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Yadriel und Julian. Cemetery Boys

Als Buch hier erhältlich:

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Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2023!


Yadriel hat einen Geist beschworen - aber leider den falschen.

Ein paar Tage vor dem Tag der Toten will Yadriel endlich beweisen, dass er ein brujo ist. Alle in seiner Familie können heilen oder Geister beschwören, aber weil Yadriel trans ist, verwehren sie ihm das Ritual, bei dem ihm Santa Muerte seine Kräfte verleiht. Mit der Hilfe seiner Cousine und besten Freundin Maritza schafft er es allein. Doch bei seiner ersten Beschwörung geht etwas schief und der falsche Geist steht vor ihm: Julian, der Bad Boy seiner Highschool, ist weit davon entfernt, bereitwillig ins Reich der Toten überzutreten. Mit Yadriels Hilfe will er herausfinden, wie er gestorben ist. Und je mehr Zeit sie gemeinsam verbringen, desto weniger will auch Yadriel, dass Julian geht.

Vielfach ausgezeichneter New York Times-Bestseller

#OwnVoices-Repräsentation eines trans Jungen, der um die Akzeptanz seiner Familie kämpft


»[Aiden Thomas] gelingt es meisterhaft, eine paranormale Romanze mit den Problemen von LGBTQ zu verbinden und dabei noch die Geschichte einer hierzulande wenig bekannten Kultur zu erzählen.« Adrea Wedan, Buchkultur

»Gerade die persönlich erlebten Aspekte, gepaart mit den einfühlsam geschriebenen Charakteren und der großartigen queeren Liebesgeschichte, machen den Roman so lesenswert – auch für Erwachsene.« Queer.de

»Die Geschichte versetzt einen beim Lesen in eine wahrhaft zauberhafte Stimmung, die schnell süchtig macht […]« Mannschaft.com


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748801825

Leseprobe

No me llores,

Weine nicht um mich,

porque si lloras

denn wenn du um mich weinst,

yo peno,

spüre ich deinen Schmerz,

en cambio si tu cantas

singe lieber für mich,

yo siempre vivo,

dann werde ich ewig leben

y nunca muero.

und mein Geist wird nie sterben.

»La Martiniana«, mexikanisches Volkslied

Kapitel
eins

Yadriel lebte schon immer auf dem Friedhof, und eigentlich war ihm das Betreten der Kirche nicht verboten. Es heimlich zu tun bedeutete allerdings eindeutig, eine moralische Grenze zu überschreiten.

Doch wenn er endlich beweisen wollte, dass er ein Brujo war, musste er vor la Santa Muerte die Zeremonie vollziehen.

Und Santa Muerte wartete in der Kirche auf ihn.

Während Yadriel mit seiner Cousine Maritza am kleinen Wohnhaus im vorderen Bereich des Friedhofs vorbeilief, schlug ihm die schwarze Isolierflasche mit Hühnerblut gegen die Hüfte. Im Rucksack befanden sich die weiteren Utensilien für die Zeremonie. Yadriel und Maritza duckten sich unter den Fenstern des Hauses seiner Familie hindurch, vorsichtig, um sich nicht an den Simsen zu stoßen. Über die Vorhänge tanzten Schatten der im Haus feiernden Brujx. Lachen und Musik schwappten über den Friedhof. Kurz blieb Yadriel noch einmal im Dunkeln stehen und überprüfte, ob die Luft rein war, dann sprang er von der Veranda und rannte los über die steinernen Wege voller Pfützen, Maritza hinter ihm.

Yadriels Herz pochte ihm bis zum Hals, als er stehen blieb und sich an den nassen Steinen der Urnenwand festhielt, um nach den Brujos Ausschau zu halten, die heute Nacht auf dem Friedhof Wachdienst hatten. Der Wachdienst passte auf, dass die Geister der Verstorbenen keinen Ärger machten, und war Aufgabe der Männer. Dass ein Geist maligno wurde, kam allerdings äußerst selten vor, und so bestanden die Runden der Brujos hauptsächlich darin, die Gräber von Unkraut zu befreien, sicherzustellen, dass sich keine Unbefugten auf dem Friedhof herumtrieben, und den Friedhof allgemein in Ordnung zu halten.

Weiter vorn hörte Yadriel eine Gitarre. Schnell duckte er sich hinter einen Steinsarg und zog Maritza mit sich herunter. Er linste um die Ecke und sah Felipe Mendez, der an einen Grabstein gelehnt auf seiner vihuela spielte und dazu sang. Felipe war einer der neuen Bewohner des Friedhofs der Brujx. Sein Todestag, der gerade etwas länger als eine Woche zurücklag, stand hinter ihm in den Grabstein gemeißelt.

Brujx mussten einen Geist nicht sehen, um zu wissen, dass sich einer in der Nähe befand. Sie spürten es wie einen kühlen Luftzug oder ein Kribbeln im Nacken. Das war eine der ihnen eigenen Kräfte, die ihnen la Santa Muerte gegeben hatte: die Fähigkeit, Krankheiten und Verletzungen der Lebenden zu spüren und die Toten zu sehen und mit ihnen zu kommunizieren.

Auf einem Friedhof, auf dem es vor Geistern nur so wimmelte, war diese Fähigkeit natürlich nicht besonders nützlich. Wenn Yadriel über den Friedhof der Brujx ging, spürte er statt eines plötzlichen kalten Luftzugs ein ständiges eisiges Prickeln im Nacken.

Im Dunkeln konnte er kaum die durchscheinende Hülle von Felipes Körper erkennen – Felipes Finger zupften geisterhaft verschwommen an den Saiten der vihuela. Die vihuela war Felipes Verbindung, der materielle Gegenstand, der ihn in der Welt der Lebenden hielt. Felipe war noch nicht bereit, ins Jenseits entlassen zu werden.

Die meiste Zeit verbrachte er damit, auf der vihuela zu spielen und damit die Aufmerksamkeit der Brujas, der lebenden wie der toten, auf sich zu ziehen. Doch seine Freundin Claribel verscheuchte die anderen immer, und die beiden verbrachten Stunden zusammen auf dem Friedhof, als hätte der Tod sie nie getrennt.

