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Wir trafen uns im Dezember

Was, wenn du die große Liebe zum falschen Zeitpunkt triffst?

Ganz London erstrahlt in weihnachtlichem Glanz. Aufgeregt zieht Jess nach Notting Hill, um ihre Träume zu verwirklichen. Am ersten Abend in ihrer neuen WG trifft sie auf Alex, mit dem sie Wand an Wand wohnen wird. Von der ersten Sekunde an fühlt sich Jess zu ihm hingezogen – nur leider verstoßen romantische Beziehungen untereinander gegen die Hausregeln. Als Jess beschließt, sich von den Regeln nicht aufhalten zu lassen und Alex ihre Gefühle zu gestehen, ist es zu spät. Hautnah muss sie miterleben, wie er sein Glück mit einer anderen genießt. Ihr bleibt nur noch die Freundschaft mit Alex. Doch wenn sie gemeinsam die Stadt erkunden, bricht Jess‘ Herz jedes Mal ein Stück mehr. Schenkt das Schicksal ihr eine zweite Chance mit Alex?

»Herrlich festlich und romantisch.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Rosie Walsh

»Dieser brillante und unterhaltsame Roman ist genau der richtige Lesestoff, um etwas Romantik in die dunklen Wintertage zu zaubern.«
Woman’s Weekly


  • Erscheinungstag: 26.10.2021
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675826
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Archie, in Liebe
(und danke für die vielen Tassen Tee, mein Schatz).

PROLOG

Jess

22. Dezember

Weihnachten und London, das ist eine himmlische Kombination. An der Straßenecke steht ein Mann, der Tüten mit heißen Maronen verkauft, die nach Zimt und Vanille duften. In den Fenstern des Liberty-Kaufhauses glitzern Weihnachtsbeleuchtungen und Dekorationen. Ich bleibe stehen, um einen riesigen Baum zu bestaunen, der mit Bändern behängt und einer Million bunter Lichter geschmückt ist, und …

»Achtung!«

Eine Frau rempelt mich an, wirft mir einen finsteren Blick zu und drängt sich an mir vorbei. Dabei murmelt sie hörbar etwas über »verdammte Touristen«.

Ich bin keine Touristin, denke ich. Ich bin offiziell Londonerin – oder werde es zumindest bald sein, in wenigen Stunden. Ich trete beiseite, um den sich drängenden Menschenmassen Platz zu machen, stelle mich dicht vor einen geschnitzten hölzernen Fensterrahmen und beobachte die unzähligen Leute, die an mir vorbeihasten.

Ich füge zu meiner Liste der Dinge, die ein Londoner niemals tut, den Punkt »mitten auf dem Gehweg stehen bleiben« hinzu. Eigentlich weiß ich das schon, aber, mal ehrlich, wenn alles so wundervoll funkelnd und festlich ist vergisst man das leicht. Ich schieße ein Foto für meine Instagram-Story, weil hier alles einfach so unglaublich perfekt ist, und mein Leben monatelang so beige und langweilig war. Schön, endlich einmal etwas Interessantes teilen zu können. Dann fotografiere ich noch eine Straßenszene, da es einfach so … nach London und nach Weihnachten und vollkommen aussieht.

Ich bewundere die Blumen am Eingang des Liberty und überlege, dass es nett wäre, Becky einige davon mitzubringen und ihr so (schon wieder) dafür zu danken, mir ein Zimmer in einem Haus angeboten zu haben, das ich mir andernfalls niemals hätte leisten können. Allerdings kann ich nirgends ein Preisschild entdecken, was ich recht merkwürdig finde, und sofort habe ich die Stimme meiner Nanna Beth im Kopf, die sagt: »Wenn du erst nachfragen musst, kannst du es dir nicht leisten.« Aber es sind doch nur Blumen. Wie teuer kann ein Blumenstrauß schon sein?

»Darf ich Ihnen helfen?«, spricht mich die junge Frau an, die hinter dem hölzernen Blumenstand in anmutender viktorianischer Optik steht. Sie ist sehr klein und hat riesengroße braune Augen, die farblich absolut zu der edlen Liberty’s-Schürze passen, die sie trägt.

»Ich würde gerne wissen, was diese Blumen hier kosten.« Ich nehme einen fertig gebundenen Strauß – dunkelrote Rosen, kombiniert mit silbrig-grauen Blättern und weißen Lilien, die noch leicht grün und nicht ganz geöffnet sind. Er ist in dickes, luxuriöses Wachspapier eingewickelt, das von einem goldenen Liberty-Aufkleber zusammengehalten wird. Der Strauß ist genau das richtige Dankeschön für Becky.

Die junge Frau kaut auf ihrem Kaugummi herum und mustert den flauschigen, pinkfarbenen Mantel, den ich mir extra anlässlich meines großen Umzugs gekauft habe (ich fand, dass ich mich, wenn ich zukünftig zu den Kreativen von London gehöre, passend zu meinem neuen Job kleiden sollte), mein Jeans-Latzkleid, meine blauen Strumpfhosen und meine treuen silberfarbenen Doc-Martens-Boots. Als ich vorhin aus dem Zug aus Bournemouth ausgestiegen bin, hielt ich mein Outfit noch für sehr lässig und künstlerisch, unter den herablassenden Blick allerdings beschleicht mich der Verdacht, dass ich vielleicht eher an eine Moderatorin im Kinderfernsehen erinnere.

»Siebenundvierzig Pfund«, antwortet sie. »Und fünf Pfund kommen noch dazu, wenn Sie unseren Geschenkverpackungsservice in Anspruch nehmen möchten.«

Autsch. Das entspricht meinem neuen Wochenbudget für Essen. Ich stelle die Blumen in den schicken Metallkübel zurück. Sicherlich hätte Becky dafür Verständnis.

»Ihr Mantel gefällt mir«, meint die Verkäuferin plötzlich, während ich bereits im Gehen bin. Ich drehe mich überrascht um und lächle dankbar.

»Er ist von eBay«, erkläre ich und streiche über einen der flauschigen Ärmel.

»Cool. Er ist wirklich schön.« Die Frau senkt verschwörerisch die Stimme. »Nur, damit Sie es wissen: Ich könnte mir diese Blumen auch niemals leisten. Ganz hier in der Nähe, in der Noel Street, gibt es einen Blumenstand – dort wird immer anständige Qualität verkauft.«

Sie deutet kurz mit der Hand die Richtung an, doch dann treten neue Kunden an den Stand, und sie wendet sich ihnen zu und begrüßt sie mit einem fröhlichen Lächeln.

»Danke«, erwidere ich, aber sie hört mir schon nicht mehr zu.

Also hole ich mein Handy hervor. Mein Orientierungssinn ist absolut katastrophal, und ich kann noch immer nicht verstehen, wie andere Leute es schaffen, sich in London zurechtzufinden. Inzwischen kenne ich zwar einige Viertel, allerdings schaffe ich es irgendwie nicht, einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Ich brauche drei Versuche, aber am Ende lande ich tatsächlich in der Noel Street. Dort stoße ich auf einen Mann mit rundem Gesicht, der eine Nikolausmütze auf dem Kopf trägt und Weihnachtslieder mitsingt, die aus einem Bluetooth-Lautsprecher dröhnen. An seinem Stand gibt es bergeweise Obst und Gemüse und – puh – überall stehen Blumen in allen Regenbogenfarben, die meiner bescheidenen Meinung nach genauso schön aussehen wie die, die gleich um die Ecke bei Liberty angeboten werden. Nun ja, fast so schön. Vielleicht ein wenig zu kitschig-bunt, doch bei meinem neuen Londoner Gehalt kann ich es mir nicht leisten, wählerisch zu sein.

Fünf Minuten später bin ich zurück auf der Oxford Street, betrachte die Weihnachtsbeleuchtung – und halte einen Strauß (deutlich preiswerterer) roter Rosen in einer knisternden Cellophanhülle im Arm. Die Lichter, die quer über die Straße aufgehängt sind, glitzern vor dem dunklen Himmel, der noch vor zehn Minuten typisch englisch-wintergrau gewesen ist, jetzt allerdings einen unheilvollen lila Farbton angenommen hat, der an einen Bluterguss erinnert. Ich versuche zu ergründen, ob es einfacher ist, in einen Bus zu steigen oder mit der U-Bahn nach Notting Hill zu fahren, um Becky zu treffen und meine neuen Mitbewohner kennenzulernen. Ich stehe an einer Straßenecke und studiere schon wieder Google Maps, als die ersten Hagelkörner auf meinem Kopf landen. Und – aua – das tut richtig weh.

