaltete Jana ihr Smartphone ein. Sie hatte eine neue Sprachnachricht von ihrer Freundin Pütti bekommen, die sie sofort abhörte.

»Hey, Jana. Ich werde mich leider verspäten, weil ich auf der A 23 im Stau stehe. Hier ist alles einspurig wegen einer Baustelle. Sorry. Ich melde mich, wenn ich am Flughafen bin, ja? Hoffentlich hattest du einen guten Flug.«

In der Flughafenhalle war es kühl. Jana fröstelte in ihrem dünnen Wollpulli und rieb sich die Arme. An die norddeutschen Temperaturen musste sie sich erst wieder gewöhnen. Vielleicht war Püttis Verspätung ein Wink des Himmels.

Das Telefon immer noch in der Hand, nahm sie eine Antwort für ihre beste Freundin auf. »Hi, Pütti. Ich bin gerade gelandet. Der Flug war okay, aber hättest du nicht besseres Wetter bestellen können? Ich hatte es gar nicht so kalt in Erinnerung. Sag einfach Bescheid, wenn du da bist. Ich gehe in der Zwischenzeit in eine der Flughafen-Boutiquen und kaufe mir eine dicke Jacke. Und vielleicht gleich noch einen Schal.« Sie lachte. »Bis gleich!«

In diesem Moment entdeckte Jana ihren silbernen Rollkoffer auf dem Band, hob ihn herunter und zog ihr Gepäck kurz darauf durch die automatisch öffnenden Glastüren. Im öffentlichen Bereich von Terminal 1 blieb sie vor dem Schaufenster einer Boutique stehen. Eine Modepuppe trug eine dunkelblaue Steppjacke mit Kapuze, die ihr sofort ins Auge fiel. Sie sah warm und kuschelig aus. Genau so eine Jacke wollte sie haben. Entschlossen ging Jana in das Geschäft und probierte die Steppjacke in einer Umkleidekabine an.

Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Die Jacke war schön auf Taille geschnitten und trug trotz des Steppstoffs nicht allzu sehr auf. Außerdem war die Kapuze mit weichem Teddystoff gefüttert, der bestimmt angenehm warmhielt.

Kleidung mit Teddyplüsch hatte sie in den letzten Jahren nicht gebraucht. Im grellen Ladenlicht wirkte ihr sonnengebräuntes Gesicht ungewöhnlich blass, und um ihre Augen zeigten sich dunkle Schatten.

Jana runzelte die Stirn. Die vergangenen Wochen waren scheinbar doch nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, obwohl sie das Gefühl hatte, mit der Situation einigermaßen gut zurechtzukommen. Zugegeben, von langer Hand geplant war ihre Rückkehr von Gran Canaria in die norddeutsche Heimat nicht gewesen. Eher eine Nacht-und-Nebel-Aktion, die sich auf ein paar Tage ausgedehnt hatte. Aber was war im Leben schon planbar?

Noch vor zwei Monaten hätte sie im Traum nicht damit gerechnet, im November in Hamburg zu sein. Ihre Vorstellung der nahen Zukunft hatte eigentlich so ausgesehen: endlich mal wieder ausgedehnte Radtouren über die Insel machen, die Sonne genießen und den Moment schätzen, da es in ihrem Laden ruhiger geworden war. Doch daraus war nichts geworden. Und dann war alles auf einmal ganz schnell gegangen.

Jana straffte die Schultern, rief sich in Erinnerung, welche neuen Möglichkeiten vor ihr lagen, und fuhr sich mit einer Hand durch ihr schulterlanges gelocktes Haar. Jetzt war sie nach drei Jahren wieder zurück in Deutschland und würde als Erstes diese hübsche Steppjacke kaufen. Sie wird meine Rückkehr von der Kanarischen Insel besiegeln, dachte sie. Und der Schnitt gefiel ihr einfach zu gut.