Yadriel verdrehte die Augen. Seiner Meinung nach übertrieben die beiden es ziemlich. Er fände es ganz nett, wenn Felipe endlich ins Jenseits übertreten würde, dann könnte Yadriel mal eine Nacht durchschlafen, ohne von Felipes und Claribels Zankerei geweckt zu werden, oder schlimmer noch, durch Felipes schreckliche Interpretationen von »Wonderwall«.

Doch die Brujx zwangen die Geister nicht, den letzten Schritt zu gehen. Solange die Geister friedlich waren und nicht maligno wurden, ließen die Brujos sie gewähren. Aber kein Geist konnte ewig bleiben. Irgendwann wurden alle zu gewalttätigen, verworrenen Versionen ihres früheren Selbst. Zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten gefangen zu sein zehrte an den Nerven eines Geists. Der Teil, der ihn menschlich machte, verblasste allmählich so sehr, dass die Brujos keine andere Wahl hatten, als seine Verbindung zu den Lebenden zu kappen und ihn ins Jenseits zu entlassen.

Yadriel winkte Maritza, ihm auf einen Seitenweg zu folgen, damit Felipe sie nicht sah. Als die Luft rein war, gab er ihr ein Zeichen, und sie rannten los, schlängelten sich zwischen Statuen von Engeln und Heiligen hindurch, wobei Yadriel aufpassen musste, nicht mit dem Rucksack an ihren ausgestreckten Händen hängen zu bleiben. Es gab überirdische Steinsärge und Mausoleen so groß, dass ganze Familien hineinpassten. Yadriel war diese Wege schon tausendmal gegangen und kannte das Labyrinth aus Gräbern auswendig.

Als sie auf die Geister zweier Fangen spielender Mädchen stießen, blieben sie wieder stehen. Die Mädchen hatten dunkle Locken und trugen beide das gleiche Kleid. Wie verrückt kichernd liefen sie durch die kleinen volierenartigen Urnenwände. Die Urnenwände waren in leuchtenden Farben wie Goldgelb, Knallorange, Himmelblau und Meeresgrün gestrichen und standen in dichten Reihen. Durch Glastüren waren die Urnen mit den eingeäscherten Überresten darin zu sehen.

Unruhig trat Yadriel von einem Fuß auf den anderen. Die Geister zweier toter Mädchen würden den meisten Leuten wohl einen gehörigen Schrecken einjagen, doch für Yadriel waren Nina und Rosa aus einem anderen Grund gefährlich, denn sie waren beide große Petzen, die ihn garantiert bei seinem Dad verpfeifen würden. Wenn sie etwas gegen dich in der Hand hatten, erpressten sie dich damit, wie du es nie für möglich gehalten hättest.

Zum Beispiel spielten sie stundenlang mit dir Verstecken und schummelten dabei mit ihren nichtstofflichen Körpern, oder sie ließen dich an einem heißen Nachmittag, wie es sie in Los Angeles oft gab, extra lange hinter einer stinkenden Mülltonne warten, bis sie dich endlich fanden. Es war absolut nicht ratsam, bei den beiden in der Schuld zu stehen.

Als sich die Geister der Mädchen endlich entfernten, sprintete Yadriel mit Maritza weiter in Richtung ihres Ziels.

Vor dem überdachten Tor zur Kirche blieben sie schließlich stehen. Yadriel legte den Kopf in den Nacken. Auf dem Torbogen aus weiß getünchten Ziegeln stand in handgemalten schwarzen Buchstaben »El Jardín Eterno«. Der ewige Garten. Yadriels Cousin Miguel war damit beauftragt, die verblichene schwarze Farbe zu erneuern, bevor in ein paar Tagen die Festlichkeiten zum Día de Muertos begannen. Ein schweres Riegelschloss hielt Unbefugte draußen.

Yadriels Vater Enrique, der Vorsteher der Brujx-Familien, hielt den Schlüssel in Verwahrung und gab ihn nur den Brujos, die gerade auf dem Friedhof Wachdienst hatten. Yadriel hatte keinen Schlüssel, was bedeutete, dass er die Kirche nur tagsüber oder zu Zeremonien und Feierlichkeiten betreten durfte.

»¡Vámonos!« flüsterte Maritza, und Yadriel zuckte zusammen, als sie ihn mit ihren manikürten Fingernägeln in die Seite stieß. Maritzas herzförmiges Gesicht wurde von kurzen, vom Wind zerzausten, dichten Locken in rosa und lila Pastelltönen umrahmt, die einen starken Kontrast zu ihrer tiefbraunen Haut bildeten. »Wir müssen rein, bevor uns wer sieht!«

Yadriel schlug ihre Hand weg. »Schhh!«, zischte er.

Doch Maritza schien sich nicht ernsthaft Sorgen zu machen, dass sie Ärger bekommen könnten. Sie wirkte sogar richtig aufgeregt. Ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen, und ihre Lippen umspielte ein teuflisches Grinsen, das Yadriel nur zu gut kannte.

Yadriel schlich zur linken Seite des Tors. Zwischen der letzten schmiedeeisernen Stange und der Mauer war eine schmale Lücke. Er warf den Rucksack über die Mauer, dann schob er sich seitlich durch den Spalt. Trotz seines Binders aus Polyester und Spandex schrammte ihm die Metallstange schmerzhaft über die Brust. Auf der anderen Seite des Tors angekommen, richtete Yadriel das halbe Tanktop unter seinem Shirt, sodass ihm die Verschlüsse nicht mehr in die Seiten bohrten. Es hatte ewig gedauert, bis Yadriel einen Binder gefunden hatte, der ihm ein maskulineres Aussehen verlieh, ohne zu kratzen oder so eng zu sitzen, dass er kaum Luft bekam.

Yadriel hob den Rucksack auf und drehte sich nach Maritza um, die etwas mehr Schwierigkeiten hatte. Den Rücken gegen die Ziegel gepresst, zwängte sie sich millimeterweise durch den Spalt. Yadriel hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.