Binnen Sekunden leeren sich die Straßen und alle flüchten sich in die nächstgelegenen Geschäfte oder Hauseingänge, die Einkaufstaschen fest an sich gepresst. Nur die selbstgefälligen Schirmträger und ein paar Hartgesottene lassen sich nicht beeindrucken und marschieren einfach auf den Gehwegen weiter, die nun frei von Touristen und Weihnachtsshoppern sind. Die Reifen der roten Busse und schwarzen Taxis quietschen auf dem nassen Asphalt, und die Hagelkörner hämmern auf das metallene Vordach über unseren Köpfen. Ich stehe, zusammengedrängt mit einer Handvoll weiterer Passanten, vor dem Eingang von – ich hebe den Kopf und entdecke an der Mauer ein glänzendes Messingschild – NMC Inc. Stirnrunzelnd blicke ich wieder auf das Display meines Handys.

»Haben Sie sich verlaufen?«, fragt ein Mann. Er hat skandinavisch-blondes Haar und trägt einen dunkelblauen Schal um den Hals. Er spricht mit leichtem Akzent und deutet mit einem Finger auf mein Handy. »Wo wollen Sie hin?«

»Notting Hill«, antworte ich und habe für einen Moment das Gefühl, in einem Film gelandet zu sein. Rundherum ist Weihnachten, und für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als würde der Teil meines Gehirns, der für die Wahrnehmung zuständig ist, mich von außen beobachten. Wenn man süchtig nach romantischen Filmen ist, bringt das das Problem mit sich, dass man unbewusst ständig darauf wartet, dass das Leben eine urplötzliche positive Wendung nimmt. Und attraktive skandinavisch aussehende Männer, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Jaime Lannister haben, stehen auf meiner Liste der guten Dinge ganz weit oben.

»Ich bin mir nicht sicher, welchen Bus ich nehmen soll«, erkläre ich. »Weil ich normalerweise mit der U-Bahn fahre, aber meine Freundin hat gemeint, dass es von hier aus ganz einfach wäre. Bestimmt ist es einfach, wenn man einen guten Orientierungssinn hat. Aber den habe ich definitiv nicht.«

Und dann ertappe ich mich dabei, wie ich diesem Wildfremden, der eine Routenplaner-App auf seinem Handy geöffnet hat und angestrengt tippt, erzähle: »Ich hole die Schlüssel zu meinem neuen Haus ab.« Ich höre, dass ein wenig Stolz in meiner Stimme mitschwingt.

»Schön«, sagt er lächelnd. Er deutet zur Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. »Mit dem Bus Nummer vierundneunzig kommen Sie direkt nach Notting Hill. Das dauert zwar etwas länger als mit der U-Bahn, doch dafür gibt es für Sie, wenn Sie neu in der Stadt sind, auf der Strecke einiges zu sehen.«

»Danke«, sage ich. Meine Bemühungen, wie eine waschechte Londonerin zu wirken, waren offenbar nicht sehr überzeugend. Ein neuer Schwung Hagelkörner prasselt auf das Vordach über uns. »Vielleicht warte ich noch einen Moment.«

»Das ist sehr klug.«

Keine Frage: Wenn das hier einer dieser Filme mit dicken Mützen und Küssen im Schnee wäre, in denen knallharte Geschäftsfrauen sich plötzlich wieder auf die wahre Bedeutung von Weihnachten besinnen, würden wir genau jetzt ein langes Gespräch anfangen und er würde mit mir in den Bus steigen und – na ja, den Rest der Geschichte kennt man ja. Aber das hier ist kein Film und ich bin überzeugter Single, und obwohl ich, wie alle hoffnungslosen Romantikerinnen, die Filme von Richard Curtis liebe, ermahne ich mich, dass ich momentan hundertprozentig nicht auf der Suche nach jemandem bin. Weil das mein Neuanfang ist und mein neues Leben und ich das hier ganz allein durchziehen werde.

Als es aufhört zu hageln, bemühe ich mich sehr lässig, über die Straße zu schlendern, ganz wie eine unabhängige junge Londonerin es eben tut, die ein tolles Leben führt – natürlich in dem Bewusstsein, dass der skandinavische Typ mir nachschaut und sich ärgert, dass er mich hat ziehen lassen, und sich (selbstverständlich) fragt, ob er mich wohl jemals wiedersehen wird. Doch in Wirklichkeit werde ich fast von einem Fahrradkurier umgefahren und muss, nachdem ich in den Bus gestiegen bin, hektisch nach meiner Fahrkarte kramen. Kaum dass ich sie endlich finde, die Bustreppe erklimme, mich auf einen Sitz fallen lasse und über die Straße blicke, beobachte ich, wie das gut aussehende Jaime-Lannister-Double seinen in einen edlen Mantel gehüllten Lebensgefährten strahlend anlächelt, der bei NMC Inc. aus der Tür tritt, ihn auf den Mund küsst und ihm liebevoll durch sein schönes blondes Haar streicht. Na ja. Von mir aus. Ich bin ja sowieso nicht interessiert.

Ich sitze eingequetscht am Busfenster und wische mit meinem flauschigen, pinkfarbenen Ärmel über die beschlagene Scheibe, damit ich während der Fahrt nach Notting Hill hinausstarren kann. Als wir am Hyde Park vorbeifahren, bemerke ich, wie sich die kahlen Äste der hohen Bäume dem grauen Himmel entgegenrecken. Der Bus hält, spuckt Passagiere aus, und ich beobachte, wie eine Frau in einem roten Mantel mit Pelzkragen, voll beladen mit noblen Papiereinkaufstaschen, aus einem glänzenden, schwarzen Taxi steigt.

Dann fahren wir weiter und die Gebäude draußen werden kleiner, der graue Himmel weiter, und der Bus bringt mich zu meinem neuen Haus und meinem neuen Leben. Ich lächle eine Frau an, die einsteigt und sich neben mich setzt, und es stört mich nicht, dass sie ein übel müffelndes Thunfisch-Sandwich von M & S auspackt und isst. Nichts kann mir diesen Moment vermiesen, denn ich habe einen Job in London und ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, von der ich nie zu träumen gewagt hätte. Sowie auf dem Fahrzielanzeiger Notting Hill Gate aufleuchtet, balle ich aufgeregt die Hände zu Fäusten. Ich drücke den Halteknopf – zu meiner Haltestelle –, und als der Bus stoppt, macht mein Herz einen kleinen Freudensprung. Das ist London, denke ich. Und jetzt ist London mein Zuhause.

1. KAPITEL

Jess

22. Dezember,
Albany Road
15, Notting Hill

Ich bleibe einen Moment lang stehen und blicke nach oben. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass dieses alte Reihenhaus mein neues Heim ist. Es ist groß und wirkt zwar ein wenig heruntergekommen, zeugt aber noch von vergangener Pracht. Sechs breite Steinstufen führen zu der breiten Eingangstür aus Holz hinauf, die in einem freundlichen Rot gestrichen ist. Die Farbe ist an manchen Stellen abgeblättert und zu einem blassen Pink verblichen. Alle Fenster in dieser Straße werden von kunstvollen Stuckelementen gekrönt. Die unseres Hauses sehen allerdings etwas angeschlagen und schmuddelig aus, doch irgendwie wirkt es dadurch noch einladender und geschichtsträchtiger.

Das Gebäude nebenan scheint erst vor Kurzem renoviert worden zu sein. Die schwarze Farbe der Fensterbänke glänzt. Vor allen Fenstern stehen Blumenkästen, die üppig mit Stiefmütterchen und immergrünen Gewächsen bepflanzt sind. Drinnen kann ich einen großen Weihnachtsbaum entdecken. Er ist geschmackvoll mit unzähligen kleinen Lichtern geschmückt und auf seiner Spitze steckt ein großer Stern aus Metall. Am Zaun ist ein kleines, rotes Fahrrad angeschlossen, und unter dem Vordach erblicke ich ein Paar Gummistiefel. Das müssen die Investmentbanker-Nachbarn sein, von denen Becky erzählt hat. Das Haus auf der anderen Seite wurde in ein Mehrparteienhaus umgewandelt und neben der blauen Eingangstür sehe ich gleich eine ganze Reihe Türklingeln.

Ich eile die Stufen hinauf und hebe den schweren Türklopfer aus Messing an.

»Du musst nicht anklopfen«, empfängt mich Becky strahlend. »Das ist dein Zuhause!«

»Doch, muss ich, weil du mir den Schlüssel noch nicht gegeben hast.« Ich liebe Becky.

»Ah.« Becky nimmt mir die Tasche ab und hängt sie an einen großen, hölzernen Kleiderhaken, der bestimmt schon seit Ewigkeiten dort angebracht ist. Neben meiner Tasche hängt ein riesiger, schwarzer Regenschirm mit geschnitztem Holzgriff.

»Er hat meinem Großvater gehört.« Becky streicht gedankenverloren mit der Hand darüber. »Dieses Haus ist wie ein verdammtes Museum.«

»Ich kann nicht glauben, dass es dir gehört.«

»Ich auch nicht.« Becky schüttelt den Kopf und signalisiert mir, ihr zur Küche zu folgen. »Warte hier zwei Sekunden, ich führe dich gleich herum.«

Ich bleibe genau da stehen, wo sie mich hingeführt hat: am Rande eines großen Raumes, der eine Kombination aus Küche und Esszimmer ist und der schon so lange existiert, dass sein Interieur inzwischen wieder modern geworden ist. Überall sehe ich Korkplatten und baumelnde Grünlilien. Die große, weiße Spüle ist mit Eis gefüllt, in dem Bierflaschen stecken.