Auf dem Weg zur Kasse entdeckte sie auf einem Tisch noch einen schlichten wollweißen Schal, den sie spontan auch mitnahm. »Könnten Sie die Etiketten bitte entfernen?«, fragte sie die Verkäuferin, während sie ihre Kreditkarte über den Tresen schob. Das Halstuch verstaute sie in ihrer Umhängetasche. »Ich möchte die Jacke und den Schal gleich anziehen.«

Nachdem sie den Laden kuschelig eingepackt in ihrer neuen Jacke und mit Schal um den Hals verlassen hatte, machte sie an einer kleinen italienischen Snackbar Halt, in der unter anderem auch Getränke zum Mitnehmen verkauft wurden. Nachdem sie ihren Rollkoffer abgestellt hatte, überflog sie das Angebot auf der Getränkekarte und bestellte: »Einen Milchkaffee, bitte.«

»Zum Hiertrinken oder to go?«, fragte der Mann hinter der Theke. Jana fielen sein weizenblondes Haar und die hellblauen Augen auf. Sie schmunzelte. Mit dem Aussehen hätte er besser in ein schwedisches Möbelhaus gepasst als in ein italienisches Café. »To go, bitte«, sagte sie und griff nach ihrem Handy, das mit einem Piepen den Eingang einer neuen Nachricht signalisierte. Sie kam von Pütti.

Bin da. Warte unten im Parkhaus vor Terminal 1 auf dich. Bis gleich!

Den Rollkoffer in der einen und den Milchkaffee in der anderen Hand, ging Jana schnellen Schrittes zum Parkhaus. Sie musste nicht lange nach ihrer Freundin suchen.

Pütti hatte sie bereits entdeckt und winkte ihr zu. »Ach, ist das schön, dass du endlich wieder da bist!« Lächelnd schloss Pütti sie in die Arme. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Aber bei den ganzen Baustellen ging nichts vor und nichts zurück.«

Jana hielt den Becher Kaffee weit von sich gestreckt, um Pütti nicht zu bekleckern, und erwiderte die Umarmung. »Das macht doch nichts. Hauptsache, du bist jetzt da.«

»Ja! Und ich kann noch gar nicht glauben, dass du wirklich hier bist.« Pütti strahlte sie an. »Nach so langer Zeit! Mensch, was bin ich froh, dass wir uns endlich sehen und nicht mehr nur telefonieren müssen!«

»Mir kommt es selbst noch ganz unwirklich vor«, gab Jana zu und musste lachen. »Vor allem finde ich es unglaublich, dass all meine Besitztümer in diesen Koffer gepasst haben. Stell dir das mal vor.« Sie deutete auf den silbernen Rollkoffer neben sich.

»Wirklich, nicht zu fassen, wenn ich daran denke, dass ich mindestens einen großen Koffer, eine Reisetasche und zusätzliches Handgepäck brauche, wenn ich mal für zwei Wochen in den Urlaub fahre.« Pütti schüttelte den Kopf und ging zum Heckbereich des Autos, um den Kofferraum zu öffnen. »Wie machst du das nur?«

»Ich habe in den letzten Jahren ja ziemlich minimalistisch auf Gran Canaria gelebt. Mein Appartement war komplett möbliert, als ich eingezogen bin. Und neben der Arbeit im Laden hatte ich gar keine Zeit, viel anzuschaffen.«

Jana verstaute ihr Gepäck im Auto und schloss die Heckklappe. »Nach Ladenschluss hatten auch alle anderen Geschäfte zu. Und in der Mittagspause habe ich es gerade so geschafft, das Nötigste zum Leben zu besorgen.«

Nachdem sie ins Auto gestiegen waren, befestigten sie die Anschnallgurte. »Ich weiß, wir haben ja oft telefoniert. Aber es ist einfach etwas anderes, meiner liebsten Freundin endlich gegenüberzustehen. Und alles konnte ich am Telefon nicht erzählen.«

»Na, das wird sich jetzt ja ändern. Und zum Glück hat unsere nordfriesische Lebensart ja auch wirklich nichts mit Minimalismus am Hut.« Pütti startete den Motor und fuhr los. Die Instandsetzungsarbeiten machten die Strecke zu einem Nadelöhr und stellten sie beide auf eine Geduldsprobe. Zeitweilig war die Fahrspur auf die Gegenfahrbahn verlegt worden, sodass sie bloß im Stop-and-go-Tempo vorwärtskommen.