Maritza warf ihm einen finsteren Blick zu und versuchte ruckelnd ihren Hintern zu befreien. »¡Cállate!«, zischte sie, bevor sie es schließlich hindurchschaffte. »Wir müssen uns bald einen anderen Weg rein suchen.« Sie wischte sich den Dreck von der Jeans. »So langsam sind wir zu groß.«

»Dein Hintern ist zu groß«, neckte Yadriel sie. »Vielleicht solltest du die pastelitos mal weglassen.« Er grinste.

»Und diese Kurven verlieren?«, fragte Maritza und strich sich grinsend über Taille und Hüften. »Danke, aber lieber würde ich sterben.« Sie boxte ihn gegen den Arm und lief zur Kirche.

Yadriel trabte hinterher.

Reihen von Totenblumen – den flores de muerto – säumten den steinernen Weg. Die schweren gelben und orangen Blüten lehnten aneinander, als wären sie betrunken. In den letzten Monaten vor dem Día de Muertos waren die Blumen regelrecht explodiert. Heruntergefallene Blütenblätter bedeckten den Boden wie Konfetti.

Die weiß gestrichene Kirche hatte ein Dach aus Terrakotta. Zu beiden Seiten der großen Eichenholztür befand sich ein Rundbogenfenster, und darüber war eine eiserne Glocke in die halbrunde Wand eingelassen. Über der Tür hing ein Kreuz in einer kleinen Nische.

»Bist du bereit?« In Maritzas Blick war nicht die Spur von Angst zu erkennen. Sie strahlte übers ganze Gesicht und konnte sich kaum noch zurückhalten.

Der Puls rauschte Yadriel in den Ohren. Er war schon als Kind oft nachts mit Maritza auf dem Friedhof gewesen. Der Kirchhof hatte sich zum Versteckenspielen geradezu angeboten, lag er doch nah genug am Haus, um Lita zu hören, wenn sie zum Abendessen rief. In die Kirche selbst waren sie bisher aber noch nie eingedrungen. Wenn Yadriel das tat, verstieß er gegen unzählige Regeln und Traditionen der Brujx.

Wenn er das tat, gab es kein Zurück.

Yadriel nickte steif, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. »Okay, gehen wir.«

Er spürte ein Prickeln im Nacken, und Maritza neben ihm erschauderte.

»Wohin?«, erklang eine barsche Stimme hinter ihnen.

Yadriel zuckte zusammen. Maritza machte einen solchen Satz, dass Yadriel beinah von ihr umgeworfen wurde.

Neben einem kleinen pfirsichfarbenen Grabstein stand ein stämmiger Mann.

»Verdammt, Tito«, keuchte Yadriel und krallte die Hand in seinen Hoodie. »Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt!«

Maritza schnaubte empört.

Manchmal bemerkten selbst Yadriel und Maritza einen Geist nicht sofort.

Tito trug das bordeauxrote Fußballtrikot Venezuelas und einen alten Strohhut, unter dessen Krempe er über die Totenblumen gebeugt hervorlinste. Tito war der langjährige Gärtner des Friedhofs.

Oder besser gesagt, früher war er es. Tito war seit vier Jahren tot. Zu Lebzeiten war er ein unglaublich talentierter Gärtner gewesen. Er hatte die Blumen für sämtliche Feierlichkeiten der Brujx bereitgestellt, wie auch für die Hochzeiten, Beerdigungen und Feiertage der gewöhnlichen Bevölkerung von East Los Angeles. Mit einem kleinen Blumenverkaufsstand auf dem Trödelmarkt hatte er begonnen, und zuletzt hatte er sogar einen richtigen Laden besessen.

Tito war im Schlaf gestorben, und nach seiner Beerdigung war er als Geist auf den Friedhof zurückgekehrt, entschlossen, sich weiterhin sorgfältig um die Blumen zu kümmern, wie er es sein Leben lang getan hatte. Er sagte Yadriels Vater, er habe immer noch eine Aufgabe, er allein sei dazu berufen, Gärtner der Brujx zu sein.

Enrique erlaubte ihm zu bleiben, solange er noch Tito war. Doch Yadriel hatte seine Zweifel, ob sein Vater es jemals schaffen würde, Titos Geist zu entlassen.

»Wohin?«, wiederholte Tito. Im orangefarbenen Licht der Kirche wirkte er fast körperlich, auch wenn er im Gegensatz zur Gartenschere in seiner Hand leicht transparent war. Geister hatten verschwommene Ränder, und ihre Farben waren weniger intensiv als die der Welt um sie herum. Sie sahen immer ein bisschen aus wie auf einem unscharfen Foto, bei dem die Sättigung reduziert war. Wenn Yadriel den Kopf leicht drehte, verschwand Titos Gestalt vor dem Hintergrund fast.

Yadriel ärgerte sich, dass er Tito vor lauter Aufregung nicht schon früher gespürt hatte.

»Warum seid ihr beide nicht wie alle anderen im Haus?«, fragte Tito.

»Äh, wir wollten gerade in die Kirche«, sagte Yadriel, und seine Stimme brach. Er räusperte sich.

Tito hob argwöhnisch eine buschige Augenbraue.

»Um zu überprüfen, ob alles vorbereitet ist.« Yadriel zuckte die Schultern. »Für die Feier … weißt du?«

Tito schnitt eine verwelkte Blüte ab.

Maritza stieß Yadriel den Ellbogen in die Seite und deutete nickend auf Yadriels Rucksack.

»Ah!« Yadriel nahm den Rucksack ab und holte ein in ein weißes Geschirrtuch gewickeltes Etwas heraus. »Ich hab dir was mitgebracht!«

Felipe war zu sehr mit seiner Freundin beschäftigt gewesen, um auf Yadriel und Maritza zu achten, und an Nina und Rosa hatten sich die beiden auch ziemlich leicht vorbeischleichen können, aber Tito war eine ganz andere Nummer. Tito war schon immer ein guter Freund von Yadriels Vater gewesen, und für Dummheiten hatte er absolut nichts übrig.