Ich glaube, Nanna Beth wäre sehr beeindruckt. Von allem. Ich habe den großen Schritt gewagt.

»Man muss das Leben leben, Jessica, und dieser Ort hier ist zwar ganz nett, aber doch eher wie Gottes Wartezimmer«, hat sie einmal zu mir gesagt und gackernd gelacht. Dabei hat sie mit dem Kopf Richtung Fenster genickt, vor dem eine ganze Flotte Elektromobile vorbeigezogen war, auf denen grauhaarige Senioren hockten. Fahrer und Fahrzeuge waren mit voluminösen Regenschutzen verhüllt. Die Küstenstadt, in der ich aufgewachsen bin, ist eigentlich gar nicht übel, aber trotzdem hat Nanna recht: Es hatte sich einiges verändert. Großvater war gestorben. Nanna Beth hatte das Haus verkauft und den Erlös in eine kleine Wohnung investiert, die zu einer neu gebauten Einrichtung für Betreutes Wohnen gehört und in der ich nun keinen Platz mehr hatte. Das hat sie nicht getan, weil sie mich loswerden wollte, sondern da es – wie sie es selbst einmal so schlau formuliert hat – Zeit für mich wurde zu gehen. Seit der Trennung von meinem Ex-Freund Neil hatte ich in einer Art Stillstand gelebt.

Verrückterweise war der Auslöser für all die Veränderungen eine Beförderung gewesen, die mir von dem Marketingunternehmen, für das ich arbeitete, angeboten worden war. Hätte ich sie angenommen, hätte ich für den Rest meines Lebens einen sicheren Job gehabt. Ich hätte es mir leisten können, mir ein kleines Haus am Meer zu kaufen und mein altes Auto gegen ein besseres einzutauschen. Ich hätte einfach das Leben weiterleben können, das ich schon seit meinem Uniabschluss führte, nachdem es mich aus irgendeinem Grund wieder nach Hause gezogen hatte – im Gegensatz zu meinen Freunden, die flügge geworden und in schillernde Metropolen wie London oder New York gezogen waren oder … na ja, Sarah hat es nach Inverness verschlagen. Es sind also doch nicht alle an exotischen Orten gelandet.

Aber Nanna Beth hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und mich unverhofft mit der Herausforderung konfrontiert, losziehen und mein Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen, was für jemanden wie mich ziemlich schwierig ist. Ich bin ein zögerlicher Mensch, der sich für Notfälle gerne ein Hintertürchen offen hält. Und doch stehe ich jetzt hier und komme eine Stunde zu früh (typisch für mich) zur Einweihungsparty für das Grüppchen von Menschen, das Becky dazu ausgewählt hat, mit ihr in diesem weitläufigen alten Haus in Notting Hill zu wohnen, das ihre Großeltern ihr nach ihrem Tod hinterlassen haben.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass das Haus dir gehört«, sage ich noch einmal, während ich etwas wackelig auf der Lehne des verblichenen, pinkfarbenen Samtsofas hocke. Es verschwindet fast unter unzähligen Dekokissen. Da die Armlehne des Sofas besorgniserregend ächzt, stehe ich lieber wieder auf, damit sie nicht unter meinem Gewicht abbricht.

Becky schüttelt den Kopf. »Du kannst es nicht glauben? Was denkst du denn, wie es mir geht?«

»Und deine Mutter stört es wirklich nicht, dass deine Großeltern in ihrem Testament dir das Haus vermacht haben?«

Erneut schüttelt sie den Kopf, öffnet die beiden Bierflaschen, die sie in der Hand hält, und reicht mir eine davon. »Sie fühlt sich da, wo sie lebt, sehr wohl. Außerdem vertritt sie sowieso Ansichten wie Eigentum ist Diebstahl und so weiter.«

»Stimmt.« Ich trinke einen Schluck Bier und betrachte die gerahmten Fotografien an der Wand. Ein kleines Mädchen mit ernstem Gesichtsausdruck und Spangenschuhen an den Füßen sieht uns missbilligend an. »Schau nur, sie behält dich genau im Auge.«

Becky erschauert. »Lass das. Sie wollte, dass ich über Weihnachten zu ihr nach Islay komme, um zu meditieren und zu chanten, aber ich habe es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass es sinnvoller ist, wenn ich warte, bis das Wetter etwas besser wird.«

An der Uni war Beckys Mutter für uns eine Art mythologische Gestalt gewesen. In ihrer Jugend hatte sie als Model gearbeitet, dann aber allem Materiellen abgeschworen und sich, als Becky gerade sechzehn gewesen war, einer Kommune auf der Insel Islay angeschlossen, um dort ein ethisch korrektes Leben zu führen. Becky war nicht mitgekommen, sondern bei einem Freund der Familie geblieben, um ihren Schulabschluss zu machen, und hatte sich im Anschluss, zum Entsetzen ihrer Mutter, nicht nur für ein Jurastudium, sondern zu allem Überfluss auch noch für die Studienrichtung Gesellschaftsrecht entschieden. Daraufhin war ihre Beziehung für einige Zeit ziemlich angespannt gewesen. Doch anscheinend hat ihre Mutter ein Weilchen still über alles meditiert, und inzwischen verstehen sie sich wieder sehr gut – solange einige Hundert Meilen zwischen ihnen liegen.

Ich betrachte das Foto von Beckys Mutter – auf dem sie höchstens sieben Jahre alt sein kann. Sie erwidert meinen Blick mit einem durchdringenden Starren, und ich denke, wenn jemand den Planeten retten kann, dann höchstwahrscheinlich sie. Wie dem auch sei, ich erhebe meine Flasche und proste ihr dankbar zu. Hätte sie das Testament angefochten, dann hätte Becky womöglich nicht dieses Haus geerbt, und dann hätte sie mir auch kein Zimmer für vierhundert Pfund pro Monat anbieten können. Für diesen Betrag kriegt man in Stadtteilen, von denen aus King’s Cross, wo ich zukünftig arbeiten werde, mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar ist, normalerweise höchstens eine Besenkammer.

»Ich ziehe mal eben das Jackett aus«, sagt Becky, wobei sie einen Blick auf ihre Arbeitskleidung wirft, und verschwindet. Ich bleibe zurück und schaue mich um. Das Haus ist altmodisch und vollgestopft mit Mobiliar aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, für das man im Internet ein kleines Vermögen bekommen würde – im Wohnzimmer stehen eine Anrichte von Ercol und Esszimmerstühle, die aussehen, als stammten sie aus dem noblen Möbelkaufhaus Heal’s. Ich schieße ein Foto von der riesengroßen Topfpflanze, die in der Ecke lauert wie ein Triffid aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Roman, und schlendere dann weiter in den Flur. Er ist breit und luftig geschnitten. Eine Wendeltreppe mit glänzend poliertem Geländer geht nach oben bis in den dritten Stock, wo es ein großes Oberlicht gibt. Jetzt, im Winter, ist es dunkel, aber ich möchte wetten, dass im Sommer strahlender Sonnenschein hindurchfällt. Neben der Innentür befindet sich eine hohe Holzgarderobe mit Spiegel. Die Keramikfliesen der Vorhalle sind von den Schritten der vielen Menschen, die jahrelang über sie hinweggelaufen sind, ganz abgenutzt. Das Haus muss mindestens hundertfünfzig Jahre alt sein. Und – ich stoße die Wohnzimmertür auf – hier ist so viel Platz, dass sich alle gemütlich auf den Sofas lümmeln können. Die Gemälde an den Wänden sind mit knallbunten Weihnachtsgirlanden und Lichterketten behängt, und auf einem Beistelltisch steht ein Weihnachtsbaum, der mit bunten Lämpchen und diversen Weihnachtskugeln dekoriert ist, die irgendwie …

»Sie sind potthässlich, nicht wahr?«, sagt Becky hinter mir. »Ich konnte nicht widerstehen. Sie sind vom Discounter, darum habe ich ordentlich zugeschlagen. Zu Weihnachten darf es doch auch mal kitschig sein, oder?«

»Ich finde sie toll«, sage ich und meine es auch so. Becky verschwindet wieder in der Küche. Ich höre, wie sie schief einen Mariah-Carey-Song mitsingt und gleichzeitig klirrend mit Tellern und Töpfen hantiert. Ich stehe im Flur, betrachte dieses unglaubliche Haus, das ich mir in einer Million Jahren nicht leisten könnte, und denke daran zurück, wie ich vor zwei Monaten eine Stellenanzeige für meinen Traumjob in einem Verlag entdeckt und überlegt habe, ob ich die Gelegenheit nutzen und mich bewerben soll. Und wie Nanna sagte: »Wer nichts wagt, mein Schatz – du kannst nie wissen, was die Zukunft für dich bereithält …«

Es ist eine Stunde später. Wir stehen in der Küche und der Tisch ist perfekt für die Einweihungsfeier gedeckt.