»Puh! Das habe ich, seit ich meinen Job aufgegeben habe, wirklich nicht vermisst«, murmelte Pütti seufzend, als sie endlich die A 23 erreicht hatten.

»Kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Jana. »Aber der Job als Chef-Pâtissière in diesem Spitzenhotel war doch eigentlich genau das, was du immer wolltest, oder? Ich meine, von so etwas hast du doch geschwärmt, seit du sechzehn warst!«

Pütti nickte. »Das dachte ich ja auch. Aber du weißt ja, von Hamburg bis nach St. Peter-Ording sind es knapp 150 Kilometer. Die fährst du nicht mal eben in zwanzig Minuten.« Sie schaltete in den nächsten Gang und beschleunigte. »Am Anfang war ich wirklich optimistisch und dachte, das wird schon irgendwie gehen. Doch dann bin ich vor lauter Arbeit kaum mehr aus Hamburg herausgekommen. In der Zeit habe ich auch kaum angerufen, ich entschuldige mich jetzt noch mal ausdrücklich! Und Jonne habe ich nur an meinen wenigen freien Tagen sehen können – wenn ich denn mal frei hatte. Meistens musste er aber ausgerechnet dann im Autohaus seiner Eltern arbeiten. Wir haben uns bloß zum Frühstück und zum Abendbrot gesehen.«

Pütti blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das war zu wenig, und wir waren mit der Fernbeziehung ziemlich schnell extrem unglücklich. Hätte ich daraus nicht die Konsequenzen gezogen und den Job geschmissen, wäre das Thema Familienplanung vermutlich passé gewesen. Vielleicht hätten wir uns am Ende sogar getrennt.«

Jana riss erstaunt die Augen auf. »Bist du etwa …?«

»Nein, nein«, wiegelte Pütti ab. »Ich bin nicht schwanger. Jonne hat mir auch noch keinen Antrag gemacht. Du weißt ja, da bin ich hoffnungslos altmodisch. Trotzdem möchte ich keine Fernbeziehung. Das ist mir in Hamburg klar geworden. Zumal ich ja von Anfang an wusste, dass Jonne einmal das Autohaus in Osterhever von seinen Eltern übernehmen wird. Seit letzten Monat ist er übrigens zweiter Geschäftsführer. Hatte ich dir das eigentlich erzählt?«

Jana schüttelte den Kopf. »Oder ich habe es in meinem Umzugsstress und Trennungswahn nicht mitbekommen.«

»Wie dem auch sei. Jedenfalls war es dadurch ausgeschlossen, dass er mal nach Hamburg ziehen würde. Für mich war der Traumjob dann doch nicht mehr so traumhaft, und die Beziehung mit Jonne ist mir einfach viel wichtiger, als zehn Stunden Buttercremetörtchen zu backen und am Wochenende Extraschichten zu schieben.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Jana.

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe, in die sich kleine Hagelkörner mischten.

»So ein Schietwetter.« Pütti schaltete die Scheibenwischer an.

Jana runzelte die Stirn und blickte durch das Fenster auf die Wolkendecke, auf die sie zuzusteuern schienen. »Dahinten sieht es ziemlich düster aus«, bemerkte sie.

»Oh, hör mal. Wie passend.« Pütti drehte das Radio lauter. Der Sender spielte das Lied Raindrops keep falling on my head von B. J. Thomas. »Haben meine Eltern immer gehört, als ich noch klein war.«

»Hm, meine auch.« Unwillkürlich dachte Jana an ihre Kindheit und Jugend in Norddeutschland. Nach dem Abitur hatte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht und danach ein paar Jahre in einem großen Hotel in St. Peter-Ording gearbeitet. Als ihr dann der Job in einer Ferienanlage auf Gran Canaria angeboten worden war, hatte sie nicht lange gezögert und kurz entschlossen ihre Heimat verlassen.

Damals war ihr der Schritt nicht schwergefallen. Sie war allerdings auch deutlich jünger gewesen und hatte unbedingt rausgewollt aus St. Peter-Ording, um die Welt zu erobern. Mittlerweile sehnte sie sich nach Stabilität und Beschaulichkeit.