Doch wenn er Essen geschenkt bekam, drückte er auch mal ein Auge zu.

»Lita hat gerade conchas gebacken. Ich hab dir eine mitgebracht – sie ist noch warm!« Yadriel faltete das Geschirrtuch auseinander und enthüllte ein köstliches süßes Brötchen, das mit seiner eingeschnittenen Oberseite aussah wie eine Muschel. »Ich habe dir eine grüne ausgesucht, deine Lieblingssorte!« Wenn Tito auf Yadriels schlechte Lügen nicht hereinfiel, dann ließ er sich vielleicht durch pan dulce umstimmen.

Tito winkte ab. »Mir egal, was ihr zwei Störenfriede vorhabt«, grummelte er.

Maritza fasste sich übertrieben keuchend an die Brust. »Was? Wir würden nie …!«

Yadriel stieß Maritza an. Er fand zwar auch nicht, dass sie Störenfriede waren, besonders im Vergleich mit einigen anderen der jüngeren Brujx, aber zu sehr die Unschuldigen zu mimen würde bei Tito nur Verdacht erregen.

Doch zum Glück schien Tito sie selbst loswerden zu wollen. »Pa’ fuera«, sagte er und wedelte mit der Hand. »Aber fasst mir ja nicht meine Blumen an. Und lasst die concha da.«

Das musste er nicht zweimal sagen. Yadriel legte das süße Brötchen auf den pfirsichfarbenen Grabstein, dann packte er Maritza am Arm und zog sie mit sich zur Kirche, während Tito sich wieder seinen Totenblumen widmete.

Yadriel lief die Treppenstufen hoch, Maritza hinter ihm her. Er stemmte sich gegen die schwere Tür, und ächzend schwang sie auf und die beiden gingen hinein.

Das Innere der Kirche war schlicht. Anders als in einer gewöhnlichen Kirche gab es keine Sitzbänke oder Stuhlreihen. Wenn die Brujx sich für ihre Zeremonien und Rituale versammelten, stellten sie sich alle in einem großen Kreis auf. In der Apsis der Kirche befanden sich drei hohe Fenster. Tagsüber fiel die kalifornische Sonne durch das kunstvoll verzierte, bunte Glas. Dutzende Kerzen standen auf dem Hauptaltar.

Auf halber Höhe der Wand schwebte auf einem Sims die Statue der diosa, ihrer heiligen Göttin, die vor Tausenden von Jahren den Brujx ihre Kräfte verliehen hatte, als noch Gottheiten und Ungeheuer durch die Länder Lateinamerikas und der karibischen Inseln gestreift waren: la Santa Muerte.

Ihre knochigen Finger, das lächelnde Gebiss und die leeren Augenhöhlen waren auf dem aus weißem Stein gemeißelten Skelett durch schwarze Farbe betont. Sie trug eine traditionelle weiße Huipil-Bluse und einen Stufenrock. Über Kopf und Schultern lag ein fließender Umhang. Der Ausschnitt der Bluse und der Saum des Umhangs waren mit einem goldenen Blütenmuster bestickt. In der knöchernen Hand hielt sie einen frischen Strauß von Titos Totenblumen.

Die Göttin hatte viele Namen und Bezeichnungen – la Santa Muerte, la Huesuda, Señora de las Sombras, Mictecacihuatl –, je nach Kultur und Sprache, doch die Darstellungen von ihr waren alle ähnlich. Yadriels größter Wunsch war, ihren Segen zu empfangen, sein eigenes Portaje zu besitzen und ihr zu dienen. Er wollte wie die anderen Brujos sein, verlorene Geister finden und ihnen helfen, ins Jenseits zu gelangen. Er wollte die ganze Nacht aufbleiben und langweiligen Friedhofsdienst verrichten. Er würde sogar stundenlang Unkraut jäten und die Schrift auf Grabsteinen nachmalen, wenn er dafür von seinen eigenen Leuten als Brujo anerkannt werden würde.

Als Yadriel jetzt auf Santa Muerte zuging, dachte er an die vielen Generationen von Brujx, die an ihrem fünfzehnten Geburtstag genau hier ihre Quinces-Zeremonie vollzogen hatten. Männer und Frauen, die aus allen möglichen Ländern in die USA emigriert waren – Mexiko und Kuba, Puerto Rico und Kolumbien, Honduras und Haiti, sogar die Inkas, Azteken und Maya – sie alle hatten von der uralten Gottheit ihre Kräfte verliehen bekommen. Ihre Gemeinschaft bestand aus einer großartigen Mischung verschiedener lebendiger Kulturen.

Wenn Brujx fünfzehn wurden, traten sie vor die Santa Muerte, um ihren Segen zu empfangen und sich ihre magischen Kräfte auf ihr jeweiliges Portaje übertragen zu lassen. Bei Frauen war das Portaje meistens ein Rosenkranz (der nämlich ursprünglich bloß eine zeremonielle Halskette gewesen war und dessen Bedeutung sich erst mit der Verbreitung des Katholizismus in Lateinamerika verändert hatte). Im Anhänger dieses unauffälligen Schmuckstücks befand sich eine kleine Menge Opferblut eines Tiers. Am häufigsten hatte der Anhänger am Rosenkranz einer Bruja die Form eines Kreuzes, es konnte aber auch ein Herz Jesu oder eine kleine Figur der Santa Muerte sein.

Bei den Männern war das Portaje oft eine Art Dolch, denn um den goldenen Faden zu durchtrennen, der einen Geist an die hiesige Welt band, war eine Klinge nötig. Indem sie diesen Faden durchschnitten, waren Brujos in der Lage, Geister ins Jenseits zu entlassen.

Das Portaje zu erhalten war ein wichtiger Übergangsritus im Leben aller Brujx.

Nur nicht für Yadriel.

Die Zeremonie zu seinem fünfzehnten Geburtstag war auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Inzwischen war er im Juli schon sechzehn geworden, und er hatte es satt zu warten.

