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Wir sind wild und wunderbar

Als Buch hier erhältlich:

Viele Wege führen zum Glück – und einige davon über den Pacific Crest Trail

Alexei hat sich für seine Wanderung des Pacific Crest Trail auf scheinbar alles vorbereitet: Wilde Tiere, gefährliche Aufstiege, Blasen und monatelange Einsamkeit sind kein Problem für ihn. Womit er allerdings nicht gerechnet hat, ist Ben – ein attraktiver, kontaktfreudiger und lebenslustiger Fremder, den er gleich am ersten Tag vor einer Klapperschlange retten muss. Irgendwie treffen die beiden auf einem immerhin 2500 Meilen langen Wanderweg immer wieder aufeinander. Es könnte Zufall sein, doch andererseits gibt es vielleicht einen Grund, warum der Weg sie immer wieder zusammenbringt ... Als sich die Wanderung dem Ende nähert, müssen sich Ben und Alexei fragen, ob es möglich ist, an etwas so Wildem und Wunderbarem wie der Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickelt, festzuhalten.


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906802
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Kathy,
die mir durch Lachen gezeigt hat, was Liebe bedeutet, mich aber auch liebt, wenn ich ganz still bin.

Anmerkung von Anita Kelly

Dieses Buch ist zwar eine Liebesgeschichte und enthält all die Dinge, die Romantik für mich ausmachen – Humor, Herz und Hoffnung –, aber es befasst sich auch mit so schwierigen Themen wie familiärer Entfremdung aufgrund von queerer Identität. In Kapitel 16 werden homophobe Ausdrücke benutzt. Eine vollständige Liste aller Triggerwarnungen findet ihr auf anitakellywrites.com.

Danke für euer Vertrauen, diesen Weg mit mir zu gehen.

I

DIE WÜSTE

Meile 151 bis 702
Frühling

KAPITEL EINS

Bei der ersten Klapperschlange blieb Alexei das Herz stehen.

Nur ein einziger, unangenehm langer Aussetzer: ein Keuchen, das ihm im Halse stecken blieb.

Das Wrumm der Autos auf dem Palms to Pines Scenic Byway war verklungen. Übrig blieben nur noch die Stille der südkalifornischen Wüste und der Pulsschlag in seinen Ohren. Auch so früh am Morgen war es schon warm, und der Rucksack lastete schwer auf seinen Schultern.

Die ersten Schritte auf dem PCT, dem Pacific Crest Trail, hatten sich surreal angefühlt und ihm die Sinne getrübt, als würde er durch einen seltsamen Nebel aus Sonne und Sand laufen. Doch nach fast einer Stunde hatte er sich allmählich an die vertraute Klarheit der Einsamkeit gewöhnt. Bis die Stille um ihn herum abrupt durch dieses unverwechselbare Klappern unterbrochen wurde. Fest verschachtelte Hornschuppen, die warnend rasselten.

Alexeis Füße blieben automatisch stehen.

Die Schlange wand sich vor ihm über den Pfad.

Hielt genau dort inne, wo sein nächster Schritt gelandet wäre.

Einen endlosen Moment lang verharrten sie beide in einem heiklen Patt.

Bis eine Reihe weiterer Geräusche zu Alexeis Gehirn vordrang. Ein schweres Schnaufen. Das leise Stapfen von Schuhen auf Sand.

Instinktiv streckte er einen Arm aus und prallte dabei gegen die stabile Brust des Fremden. Obwohl sein Verstand raste, erfüllte ihn die Bewegung mit einem seltsam beruhigenden Gefühl, das ihn an all die Male erinnerte, in denen er das Gleiche für seine jüngere Schwester getan hatte: jedes Mal, wenn Alina in der Innenstadt von Portland zu nahe an die Bordsteinkante getreten war. Jedes Mal, wenn sie sich bei ihren Familienwanderungen durch den Gifford Pinchot National Forest zu weit über eine Abbruchkante gelehnt hatte.

Aber gerade war Alexei weit weg vom Pazifischen Nordwesten, und die Person, die er hier vor der Klapperschlange beschützte, war definitiv nicht Alina.

Zum ersten Mal, seit er das Klappern gehört hatte, riss er den Blick vom Boden los und musterte den Mann neben sich. Der Fremde hatte leicht gebräunte Haut und dunkle Haare, zu einem Dutt gebunden. In seinen Ohren steckten Kopfhörer – vermutlich war er deshalb so sorglos auf Alexei und die Klapperschlange zugestürmt. Nach und nach hob er eine Hand, um sich einen der kleinen weißen Stöpsel aus dem Ohr zu ziehen, während er auf die Schlange hinunterstarrte und seine Brust sich beständig gegen Alexeis Arm drückte.

Den dieser aus irgendeinem Grund nicht bewegen zu können schien.

»Schlange«, sagte der Mann.

Alexei richtete den Blick wieder auf den Pfad vor ihnen.

»Schlange«, stimmte er zu.

Eine weitere endlose Sekunde lang verharrten sie reglos – Alexei, der Fremde und die Schlange. Alexei überlegte gerade, wie er sein Gehirn dazu bringen könnte, seinem Arm das Signal zu senden, sich von der Brust des Fremden zu lösen, als die Klapperschlange den Kopf bewegte.

Jetzt starrte sie ihn direkt an.

Ihr Schwanz rasselte erneut gefährlich, und die lange, schmale Zunge schoss zwischen ihren Zähnen hervor.

Bevor Alexei sich bremsen konnte, drehte er den ausgestreckten Arm, sodass er mit der Hand leichter nach dem Shirt des Fremden greifen konnte. Es wäre ihm peinlicher gewesen, wenn der Fremde nicht im selben Augenblick noch näher an Alexei herangerückt wäre und die Schulter an seinen Rücken gepresst hätte. Alexei konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als auf sein rasendes Herz, das den zuvor übersprungenen Schlag wieder wettmachte, indem es nun im doppelten Tempo gegen seinen Brustkorb pochte.

»Schlange«, flüsterte der Fremde erneut, und sein Atem strich Alexei über die von der Sonne erhitzte Ohrmuschel.

Wie sagte man so schön über menschliche Reaktionen bei Gefahr? Kampf oder Flucht? Tja, das stimmte eindeutig nicht. Im Moment war Alexei weder in der Lage, gegen die Klapperschlange zu kämpfen, noch, vor ihr zu fliehen. Ein treffenderer Ausdruck wäre … Panik schieben oder Einpinkeln.

Und auch wenn er gerade das Shirt eines Fremden umklammerte, so war wenigstens seine Hose noch trocken.

Ziemlich sicher.

Er würde sich später ein genaueres Bild von der Lage machen müssen.

Falls er später überhaupt noch lebte.

Doch wie durch ein Wunder wandte die Schlange nach einer Weile den Kopf ab. Lautlos und geschmeidig verschwand sie im Gestrüpp, und eine halbe Sekunde danach war sie schon nicht mehr zu sehen.

Fast hätte Alexei laut aufgeschrien, als sich eine Hand auf seine andere Schulter legte und ein kratziger Bart seine Wange streifte.

»Hey, Jungs«, sagte ein neuer Fremder. »Warum kuscheln wir denn?«

Endlich ließ Alexei den Arm sinken, wich zurück und nahm einen tiefen, staubigen Atemzug.

»Scheiße, Faraj.« Der erste Fremde rieb sich die Stirn. »Da war eine riesige Schlange direkt auf dem Weg …« Er schüttelte den Kopf und sah vom Boden hoch, Alexei direkt in die Augen. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinem Blick lag Erleichterung. »Der Typ hier hat mir das Leben gerettet.«

»Verdammt«, sagte Faraj. »Klingt aufregend.«

So könnte man es wohl auch ausdrücken, dachte Alexei. Er musste den Blick vom Lächeln des ursprünglichen Fremden abwenden, denn jetzt konnte er sein Gesicht zum ersten Mal richtig erkennen und wie dieses Lächeln es komplett verwandelte – die Wärme, die seine tiefbraunen Augen ausstrahlten, und die winzigen Lachfältchen, die sich um sie herum kräuselten …

Die reinste Reizüberflutung.

Faraj klopfte ihm ein weiteres Mal auf den Rücken. »Danke, Mann.«

Alexei öffnete den Mund und schloss ihn wieder, weil er keinen Schimmer hatte, was er darauf antworten sollte.

»Hey!«, rief Faraj über die Schulter. »Vorsicht vor den Klapperschlangen!«

Dann grinste er Alexei freundlich zu und lief weiter den Pfad entlang. Kurz dahinter folgten ihm drei weitere Männer, die Alexei im Vorbeigehen jeweils zunickten, ihn anlächelten und »Hey« sagten.