Sie konnte einem ruhigen Leben durchaus etwas Positives abgewinnen. Vielleicht lag es daran, dass sie nun dreißig war. Vielleicht lag es auch einfach an den Erfahrungen, die nun hinter ihr lagen.

In der Ferienanlage auf der Insel hatte sie gleich an ihrem ersten Arbeitstag Vito kennengelernt. Ein gutaussehender Spanier, hatte sie bei der ersten Begegnung gedacht. Er war drei Jahre älter als sie und hatte an der Bar gearbeitet, sodass sie sich täglich gesehen hatten. Sie hatte sich Hals über Kopf in seine charmante Art und sein südländisches Temperament verliebt und geglaubt, endlich den Mann fürs Leben gefunden zu haben – wahrscheinlich typisch für eine Endzwanzigerin.

Bei der Erinnerung schüttelte sie unmerklich den Kopf. Die unbeschwerte Naivität war ihr zwischenzeitlich abhandengekommen. Manchmal wusste sie nicht, ob sie es schade finden sollte, nicht mehr mit derselben Leichtigkeit durchs Leben zu gehen. Andererseits konnte sie auch froh darüber sein, da ihr gesunder, aber nun eben vorsichtiger Optimismus sie davor schützte, ungebremst auf den harten Boden der Realität aufzuschlagen.

»Sorry, wenn ich dich mit meiner Beziehung so zugetextet habe«, unterbrach Pütti ihre Gedanken, als das Lied zu Ende war. »Dir ist wahrscheinlich gerade gar nicht nach solchen Gesprächen zumute. Und vielleicht willst du lieber über unsere Geschäftsgründung sprechen?«

Jana wandte sich ihr blinzelnd zu. »Ist schon gut. Mir macht es wirklich nichts aus. Ich freue mich doch für dich und bin mir sicher, dass das mit dir und Jonne halten wird. Ihr seid einfach das perfekte Paar. Das wusste ich schon damals in der Schule.«

Pütti warf ihr ein Grinsen zu. »Wer hätte gedacht, dass die Stufenfahrt in der 9. Klasse so einen Einfluss auf mein Leben haben würde! Dabei fand ich Jonne davor komplett uninteressant. Ich hatte ja vorher nie richtig mit ihm gesprochen. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt von ihm Kenntnis genommen hatte.«

»Kein Wunder! Du hattest ja auch nur Augen für Holger aus der 11.«, erinnerte Jana sie amüsiert. »In den warst du doch bestimmt ein Jahr bis über beide Ohren verknallt. Und dann das Drama, als er mit Ines aus der 10. zusammengekommen ist …«

»Oh, nein! Erinnere mich bloß nicht daran!« Pütti musste lachen. »Mir ist schleierhaft, was ich an dem mal toll gefunden habe. Eigentlich war er doch ein ziemlich eingebildeter Fatzke, der von seinen Eltern immer mit den neuesten Markenklamotten ausgestattet worden ist und sich nicht wirklich für andere Dinge interessiert hat. Ich muss geistig umnachtet gewesen sein.«

»Er hatte eine coole Vespa. Und du fandest, dass er gut tanzen konnte«, zählte Jana auf. »Außerdem hast du immer gesagt, er hätte Ähnlichkeit mit Joshua Jackson.«

Pütti schüttelte sich. »Das war es dann aber auch schon gewesen.«

»Immerhin hat es gereicht, dass du für ihn geschwärmt hast. Lange geschwärmt hast …«

»Daran waren eindeutig die Hormone schuld.«

»Was ist eigentlich aus ihm geworden?«, fragte Jana.

»Oh, ich habe irgendwann mal gehört, dass er irgendwas mit Ferienhäusern macht. In Florida.«

»Aha. Das passt!« Jana lächelte zufrieden.

»Hat Vito sich überhaupt von dir verabschiedet, bevor du geflogen bist?«, schnitt Pütti das Thema an, das Jana mied, so gut sie konnte.

»Nein«, antwortete sie, und ihre gute Laune war verflogen.