Um seiner Familie zeigen zu können, was er war oder vielmehr wer er war, musste Yadriel endlich seine Quinces-Zeremonie vollziehen – mit oder ohne Segen seiner Familie. Sein Vater und der Rest der Brujx ließen ihm keine andere Wahl.

Der Schweiß lief Yadriel den Rücken hinab, er erschauderte. Die Luft fühlte sich verändert an, als ob der Boden unter seinen Füßen vor Energie summte. Jetzt oder nie.

Er kniete sich vor Santa Muerte und nahm die Utensilien für das Ritual aus dem Rucksack. Er stellte rautenförmig vier Gebetskerzen auf den Boden, die die vier Winde repräsentierten. In die Mitte kam eine Tonschale als Symbol für die Erde. Aus einem der Kartons mit den Opfergaben zum Día de Muertos hatte Yadriel eine winzige Flasche Cabrito-Tequila mitgehen lassen. Nervös drehte er den Schraubverschluss ab und goss etwas davon in die Schale. Der Alkohol brannte ihm in der Nase. Daneben stellte er ein Salztöpfchen.

Mit zitternden Fingern nahm er eine Packung Streichhölzer aus der Hosentasche und zündete die Kerzen an. Die flackernden Lichter brachten die goldenen Fäden im Umhang von Santa Muerte zum Funkeln.

Luft, Erde, Wind und Feuer. Nord, Süd, Ost und West. Alle nötigen Elemente zum Anrufen der Heiligen Frau Tod.

Das Einzige, was noch fehlte, war Blut.

La Santa Muerte anzurufen erforderte eine Opfergabe. Blut war die mächtigste Opfergabe überhaupt, denn es symbolisierte das Leben. Der Heiligen Frau Tod dein eigenes Blut darzubieten bedeutete, ihr einen Teil deines weltlichen Körpers und deines Geists zu schenken. Eine derartige Opfergabe war so mächtig, dass sie nie aus mehr als ein paar Tropfen bestehen durfte, sonst würde es dich aller Lebensenergie berauben und zum sicheren Tod führen.

Es gab bloß zwei Rituale der Brujx, die eine Opfergabe mit eigenem Blut erforderten. Das erste war, wenn die Brujx kurz nach der Geburt die Ohrläppchen durchstochen bekamen, was sie dazu befähigte, die Geister der Toten zu hören. Yadriel trug in seinen Ohrlöchern inzwischen schwarze Plastik-Plugs. Es gefiel ihm, die alte Tradition der Brujx fortzusetzen, die sich die Ohrläppchen mit immer größeren Scheiben aus sakralen Steinen wie Obsidian oder Jade dehnten. Im Laufe der Jahre hatte Yadriel seine Ohrlöcher auf den Durchmesser eines Zehn-Cent-Stücks erweitert.

Das einzige andere Ritual, bei der Brujx als Opfergabe eigenes Blut verwendeten, war während ihrer Quinces-Zeremonie. Hier kam das Blut aus der Zunge, denn sie mussten zu la Santa Muerte sprechen und sie um ihren Segen und Schutz bitten.

Bei den Jungen wurde dieser Schnitt mit ihrem Portaje gemacht.

Maritza zog ein Stoffbündel aus ihrem Rucksack und hielt es Yadriel hin.

»Ich habe Wochen dafür gebraucht«, sagte sie, als Yadriel die Schnur löste. »Ich hab mich ungefähr achtmal verbrannt und mir fast den Finger abgesäbelt, aber wenigstens versucht mein Dad nicht mehr, mich von der Schmiede fernzuhalten.« Sie zuckte lässig mit den Schultern, stand jedoch ganz aufrecht da und grinste stolz. Yadriel wusste, wie viel ihr diese Sache bedeutete.

Maritzas Familie schmiedete schon seit Jahrzehnten Waffen für die Männer, ein Handwerk, das ihr Vater von Haiti mitgebracht hatte. Maritza wollte leidenschaftlich gern von ihm lernen, kunstvolle Klingen zu fertigen. Da die Klingen erst bei der Quinces-Zeremonie eines Jungen mit Blut in Berührung kamen, konnte sie so trotzdem Teil der Gemeinschaft sein, ohne ihre ethischen Grundsätze zu verraten. Ihre Mom fand zwar, Waffenschmieden wäre kein Beruf für ein Mädchen, doch wenn Maritza sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie nichts davon abbringen.

»Er ist längst nicht so protzig und albern wie der von Diego«, sagte sie und verdrehte die Augen. Sie meinte das Portaje von Yadriels älterem Bruder.

Yadriel schlug die letzte Lage Stoff zurück und deckte den Dolch auf. »Wow«, keuchte er.

»Er ist eher praktisch«, erklärte Maritza, während sie ihm über die Schulter blickte.

»Er ist krass«, korrigierte Yadriel sie, und ein glückliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Maritza strahlte.

Der Dolch war so lang wie sein Unterarm, hatte eine gerade Klinge und eine Parierstange in der Form eines liegenden S. Auf den polierten Holzgriff war mit feinen Linien ein Bild von la Santa Muerte gezeichnet. Schwer und beruhigend lag der Dolch in Yadriels Hand. Er fuhr mit dem Daumen über die dünnen Linien goldener Farbe, die strahlenförmig von der Heiligen Frau Tod ausgingen. Er spürte jeden einzelnen Pinselstrich.

Dies war sein Dolch. Sein Portaje.

Yadriel hatte alles, was er brauchte. Jetzt musste er nur noch das Ritual vollziehen.

Er war hierzu bereit. Er war dazu bestimmt, vor Santa Muerte zu treten, ob die anderen es nun guthießen oder nicht. Und trotzdem zögerte er. Den Dolch umklammernd, blickte er zur Statue hoch und biss sich auf die Unterlippe. Zweifel machten sich in ihm breit.

»Hey.«

Yadriel zuckte zusammen, als Maritza ihm die Hand auf die Schulter legte. Sie sah ihn mit ihren braunen Augen eindringlich an.

»Es ist nur …« Yadriel räusperte sich und blickte sich um.