Alexei blinzelte jeden von ihnen an und hatte immer noch damit zu kämpfen, seinen Adrenalinpegel zu senken. Als sie weg waren, rieb er sich abwesend die Brust.

»Danke noch mal.«

Beinahe hätte Alexei einen Satz gemacht. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass der ursprüngliche Fremde mit den braunen Augen, den langen Haaren und dem Lächeln immer noch neben ihm stand.

»Ich bin Ben.«

Ben hielt ihm die Hand hin. Nach einer Weile schüttelte Alexei sie.

»Alexei.«

»Du kannst mit uns zusammen hiken, wenn du willst.« Ben deutete mit dem Kopf in Richtung des Trails, auf dem die anderen schon unterwegs waren.

»Ach so.« Alexei schüttelte den Kopf. »Nein, schon okay.« Nach einer verlegenen Pause fügte er hinzu: »Du solltest vermutlich nicht mit Kopfhörern wandern.«

Er biss sich auf die Zunge, da ihm sofort klar wurde, wie tadelnd das geklungen haben musste. Das war wohl einer der Gründe, warum Alexei nicht sehr viele Freunde hatte. Tja, die Wüste war nun einmal ein Furcht einflößender Ort. Ben musste auf sich achtgeben.

Zu Alexeis Erleichterung lachte Ben und stemmte die Hände in die Hüften.

»Meine Mutter wäre dir dankbar für diese Warnung.«

Sie blickten sich noch einen ziemlich langen Moment an, bevor Ben die Trekkingstöcke um seine Handgelenke zurechtrückte und in Richtung des Wanderwegs nickte.

»Na gut«, sagte er. »Man sieht sich.«

Und mit einem letzten entwaffnend charmanten Lächeln verschwand auch er.

Alexei lehnte sich auf seine eigenen Trekkingstöcke und hielt kurz inne.

Er hatte nun offiziell die erste der zweitausendfünfhundert Meilen seiner Wanderung hinter sich. Dieses große Abenteuer, das er seit Monaten geplant hatte, wurde plötzlich so real mit all dem Staub auf seinen Trail-Schuhen, dem Wind im Gesicht und der brennenden Sonne im Nacken. Er hatte sich auf diese einsame Reise vorbereitet, hatte sich auf die Monate gefreut, in denen er allein die felsigen Gebirgszüge von Kalifornien, Oregon und Washington entlangwandern würde. Eine Chance, sich von seinem alten Leben zu verabschieden. Von dieser wunderbaren, wilden Küste. Um ein bisschen Frieden zu finden, bevor er neu anfing.

In gewisser Weise hatte Alexei sich seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet, seit sein Vater ihn im Alter von sieben Jahren auf anspruchsvolle Hikes mitgenommen hatte. Der Gedanke an seinen Dad versetzte ihm einen Stich, aber damit hatte er gerechnet, denn das kannte er schon. Dasselbe hatte er auch gespürt, als Ben Meine Mutter wäre dir dankbar für diese Warnung gesagt hatte. Hoffentlich würde er den Umgang mit diesem Gefühl bis zum Trail-Ende in Kanada perfektioniert haben. Damit das Sticheln seiner Eltern ihn nicht mehr so sehr treffen konnte.

Schwer vorstellbar, um ehrlich zu sein. Trotzdem hoffte er darauf. Hoffnung war der Grund, aus dem er hier war.

Und doch, als er sich heute Morgen mit nichts als seinem Rucksack und seinen Gedanken auf den Weg gemacht hatte, hatte es sich irgendwie … antiklimaktisch angefühlt, selbst nachdem seine Wahrnehmung sich angepasst hatte. Hier gab es keine Begrüßungsparty, keine Tabelle, die er zurate ziehen konnte – bei seinen Vorbereitungen hatte er jede Menge Tabellen erstellt –, keine Kästchen, die er beruhigt ankreuzen konnte. Nichts, was ihm verriet, dass das hier tatsächlich passierte.

Abgesehen von der Klapperschlange.

Die Klapperschlange wusste, dass Alexei hier war.

Und Ben. Auch er wusste, dass Alexei hier war.

Er richtete sich auf. Betrachtete die geschwungenen braunen Hügel und den strahlend blauen Himmel.

Er hatte sich geschworen, die Weisheiten zu beherzigen, die die Natur immer zu geben bereit schien. Wenn er so darüber nachdachte, waren Klapperschlangen eigentlich noch eine recht freundliche Spezies. Ihm standen weitaus schlimmere Gefahren bevor: Berglöwen und Bären, ausgetrocknete Wasserstellen und Dehydrierung. Er würde schneebedeckte Bergpässe über- und tosende Flüsse durchqueren müssen.

Klapperschlangen warnten einen immerhin vor.

Im Grunde wollten sie, wie alles andere auch, nur leben.

Im Grunde wollten sie bloß, dass man ihnen zuhört.

Alexei hatte seine erste Klapperschlange überlebt.

Ein gut aussehender Mann hatte ihn warm angelächelt.

Und – er tastete sich zur Sicherheit kurz ab – er hatte sich nicht eingepinkelt.

Von klein auf hatte man ihm beigebracht, die kleinen Freuden zu genießen, wo immer sie einem begegneten.

Alexei drehte sich um und ging mit etwas festerem Schritt und ruhigerem Puls am Pfad der Klapperschlange vorbei, tiefer hinein ins Herz der Wüste.

Als Alexei Ben dreißig Meilen später wiedersah, hatte dieser das Gesicht voller Rasierschaum.

»Hey!« Seine Stimme ließ Alexei auf der Stelle verharren. Die freundliche, unverhoffte Begrüßung kam fast so überraschend wie die erste Klapperschlange. »Du bist doch der Typ, der mir das Leben gerettet hat.«

Alexei starrte Bens Ebenbild im Spiegel des Sanitärbereichs an. Der kleine Raum und das helle Licht über dem Waschbecken ließen Bens Lächeln noch unausweichlicher erscheinen als vorher in der Wüste.

»Ich glaube nicht …« Alexei räusperte sich, die Kehle nach Tagen des Schweigens ganz trocken. »Ich habe dir nicht wirklich das Leben gerettet.«

»Klar.« Ben spülte seine Rasierklinge und klopfte sie am Waschbeckenrand ab, bevor er sie wieder ans Gesicht führte. »Ich war dehydriert und unaufmerksam. Hundertpro wäre ich auf das Mistding getreten. Du hast mir auf jeden Fall das Leben gerettet.« Sein Lächeln im Spiegel verblasste, und die Hand mit dem Rasierer verharrte, als er sich Alexei zuwandte. »Es tut mir allerdings echt leid, aber ich erinnere mich nicht an deinen Namen.«

»Alexei«, stellte er sich erneut vor.

»Ja, richtig.« Ben lächelte. »Ich bin Ben.«

An seinen Namen erinnerte Alexei sich ganz genau. Obwohl er in den letzten Tagen an vielen anderen Wandernden vorbeigekommen war, hatte er mit niemandem außer Ben mehr als zwei Worte gewechselt. Vermutlich würde er seinen Namen nie wieder vergessen.

»Wie auch immer.« Ben widmete sich erneut seiner Rasur. »Schön, dich wiederzusehen. Und hey!« Er deutete mit der Klinge nach unten. »Waschbecken!«

Die dreißig Meilen seit ihrem Treffen waren nicht die besten in Alexeis Leben gewesen. Nach dem anfänglichen Hochgefühl, nicht von einer Klapperschlange gebissen worden zu sein, plagten Alexei Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Schultern und Hüften waren vom Gewicht des Rucksacks ganz wund, die Sonne hatte ihm das blasse Gesicht verbrannt, obwohl er sich noch so oft mit Sonnencreme eingecremt hatte, und die Füße taten ihm weh, obwohl der Verkäufer im Outdoor-Store ihm versichert hatte, dass er sich keine Blasen laufen würde. Der war so begeistert gewesen, weil man mit den richtigen Schuhen angeblich blasenfrei bleiben konnte, ganz egal, wie weit man lief.

Die letzten zwanzig Meilen hatte Alexei sich allerdings gewünscht, in den Laden zurückzugehen und ein ernstes Wörtchen mit dem Kerl zu reden. Wahrscheinlich hätte er selbst den Großteil des Gesprächs nur geheult, während der Verkäufer wie jeder Mensch, der jemals bei dieser Kette gearbeitet hatte, unverschämt attraktiv und optimistisch hinter der Ladentheke herumgestanden hätte. Trotzdem gefiel Alexei die Vorstellung irgendwie.