»So ein Idiot!«

»Nein, ist schon gut. Eigentlich bin ich ganz froh darüber, dass er es nicht getan hat. Hätte nur unnötig Salz in die Wunde gestreut.«

Pütti legte eine Hand auf ihre. »Sei froh, dass du ihn los bist«, sagte sie mitfühlend.

»Ach, weißt du, er hatte ja auch gute Seiten«, bemühte Jana sich um Diplomatie. Sie mochte keine schmutzige Wäsche waschen. Das würde das Geschehene nicht rückgängig machen und war bloß Energieverschwendung.

»So?« Pütti hob die Augenbrauen. »Komischerweise fällt mir gerade keine ein. Jedenfalls hast du nichts davon in unseren letzten Gesprächen erwähnt.«

»Immerhin hat er mich ermutigt, meinen Traum vom eigenen Geschäft zu verwirklichen. Ohne seinen Zuspruch hätte ich nie den Job in der Hotelanlage gekündigt und mein kleines Lädchen eröffnet.«

Sie konnte nicht verhindern, dass bei dem Gedanken an ihr ehemaliges Geschäft, das in einer kleinen Gasse an der Puerto-de-Mogán-Promenade gelegen hatte, eine gewisse Wehmut in ihr aufstieg. Sie hatte ihre tägliche Arbeit in dem malerischen Hafenort auf der Insel geliebt, durch den ein kleiner Kanal ins Meer fließt, der an das Flair von Venedig erinnert.

Nach Feierabend hatte Jana oft auf einer der Brücken über dem Kanal gestanden und die Aussicht auf den Hafen genossen. In ihrem Lädchen hatte sie neben Kerzen, Parfums, Badeperlen, Seifen und Raumdüften auch Heilsteine, ätherische Öle und Kräuter verkauft, die sie gerne individuell für ihre Kunden gemischt hatte. Seufzend rief Jana sich den Duft ihres Geschäfts in Erinnerung.

»Dir fehlt dein Laden«, stellte Pütti fest.

»Mir fehlt der Laden, ja, aber auch alles andere, was ich damit verbinde«, gab Jana zu. »Meine netten Geschäftsnachbarn zum Beispiel, die so hilfsbereit gewesen sind. Oder liebe Kunden, die mir in der Zeit sehr ans Herz gewachsen sind. Es kauften nämlich nicht nur Einheimische bei mir, sondern auch Feriengäste. Oft kamen die Touristen im nächsten Urlaub wieder und nahmen dann auch für ihre Verwandten oder Freunde Dinge aus meinem Laden mit. Daraus sind schöne Verbindungen entstanden, die nun auf einmal weg sind.«

Sie senkte den Blick. »Ich mag gar nicht daran denken, wie enttäuscht die Urlauber sein werden, wenn sie bei ihrer nächsten Reise feststellen, dass es meinen Laden nicht mehr gibt. Ich habe mich von vielen von ihnen mit den Worten Bis nächstes Jahr verabschiedet. Ganz selbstverständlich, als könnte nichts dazwischenkommen.«

»Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde«, versuchte Pütti sie zu trösten. »Außerdem machst du doch bald mit mir zusammen andere Menschen in St. Peter glücklich.«

»Ich weiß, und ich freue mich riesig darauf! Trotzdem fühle ich mich ein bisschen, als hätte ich mich klammheimlich aus dem Staub gemacht. Verstehst du?«

Jana sah aus dem Seitenfenster, als sie am Ausfahrtschild von Itzehoe vorbeifuhren. »In einer Stunde sind wir schon in St. Peter-Ording.«

»Vorausgesetzt auf der Strecke taucht keine Baustelle mehr auf«, merkte Pütti an. »Möchtest du gleich zum Haus?«

»Nein, bitte fahre mich zu meinen Eltern. Ich habe ihnen versprochen, die erste Nacht zu Hause zu verbringen.«

Zu Hause, dachte Jana und spürte ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme, das sich in ihrem Herzen ausbreitete.