Maritza runzelte besorgt die Stirn.

Für die Brujx war die Quinces-Zeremonie der wichtigste Tag in ihrem Leben. Eigentlich sollten Yadriels Vater, Bruder und abuela jetzt neben Yadriel stehen. Er kniete sich auf den harten Steinboden und spürte die bedrückende Leere um sich herum. Es war so still, dass er das Flackern der Kerzen hörte. Unter den leeren Augenhöhlen der Santa Muerte fühlte er sich klein und einsam.

»Was ist … wenn es nicht funktioniert?«, fragte er. Sein Flüstern hallte in der leeren Kirche wider. Das Herz zog sich ihm zusammen. »Was, wenn sie mich zurückweist?«

»Escúchame.« Maritza drückte seine Schultern. »Du schaffst das, okay?«

Yadriel nickte und leckte sich über die trockenen Lippen.

»Du weißt, wer du bist, ich weiß, wer du bist, und Santa Muerte weiß es auch«, sagte sie mit wilder Entschlossenheit. »Scheiß auf die anderen!« Maritza grinste ihn an. »Denk dran, warum wir das hier machen.«

Yadriel atmete tief durch und versuchte, möglichst tapfer zu klingen. »Damit sie erkennen, dass ich ein Brujo bin.«

»Äh, ja, aber abgesehen davon.«

»Um ihnen zu zeigen, dass sie unrecht hatten?«

»Genau!«, rief Maritza begeistert. »Sie werden sich saublöd vorkommen. Und du wirst den Moment so genießen, Yads! Wirklich!« Sie atmete tief durch die Nase ein und legte sich die gefalteten Hände an die Brust. »Das wird eine Genugtuung!«

Ein Lachen hüpfte in Yadriels Kehle.

Maritza lächelte. »Komm, machen wir’s, Brujo.«

Yadriel konnte nicht anders als zu grinsen.

»Aber verbock es nicht. Nicht dass die Göttin dich mit einem Blitzschlag tötet oder so, okay?«, sagte Maritza und entfernte sich ein paar Schritte. »Ganz allein das rosa Schaf der Familie zu sein wäre mir echt zu viel.«

Den Titel des obersten rosa Schafs innerhalb der Brujx-Gemeinschaft hatte Yadriel inne, weil er trans und schwul war. Wobei sein Schwulsein sehr viel leichter akzeptiert worden war, was aber nur daran lag, dass ihn die Tatsache, dass er auf Jungs stand, in den Augen der anderen nach wie vor heterosexuell machte.

Doch Maritza als einzige Veganerin der Brujx-Gemeinschaft hätte den Titel eindeutig auch verdient gehabt. Sie war ein Jahr jünger als Yadriel und ihre Quinces-Zeremonie hatte Anfang des Jahres stattgefunden, als sie fünfzehn geworden war, aber sie weigerte sich, ihre Gabe als Bruja einzusetzen, weil Heilen Tierblut erforderte. Eine von Yadriels frühesten Erinnerungen an Maritza war, wie sie herzzerreißend geweint hatte, als ihre Mutter Schweineblut benutzte, um das gebrochene Bein eines Kinds zu heilen. Maritza hatte schon sehr früh beschlossen, nicht heilen zu wollen, wenn Heilen bedeutete, anderen Lebewesen Schaden zuzufügen.

Im düsteren Licht der Kirche sah Yadriel Maritzas Portaje um ihren Hals – ein Rosenkranz aus rosafarbenem Quarz mit einem silbernen Kreuz, dessen Hohlkörper allerdings leer war. Doch Maritza beharrte darauf, dass sie, auch wenn sie sich weigerte, ihre Gabe zu nutzen, die Göttin und ihre Vorfahren trotzdem ehrte.

Yadriel bewunderte sie für ihre Überzeugungen und gleichzeitig ärgerte er sich über sie. Er selbst wollte nichts weiter, als akzeptiert zu werden – er wollte sein eigenes Portaje erhalten und behandelt werden wie jeder andere Brujo auch, dieselbe Verantwortung tragen. Maritza dagegen weigerte sich, die ihr zustehenden Rechte wahrzunehmen.

»Na los, prisa!«, sagte Maritza ungeduldig.

Yadriel nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug, umklammerte mit verschwitzten Händen die kühle Metallflasche, und atmete langsam durch den Mund wieder aus.

Entschieden schraubte er die Flasche auf und goss das Hühnerblut in die Schale. Er war Maritza sehr dankbar, dass sie versuchte, nicht allzu angewidert zu gucken.

Als die tiefrote Flüssigkeit sich mit dem Tequila vermischte, ging ein Windstoß durch die Kirche. Die Kerzenflammen flackerten. Die Luft fühlte sich dick an, als ob der Raum voller Menschen wäre.

Das Adrenalin schoss Yadriel durch die Adern, er bekam Gänsehaut. Er versuchte mit ruhiger, tiefer Stimme zu sprechen.

»Santísima Santa Muerte, te pido tu benedición«, sagte er, die Göttin um ihren Segen bittend.

Eine Windböe wehte ihm übers Gesicht und fuhr ihm wie eine Hand durch die Haare. Die Flammen zitterten, und die Statue kam ihm auf einmal sehr lebendig vor. Sie bewegte oder veränderte sich nicht, aber Yadriel spürte ihre Kraft.

Er zündete ein Streichholz an und ließ es in die Schüssel fallen. Die Flüssigkeit fing Feuer. »Prometo proteger a los vivos y guiar a los muertos«, sagte Yadriel und schwor damit, die Bräuche der Brujos zu pflegen. Mit zitternden Händen hob er den Dolch.

»Esta es mi sangre, derramada por ti.« Yadriel öffnete den Mund und presste sich die Klinge an die Zungenspitze, bis er den Einschnitt spürte. Kurz zuckte er zusammen, dann hielt er das Portaje vor sich. Auf der Klinge glänzte im warmen Kerzenlicht eine feine Spur roten Bluts.