»Stopp!« Ich hebe eine Hand.

Becky bleibt sofort wie angewurzelt stehen. Ich hechte zwischen sie und den massiven, alten Eichenholztisch. Zuerst wirkt sie beunruhigt darüber, dass ich die Hand in die Gesäßtasche schiebe, doch dann begreift sie, was ich vorhabe, und verdreht genervt die Augen.

Mit meiner freien Hand rücke ich einen Teller zurecht und verschiebe eine Weihnachtsgirlande, damit sie hübsch neben den verführerischen Bergen aus Salsa und Guacamole liegt. »So.«

Ich beuge mich vor, um von oben ein Foto zu machen. Dann trete ich zurück und lasse sie das Tablett mit den kleinen Gläschen mit Tequila auf dem Tisch abstellen.

»Bist du neuerdings die Instagram-Queen?« Becky streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr hinter dem Ohr hervorgerutscht ist. Ihre Haare sind zu einem gepflegten, leicht gestuften Bob geschnitten, der sie richtig erwachsen wirken lässt, insbesondere, da sie noch ihre Arbeitskleidung trägt, die aus einer grauen, eng sitzenden Hose und einer hellen Bluse aus seidigem Stoff besteht, die ich garantiert binnen weniger als einer Stunde mit Kaffee bekleckern würde. Aber sie steht hier vor mir, abends um halb sieben, und sieht aus, als wäre sie erst aus der Dusche gekommen, und nicht, als hätte sie sich nach einem langen Tag voller gesellschaftsrechtlichem Kram durch den Londoner Verkehr nach Hause gekämpft. Ich habe meinen flauschigen, pinkfarbenen Mantel inzwischen ausgezogen, weil ich mir im Kontrast zu Beckys minimalistischem Chic damit wie eine verirrte Weihnachtskugel oder ein Pom-Pom vorkomme.

»Sicher nicht«, entgegne ich und aktiviere einen Filter, damit das Foto auch hübsch aussieht, bevor ich es mit Hashtags versehe und teile. »Ich finde es nur schön, den anderen zu Hause zu zeigen, wie es ist, in London zu leben.«

»Und ihnen zu demonstrieren, wie gut es dir hier geht, obwohl sie alle finden, dass es vollkommen verrückt von dir war, die Beförderung in Bournemouth abzulehnen, um für ein niedrigeres Gehalt hier zu arbeiten?«

Ich nicke, nehme mir einen Tortilla-Chip und breche ihn in zwei Teile. »Das auch«, räume ich ein und verziehe das Gesicht. »Und Nanna Beth kann es auch sehen. Sie hat sich extra ein Smartphone besorgt. Ich bin bislang ihre einzige Followerin auf Instagram.«

»Sie teilt bestimmt bald lauter Bilder von sich und den sexy Pflegern im Altenheim, was?«, meint Becky und lacht prustend.

Ich drehe das Handy um, damit sie das Display erkennen kann. @nanna_beth1939 hat eine Reihe Fotos von ihrer neuen Erdgeschosswohnung im Betreuten Wohnen gepostet, die sie gerade bezogen hat. »Du lieber Himmel«, stößt Becky hervor und nimmt mein Handy, um die Bilder genauer zu betrachten. »Sieh mal, sie hat die Holzschnitzerei, die du ihr auf Zypern gekauft hast, auf den Kaminsims gestellt.«

Ich spähe ihr über die Schulter. »Oh, das ist ja schön.« Urplötzlich plagen mich heftige Schuldgefühle, weil ich hier bin und sie dort. Ich habe das gesamte letzte Jahr, seit Großvaters Tod, bei ihr gelebt, und es wird merkwürdig sein, abends nach der Arbeit zu Hause zu sein und sie ist nicht da.

»Sie kommt schon zurecht«, beruhigt mich Becky, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Sie schaltet das Handy aus und legt es auf den Tisch. »Und du bist ja auch nicht meilenweit von ihr weg. Nur eine Zugfahrt entfernt, mehr nicht.«

»Ich weiß. Es fühlt sich nur seltsam an, sie Mums mitfühlender Barmherzigkeit zu überlassen.«

Becky schneidet eine Grimasse. »Ja, na ja, sie ist nicht unbedingt … Als die Fürsorglichkeit verteilt wurde, hat sie nicht gerade ›hier‹ geschrien, oder?«

Ich schnaube. Meine Mutter hat zahlreiche Eigenschaften, aber Mütterlichkeit ist keine davon. Ich meine, sie ist auf ihre eigene Art ein netter Mensch. Doch ich bin mir nicht sicher, ob sie daran denken wird, alle paar Tage bei Nanna vorbeizuschauen, um sich zu vergewissern, dass bei ihr in ihrer neuen Wohnung auch alles in Ordnung ist. Sei’s drum. Ich richte mich auf und denke an das, was Nanna Beth gestern Morgen zu mir gesagt hat, als sie mir eine Rolle Zwanzig-Pfund-Noten in die Hand drückte. Es wird Zeit, dass ich hinaus in die große, weite Welt ziehe und sie ihr eigenes Ding machen lasse. Eine merkwürdige Umkehr der Rollen, ich weiß, aber unsere Familie war schon immer etwas unkonventionell.

Becky ist zurück in die Küche gegangen, singt wieder schief und zündet die kleinen Teelichter an, die überall im Raum verteilt aufgestellt sind. Selbst als wir noch im Studentenwohnheim gelebt haben, hat sie es immer geschafft, dass ihr Zimmer toll aussieht.

Es klappert und jemand öffnet die Haustür. Ein Luftzug fegt einige Weihnachtskarten vom Kühlschrank herunter. Ich bücke mich, um sie aufzuheben, und höre dabei unfreiwillig die einseitige Unterhaltung im Flur.

»Du hast gesagt, dass du es schaffen würdest, dich loszueisen.« Das muss Emma sein, die junge Frau, die Becky ebenfalls für eines der Zimmer ausgesucht hat.

Eine längere Gesprächspause entsteht. Ich verharre an der Küchentür, unschlüssig, ob ich den Kopf in den Flur stecken und Hallo sagen soll. Becky wendet gewürztes Hähnchenfleisch und Paprika in einer Pfanne. Der Duft erfüllt den Raum und lässt meinen Magen knurren. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.

»Was ist mit mir?«, fragt Emma. Ich reiße die Augen auf. Ich sollte nicht zuhören, aber einem bisschen Drama kann ich einfach nicht widerstehen. Ich fummle an meinem Handy herum, damit es so wirkt, als wäre ich beschäftigt, und nicht auffällt, dass ich lausche. Emmas Tonfall schwankt zwischen zornig und enttäuscht.

»Es interessiert mich nicht, was sie tut«, sagt sie und diesmal bemüht sie sich nicht mehr, die Stimme zu senken. »Ich warte nicht ewig.«

Becky dreht sich mit der Bratpfanne in der Hand um. Sie hebt die Brauen und blickt zur Tür. »Oh, oh, klingt nach Ärger im Paradies.«

Ich nicke. »Was ist das für eine Geschichte?«, frage ich leise.

Becky legt einen Finger an die Lippen. »Erzähle ich dir später. Aber das ist typisch Emma. Das geht schnell vorbei, und ehe man sichs versieht, sind sie wieder total verliebt.«

Gleich darauf kommt Emma herein, und ihre Augen glitzern verdächtig, wie meine, wenn ich geweint habe und versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

»Hi, hallo«, sagt sie, beugt sich zu mir und drückt mir ein Küsschen auf die Wange.

»Tut mir leid, ich musste noch kurz ein berufliches Telefonat führen. Ihr kennt das ja. Sie bezahlen uns nichts, erwarten jedoch, dass wir rund um die Uhr erreichbar sind.«

Ich lächle, hoffentlich überzeugend, als hätte ich nichts gehört.

»Emma, das ist Jess, die Freundin von der Uni, von der ich dir erzählt habe. Sie nimmt das Zimmer im ersten Stock.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Jess. Mann, ich brauche jetzt einen Drink«, erklärt Emma und nimmt sich eines der Schnapsgläser mit Tequila. Ich schicke mich an, ihr dazu eine Zitronenscheibe zu reichen, allerdings ist sie zu schnell für mich. Das Glas ist in weniger als einer Sekunde leer, und sie verzieht angewidert das Gesicht. »Bäh. Widerlich. Ich hasse Tequila.« Sie nimmt sich noch ein Gläschen und leert es wieder in einem Zug. »Prost.«

Ich halte noch immer die Zitronenscheibe in der Hand, da öffnet sich erneut die Küchentür.

»Entschuldigt, dass ich zu spät komme«, sagt eine tiefe Stimme. Ich blicke auf und lasse vor Schreck fast mein Handy fallen.