Zu allem Überfluss schien sein Magen den PCT komplett zu verabscheuen. Er konnte kaum etwas bei sich behalten. Und wenn man eine Sache auf einer Langstreckenwanderung unbedingt brauchte, dann waren es Kalorien. Er hatte nicht geplant, diesen Abstecher nach Idyllwild zu machen, das einige Meilen vom offiziellen Weg entfernt lag, aber die Aussicht auf echtes, frisch zubereitetes Essen in einem Restaurant war einfach zu verlockend gewesen. Darum stand er nun in der Toilette von Tommy’s Kitchen. Und obwohl er wusste, dass er sich richtig entschieden hatte, war er den ganzen Umweg lang frustriert und enttäuscht von sich selbst gewesen. Der Ausflug würde ihn einen halben Tag zurückwerfen, mindestens.

Doch als Ben ihn anstrahlte und »Waschbecken!« sagte, zuckten Alexeis Mundwinkel unweigerlich zu einem kleinen Lächeln hoch. Waschbecken waren tatsächlich aufregend, wenn man die letzten vier Tage ohne eine wirkliche Süßwasserquelle durch die Wüste gestapft war.

Es fühlte sich auch wie ein witziges Echo ihrer ersten einsilbigen Unterhaltung an. Schlange.

Die Kunst der lockeren Konversation hatte Alexei noch nie beherrscht, egal mit wem, aber besonders, wenn es um objektiv gut aussehende Männer ging. Doch vielleicht, nur vielleicht, würden diese Ein-Wort-Gespräche mit Ben funktionieren.

»Waschbecken«, stimmte er also zu. Nach einem weiteren Moment, in dem ihm klar wurde, dass er wahrscheinlich schon zu lange auf Bens halb rasiertes Gesicht starrte, fügte er hinzu: »Okay, gut. Ich werde jetzt aufs Klo gehen.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurden seine Ohrläppchen ganz heiß, als ihm dämmerte, dass er das wahrscheinlich gar nicht unbedingt hätte ankündigen müssen.

Aber Ben hob beide Hände in die Luft. Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter, und zwischen seinen unteren Schneidezähnen klaffte eine schmale Lücke.

»Toiletten!«, jubelte er.

Alexei starrte auf Bens Zahnlücke. Sein Magen zog sich ruckartig zusammen.

Wahrscheinlich Hungerkrämpfe.

»Toiletten«, stimmte er zu.

»Und Mülleimer! Mann.« Ben widmete sich wieder seiner Rasur. »Waschräume. Total abgefahren.«

»Ähm …« Alexei stieß rückwärts mit der Schulter gegen die Tür der nächstgelegenen Kabine. »Genau.«

Dann drehte er sich hastig um und eilte hinein. Mit seinem Rucksack hatte er kaum genug Platz. Nach ein, zwei, drei – oh, und vier – lauten Remplern gegen die Seitenwände ließ er den Rucksack schließlich erfolgreich von den Schultern gleiten. Ein paar peinliche Sekunden lang stützte er nur den Kopf in die Hände.

Zum Glück betraten kurz darauf zwei andere Männer den Waschraum, unterhielten sich lautstark an den Pissoirs miteinander und sorgten so für Ablenkung. Als Alexei schließlich zu den Waschbecken zurückkehrte, tippte Ben konzentriert auf seinem Handy herum und grinste das Display an. Mit Rasieren war er fertig und sah atemberaubend aus, mit seinen glatten Wangen und der zarten Haut am Kinn. Die Haare trug er jetzt offen, und auch sie wirkten bemerkenswert sauber, wobei die dunklen Strähnen ihm fast bis zu den Schultern reichten.

Schnell wandte Alexei sich ab, wusch sich die Hände und versuchte, die vier Tage Wüstenschmutz unter den Fingernägeln zu entfernen.

Bens Nägel, das war nicht zu übersehen, waren genauso makellos wie der Rest von ihm, kurz geschnitten und ohne jede Spur von Dreck. Alexei ließ unwillkürlich den Blick umherwandern und betrachtete die Adern, die an Bens Händen hervortraten, während er auf seinem Handy herumtippte, wie auch die Sehnen am Handgelenk und die Muskeln an den Unterarmen, die sich bei jeder kleinen Bewegung dehnten und entspannten. Er trug dasselbe himmelblaue Shirt wie neulich, das einzige Teil an ihm, dem man durch die leichten Falten und Staubflecken die Wanderung ansah.

Alexei erinnerte sich noch daran, wie sich das Shirt unter seiner Hand angefühlt hatte.

Er drehte den Hahn zu. Eigentlich hatte er hier seine Wasserbeutel auffüllen wollen, aber er würde lieber später wiederkommen. Er hatte sich vorhin geirrt: Sich mit Ben zu unterhalten, war doch zu viel für ihn.

Während er lautlos davonschlich, ohne sich von einem weiteren Lächeln erwischen zu lassen, redete er sich ein, dass es so besser war.

Bevor er nach draußen trat, holte er tief Luft.

Die Terrasse von Tommy’s Kitchen war fast komplett besetzt, aber ganz hinten entdeckte Alexei ein paar leere Tische. Er legte seinen Rucksack vor dem in der hintersten Ecke ab und lehnte ihn ans Geländer. Seine Bestellnummer legte er an den Rand des Tisches. Dann zog er seine geschwollenen, blasengeplagten Füße aus den Trail-Schuhen und schlüpfte in die billigen Sandalen, die er fürs Camp eingepackt hatte. Die letzten Tage über hatte er versucht, seinen Füßen bei jeder längeren Pause Luft zum Atmen zu gönnen, in der Hoffnung, dass dies die Schmerzen lindern würde.

Sobald er damit fertig war, öffnete er die Flasche Apfelsaft, die er sich aus dem Kühlschrank im Restaurant genommen hatte. Der erste Schluck war noch besser, als seine Schuhe auszuziehen. Er war so kalt und süß. Wie die eisgekühlten Pflaumen im Gedicht von Williams. Das Erste, was sein Körper mit Freude annahm, seit er den Pfad betreten hatte. Ihm kamen beinahe die Tränen.

»Hey, Kumpel.«

Alexei verschluckte sich vor Schreck. Er war so vertieft in seinen flüssigen Zuckerrausch gewesen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, wie sich jemand genähert hatte. Als er schließlich aufschauen konnte, erkannte er allerdings sofort den dunklen Bart des großen, kräftigen Mannes wieder, der über ihm schwebte. Dieser Bart hatte vor drei Tagen sein Gesicht gestreift.

»Stört es dich, wenn wir deine Party crashen? Sind leider nicht mehr viele Plätze frei.«

Oh. Alexei hatte eigentlich nicht … Aber vermutlich …

»Hier, ein Bier als Entschädigung.« Der bärtige Mann stellte eine tropfnasse Bierdose neben seinen Apfelsaft. Nur mit Mühe konnte Alexei widerstehen, die Nase zu rümpfen.

»Klar.« Er brachte ein kleines Lächeln zustande.

»Ausgezeichnet. Hey, ich bin sogar froh, dich wiederzutreffen.« Mit einem dumpfen Rumms ließ der Mann seinen Rucksack hinter sich fallen. »Tut mir leid, dass wir neulich so schnell weiter sind. Wir wollten unbedingt viele Meilen schaffen, und da draußen war es verdammt heiß. Wir wollten nicht aus dem Tritt kommen, weißt du? Jedenfalls danke, dass du Ben vor der Klapperschlange gerettet hast. Übrigens, ich bin Faraj.« Er streckte eine schwielige braune Hand aus.

Faraj. Richtig. Wie seltsam, dass Alexei sich das nicht gemerkt hatte.

»Alexei.«

Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, schob Faraj den Nachbartisch mit dem von Alexei zusammen, wobei die Beine über das abgenutzte Holz der Terrasse schabten. Schon bald gesellten sich die anderen Männer zu ihnen, die vor ein paar Tagen mit Faraj gewandert waren, lehnten ihre Rucksäcke ebenfalls ans Geländer und öffneten ihre eigenen Bierdosen. Darunter – klar, wie konnte es anders sein – auch Ben. Er setzte sich Alexei direkt gegenüber, in der Hand einen Plastikbecher mit Wasser.

Alexei schluckte. Sein Plan, in Idyllwild richtiges Essen zu genießen und sich dabei selbst zu bemitleiden, lief … nicht so. Aber das war in Ordnung. In seinem neuen Leben, als Alexei 2.0, würde er mehr mit Fremden reden müssen. Er konnte das.