Er hielt den Dolch über die brennende Schüssel. Sobald die Flammen die Klinge berührten, zischte das Blut und die Kerzen loderten auf wie Fackeln, groß und stark. Yadriel kniff die Augen zusammen, als die Hitze ihn im Gesicht traf.

Er zog das Portaje aus dem Feuer und sprach die letzten Worte.

»Con un beso, te prometo mi devoción«, murmelte er und leckte sich über die Lippen. Dann führte er das Heft an seinen Mund und küsste das Bild der Santa Muerte.

Funken tanzten von der Klingenspitze über das Heft bis zu seiner Hand. Goldenes Licht schoss ihm den Arm empor und die Beine hinab bis zu den Zehen. Yadriel erschauderte, das Gefühl war so überwältigend, es raubte ihm den Atem.

Genauso schnell, wie das magische Gefühl gekommen war, verschwand es wieder. Die Kerzenflammen wurden kleiner. Die Luft beruhigte sich. Yadriel schob den Ärmel seines Hoodies hoch und blickte ehrfürchtig auf seinen Arm, während das goldene Licht auf seiner braunen Haut verblasste.

Er sah hinauf zu Santa Muerte. »Krass«, flüsterte er, die Hände auf den Wangen.

»Krass«, wiederholte er. »Es hat funktioniert!« Sein Herz schlug so heftig, dass er den Puls in den Handflächen spürte. Er drehte sich zu Maritza um. »Hat es funktioniert?«

Das Feuer in der Schüssel spiegelte sich in ihren Augen wider. Sie hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht. »Es gibt wohl nur einen Weg, das herauszufinden.«

Yadriel lachte, die Erleichterung und das Adrenalin machten ihn ganz berauscht. »Stimmt.«

Wenn die Heilige Frau Tod ihn mit der Gabe der Brujx gesegnet hatte, bedeutete das, dass er einen verlorenen Geist beschwören konnte. Und wenn er einen Geist beschwören und ihn ins Jenseits entlassen konnte, dann konnte er sich den anderen endlich beweisen – den Brujx, seiner Familie, seinem Vater. Sie würden ihn als das sehen, was er war: ein Junge und ein Brujo.

Das Portaje vorsichtig an die Brust gedrückt stand Yadriel auf. Er biss sich auf die Lippen und schmeckte die letzten Spuren des Bluts. Seine Zunge brannte, aber der Schnitt war klein. Es tat ungefähr so weh, wie wenn er den café de olla frisch vom Herd trank und sich dabei die Zunge verbrannte.

Während Maritza die Kerzen einsammelte und einen übertrieben großen Bogen um die brennende Schüssel mit Blut machte, trat Yadriel näher an die Statue heran. Er war nicht ganz einen Meter sechzig groß und musste den Kopf in den Nacken legen, um sie in ihrer Nische anzusehen.

Er wünschte, er könnte mit ihr reden. Erkannte sie sein wahres Ich? Wozu seine eigene Familie nicht in der Lage war? Yadriel fühlte sich schon lange von allen missverstanden, von allen außer von Maritza. Als er ihr vor drei Jahren erzählt hatte, dass er trans war, hatte sie nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Na endlich!, hatte sie gesagt, in leicht verärgertem Tonfall, dabei aber gelächelt. Ich wusste, irgendwas ist los. Ich habe nur darauf gewartet, dass du’s ausspuckst.

In der folgenden Zeit hatte sich Maritza als vertrauenswürdige Verbündete erwiesen, sie wechselte problemlos zwischen Pronomen hin und her, je nachdem, ob sie unter sich oder unter anderen waren, bis er bereit gewesen war, es allen zu sagen.

Erst ein Jahr später, mit vierzehn, hatte er den Mut aufgebracht, sich vor seiner Familie zu outen. Es war nicht annähernd so einfach gewesen wie mit Maritza, und es war immer noch eine permanente Herausforderung, seine Familie und die anderen Brujx dazu zu bringen, dass sie die richtigen Pronomen und seinen richtigen Namen verwendeten.

Abgesehen von Maritza war seine Mutter Camila ihm die größte Unterstützung gewesen. Erstaunlich schnell hatte sie ihre alten Sprechgewohnheiten abgelegt und es sogar übernommen, die anderen Leute freundlich zu korrigieren, sodass Yadriel das nicht immer selbst tun musste. Solche Kleinigkeiten konnten sich schnell zu einer schweren Last auftürmen, und seine Mutter hatte ihm geholfen, etwas davon zu tragen.

Wenn Yadriel vom ständigen Kampf, er selbst zu sein – sei es in der Schule oder in ihrer Gemeinschaft – besonders erschöpft gewesen war, setzte seine Mom sich mit ihm aufs Sofa und nahm ihn in den Arm. Sie roch immer nach Nelken und Zimt, als hätte sie gerade torta bejarana gebacken. Während sie ihm sanft durchs Haar strich, murmelte sie, Mijo, mein Junge, und linderte damit seinen Schmerz, der allerdings nie ganz verschwand.

Inzwischen war sie seit fast einem Jahr tot.

Schniefend strich Yadriel sich mit der Hand über die Nase. Der Día de Muertos stand kurz bevor. Um Mitternacht am 1. November würden die Kirchenglocken läuten und die Geister der verstorbenen Brujx auf dem Friedhof willkommen heißen. Dann konnte Yadriel zwei Tage lang seine Mutter wiedersehen.

Er würde ihr zeigen, dass er ein richtiger Brujo war. Ein Sohn, auf den sie stolz sein konnte. Er würde dieselben Aufgaben verrichten wie sein Vater und die anderen Brujos. Yadriel würde sich allen beweisen.

»Komm schon, Brujo«, rief Maritza leise und winkte ihm, ihr zu folgen. »Wir müssen hier weg, bevor uns wer findet.«

Yadriel grinste.

Brujo.

Er wollte gerade die Schale vom Boden aufheben, als es ihn im Nacken kribbelte. Yadriel versteifte sich und sah zu Maritza, die ebenso mitten in der Bewegung erstarrt war.

Irgendetwas stimmte nicht.