2. Kapitel

Eine gute Stunde später hielt Pütti vor einem Reetdachhaus im gemütlichen Ortsteil Dorf von St. Peter-Ording. In dem ältesten Siedlungskern, rund um die St. Peter Kirche und den Marktplatz, standen schöne alte Häuser, die einst erbaut worden waren, als St. Peter-Ording noch ein armer Ort gewesen war. Das war lange, bevor die Touristen in Scharen nach St. Peter-Ording strömten und ihn zur stärksten wirtschaftlichen Kraft auf der Halbinsel Eiderstedt gemacht hatten. Das Haus von Janas Familie hatte ursprünglich den Eltern ihres Vaters gehört, davor deren Eltern, und so weiter. Es war ein Haus, das im wahrsten Sinne des Wortes Familiengeschichte in seinen Wänden trug.

»Da wären wir«, verkündete Pütti und stellte den Motor ab.

Jana stieg aus dem Auto und rümpfte die Nase. Leichter Nieselregen fiel auf ihr Gesicht, und ein böiger Wind fuhr durch ihre Locken. Es dämmerte bereits, und in der Luft lag eine Mischung aus salziger Nordseeluft und dem typischen Kamingeruch, den sie aus ihrer Kindheit kannte. »Standesgemäßer norddeutscher Empfang, würde ich sagen. Bei Sonnenschein wäre ich misstrauisch geworden.«

Pütti öffnete den Kofferraum und griff nach dem Gepäck. »Raue Herzlichkeit.«

Zum Abschied umarmte Jana ihre Freundin. »Danke noch mal fürs Abholen.«

»Habe ich gerne gemacht. Wir sehen uns bald, ja? Auch wenn wir schon so viel für die Geschäftseröffnung geplant haben, will ich gern bald alles Details mit dir festlegen. Aber nun komm erst mal gut an.« Pütti stieg wieder ins Auto, nachdem Jana ihr zugenickt hatte.

Jana winkte zum Abschied, nachdem sie versprochen hatte, bald die Eröffnung ihres gemeinsamen Ladens zu besprechen. Dann schulterte sie ihre Tasche und zog den Rollkoffer hinter sich her, der auf dem gepflasterten Weg zum Haus ihrer Eltern ihr Kommen geräuschvoll ankündigte. Sie wollte gerade den Klingelknopf drücken, da wurde die Tür schon geöffnet.

»Jana!«, rief ihre Mutter und strahlte. Sie drückte sie überschwänglich an sich. »Endlich bist du wieder zu Hause.«

Eine unbeschreibliche Wärme durchströmte sie. »Ich freue mich auch, Mutti!« Sie erwiderte die Umarmung.

»Komm schnell rein, ist ja ungemütlich draußen.«

Jana betrat die Diele. Aus der Küche strömte der Duft von frisch gebackenem Kuchen. Sie stellte ihren Koffer in einer Ecke ab. »Das riecht ja lecker.«

Sie beobachtete, wie ihre Mutter die Haustür schloss. Ihre Mutter war einen Kopf kleiner als Jana und hatte kinnlanges blondes Haar. Ihr wahres Alter sah man ihr nicht an. Oft wurde sie zehn Jahre jünger geschätzt. Trotz ihrer dreiundsechzig Jahre wirkte sie jugendlich, was ihre sportliche Kleidung noch unterstrich. Sie trug einen Pullover mit Norwegermuster und dazu einen blauen Jeansrock. Eine Kombination, die Jana auch für sich wählen würde.

»Frischer Apfelkuchen, muss nur noch die Sahne schlagen. Der Tisch ist schon gedeckt. Ich habe eigentlich etwas eher mit dir gerechnet.«

»Ich auch. Aber die berühmt-berüchtigten Baustellen in und um Hamburg …« Plötzlich wurde sie leicht gegen die Rippen gestupst. Der Schweizer Sennenhund hatte sich unbemerkt herangeschlichen und drückte seinen Kopf an sie.

»Hallo Bodo.« Jana tätschelte ihm den Kopf, woraufhin Bodo sogleich begeistert mit dem Schwanz wedelte und sich in der Diele auf den Rücken legte, um gekrault zu werden. »Hast ja recht! So lange haben wir uns nicht gesehen, und ich bemerke dich nicht sofort. Unverschämtheit.« Sie ging in die Knie, um ihm wie gewünscht den Bauch zu streicheln.