Die anderen Männer stellten sich vor – ein Schwarzer mit kurzen Locken, Ryan, und ein sonnenverbrannter Rothaariger, Tanner –, und kurz darauf kam auch schon das Essen, sodass es keinen Grund mehr gab, sich zu unterhalten. Alle am Tisch hatten Burger bestellt, außer Alexei, der sich für ein Truthahn-Sandwich entschieden hatte. Ben hatte noch einen Salat dazu geordert und Ryan Zwiebelringe für die ganze Truppe. Alles war frisch und fettig, eine echte Wohltat nach vier Tagen mit nichts als Müsliriegeln und Fertiggerichten, und trotz der vielen Fremden legte sich Alexeis innere Unruhe während des Essens allmählich.

Als die Teller halb leer waren, zog Ben Alexeis Blick auf sich. Ein weiteres Zahnlückengrinsen im Gesicht, hielt er eine knusprige, goldene Fritte hoch.

»Pommes«, sagte er.

»Pommes«, stimmte Alexei lächelnd zu, dieses Mal etwas ungezwungener.

Tatsächlich spürte er mit jedem Bissen, wie etwas in ihn zurückkehrte. Energie. Dankbarkeit. Die Überzeugung, dass er weiterwandern konnte, ohne zu sterben.

Das Brot seines Sandwiches war perfekt getoastet, die Tomatenscheiben frisch und saftig. Und der Käse … Der Bacon …

Er bremste sich. In den letzten zwei Tagen hatte er sehr wenig gegessen – nicht, dass er sich gleich übergeben müsste. Alexei bemühte sich, jeden verbleibenden Happen seiner Mahlzeit zu genießen, jede Fritte, jeden leckeren Bissen Sauerteig. Und er hatte noch nicht mal …

Eine Idee. Eine kleine zwar, aber eine, die trotzdem Überwindung kostete.

Er sah Ben an, bis dieser seinen Blick erwiderte. So langsam wie entschlossen hob Alexei die Gewürzgurke in seiner Hand hoch.

»Gürkchen«, sagte er.

Dieses Mal war Bens Lächeln sanft, fast schon innig. Als hätte Alexei es sich wirklich verdient.

»Gürkchen«, stimmte er zu.

Die beste Gurke, die Alexei je probiert hatte.

Doch er hätte wissen müssen, dass das alles nicht von Dauer sein würde.

»Also gut.« Als Faraj seinen Burger vertilgt hatte, lehnte er sich zurück und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Ryan. Es wird Zeit, Mann. Erzähl uns, was mit Leon passiert ist.«

Alexei musterte die Männer am Tisch, kramte in seinem Gedächtnis und stellte fest, dass eine Person fehlte, ein weiteres Mitglied ihrer Truppe, das bei ihrer ersten Begegnung an ihm vorbeigegangen war.

Ryan prustete und hielt sich vor Lachen den Bauch.

»Scheiße. Ich vergesse immer wieder, dass ich euch das noch gar nicht erzählt hab.«

»Ja, weil du schon den ganzen Tag so seltsam auf Geheimniskrämer machst!«, rief Tanner.

»Na ja, es ist eine verdammt gute Geschichte, und ich war heute Morgen unglaublich schlecht gelaunt«, antwortete Ryan. »Ich wollte warten, bis ich sie vernünftig erzählen kann.«

»Das warst du definitiv«, grummelte Tanner, während er sich einen Zwiebelring über den Finger streifte.

»Du kannst mich mal. Egal, also letzte Nacht. Ihr Loser seid alle am Schlafen.« Ryan schob seinen leeren Teller beiseite und stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. »Irgendwann gegen Mitternacht höre ich vom Pfad aus ein Geräusch.«

Alexei begann der Kopf zu schwirren, und ein unbestimmtes Kribbeln breitete sich unter seiner Haut aus.

Beim Essen hatte er sich gut gefühlt. Er hatte die Vorstellungsrunde überstanden. Doch als Ryan von der Begegnung mit einem Nachtwanderer auf Pilzen erzählte, den er und Leon letzte Nacht vor ihrem Lagerplatz getroffen hatten, klinkte Alexei sich zunehmend aus dem Gespräch aus.

Ein vertrautes Gefühl. Alexei wollte nicht asozial sein, er hatte nur … nichts über Pilze zu sagen. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er einfach nicht viel zu den Dingen beizutragen, über die die Menschen um ihn herum reden wollten.

Auch Ben beteiligte sich kaum an der Unterhaltung und nippte gegenüber von Alexei stumm an seinem Wasser, ab und zu abgelenkt von seinem Handy auf dem Tisch. Alexei war von sich selbst enttäuscht, da er sich immer unwohler fühlte, während die Jungs neben ihnen immer redseliger wurden – irgendetwas über Kojoten und die Suche nach Außerirdischen … Er hatte den Faden verloren. Aber einen Moment lang war er stolz auf sich gewesen. Weil er mit einem Typen wie Ben gesprochen hatte, auch wenn es nur in kleinen Silben war. Und dabei hatte er sich auch noch halbwegs wohl in seiner Haut gefühlt.

Jetzt konnte er nur noch daran denken wegzukommen. Wieder allein zu sein. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal in der Lage, eine ordentliche Verabschiedung über die Lippen zu bringen.

Er steckte schon halb in einer Gedankenspirale, als ihn ein Ruf rettete.

Es war ein schnelles, sich wiederholendes Stakkato, und in Alexeis Ohren klang es wie eine Erlösung, etwas Natürliches und Schönes. Er drehte den Kopf in diese Richtung, weg von der Unterhaltung, weg von Bens Lächeln, weg von den Blasen und den geschwollenen Füßen, hin zum Rasen neben der Terrasse und dem großen Baum dort. Er konzentrierte sich darauf, das Geräusch noch einmal zu hören, nur um sicherzugehen. Wäre er allein gewesen, hätte er sogar das Fernglas gezückt.

Aber das schien ihm … hier, in diesem Moment, nicht das Richtige zu sein.

»Oh mein Gott.« Tanner schlug sich die Hände vors Gesicht, immer noch ins Gespräch vertieft. »Leon ist so ein verdammter Vollpfosten.«

Alexei begann sich der Magen umzudrehen. Er betete, dass ihm das Essen nicht wieder hochkam.

Der Vogel auf dem Baum war eine Schwirrammer, vermutete er. Oder nein. Hm. Vielleicht …

Er schloss die Augen, um intensiver zu lauschen.

KAPITEL ZWEI

Sobald Alexei die Augen schloss, wusste Ben, dass er in Schwierigkeiten steckte.

Er hatte beobachtet, wie Alexei sich im Verlauf des Essens weiter und weiter in sich selbst zurückgezogen hatte, während Ryans Geschichte immer und immer lächerlicher wurde. Wie er vorhin mit gerunzelten Brauen in die Ferne geschaut hatte. Aber als er dann den Kopf zur Seite gelegt und die Augen geschlossen hatte …

Er schien etwas zu hören. Wahrscheinlich den Vogel, der im Baum auf der Terrasse saß und zwitscherte.

All die anderen Vollpfosten am Tisch lachten darüber, dass sie sich wie Vollpfosten aufführten, und dieser Kerl – dieser hinreißende, etwas seltsame Kerl, der Ben das Leben gerettet hatte – lauschte mit vollem Einsatz einem Vogel.

Bens Gabel mit Salat war schon auf halbem Weg zum Mund, doch jetzt hielt er inne und sah sich um. Bemerkte denn sonst niemand, dass dieser extrem heiße Typ hier am Tisch zu meditieren schien? Nein, nur Ben.

Also aß er seinen Salat. Starrte Alexei an. Beobachtete, wie ihm Sonnenstrahlen über die Augenlider tanzten und Highlights in seine hellblonden Haare und die kurzen honigblonden Stoppeln am Kinn warfen.

Bloß vom Handy, das auf der Tischplatte vibrierte, ließ er sich ablenken.

Julie: YAY BEN DU LEBST NOCH YAY

Julie: London sagt Hi!

Julie: London is aber grad ein riesiges Stressmonster und ne ganz schöne Nervensäge, also versteh ich, wenn du das Hi nicht erwiderst! Ich würds nicht!!!

Mit einem Grinsen legte Ben die Gabel weg und tippte eine Antwort.

Ben: Hi, London! *winkt* warum ist dey ein Stressmonster?