Auf der Schwelle steht ein Typ, der die Türöffnung beinahe vollständig ausfüllt. Er gehört zu der Sorte Mann, bei deren Anblick man das Gefühl hat, dass einem der Magen bis zu den Knien absackt. Zumindest geht es mir so. Emma wischt ungerührt weiter auf ihrem Handy herum und Becky spült seelenruhig die Fajita-Pfanne heiß aus. Die beiden sind anscheinend immun gegen seinen Anblick, aber – wow.

Ich presse die Lippen fest aufeinander, hauptsächlich, um zu verhindern, dass mir die Kinnlade herunterklappt. Wahrscheinlich habe ich so riesengroße Augen wie eine Cartoonfigur. Doch da ich die Augen nicht wie meinen Mund einfach fest zudrücken kann, ohne dass es merkwürdig wirkt, stehe ich einfach da und mache im Geiste eine Bestandsaufnahme.

Dreitagebart – abgehakt. Breite, muskulöse Schultern – abgehakt. Strahlende Augen – abgehakt. Er hält eine Flasche Tequila in der Hand, trägt ein graues Shirt und Jeans und einen Schal um den Hals und …

»Hey. Du bist bestimmt Jess«, sagt er und kommt auf mich zu. Er streckt mir die Hand entgegen und beugt sich vor, um mir ein Begrüßungsküsschen auf die Wange zu drücken. »Ich bin Alex.«

Er riecht frisch, und als seine Wange meine berührt, ist sie kalt von der Winterluft draußen. Ein Hauch Zedernduft steigt mir in die Nase. Sowie er wieder zurücktritt, bemerke ich, dass er die Ärmel hochgekrempelt hat und seine Unterarme aussehen, als würde er Holz hacken oder für seinen Lebensunterhalt irgendwo draußen in der freien Natur arbeiten, was hier, mitten in Notting Hill, jedoch recht unwahrscheinlich ist.

Für einen Moment habe ich, glaube ich, vergessen, wie man spricht, was irgendwie peinlich ist, weil ich dastehe wie die menschliche Version des Herzaugen-Emojis und gegen den Drang ankämpfe, eine Hand an meine Wange zu legen (weil: oh, là, là) und die andere an seine, um mich zu versichern, dass er real ist (weil: na ja, dito). Und dann fällt mir wieder ein, dass ich die vernünftige, besonnene Jess bin und das hier mein neues Zuhause und mein neues Leben ist und dass die wichtigste Hausregel, die Becky uns allen in unseren Begrüßungs-E-Mails mitgeteilt hat, lautet: KEINE PÄRCHEN. Was vollkommen in Ordnung ist, weil ich zum Arbeiten hier bin und definitiv auf keinen Fall, um mich auf den ersten Blick in attraktive Männer mit schönen Bärten und Tequilaflaschen in den Händen zu verlieben.

»Hi.« Ich stecke das Smartphone zurück in die Hosentasche und zwinge mich, etwas Praktisches zu tun, verschränke fachgerecht die Hände ineinander und verkünde in gekünstelt-fröhlichem Tonfall: »Dann sind wir jetzt alle vollzählig, oder?«

Ich drehe mich zu Becky um. Sie hält eine halb aufgegessene – wie sie es später bezeichnen wird – Test-Fajita in der Hand, und an ihrem Kinn klebt ein Klecks Sauerrahm. Sie wischt ihn weg und versucht, mit vollem Mund zu reden, weshalb es etwas undeutlich klingt.

»Es sind alle da, außer Rob.«

Ich blicke zu Emma hinüber, die sich inzwischen schon wieder einen Drink genommen hat. Allerdings hat sie den Tequila diesmal mit etwas anderem gemischt und kippt ihn auch nicht in einem Zug herunter, sondern trinkt ihn schluckweise. Sie sitzt auf der Tischkante, hat die langen Beine ausgestreckt und die Knöchel übereinandergeschlagen. »Ach ja. Der geheimnisvolle Rob«, meint sie und lächelt vielsagend. Dann nimmt sie sich eine Handvoll Tortilla-Chips. »Hast du ihn schon kennengelernt, Jess? Mich beschleicht langsam der Verdacht, dass er womöglich ausschließlich in Beckys Fantasie existiert.«

»Ja, Becky«, sagt Alex. Er stellt die Flasche in das wackelige Holzregal über der Spüle, nimmt sich einen Teller und schaut sie belustigt an. »Was ist das für eine Geschichte mit Rob?«

Lachend schüttelt Becky den Kopf. »Ich verspreche euch, es gibt ihn wirklich.«

»Natürlich. Er ist ein Mann weniger Worte und vieler Messer.« Emma deutet auf die Arbeitsfläche. »Wo sind sie, Becky? Gestern, als ich gefrühstückt habe, waren sie noch da, doch dann sind sie einfach verschwunden.«

Aber Becky steckt mit dem Kopf im Kühlschrank, auf der Suche nach einem Beutel Eis, und antwortet nicht.

Ich beobachte weiter Emma, die damit beschäftigt ist, einen Fajita-Wrap zusammenzustellen. Sie ist wirklich wunderschön. Sie hat ein sehr attraktives, kantiges Gesicht, eine gebogene Nase und große Rehaugen. Sie sieht aus, als wäre sie dafür geboren, majestätisch durch Notting Hill zu schweben, in edlen Restaurants zu sitzen und teures Essen spendiert zu bekommen. Ich ziehe mir einen Stuhl unter dem großen Tisch heraus und fühle mich ziemlich abgerissen, sommersprossig und spießig. Wie jemand, der bei seinen Großeltern gewohnt und in einer Küstenstadt, meilenweit entfernt von London, in einem Büro gearbeitet hat – was eigentlich nicht sonderlich überraschend ist.

»Also, bisher wissen wir Folgendes: Rob ist Koch und arbeitet deshalb sehr viel und bis spät in die Nacht hinein. Wir bekommen ihn niemals zu Gesicht, weil er zu Hause ist, wenn wir alle bei der Arbeit sind, und er, wenn wir zurückkommen, schon wieder weg ist«, fasst Emma zusammen. »Neulich ist er hier gewesen, hat seine komplette, hochwertige Kochausrüstung auf dem Tisch abgeladen, anschließend einen Blick auf die Uhr geworfen und verkündet, er müsse ganz schnell wieder weg.«

»Worauf ich seinen ganzen Kram im großen Vorratsschrank verstaut habe«, ergänzt Becky und schlägt die Tüte mit dem Eis gegen die Tischkante, bis sich die Eiswürfel trennen. »Weil ich nämlich garantiert Albträume gekriegt hätte, wenn diese drei Blöcke voller bedrohlich aussehender Küchenmesser offen auf unserer Arbeitsfläche herumgestanden hätten. Außerdem hatte ich schon Wahnvorstellungen, dass ein irrer Serienkiller hier auftauchen und uns alle damit in unseren Betten abstechen könnte.«

»Ich glaube, ein Serienkiller würde seine eigene Ausrüstung mitbringen, oder?«, bemerkt Alex nachdenklich.

Die drei schauen sich an, und dann prusten sie los und ich lache mit, allerdings erst den Bruchteil einer Sekunde später. Schon komisch – es ist wie damals in der Schule oder wie wenn man einen neuen Job antritt und die Neue ist und das Gefühl hat, ein bisschen den Anschluss verpasst zu haben. Ich sehe zu, wie Alex, Emma und Becky sich aus den Zutaten, die auf dem Tisch stehen, ihre Fajitas zusammenstellen.

»Greif zu, Jess«, fordert Becky mich auf und hält mir die Schüssel mit Guacamole hin.

Ich bin nicht ganz bei der Sache, wegen des unerwartet süßen Alex und weil ich mich so bemühe, ihn nicht anzusehen. Doch ich kann nicht widerstehen und werfe ihm, sobald ich denke, dass er es nicht merkt, einen verstohlenen Blick zu, und genau in diesem Moment schaut er zu mir herüber, und unsere Blicke treffen sich. Und ich glaube, es könnte mit ziemlicher Sicherheit gleich passieren, dass ich aus voller Kehle »WOW« brülle, weil er wirklich total sexy ist und die beiden anderen das partout nicht zu bemerken scheinen.

Becky erzählt eine Geschichte über etwas, das sie bei der Arbeit erlebt hat, und die beiden anderen hören ihr zu und lachen. Becky war von meinen Freundinnen in der Uni schon immer die Ungezwungenste. Wir haben uns in der Orientierungswoche kennengelernt und sind seitdem Freundinnen. Ich habe Englische Literatur studiert, sie Jura, aber während ich mich nach dem Abschluss in Bournemouth wiederfand, dort für ein nettes, solides, kleines Marketingunternehmen arbeitete und eine bequeme Beziehung mit Neil einging, zog Becks nach London, ergatterte einen Job in einer Anwaltskanzlei und begann, sich die Karriereleiter hochzuarbeiten. Und dann lief bei mir zu Hause irgendwie alles schief, was sich im Nachhinein aber doch als (hauptsächlich) gut herausstellte, und jetzt kann ich es noch immer nicht fassen, dass das hier – ich blicke zum Fenster hinaus auf die verregnete Straße, wo Autos durch die Pfützen rauschen und die Straßenlaternen alles in orangefarbenes Licht tauchen – mein neues Leben ist.