Ihre Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Wahre Worte. Die Zeit vergeht, und das viel zu schnell, je älter man wird.«

»Du bist doch nicht alt, Mama«, widersprach Jana.

Ihre Mutter verdrehte die Augen. »Sag das mal meinem Körper. Der spricht eine ganz andere Sprache.«

»Was hast du denn für Beschwerden?« Jana löste ihren Schal vom Hals, stand wieder auf und zog die Jacke aus.

Ihre Mutter nahm ihr die Kleidung ab und hängte sie an die Garderobe. Dann fasste sie sich mit einer Hand an die Schläfe. »Ach, es sind immer diese Kopfschmerzen. Normalerweise würde ich auf die Wechseljahre tippen, aber da bin ich längst raus. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Das hatte ich früher nie.«

In der Zwischenzeit hatte sich Bodo lang vor Jana ausgestreckt. »Muskatellasalbeiöl und Lavendelquarz werden dir bestimmt helfen, deine Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen. Das Öl riecht ein bisschen herb, aber zugleich auch zitronig. Ein angenehmer Duft. Den wirst du bestimmt mögen. Ich besorge dir das Öl und einen Lavendelquarz als Anhänger. Dann ist der Spuk ruckzuck vorbei.«

Janas Mutter schüttelte amüsiert den Kopf. »Jetzt bist du gerade wieder deiner Großmutter unheimlich ähnlich. Was habe ich die ganze Zeit deine Fröhlichkeit und deinen Optimismus vermisst!«

Jana lächelte und kniete sich erneut auf den Dielenboden, um Bodos große Ohren mit beiden Händen zu kraulen. Ihre Großmutter war weit über die Grenzen von St. Peter-Ording bekannt gewesen. Sie hatte den Menschen an der Nasenspitze ansehen können, was ihnen fehlte und ihnen guttat. Außerdem war sie genau wie Jana ein Geruchsmensch und davon überzeugt gewesen, dass zu jedem ein besonderer Duft gehörte. Als kleines Mädchen hatte Jana ihren Erklärungen über Pflanzen gespannt gelauscht und sich oft in der alten Friesenküche auf einen Holzstuhl gesetzt, um ihrer Großmutter beim Zerkleinern von Kräutern und beim Parfumherstellen zuzusehen. Jahrzehnte später war sie diejenige, die dieselben Handgriffe vollführte.

Janas besondere Gabe hatte sich im Laufe der Zeit auf der spanischen Insel herumgesprochen. Und irgendwann waren Leute mit ihren Wehwehchen und Sorgen sogar zuerst zu ihr gekommen, bevor sie einen Arzt aufsuchten. Nachdem sie die Schließung ihres Geschäfts bekanntgegeben hatte, waren ihre einheimischen Kunden dagegen Sturm gelaufen. Doch Jana war dabei geblieben. Als sie aber das letzte Mal die Ladentür abgeschlossen hatte, war es für sie bereits beschlossene Sache gewesen, dass sie so einen Laden in ihrer nordfriesischen Heimat eröffnen würde. »Ich werde Oma Hansas Tradition ja in St. Peter-Ording fortführen.«

»Schade, dass sie es nicht mehr erlebt. Sie wäre sehr stolz auf dich gewesen und hätte dir mit Rat und Tat zur Seite gestanden.« Sie legte den Kopf schräg. »Bodo scheint von deinen Streicheleinheiten gar nicht genug zu bekommen. Als würde er sonst keinerlei Zuwendung erfahren!«

»Und wer streichelt mich?«

Jana blickte hoch und entdeckte ihren Vater, der mit einem breiten Grinsen aus der Küche kam. Über dem karierten Flanellhemd und der Jeanshose trug er eine mit Mehlspuren übersäte Schürze, auf der in schwungvollen Buchstaben Wat mutt, dat mutt! aufgedruckt war. Als er vor ihr stehen blieb, streckte er ihr seine zur Faust geballte Hand entgegen. »Ich würde dich ja gerne zur Begrüßung umarmen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, mich umzuziehen. Sonst siehst du gleich aus wie einmal durchs Mehl gezogen.«

»Hallo Papa.« Lachend stieß Jana mit ihrer Faust gegen seine. »Gestreichelt werden von mir hier auch ausschließlich Lebewesen mit Schlappohren.«

Er griff sich an die Ohren und zwinkerte ihr zu. »Dann werde ich an meinen wohl noch etwas ziehen müssen.«

»So, jetzt haben wir aber genug gequatscht und gestreichelt. Der Apfelkuchen wartet darauf, verspeist zu werden!«, rief Janas Mutter gespielt empört und ging vor.