Julie: Dey sucht jemanden für das Organisatorische von deren Verein. Gestaltet sich aber schwierig

Julie: WOW okay dey lässt sich nicht gern als Stressmonster bezeichnen

Julie: Egal, zeig mir deine ekligsten Blasen

Seine Blasen hatte Ben eigentlich ganz gut im Griff. Aber vor einer Weile hatte es ihn in der Nähe von Warner Springs schlimm erwischt. Da hatte er diese Truppe hier das erste Mal getroffen. Dann war er gestolpert und fies mit der Seite auf einem Baumstamm gelandet. Er suchte das Foto mit dem Bluterguss heraus, der sich über seinen ganzen Bauch gezogen hatte, und schickte es Julie. Genau dafür hatte er es dokumentiert: um seine beste Freundin zu beeindrucken.

Julie: UNANSTÄNDIG, CARAVALHO

Julie: und – KRASS. GUTE ARBEIT.

Ben schaute gerade rechtzeitig vom Display auf, um zu sehen, wie Alexei die Augen endlich wieder öffnete.

Erneut vibrierte das Handy in seiner Hand. Aber Ben konnte nicht wegsehen, egal, wie laut sein Hirn ihn auch anschrie, genau das zu tun. Doch Alexei kehrte gerade wieder vollständig in die Welt der Lebenden zurück und drehte den Kopf zum Tisch. Ben musste einfach warten, bis ihre Blicke sich trafen. Und dann lächeln.

Sofort färbten Alexeis Wangen sich rund um seinen Sonnenbrand rot, als hätte er sich bei etwas Unanständigem erwischen lassen.

Seine Augen waren so blau. Wie der Himmel über dem Cumberland River an einem sonnigen Sommertag.

Ben musste wirklich all seine Willenskraft aufbringen, um nicht das Kinn auf der Hand abzustützen und ihn mit den Wimpern anzuklimpern.

Erst als noch eine Nachricht auf dem Handy eintrudelte, sah Ben hinab. Sie war von seiner Mutter – eine Antwort auf ein Foto vom gestrigen Sonnenuntergang im Coachella Valley: Kakteen und Yucca-Palmen vor pfirsichgoldenem Sonnenlicht.

Ma: Oh, Bento. Wie wunderschön.

Die drei Punkte hüpften im Chat auf und ab. Und verschwanden. Dann noch mehr Punktehüpfen. Und wieder weg.

Ben runzelte die Stirn.

Endlich …

Ma: Pass bitte auf dich auf.

In seinem Hals bildete sich ein Kloß. So beendete sie seit zwei Wochen jeden Chat mit ihm. Und jedes Mal konnte er ihre Zurückhaltung beinahe hören. Spüren, wie sehr sie sich bemühte. Denn normalerweise trug Iris Caravalho ihr Herz auf der Zunge.

Mann, er vermisste sie.

Er vermisste Ma und Dad, und Julie, und seine kleine Schwester Carolina, und seinen alten Mitbewohner Khalil, und London, und eigentlich alles an Nashville, Tennessee.

Jetzt kam noch eine Nachricht von Jeremy, einem ehemaligen Kollegen aus dem Café. Der, der den Appalachian Trail gewandert war, kurz bevor er eingestellt wurde, und seitdem kein anderes Gesprächsthema mehr kannte und Ben vor Jahren die Idee für diesen Trip ins Hirn gepflanzt hatte.

Ihm hatte Ben dasselbe Foto geschickt wie Ma.

Jeremy: Scheiße, ja, Mann! Du machst das echt!

Ben stieß einen Seufzer aus.

Eigentlich keimte die Idee für diesen Hike schon viel länger in ihm. Jeremys Gelaber über den AT hatte sie bloß weiter sprießen lassen. Als Kind hatte er so viel Energie gehabt, dass sie kaum in seinen kleinen Körper gepasst hatte. Im Grunde sprudelten alle Caravalhos vor Energie nur so über, doch während sein großer Bruder Tiago sie in Sport gesteckt hatte und Carolina in ihre akademische Karriere, war Ben in der Natur aufgeblüht. So wirklich richtig entspannen konnte er nur unter freiem Himmel. Wenn er erkunden und entdecken durfte.

Als er irgendwann aus dem Alter herausgewachsen war, in dem man noch ohne Weiteres täglich im Dreck spielen konnte, hatte seine Rastlosigkeit sich allerdings in ungesündere und weniger harmlose Richtungen entwickelt. Fast seine ganzen Zwanziger waren eine einzige Aneinanderreihung schlechter Entscheidungen gewesen: gescheiterte Beziehungen, verpasste familiäre Verpflichtungen, chaotische Flirts und Sexabenteuer. Ein Job nach dem anderen, der zwar die Fixkosten abdeckte, aber ansonsten nicht sehr erfüllend war.

Bis vor zwei Jahren, als Ben sich endlich lange genug auf eine Sache hatte konzentrieren können, um seinen Abschluss als Krankenpfleger zu machen. Wie stolz er war! Dafür hatte er härter als jemals zuvor gearbeitet, und er freute sich so sehr darauf, endlich eine Karriere zu starten, die ihm wirklich etwas bedeutete.

Aber er war auch tierisch nervös.

Und genau deswegen war er, als er die staatliche Abschlussprüfung bestanden hatte, statt sich auf Jobs zu bewerben, zuerst hierhergekommen. An die Westküste, zum PCT, einem Outdoor-Abenteuer, wie er es noch nie erlebt hatte. Eine letzte Gelegenheit vor dem bedrohlichen dreißigsten Geburtstag, seine Rastlosigkeit loszuwerden. Sich auf bessere Entscheidungen einzustimmen. Etwas Unbekanntes zu erleben, etwas Großes, während er sich gedanklich auf sein neues, verantwortungsbewusstes Leben vorbereitete.

Ben starrte noch eine ganze Weile auf die Nachricht.

Natürlich vermisste er Nashville. Hier fiel er über Baumstämme und entkam nur knapp Klapperschlangenbissen. Die meiste Zeit fragte er sich, ob er es überhaupt bis nach Kanada schaffen würde.

Aber Jeremy hatte recht, verdammt: Wenigstens war er hier und zog es durch.

»Alles klar, Jungs.« Faraj schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Ben zuckte zusammen. Er war genauso vertieft in sein Handy gewesen wie Alexei in das Vogelgezwitscher. »Wenn wir die Zweiundzwanzig heute noch packen wollen, sollten wir langsam los. Vielleicht holen wir ja irgendwo unterwegs noch Leon ein, den Lappen.«

Ben verkniff sich ein Seufzen. Diese Kerle waren zwar ganz in Ordnung, aber auch waschechte Thruhiker und wollten jeden Tag echt eine Menge Meilen schaffen. Im Ernst, war es wirklich nötig, die Zweiundzwanzig an einem Tag wie heute unbedingt noch vollkriegen zu wollen? Faraj und Tanner hatten beide hier bei der Post Vorratspakete einsammeln müssen, und Ben sagte niemals Nein zu der Chance auf echtes Essen und richtige Waschräume. Also hatten sie mit dem Umweg in diese Stadt ganz schön viel Zeit vertrödelt.

Und jetzt, wo das leckere Essen langsam in Bens Magen ankam, wo er seit einer Woche mal wieder richtigen Empfang hatte und mit seinen Leuten schreiben konnte, verstand er nicht, was die ganze Eile sollte.

Tanner und Ryan packten ihre Sachen zusammen. Faraj sammelte die leeren Bierdosen ein. Bis er die von Alexei anhob und merkte, dass sie noch voll war.

Er stellte sie wieder vor ihm auf den Tisch. »Alles cool, Mann, keine Eile. Vielleicht sehen wir uns da draußen ja später noch mal?«

Auf Alexeis Stirn erschien kurz eine kleine Falte, verschwand jedoch auch gleich wieder.

»Ja.« Das Lächeln war eindeutig aufgesetzt. »Danke.«

Ben nahm noch einen Schluck Wasser. Der arme Kerl mochte Bier vermutlich nicht mal.

Tanner, Ryan und Faraj ließen die Hüft- und Schultergurte zuschnappen.

»Alles in Ordnung bei dir, Ben?«, wollte Ryan einen Moment später wissen.

Berechtigte Frage. Ben wusste ja selbst nicht genau, was er hier eigentlich tat. Warum er einfach sitzen blieb. Wahrscheinlich traf er mal wieder eine schlechte Entscheidung. Genau die Art Entscheidung, die er mit seiner Wanderung auf dem PCT doch hinter sich lassen wollte.

Denn schuld an fünfundneunzig Prozent seiner schlechten Entscheidungen waren gut aussehende Männer.

Aber … es war so schön hier in Tommy’s Kitchen. Alexei zu beobachten. Den Vögeln zu lauschen.

Also blieb Ben weiterhin sitzen.