Ich nehme mich für ein Weilchen zurück und lasse den Abend an mir vorbeiziehen, weil sie sich alle so angeregt miteinander unterhalten und ihnen gar nicht auffällt, dass ich nicht viel sage. Emma reicht mir einen Drink. Sie trägt noch immer ihre Arbeitskleidung – und sieht in ihren Stiefeln, die bestimmt teuer waren, und dem mit kleinen Füchsen bedruckten Shirt-Kleid superschick aus.

»So. Und wann gesellst du dich zu uns?«, erkundigt sie sich.

Sie gibt sich ziemlich formell und steif, denke ich bei mir, während ich einen Schluck trinke. Alex und Becky haben mit dem Eis und dem Tequila, den Alex mitgebracht hat, eine Art Granatapfel-Cocktail zusammengemischt. Er schmeckt so, als sollte man ihn eher an einem Pool trinken als an einem regnerischen Dezemberabend in London.

»Erst nach Neujahr. Ich habe zusammen mit Freunden Urlaub gebucht – wir gehen Ski fahren.«

»Ooh, entzückend. Weihnachtsskiurlaub.« Sie wirkt beeindruckt.

»Der Trip ist lange nicht so nobel, wie er klingt. Meine Freundin Gen hat durch eine Bekannte ein Last-Minute-Angebot abgestaubt. Wir fahren mit dem Bus nach Val d’Isère.«

Gens Freundin – sie ist Schauspielerin, wie Gen auch – stieß bei ihrer Arbeit im Callcenter einer Reiseagentur auf das Angebot. Nach unserer Klassenfahrt nach Andorra, die gefühlt schon eine Million Jahre zurückliegt, haben wir uns immer wieder geschworen, dass wir irgendwann noch einmal zusammen Ski fahren würden, und das Angebot schien zum perfekten Zeitpunkt zu kommen. Doch gleich nachdem ich zugestimmt hatte mitzukommen, verlor die Aussicht auf eine einundzwanzigstündige Busfahrt für mich ein wenig an Reiz. Aber das war nebensächlich.

»Autsch.« Emma sah mich mitleidig an. »Dann sitzt du ja einen ganzen Tag lang im Bus. Aber es lohnt sich trotzdem, fürs Après-Ski und die knackigen, gut situierten Typen auf den Pisten. Vielleicht lernst du ja einen Millionär kennen.«

Ich schiele verstohlen nach Alex, denke bei mir, dass mir jemand wie er eigentlich viel lieber wäre, lächle Emma jedoch zustimmend an. »Man kann nie wissen.«

Becky tippt auf ihrem Handy und wechselt die Musik. Sie hat sich ein silberfarbenes Geschenkband wie einen Heiligenschein um den Kopf gewickelt, und als Michael Bublé aus dem Lautsprecher auf dem Regal über der Spüle zu säuseln beginnt, singt sie mit.

»Oh Gott, Becks«, sage ich stöhnend. »Müssen wir schon wieder Bublé hören?«

»Es ist Weihnachten«, entgegnet sie, zieht mich hoch und tanzt mit mir im Walzerschritt zur Küchentür hinaus in den Flur. Bevor ich protestieren kann, legt sie rasch einen Finger an die Lippen. Die Flurwände sind in einem seltsamen Farbton gestrichen, irgendwo zwischen Violett und Grau, und überall hängen Blumengemälde, die höchstwahrscheinlich Beckys Großeltern gehört haben. In einer Ecke bei der Treppe thront eine große Pflanze mit spitzen Blättern. Ich weiche schnell zur Seite aus, bevor Becky und ich dagegentanzen.

»Was meinst du?«, flüstert sie eindringlich.

»Sie scheinen nett zu sein«, antworte ich möglichst unverbindlich, obwohl es mich eigentlich brennend interessiert, warum um alles in der Welt sie es versäumt hat zu erwähnen, dass einer unserer Mitbewohner unfassbar gut aussehend ist. »Woher kennst du Emma gleich wieder?«

»Ach, sie ist so eine Freundin einer Freundin. Du weißt schon, man geht in dieselben Pubs, kennt sich flüchtig durch eine WhatsApp-Gruppe und so weiter. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie wir uns ursprünglich kennengelernt haben. Aber sie hat eine Wohnung gesucht, weil ihre Mitbewohnerin ihren Freund bei sich einziehen lassen wollte, und ich hatte noch ein Zimmer übrig. Ich hatte schon dich und Alex ausgesucht« – mein Magen zieht sich gegen meinen Willen wohlig zusammen – »und ich hatte den Eindruck, dass sie gut zu uns passen würde. Wir sind alle ganz lässige Leute, weshalb sich unser Zusammenleben eigentlich auch entspannt gestalten sollte.«

»Sie scheint nett zu sein«, meine ich lahm.

»Himmel, ich muss mal«, sagt Becky und lässt mich im Flur stehen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass der Teppich aussieht, als hätte sich jemand auf eine Giraffe übergeben. Er ist gelb und braun, mit grünlichen Schnörkeln, und beißt sich so schlimm mit den lilafarbenen Wänden, dass er bestimmt in den Siebzigern topmodern war. Niemand käme willkürlich auf eine derartige Farbkombination, oder?

Ich kehre in die Küche zurück und stelle fest, dass ich mich ein wenig benebelt fühle. Emma hat inzwischen die Stiefel ausgezogen und unterhält sich angeregt mit Alex, der ihr am Tisch gegenübersitzt. Er schiebt den Stuhl neben sich zurück und signalisiert mir, ich solle mich zu ihnen gesellen.

»Komm und iss noch etwas.«

Er reicht mir einen Teller mit einem Berg Tortillas darauf. Wahrscheinlich kann ich damit zumindest ein bisschen den Alkohol in meinem Magen aufsaugen.

»Woher kennst du Becky?« Er reckt sich über den Tisch, um den Käse zu holen, und stellt ihn zwischen mich und Emma.

Ich nehme eine Tortilla und bestreiche sie mit Sauerrahm. »Wahrscheinlich sollte ich mir jetzt schnell eine Geschichte ausdenken, bei der ich nicht so sehr als tragische Figur dastehe wie in der wahren.«

Alex hebt eine Braue. Er hat wirklich ein schönes Gesicht. Emma steht auf, geht in die Küche, schmeißt eine Menge Eis und anderes Zeug in den Mixer und ruft »Sorry«, als sie ihn anschaltet und mich, während ich zu erzählen beginne, damit übertönt.

Emma schüttet eine Art pinkfarbenen Slushie in unsere Gläser. Alex kostet ihn und verzieht sofort das Gesicht. »Herrje, das ist ja Raketentreibstoff. Den nächsten Drink mache ich wieder, sonst bekommen wir am Ende noch alle eine Alkoholvergiftung.«

»Wir haben uns an der Uni getroffen«, setze ich erneut an. »Ich habe im Klo geheult, weil ich mit meinem Freund zu Hause Schluss gemacht hatte, für einen anderen Kerl, der mich nur eine Woche später betrogen hat.«

Emma lacht, doch es klingt nicht unfreundlich. »Oh Gott, das haben wir alle mal durchgemacht.« Sie greift sich ein paar Streifen rote Paprika, während ich meine Tortilla mit Hähnchen, Käse und sicherheitshalber noch mehr Sauerrahm belade. Ich rolle sie zusammen und stelle gleich darauf fest, dass es unmöglich sein wird, dieses Ding zu essen, ohne dass die Hälfte der Füllung wieder herausfällt und entweder vorne auf meinem Oberteil landet oder mir am Kinn klebt. Darum weiß ich einen Augenblick nicht so recht weiter.

»Also bin ich mit ihr ausgegangen, habe ihr drei Wodka Limes spendiert und ihr erklärt, dass das Geheimnis darin liegt, feiern zu gehen und seinen Geist wegzuvögeln«, meldet sich Becky zu Wort. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie zurückgekommen ist.

»Der beste Weg, über jemanden hinwegzukommen, ist also, sich unter jemanden drunterzulegen?«, fragt Emma und schnappt sich einen Drink. Sie gehört zu dem Schlag Mensch, der es mühelos schafft, pure Coolness auszustrahlen. Hätte ich diese Bemerkung gemacht, wäre ich dabei knallrot angelaufen und hätte mich höchstwahrscheinlich obendrein noch verhaspelt.