»Vier Gedecke? Kommt noch Besuch?«, fragte Jana, als sie an dem großen Esstisch im Wohnzimmer Platz nahm, in dessen Mitte der gedeckte Apfelkuchen auf einer Tortenplatte thronte.

Ihr Vater wiegte den Kopf hin und her. »Wie man’s nimmt. Ich schlage mal die Sahne«, sagte er und verließ den Raum.

»Thies ist da. Mal wieder«, klärte ihre Mutter sie auf.

»Seit wann das denn?« Wenn ihr Bruder zu Hause war, konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Seit Gesa ihn vor die Tür gesetzt hat?«

»Schon wieder? Ich dachte, den Punkt hätten sie längst überwunden.« Jana hatte so gehofft, die beiden würden endlich eine Lösung finden.

Ihre Mutter zuckte die Schultern. »Das dachte ich auch, bis Thies letzte Woche mit Sack und Pack vor der Tür stand.«

»Warum dieses Mal?«, fragte Jana. Aus der Küche ertönte das maschinelle Geräusch eines Handrührgeräts.

»Ach, immer das alte Lied. Gesa will heiraten und Kinder, dein Bruder aber nicht.«

Jana verzog das Gesicht. »Ich würde auch niemanden heiraten, der mich gleich rausschmeißt, wenn ich nicht sofort das Aufgebot beim Standesamt bestelle. Wo ist Thies eigentlich?«

»Oben. In seinem alten Zimmer.«

Jana stand auf. »Dann werde ich mal schnell Hallo sagen.«

Erfreut zwinkerte ihre Mutter ihr zu. »Mach das. Und bring ihn dann gleich mit runter. Ich mache noch mal neuen Kaffee. Oder willst du Tee?«

»Nein, Kaffee ist super.« Jana ging die Holzstufen der Treppe hoch. Der vorletzten Stufe im zweiten Stock wich sie mit einem großen Schritt aus, weil die Stiege früher jahrelang morsch gewesen war. Inzwischen war sie längst erneuert worden. Doch manche alten Angewohnheiten waren so fest in ihr verankert, dass sie sie nicht ablegen konnte.

Vor Thies’ Zimmer blieb sie stehen. Zunächst lauschte sie, ob sie etwas hinter der Tür hören konnte. Ein leises tippendes Geräusch drang durch das Holz des Türblatts. Ihr großer Bruder saß vermutlich vor dem Computer. Als selbstständiger Grafikdesigner hatte er den Vorteil, von überall arbeiten zu können. Jana überlegte kurz, ob sie ihn weiterarbeiten lassen sollte. Doch dann entschied sie, trotzdem kurz mit ihm zu sprechen und Bescheid zu sagen, dass unten Kaffee und Kuchen auf ihn warteten. Sie klopfte an die Tür.

»Ist offen«, hörte sie die tiefe Stimme ihres Bruders.

Jana drückte die Klinke runter und betrat den ihr so vertrauten Raum. Thies hockte mit dem Rücken zu ihr an seinem alten Schreibtisch vor dem Fenster. Vor ihm stand ein aufgeklapptes Notebook, daneben lagen einige Papiere. Über dem Bett hing nach wie vor das Poster des deutschen Teams der Fußballweltmeisterschaft von 1990, das er damals als Siebenjähriger aufgehängt hatte, und auf der Fensterbank stand das einst winzige Bonsaibäumchen, das inzwischen zu einem kleinen Baum herangewachsen war. Ihre Eltern hatten in all den Jahren nichts in dem Zimmer verändert.

»Moin, Thies!«

Abrupt schwang ihr Bruder auf seinem Stuhl herum. »Hey, Schwesterchen!« Er stand sofort auf, kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Cool, dass du wieder da bist.«

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