»Ich glaub, ich entspanne hier noch ein bisschen. Geht ruhig schon mal vor. Ich hole euch ein.«

»Alles klar.« Faraj nickte unbekümmert. Auf dem PCT waren Hiking-Gruppen nie in Stein gemeißelt. »Man sieht sich.«

Ben schob seine leere Salatschüssel beiseite und stapelte die Teller.

Als die anderen weg waren, schien die Stimmung sich zu verändern. Sie wurde ruhiger. Intimer.

Alexeis Blick zuckte zu ihm, dann wieder weg. Er verschränkte nervös die Finger. Ben musste an sein zögerliches Lächeln im Waschraum denken. So als hätte ihn dieses Lächeln selbst überrascht. Und an die ernste Miene, als er voller Überzeugung Gürkchen gesagt hatte.

Ben wusste auch noch genau, wie sich Alexeis Arm an seiner Brust angefühlt hatte. Stark und sicher. Er erinnerte sich an die gerunzelten Brauen, als er ihn wegen der Kopfhörer getadelt hatte. Mit diesem ernsten Blick, als würde er sich wirklich um Ben sorgen, einen Fremden, den er gerade erst getroffen hatte. Ben hatte gar nicht anders gekonnt, als zu lachen.

Anscheinend steckte er nicht erst seit dem Vogelgezwitscher in Schwierigkeiten.

Gerade wollte er etwas sagen, um das unangenehme Schweigen zu brechen, da schob Alexei ihm die Bierdose über den Tisch zu.

»Willst du das? Ich bin nicht so der Biertrinker.«

Ben nahm sie entgegen, trank aber nichts, sondern fragte stattdessen: »Was hast du da eben gehört?«

»Wie bitte?« Wieder lief Alexei rot an.

»Da draußen.« Ben deutete mit dem Kinn zum Baum auf der Terrasse. »Als die anderen den ganzen Mist gelabert haben, warst du mit den Gedanken woanders und hast irgendwas gehört. Einen Vogel, nehme ich an.«

Nach kurzem Zögern antwortete Alexei: »Eine Schwirrammer.« Er schluckte. »Glaube ich zumindest.«

Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das hier liebte er am meisten. Neue Leute kennenzulernen. Herauszufinden, wie sie tickten. Das liebte er auch an der Krankenpflege so sehr. Wenn man bereit war, zuzuhören, verrieten Menschen einem unglaublich viel.

»Erzähl mir von der Schwirrammer.« Jetzt trank er doch einen Schluck Bier.

Aber bevor Alexei antwortete, beobachtete er Ben beim Trinken.

Seine tiefblauen Augen verweilten definitiv auf Bens Lippen.

Das war … unerwartet.

Hastig wandte Alexei den Blick ab und räusperte sich.

»Ihr typischer Ruf ist ein langes, wiederholtes Trillern. Sie sind in Nordamerika heimisch, ziehen aber im Winter auch in den Süden. Es könnte sein, dass sie gerade ihre Wanderung zurück in den Norden starten, oder wir sind noch nah genug an ihren Nistplätzen in Mexiko.« Er stockte. »Vielleicht war es auch eine Winterammer. Ich konnte sie nicht sehen. Aber Winterammern mag ich eigentlich lieber.«

Mist. Mist, Mist, Mist, verdammter.

Alexei hatte Ben ohne Zweifel auf den Mund gestarrt.

Und Alexei war ohne Zweifel ein Nerd.

Gleich zwei schlagende Argumente. Bens Herz flatterte ihm hilflos in der Brust. Wie ein großer, dummer schwuler Vogel.

Er steckte knietief in Schwierigkeiten.

»Warum magst du Winterammern lieber?«, fragte er trotzdem.

»Die Gefiederzeichnung kann zwar sehr unterschiedlich sein, aber im Großen und Ganzen finde ich Winterammern … irgendwie hübscher.«

Alexei senkte den Blick und inspizierte einen Faden an seinem Shirt.

Ben war einen Moment lang still. Ignorierte sein pflichtbewusstes Hirn, das ihm gerade lautstark zuschrie, seinen Arsch in Bewegung zu setzen, um Faraj noch einzuholen. Stattdessen spielte er im Kopf lieber immer wieder ab, wie tief und ernst Alexeis Stimme bei diesem Wort – hübscher – geklungen hatte.

Schließlich sagte er: »Tut mir übrigens leid, falls die Typen dir unangenehm waren.«

Alexei zuckte die Achseln. »Sind das nicht deine Freunde?«

»Ich hab sie erst in Warner Springs getroffen. Ganz nette Truppe. Normalerweise labert Ryan nicht so einen Müll.« Noch ein Schluck Bier. »Aber als Freunde würde ich sie nicht bezeichnen. Wanderst du mit irgendwem zusammen?«

»Nein.«

Als sich eine Stille über den Tisch legte, leerte Ben das Bier. Nach einer Weile schien Alexei sich zu entspannen. Er zog ein Notizbuch und einen Stift aus seinem Rucksack und fing an, eine leere Seite vollzukritzeln. Was sollte Ben jetzt tun?

Hätte Alexei doch nur seine Lippen nicht so angestarrt. Wäre er doch nur nicht so schön und seltsam und faszinierend. Dann wäre die Antwort einfacher.

Noch könnte er Faraj bestimmt einholen.

Ben stellte die Dose zu dem dreckigen Geschirr und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

»Wie wär’s, wenn wir eine Weile zusammen wandern?«

Alexei sah ihn nicht an. Trommelte nur mit dem Stift auf das Papier.

»Ich bin kein besonders guter Gesprächspartner.«

Ben schmunzelte. Das war ihm schon aufgefallen.

»Nach siebzig Meilen mit diesen Kerlen könnte ich ein bisschen Ruhe gut vertragen.« Im Ernst, Schweigen machte ihm nichts aus. Schon in den fünfzehn Minuten, die er hier mit Alexei alleine saß, waren sein Blutdruck gesunken und seine Gedanken ruhiger geworden.

»Ich muss mein Wasser auffüllen. Und ein paar Blasen verarzten.«

Ben zuckte mit den Schultern und grinste. »Bin sowieso todmüde. Lass uns den ganzen Tag hierbleiben.«

Da war wieder die kleine Falte auf Alexeis Stirn. »Oh. Ähm, mein Budget reicht nicht für ein Hotel. Das habe ich eigentlich eh schon überzog…«

Ben fiel ihm sanft lachend ins Wort. »Alles gut, ich wollte nur sagen: Lass dir Zeit. Für mich passt alles, was für dich passt.« Als Alexei nicht antwortete, fragte Ben vorsichtig: »Passt es denn für dich? Wir müssen nicht zusammen wandern.«

Denn tatsächlich war Ben gerade nichts wichtiger als das, was Alexei wollte.

Er schwieg eine ganze Weile.

Endlich sagte er leise: »Das passt für mich.«

Ben bemühte sich um ein freundliches, zurückhaltendes Lächeln.

»Dann lass uns abräumen. Du kümmerst dich um deinen Kram, und wir treffen uns an dem Baum da, wenn du fertig bist. In Ordnung?«

Alexei nickte. Fünf Minuten später setzte Ben sich an den Baumstamm und verbrachte seine Zeit damit, sich einzureden, dass mit Alexei zu wandern auf jeden Fall, möglicherweise, ziemlich sicher keine schlechte Entscheidung war. Höchstwahrscheinlich.

Außerdem starrte er sein Handy an und versuchte, eine Nachricht von Carolina heraufzubeschwören, solange er noch Empfang hatte.

Wobei sie gerade wohl in der fünften Stunde an der East High saß. Politik-Leistungskurs. Und seine kleine Schwester brach so gut wie nie die Regeln. Schon gar nicht in ihrem Lieblingskurs.

Also chattete er stattdessen mit Julie. Über ihre nervige Kollegin Lorraine, über London und deren neues gemeinnütziges Camp für LGBTQ+-Kids – das inzwischen nicht mehr CookOut, sondern QueerOut hieß –, über Londons bessere Hälfte Dahlia, die gerade in die Stadt gezogen war. Gespräche mit Julie fühlten sich nach Zuhause an. Vom Bier war er leicht beschwipst. Es war schön, einen Moment für sich zu haben. Als Alexei sich später zu ihm gesellte, fühlte Ben sich wahrscheinlich zum ersten Mal seit Beginn der Wanderung wieder fast komplett wie er selbst.

Er legte das Handy weg und sah auf.

Das war ein wirklich verhängnisvoller Blickwinkel, so auf Augenhöhe mit Alexeis beeindruckenden Schenkeln. Er war groß, seine breiten Schultern schwebten über Ben und ließen seine Gedanken augenblicklich verstummen. Seinen Magen Saltos schlagen.