»Ich glaube, schon«, sage ich. »Ich wünschte, ich könnte mir solche Sätze merken. Mir fällt eine passende Erwiderung immer erst Stunden später ein, wenn ich schon längst im Bett liege und die ganze Unterhaltung noch einmal Revue passieren lasse.«

»Oh Mann, so geht’s mir auch immer.« Alex sieht mich an, grinst dabei schief, und in seinen Augenwinkeln bilden sich kleine Fältchen. Für eine Sekunde habe ich das Gefühl, dass wir zum selben Team gehören. Das ist schön. Er hebt die Tequilaflasche hoch und winkt Emma damit. »Was soll’s«, meint er. »Werfen wir einfach alle Bedenken über Bord. Möchtest du noch mal einen von diesen – was immer du da auch gemacht hast – zusammenmischen?«

Ich habe den Eindruck, dass die Welt ins Wanken gerät – oder vielleicht bin auch ich es, die schwankt. Aber in diesem Moment befinde ich mich genau in diesem wohligen, leicht beschwipsten Zustand, in dem alles etwas verschwimmt und ich nicht so gehemmt bin wie sonst.

Eine halbe Flasche Tequila später haben wir es geschafft, Becky dazu zu überreden, etwas anderes als Weihnachtsmusik zu spielen. Wir sitzen alle um den Tisch herum, auf dem überall leere Teller stehen. Obwohl das Fenster nicht offen ist, können wir einen Pulk Teenager hören, der draußen vorbeizieht. Sie grölen Weihnachtslieder und lachen laut. Ich stehe auf, um hinauszuschauen, und denke staunend, dass dort draußen mehr als acht Millionen Menschen sind, die alle ein Londoner Leben führen, und dass ich in wenigen Wochen zu ihnen gehören werde. Eigentlich blicke ich nur auf eine ganz normale Straße, doch für mich ist sie erfüllt von Magie und Verheißung.

Ich drehe mich um und betrachte meine neuen Mitbewohner. Emma telefoniert schon wieder und wickelt dabei geistesabwesend eine Haarsträhne um den Finger. Mir fällt auf, dass sie lange manikürte, rote Fingernägel hat.

Alex blickt zu mir auf und grinst. »Meinst du, du kannst es aushalten, mit einem Haufen wie uns zusammenzuleben?« Er beginnt, die Teller aufeinanderzustapeln. »Nein«, sagt Becky und gibt ihm einen Klapps auf die Hand. »Das erledige ich morgen. Das ist ein Kennlernabend. Wenn wir uns erst mal alle richtig eingelebt haben, können wir einen Küchenplan und diesen ganzen langweiligen Kram erstellen, aber heute Abend trinken wir Margaritas. Die Nacht ist noch jung. Spielen wir doch das Namensspiel.«

»Oh mein Gott«, sage ich genervt stöhnend. An jedem Abend, den ich bisher mit ihr verbracht habe, kam irgendwann der Punkt, an dem sie darauf bestand, dass wir dieses Spiel spielen. Bevor irgendjemand merkt, was los ist, hält sie schon ein Päckchen Klebezettel in der Hand und verteilt sie. »Jeder muss den Namen einer berühmten Persönlichkeit daraufschreiben und den Zettel anschließend seinem linken Nachbarn auf die Stirn kleben.«

»Und der arme Rob verpasst das alles«, meint Alex sarkastisch und drückt mir seinen Zettel auf die Stirn. »Möchtest du noch einen Drink?«

Mir dreht sich zwar schon alles, doch ich nicke trotzdem. Das ist mein neues Leben in London. Ich kann Tequila trinken und Avocado auf Toast essen und cool sein. Na ja, zumindest ein bisschen cool. Jedenfalls cooler, als ich es zu Hause war. Nicht, dass es an meinem Heim etwas auszusetzen gäbe. Ich schlucke die leichte Traurigkeit herunter, die sich wie aus dem Nichts an mich herangepirscht hat – und denke wieder daran, dass ich Nanna dort zurückgelassen habe und so weit fort bin. Sie hat schon Großvater verloren, und jetzt gehe ich auch noch weg.

»Oh mein Gott«, ruft Becky keuchend, als sie den Namen auf meiner Stirn liest, und lacht schnaubend.

»Bin ich eine Frau?«, frage ich, sowie ich an der Reihe bin.

»Du würdest dich selbst wahrscheinlich als Phänomen bezeichnen«, antwortet Alex grinsend.

Emma errät ihren Namen fast sofort (ich glaube, sie freut sich, dass sie Meghan Markle sein durfte), und in null Komma nichts sind nur noch Alex und ich übrig und rätseln angestrengt, wer wir sein könnten.

»Habe ich blonde Haare und eine einzigartige Frisur?«

Wir prusten vor Lachen.

»Bin ich größenwahnsinnig? Bin ich der beste Präsident aller Zeiten und toller als alle anderen Präsidenten vor mir? Ist das der größte Klebezettel überhaupt, der viel größer und besser ist als alle jemals zuvor da gewesenen Klebezettel?«

Alex ist eigentlich schon nicht mehr dran mit Raten, aber er bringt uns mit seiner furchtbaren Donald-Trump-Imitation dermaßen zum Lachen, dass wir uns alle vor Gelächter krümmen, und dabei fällt der Zettel von meiner Stirn ab und landet auf dem Boden. Ich kann nicht widerstehen und werfe schnell einen Blick darauf.

»Bin ich … Kim Kardashian?« Ich richte mich auf und wedle triumphierend mit dem Zettel in meiner Hand.

»Ja.« Becky nimmt ihn mir ab. »Du hast zwar gemogelt, aber du bist auf jeden Fall Kim Kardashian.«

»Und ich gehe jetzt auf jeden Fall ins Bett.« Emma schiebt ihren Stuhl vom Tisch zurück, steht auf und schaut auf die Küchenuhr. »Es ist schon fast elf, und ich habe morgen einen richtig harten Tag. Ein Meeting nach dem anderen.«

»Aber wie kannst du uns schon verlassen, wo es doch gerade erst richtig anfängt?« Alex steht neben der Spüle und wedelt mit einer Flasche Prosecco und irgendeinem pinkfarbenen Likör. »Ich wollte einen meiner Spezialcocktails mixen.« Er kramt im Kühlschrank. Wieder fallen mir seine tollen Arme auf – ich habe eine Schwäche für schöne Arme, die aussehen, als könnten sie einen wunderbar festhalten und als würde man sich in ihnen sicher und geborgen fühlen. Oh, und mir entgeht auch nicht, dass, als er sich nach dem Orangensaft auf dem oberen Regalbrett reckt, sein T-Shirt ein Stück hochrutscht und einen Streifen leicht gebräunter Haut entblößt.

Doch eigentlich gucke ich gar nicht, denn schließlich bin ich zum Arbeiten hier, und er ist mein neuer Mitbewohner, und so was kommt überhaupt nicht in die Tüte. Ich schiebe die Schuld dafür, dass meine Fantasie mit mir durchgeht, kurzerhand auf den Tequila.

Aber wenn ich doch gucken würde …

»Gute Nacht alle miteinander.« Emma nimmt ihr Handy und geht. »Ich wünsche dir einen schönen Urlaub, Jess. Wir sehen uns im neuen Jahr.«

»Hast du noch Eis, Becky?«, fragt Alex und schaut in den Kühlschrank.

»Nö.«

Obwohl ich weiß, dass sie eigentlich nicht möchte, dass wir aufräumen, beginne ich geistesabwesend, Teller zu stapeln und Salsa-Reste in den Mülleimer zu kratzen. Es ist eine willkommene Ablenkung. Die Alternative dazu wäre, mich hinzusetzen, verträumt das Kinn in die Hände zu stützen und Alex mit unverhohlener Bewunderung anzuhimmeln, und das wäre keine gute Idee.

»Oh Mann, ich habe so Lust auf Schokolade. Wisst ihr was? Ich besorge schnell welche, und wo ich schon mal dabei bin, bringe ich gleich noch etwas Eis mit.«

»Wir räumen auf.« Alex richtet sich vor dem Kühlschrank wieder auf und dreht sich um. »Und dann mache ich Cocktails. Meinst du, Rob hat etwas dagegen, dass wir uns sein Mixer-Dings ausleihen, um Eis zu zerkleinern?«

Ich verziehe das Gesicht. »Keine Ahnung. Ich glaube, Köche sind nur eigen, was ihre Messer betrifft. Und dieses Ding ist ein echtes Ungetüm. Solange wir es wieder gründlich sauber machen, wird es ihn bestimmt nicht stören.«

Vorsichtig stupst Alex mit dem Finger den Koloss von einem Mixer an, der auf der Arbeitsfläche steht. Er erwacht eine Sekunde lang dröhnend zum Leben, und Alex weicht einen Schritt zurück.

»Ach du Scheiße. Das Ding kann einem ja den Arm abreißen.«

»Bin gleich wieder da«, verkündet Becky, wickelt sich einen Schal um und setzt sich eine Pudelmütze auf.