Ben rappelte sich vom Boden auf.

Gute Entscheidungen.

Er würde dafür sorgen, dass das hier eine gute Entscheidung war.

Alexei schwieg, während sie die Straßen von Idyllwild hinter sich ließen, und Ben behielt seinen Blick entschlossen bei sich. Fokussierte sich auf seine Schienbeine, in denen er den unnachgiebigen Untergrund mit jedem Schritt deutlicher spürte. Auf die Geräusche der Zivilisation, die sie Stück für Stück hinter sich ließen.

Als sie die Stadt fast verlassen hatten, blieb Ben auf einmal stehen.

»Hörst du das?« Ein durchdringender, süßer Ruf erklang.

Alexei lauschte eine Weile mit zusammengezogenen Brauen. Dann sagte er: »Kalifornische Grundammer.«

Ben grinste. Beeindruckend.

Ein bisschen Ruhe. Etwas Vogelkunde. Bis Alexei sich ganz sicher irgendwann absetzen und Ben selbst wieder zu Faraj aufschließen würde.

Was war schon dabei?

KAPITEL DREI

Alexei flippte nicht aus.

Okay. Er flippte ein bisschen aus.

Na schön, er flippte total aus.

Sich auf so etwas einzulassen, sah ihm gar nicht ähnlich. Doch … wie hätte er diesem Lächeln etwas abschlagen sollen?

Außerdem hatte Ben Alexeis ornithologischen Beobachtungen so aufmerksam gelauscht.

Sonst interessierte sich niemand für seine Vogelkenntnisse. Außer seinem Vater, denn der hatte ihm die Vogelrufe überhaupt erst nähergebracht. Doch das war ein Thema für ein anderes Mal. In diesem Moment versetzte es ihm bloß einen schmerzhaften Stich.

Aber je weiter sich Alexei und Ben von Idyllwild entfernten, zurück zum PCT und dem staubigen, felsenreichen Wald, der den Mount San Jacinto umgab, desto überzeugter war er davon, dass sein Wunsch nach zweitausendfünfhundert Meilen Frieden und Ruhe tatsächlich noch in Erfüllung ging.

Denn während sie Meile um Meile zurücklegten, bewies Ben, dass er seine Behauptung bei Tommy’s Kitchen ernst gemeint hatte: Schweigen machte ihm nichts aus.

Ab und zu blieb er stehen, um mit dem Handy Fotos zu schießen. Tauschte freundliche Grüße mit entgegenkommenden Wandernden aus. Manchmal summte er vor sich hin, was Alexei eigentlich hätte nerven müssen, aber irgendwie fand er es nur süß. Sie führten noch ein paar Fünf-oder-weniger-Silben-Gespräche.

»Toller Baum«, meinte Ben irgendwann und spähte den schmalen Stamm einer Küsten-Kiefer hinauf.

Zwar kam Alexei sich bei diesem Spiel langsam ein wenig albern vor, aber es war wirklich ein toller Baum. Wie er sich so verwegen gen Himmel reckte. Jeder Baum, der in der Wüste gedieh, erschien ihm wie ein kleines Wunder. Von daher …

»Toller Baum.«

Abgesehen von diesen kurzen Ausrufen schien sich Ben jedoch pudelwohl damit zu fühlen, in völligem Stillschweigen neben Alexei herzuwandern.

Es war schon etwas seltsam.

Mit jedem Schritt wirbelten Alexei neue Fragen durch den Kopf.

Angefangen mit: Wer bist du, und was geht hier eigentlich vor?

Über: Weißt du eigentlich, dass ich dir schon die ganze Zeit auf die Waden gaffe?

Alexei konnte sich ohnehin nicht erklären, warum Ben nicht einfach mit Faraj und den anderen Jungs weitergewandert war. Warum er am Tisch sitzen geblieben war. Warum er jetzt hier war, bei ihm.

Und schließlich: Mal im Ernst, wer bist du?

Die Fragen nahmen bis zum Abend immer mehr Raum in Alexeis Kopf ein, als sie gemeinsam ihr Lager am Wegrand aufschlugen. Während er nach dem Abendgebet in seinem Schlafsack lag und ins Dunkle starrte. In dem Bewusstsein, dass Ben im Zelt nebenan schlief.

Zugegeben, es war gar nicht so schlecht. Zu wissen, dass da draußen noch jemand war.

Vielleicht war es okay, nicht allein zu sein. Wenn auch nur für ein Weilchen.

Als Alexei am nächsten Morgen aufwachte, fragte er sich kurz, ob er am Tag zuvor halluziniert hatte. Doch als er den Kopf aus dem Zelt streckte, saß Ben dort auf dem harten Boden. Er trug ein marineblaues Kapuzensweatshirt, das ihm zu groß war und sich an den Handgelenken knitternd bauschte, sah ihn aus seinen verschlafenen schokobraunen Augen an und grinste, als gäbe es keinen Ort, an dem er gerade lieber wäre.

Für einen Wimpernschlag ergab sich Alexei der Fantasie, zu ihm zu krabbeln und den Kopf in Bens Schoß zu legen.

»Morgen«, sagte Ben.

»Morgen«, antwortete er. Und dann: »Kaffee.« Er deutete auf den dampfenden Becher in Bens Händen. Das machte den Spielregeln nach eigentlich keinen Sinn, denn in Wahrheit hasste Alexei Kaffee, und in seinem Kopf sagte man nur dann Fünf-oder-weniger-Silben-Quatsch zum anderen, wenn es sich um etwas handelte, das beide mochten. Dennoch sprach er es aus, weil er wusste, die Antwort wäre …

»Kaffee!« Strahlend hob Ben den Becher.

Und irgendwie war ein halb verschlafenes Lächeln von Ben sogar noch charmanter als ein hellwaches.

Alexei drehte sich um und verschwand im Gebüsch.

Als er von seinem morgendlichen Geschäft zurückkam, stand Ben mit hochgestreckten Armen da, die Augen geschlossen und zum heller werdenden Himmel gerichtet. Sein Sweatshirt war durch die Bewegung nach oben gerutscht und entblößte einen schmalen Streifen weichen Bauches mit dunklen Haaren.

Alexei schloss die Augen und schickte ein verzweifeltes Stoßgebet an den lieben Gott. Ihm war klar, dass er sich an neue Leute gewöhnen musste und dass ein bisschen Gesellschaft nicht schlecht war. Eine gute Übung für Alexei 2.0.

Aber musste es ausgerechnet so jemand sein? So ein lebenslustiger, attraktiver Mensch?

Erstaunlicherweise blieb Gott ihm eine Antwort schuldig.

»Können wir los?«, fragte Ben, nachdem das Lager abgebaut war, er den Instantkaffee getrunken und Alexei seinen Porridge mit nur ein bisschen Übelkeit hinuntergewürgt hatte.

»Ja.« Alexei versuchte sich an einem Lächeln. »Los geht’s.«

Er konnte das.

Als sie wieder schweigend nebeneinanderher wanderten, gingen auch seine Gedanken wieder mit ihm durch: Tatsächlich war es nicht gerade der sicherste Plan, mit jemandem, über den man absolut nichts wusste, quer durch die Wüste zu spazieren, oder? Er sollte die Fragen stellen, die ihm durch den Kopf rasten, damit sie wenigstens ein paar grundlegende Fakten übereinander in Erfahrung bringen konnten. An wen Alexei sich wenden sollte, falls Ben aus Versehen von einem Bergkamm stürzte. Ob Ben gegen irgendetwas allergisch war. Wie hieß er mit Nachnamen? Warum wanderte er den PCT? Wie viel des Trails wollte er zurücklegen? Wie lange genau hatte er vor, mit Alexei zu hiken? Woher stammte er? War er schwul?

Na gut! Vielleicht waren nicht alle diese Fragen wirklich relevant. Und Ben war eindeutig nicht schwul. Er hatte perfekt zu den anderen sehr heterosexuell wirkenden Typen bei Tommy’s Kitchen gepasst. Alexei hingegen war superschwul, aber auch das war in Ordnung – er würde dieses überraschende Ausmaß an Schwulheit später in seinem Tagebuch analysieren, in dem er sowieso seine ganzen schwulen Gefühle aufarbeiten wollte. Alles lief immer noch nach Plan.

Doch wieder einmal durchkreuzte das Leben in der Wildnis seine guten Absichten.