»Erfrier bloß nicht«, sage ich und blicke aus dem Fenster. »Seht nur, aus dem Regen ist Schnee geworden.«

»Tatsächlich?« Alex und Becky gesellen sich zu mir ans Fenster. Die Schneeflocken wirbeln im Licht der Straßenlaternen vor unserem neuen Zuhause. Sobald sie auf dem nassen Asphalt landen, verschwinden sie wieder, aber trotzdem ist es wundervoll weihnachtlich und romantisch. Für einen Moment stehen wir alle schweigend da, schauen zu und hängen unseren Gedanken nach.

Im Hintergrund singt schon wieder dieser verdammte Michael Bublé.

Alex und ich haben in Windeseile den Tisch abgeräumt, den Müll beseitigt und die uralte Spülmaschine befüllt.

»In meiner letzten Wohnung hatte ich keine«, bemerkt Alex, packt ein Spülmaschinentab aus und steckt es in die Maschine. »Dieses Ding ist vielleicht vorsintflutlich, doch auch Luxus. Nie mehr aufwachen und die schmutzigen Teller vom Vorabend sind noch da.«

»Hast du vorher auch in einer Wohngemeinschaft gelebt?«, frage ich.

Er zögert eine Sekunde. »Mmm, mehr oder weniger.«

Ich habe den Eindruck, dass mehr dahintersteckt, als er erzählen will, allerdings möchte ich ihn nicht bedrängen.

»Und du hast früher mit Becky zusammengearbeitet?«

Ich wasche mir die Hände in der Spüle. Mir ist deutlich bewusst, dass er ganz nah bei mir steht und die Gläser zurück aufs Regal räumt. Ich kann die Hitze seines Körpers fühlen. Die feinen Härchen auf meinen Armen richten sich auf. Daran ist nur der Tequila schuld, rede ich mir ein. Der Tequila und die Tatsache, dass ich schon seit einem Jahr Single bin, und ich finde ihn nur so toll, weil ich weiß, dass hier keine Beziehungen zwischen Mitbewohnern erlaubt sind und mein Hirn sich dem widersetzen will. Er ist Alex, ein Freund meiner Freundin Becky und mein neuer Hausgenosse. Er ist hundertprozentig tabu. Ich trete einen Schritt beiseite, trockne mir die Hände am Küchenhandtuch ab und lasse mir anschließend übermäßig viel Zeit damit, es wieder ordentlich aufzuhängen.

»Ja, ich habe früher mit Becky gearbeitet«, sagt Alex nach einer langen Pause.

Ich drehe mich um.

»Es hat sich herausgestellt, dass dreißig das perfekte Alter für meine erste Oh Gott, was fange ich mit meinem Leben an-Krise war.«

Ich muss grinsen. »Das kenne ich.«

»Dann hat sie sich also lauter verirrte Seelen für ihr Haus zusammengesucht. Das ist typisch Becky, nicht wahr? Sie tut immer so, als wäre sie eine taffe Anwältin und knallhart, aber ich schätze, sie ist genauso ein alter Hippie wie ihre Mutter. Und, wieso hat es dich hierher verschlagen?«

»Oh, das ist eine lange Geschichte.«

Alex holt vier Limetten aus dem Kühlschrank, gibt mir zwei davon und dazu ein Küchenmesser. »Dann schneide die hier klein und erzähl mir dabei alles. Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass es hier noch jemanden gibt, der nach Ansicht aller anderen den größten Fehler seines Lebens begeht.«

Er hat sich einen Zestenreißer genommen und viele hellgrüne dünne Streifen von der Limettenschale geschabt, die er zu einem kleinen Haufen zusammenschiebt. Ich ertappe mich dabei, dass ich aufhöre zu schneiden und stattdessen wie eine Irre seine Hände anstarre.

»Also, ich habe an der Uni Englische Literatur studiert. Ich habe Bücher schon immer geliebt und davon geträumt, eines Tages in London zu leben und in einem Verlag zu arbeiten. Aber ich hatte den Eindruck, dass man, um an einen Job zu kommen, entweder jemanden in der Branche kennen oder aber genug Geld haben muss, um ein Praktikum zu machen und erst mal umsonst zu arbeiten. Doch ich musste meinen Studienkredit abstottern und Rechnungen bezahlen und …« Ich verstumme und denke daran, wie ich mich dafür verantwortlich fühlte, mich um Nanna Beth und Grandpa zu kümmern, weil meine Mutter nie da war. Ich hole tief Luft. »Wie auch immer, jedenfalls hatte ich diese Idee weitestgehend abgeschrieben. Ich habe immer mal wieder nach Jobangeboten geschaut, die Bezahlung allerdings war lausig, und ich hätte mir in London als Unterkunft höchstens einen Besenschrank leisten können.«

Er lacht. »Ich kenne sogar jemanden, der tatsächlich in einem Schrank gewohnt hat. Nachts hat er sein Bett runtergeklappt, und morgens hat er es hochgeklappt, die Schranktür zugemacht und ist zur Arbeit gegangen.«

»Genau.« Wir schauen uns eine Sekunde lang in die Augen und müssen lachen. London ist schräg.

»Und dann kam Becky ins Spiel?«

»Nicht ganz. Ich habe geholfen, meinen Großvater zu pflegen. Dann ist er gestorben.«

»Oh.« Er dreht sich zu mir um und sieht mich mit seinen braunen Augen freundlich an. »Das tut mir leid.«

Ich schüttle den Kopf und balle eine Faust, weil ich mich immer noch in dieser Phase befinde, in der mir unvermittelt die Tränen kommen. Alkohol verstärkt das noch zusätzlich. »Ist schon gut. Jedenfalls hat meine Großmutter – Nanna Beth – daraufhin beschlossen, dass sie ins Betreute Wohnen ziehen möchte. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt in ihrem Gästezimmer gewohnt.« Ich muss lächeln, wie immer, wenn ich an sie denke. Jeder sollte so eine Oma haben wie ich. »Und dann, nachdem ich vorübergehend wieder bei meiner Mutter eingezogen war, rief Becky an und fragte, ob ich daran interessiert sei, in ihrer Wohngemeinschaft zu wohnen. Meine Nanna hat immer wieder zu mir gesagt, ich solle meinen Träumen folgen und tun, was ich wirklich will, weil wir nur ein Leben haben, doch ich habe mir stets eingeredet, dass ich bereits vollkommen zufrieden bin. Dann entdeckte ich ein Jobangebot im The Bookseller – weil ich eben immer wieder nach Stellen geschaut hatte, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich sie niemals antreten können würde –, und ich dachte mir, ich bewerbe mich einfach, obwohl ich absolut keine Chance habe, genommen zu werden, und ich kann es nach wie vor nicht fassen, dass sie mir den Job gegeben haben, und …« Ich mache eine Pause und hole tief Luft. Alles ist in einem einzigen, wirren Satz aus mir herausgesprudelt, genauso durcheinander, wie es auch in Wirklichkeit war. »Eben grübelte ich noch darüber nach, wie ich eine Wohnung finden und mit meiner Mutter klarkommen sollte, und ehe ich michs versah …«

»… stehen wir hier. Als wäre es unser Schicksal gewesen«, vollendet Alex meinen unfertigen Satz und das, was ich nicht laut ausgesprochen habe.

»Ein bisschen schon«, sage ich und versuche, es wie einen Witz klingen zu lassen. »Was ist mit dir?«

»Oh, bei mir war alles geregelt. Gut anlaufende Anwaltskarriere, ein schönes – winziges – Apartment in Stokey und so weiter. Aber ich wusste, dass mir etwas fehlte.«

Ich schneide die Limetten in Stücke und warte darauf, dass er weiterredet.

»Wie auch immer, ich habe eine Weile so vor mich hin gelebt, aber etwas nagte an mir. Ich habe Jura studiert, um etwas bewegen zu können, doch irgendwann wurde mir klar, dass ich den Großteil meines Lebens mit Papierkram am Schreibtisch zubringen würde, und das fand ich totlangweilig. Und dann – ist einiges passiert.« Er schweigt einen Moment. »Und hier bin ich.«

»Dann arbeitest du jetzt nicht mehr als Anwalt?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe Becky ursprünglich so kennengelernt – wir haben zusammengearbeitet. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen hat sie ganz toll reagiert, als ich ihr erzählt habe, dass ich aufhöre. Man braucht eine Freundin wie sie an seiner Seite.«

»Das stimmt«, entgegne ich und mir schießt durch den Kopf, wie sie darauf bestanden hat, dass ich kommen und hier wohnen soll, und wie unfassbar niedrig die Miete ist, die sie mir vorgeschlagen hat. Ich habe extra im Internet verglichen, wie hoch die Miete für ein vergleichbares Haus eigentlich liegt, und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Eine Monatsmiete für ein Haus wie dieses entspricht in etwa meinem Jahresgehalt beim Verlag. Als ich diese Tatsache Becky gegenüber erwähnte, schnaubte sie nur gleichgültig und faselte etwas von »Widerherstellung des Gleichgewichts«, was verdächtig nach ihrer Mutter klang. Vielleicht hat der ganze Hippiekram doch auf sie abgefärbt.

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