Der Tag begann mit einem steilen Anstieg, der Alexei dazu zwang, sich mit aller Kraft auf das Gewicht seines Rucksacks, seine Schrittlänge und seinen keuchenden Atem zu konzentrieren. Und solange er kaum Luft bekam, wollte er keine fröhliche, stinknormale, nicht allzu schwule Fragerunde starten. Als sie neben einem Felsblock anhielten, um Tahquitz Rock zu überblicken – eine blanke Granitkuppe, die sich über einem Baldachin aus Nadelbäumen erhob, eine gewaltige, Ehrfurcht gebietende Szenerie –, fragte er sich, ob es nicht schon zu spät war. Ob die Stille zu lange gedauert hatte und alles wieder seltsam war.

Nein! Er musste etwas fragen. Er musste einfach. Sie waren stundenlang zusammen gelaufen … Es ergab keinen Sinn … Wie konnte Ben nur so entspannt sein?

»Was ist deine Lieblingsfarbe?«, platzte Alexei heraus.

Denn, na klar: Die einzige Frage, die ihm schließlich über die Lippen kam, war die, die man sich im Kindergarten am häufigsten stellte. Cool. Echt der Hammer.

Doch Ben lächelte ihn nur an und erwiderte: »Blau.«

Und dann fiel Alexei auf, dass Bens Sweatshirt dunkelblau war. Sein Shirt: himmelblau. Sein Zelt war blau. Sogar die Tasse, aus der er seinen Frühstückskaffee getrunken hatte, war … blau.

Endlich hatte Alexei den Mut gefunden, Ben eine Frage zu stellen, und es war die einzige, auf die er die Antwort bereits kannte.

»Und deine?« Ben drehte sich um und schlenderte zum Pfad zurück, wobei seine Schulter versehentlich Alexeis Arm streifte.

Nachdem ein paar Herzschläge später das Kribbeln unter seiner Haut nachgelassen hatte, folgte Alexei ihm. Er betrachtete Bens Hinterkopf, die dunklen Haare, die unordentlich unter dem Hut hervorlugten, den er gelegentlich gegen die Sonne im Gesicht trug, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn er eine Hand ausstrecken und die Finger hineinschieben würde, und wahrscheinlich brauchte er viel zu lange, um zu antworten: »Grün.«

»Vernünftige Wahl«, meinte Ben. Sollte Alexei genauer erklären, dass er zwar einige Grüntöne scheußlich fand, seine wahre Lieblingsfarbe jedoch die von Moos in einem Wald des Nordwestens war? Ein Grün, so hell, dass es manchmal fast zu leuchten schien?

Aber Ben sagte nichts weiter, und Alexeis Worte wären sowieso nicht richtig rübergekommen, weil sie das nie taten, daher hielt er nach diesem misslungenen Gesprächseinstieg lieber den Mund.

Die Fragen schwirrten ihm trotzdem im Kopf herum.

Als sie anhielten, um sich Microspikes über die Schuhe zu stülpen, da sie einige vereiste Stellen im Schnee entdeckt hatten, knabberte Alexei abwesend ein paar Nüsse, starrte ins Leere und rätselte, was wohl Bens Lieblingsschulfach gewesen war, ehe ihm auffiel, dass sich dessen Stimmung völlig verändert hatte.

Als Ben sich räusperte, hätte Alexei sich vor Schreck fast an einer Cashew verschluckt.

»Ich glaube, ich sollte dir verraten«, sagte Ben, die ersten Worte, die er seit einer Stunde gesprochen hatte, »dass Schnee mich ein bisschen nervös macht.«

Überrascht, seine Stimme zu hören, schaute Alexei ihn an, und da fiel es ihm auf. Ben biss die Zähne zusammen, seine offenen, strahlenden Augen wirkten nun reserviert.

Das eisige Weiß deutete darauf hin, dass sie Fuller Ridge erreicht hatten, eine berüchtigt tückische Strecke nahe dem Gipfel des San Jacinto. Die Angst vor dem Schnee war ganz natürlich – Alexei war selbst nicht unbedingt begeistert –, aber dieser unvermittelte Beweis, dass Ben nicht perfekt war, brachte ihn aus der Fassung. Was für eine gefährliche Erkenntnis.

»Ach ja?« war alles, was er darauf zu erwidern wusste.

»Ich komme aus Nashville.« Ben zuckte mit den Schultern. »Da schneit es zwar auch manchmal. Aber ich bin noch nie im Schnee gewandert. An einem Berghang … Du weißt schon.«

Nashville! Bens leichter Akzent war ihm bereits aufgefallen. Dennoch faszinierend. Alexei wünschte sich verzweifelt, er hätte Zugriff auf seinen Computer. Dann könnte er ein Häkchen in seiner Liste der Ben-Fragen setzen.

»Falls es dich beruhigt, ich habe eine Heidenangst vor der Wüste«, gab er zu.

Ben drehte sich zu ihm um, und Alexei konnte sehen, dass er sich dadurch tatsächlich besser fühlte. Denn er grinste wieder. Das war das Eingeständnis zu hundert Prozent wert. Alexei war geradezu stolz auf sich, dass er dieses Grinsen ausgelöst hatte.

»Ich fand es fast schon absurd schön«, sagte Ben.

Alexei erinnerte sich an einen Roadtrip, den er in der fünften Klasse mit seiner Familie von Vancouver, Washington, nach Salt Lake City unternommen hatte. Wie viele dieser zwölf langen Stunden im Auto waren von flachen, kargen Landschaften geprägt gewesen? Dort hatte Alexei zum allerersten Mal dieses mulmige Gefühl beim Anblick der Weite empfunden, jenes Fehlen von irgendetwas zwischen Boden und Himmel, das ihm heiße und kalte Schauer über den Rücken jagte.

»Ja, schon. Wirklich schön«, bestätigte er nach kurzem Zögern. »Es ist nur … Also, ich komme aus dem Nordwesten, und ich brauche … Bäume. Große Bäume. Und zwar überall.«

Ben lächelte, als hätte Alexei nicht gerade wie ein Hornochse geklungen. Alexeis Gefühle für die Natur klangen im Kopf stets besser, oder wenn er sie aufschrieb – wenn er Zeit hatte, die richtigen Worte zu finden. Laut ausgesprochen hörten sie sich eher plump an, etwa so: Vögel sind hübsch. Ich mag Bäume!!

Uff.

»Ich kann es kaum erwarten, den Nordwesten kennenzulernen«, sagte Ben aufrichtig und freundlich und klang fast wieder wie sein entspanntes Selbst. Was für eine Erleichterung! Trotzdem musterte Alexei ihn besorgt.

»Bis dahin wird noch jede Menge Schnee liegen.«

Ben atmete schwer aus und nickte.

»Dann sollten wir wohl besser aufbrechen.«

Anfangs war der Schnee ziemlich hinderlich. Immer wieder türmten sich Schneebänke auf, manchmal überraschend hoch, sodass Ben und Alexei sie wie Treppen hinauf- und herunterklettern mussten. Größere Wehen verdeckten den Weg und erschwerten den Rückweg aufs trockene Land. Auf offenen Pässen blendete die beiden das strahlende Weiß des Schnees in der prallen Sonne, während wütende Insektenschwärme ihre Gesichter umschwirrten. Im Schutz der dunklen Bäume hingegen war es bitterkalt.

Doch nach der Hitze und dem Staub der tieferen Ebenen war die Kühle des Schnees auch etwas Wunderbares. Ab und zu nahm Alexei sich das rote Bandana vom Kopf, das den Schweiß von den Augen fernhalten sollte, und wälzte es im Schnee. Sich das nasse, kühle Tuch wieder auf die Haut zu legen, sorgte für eine fast schmerzhaft angenehme Erleichterung. Wieder einmal eine überraschende Wohltat, hier inmitten der Einöde.

Der Schnee bremste sie zwar aus, aber sie kamen voran.

Bis sie das letzte Stück des Bergkamms erreichten.

Hier schlängelte der Trail sich einen steilen Felsvorsprung entlang, nur wenige Meter von der Passspitze entfernt, und war komplett weiß überzogen. Beim kleinsten Fehltritt würde man einen Abhang hinunterschlittern, der am Grund in massiven, scharfkantigen Felsen zu enden schien. Ein sehr weit entfernter Grund.

Ben und Alexei hielten auf dem letzten Stück sichtbaren Feldwegs inne, bevor die verschneite Strecke begann. Alexei stemmte die Trekkingstöcke in den Boden, lehnte sich nach vorne und inspizierte den Pfad, der vor ihnen lag. Es war eine lang gezogene Schneedecke. Sie würden es langsam und vorsichtig angehen müssen.

Ben hatte hinter ihm einen kleinen Schritt rückwärts gemacht. Und die Anspannung auf seinem Gesicht war nicht länger bloß unt...

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