»Hast du das auch gespürt?«, fragte er. Selbst flüsternd klang seine Stimme in der leeren Kirche viel zu laut.

Maritza nickte. »Was war das?«

Yadriel schüttelte leicht den Kopf. Es hatte sich fast angefühlt wie ein Geist, aber anders. Stärker als alles, was Yadriel jemals erlebt hatte. Eine unerklärliche Angst machte sich in ihm breit.

Maritza erschauderte, und auch Yadriel lief es kalt den Rücken runter.

Eine Sekunde lang passierte nichts.

Dann spürte Yadriel einen stechenden Schmerz in der Brust. Er schrie auf, die Wucht des Schmerzes zwang ihn auf die Knie. Auch Maritza fiel vornüber, und ein erstickter Schrei drang aus ihrer Kehle.

Der Schmerz war unerträglich. Yadriels Atem war nur noch ein Keuchen, seine Hände krallten sich an seine Brust. Tränen schossen ihm in die Augen, und er sah die Santa Muerte über sich nur noch verschwommen.

Gerade als er dachte, dass er es nicht länger aushalten und der Schmerz ihn umbringen würde, ebbte er ab.

Die Anspannung verließ Yadriels Muskeln, seine Glieder waren mit einem Mal ganz schlaff und kraftlos. Schweiß bedeckte seine Haut. Zitternd schnappte er nach Luft. Er fasste sich wieder an die Brust, direkt überm Herz, wo der Schmerz nur noch dumpf spürbar war. Maritza kniete auf dem Boden und presste sich genauso die Hand auf die Brust. Ihre Haut war aschfahl und schweißnass.

Sie starrten einander an, während sie versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Sie sagten nichts. Sie wussten, was das bedeutete. Sie spürten es in ihrem Inneren.

Einer von ihnen war gestorben. Miguel war tot.

Kapitel
zwei

»Was war das? Was zum Teufel ist mit ihm passiert?«, keuchte Maritza, während sie über den Friedhof rannten. Sie wiederholte es immerzu, als wäre es ein sie verfolgendes Mantra. Yadriel hatte Maritza noch nie so erschüttert erlebt, und das machte alles nur noch schlimmer. Normalerweise war er derjenige, der in Stresssituationen Panik bekam, während sie einfach alles mit einem Scherz abtat. Doch hierbei gab es nichts zu lachen.

Tito war nirgendwo zu sehen. Yadriel hörte verzweifelte Rufe über den Friedhof schallen. Sie liefen an zwei verwirrt dreinblickenden Geistern vorbei.

»Was ist denn los?«, rief Felipe und hielt ängstlich seine vihuela umklammert, als sie an ihm vorbeisprinteten.

»Keine Ahnung!« war alles, was Yadriel antworten konnte.

Da die Brujx so eng mit dem Leben und dem Tod verbunden waren, mit den Geistern und den Lebenden, spürten sie es alle, wenn ein Mitglied aus ihrer Gemeinschaft starb.

Zum ersten Mal hatte Yadriel es mit fünf Jahren erlebt. Er war mitten in der Nacht aufgewacht, wie aus einem Albtraum, und hatte sofort an seinen abuelito gedacht. Er war aus dem Bett aufgestanden und ins Zimmer seiner Großeltern geschlichen, wo sein abuelito reglos im Bett lag. Yadriels abuelita saß neben ihm, hielt seine Hand und flüsterte ihm Gebete ins Ohr, während ihr die Tränen über die faltigen Wangen liefen.

Auf der anderen Seite des Betts stand Yadriels Vater, die Hand auf Diegos Schulter. Der Gesichtsausdruck seines Dads war ernst und beherrscht, in seinem Blick lag eine tiefe Trauer. Yadriels Mutter nahm Yadriel in die Arme und streichelte ihm den Rücken, während sie sich von seinem abuelito verabschiedeten.

Yadriels Großvater war im Schlaf gestorben. Es war ein sanfter, schmerzloser Tod gewesen. Was Yadriel damals geweckt hatte, war ein Gefühl des Verlusts gewesen, als ob ihm kaltes Wasser in den Bauch tropfen würde.

Aber das hier war anders. Was auch immer Miguel passiert war, es war kein sanftes Dahinscheiden.

Oder es lag irgendein Fehler vor. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn. Auch wenn Yadriel es gespürt hatte, auch wenn er genau wusste, was es bedeutete, konnte es einfach nicht sein, dass Miguel tot war.

Miguel war Yadriels Cousin und erst achtundzwanzig Jahre alt. Yadriel hatte ihn früher am Abend noch gesehen, als er im Haus vorbeigekommen war, um ein paar von Litas conchas einzustecken, bevor er den Wachdienst auf dem Friedhof angetreten hatte.

Hatte Miguel einen Unfall gehabt? Vielleicht hatte er den Friedhof verlassen und war von einem Auto angefahren worden? Er konnte schließlich nicht auf dem Friedhof umgekommen sein, oder?

Sie mussten nach Hause und herausfinden, was Miguel so gewaltsam aus dem Leben gerissen hatte.

Maritzas Beine waren länger als Yadriels, und der Binder saß so eng um seinen Brustkorb, dass es ihm schwerfiel, mit ihr mitzuhalten. Sein Portaje im Rucksack kam ihm jetzt besonders schwer vor.

Sie bogen um die Ecke und liefen mitten ins Chaos. Laute Rufe. Im Haus ein ständiges Kommen und Gehen. Schatten, die sich hinter den Vorhängen hin und her bewegten.

Maritza riss die Gartenpforte auf und rannte die Treppe hoch, Yadriel folgte ihr auf dem Fuße. Mehrere Leute kamen ihnen entgegen, aber sie schafften es, sich hindurchzuzwängen.

Das Haus war ohnehin ziemlich klein und in den Wochen vorm Día de Muertos ziemlich vollgestopft, wobei »vollgestopft« noch untertrieben war. Jede Abstellfläche, wie winzig sie auch war, wurde genutzt, um Vorräte zu lagern. Gefährlich hoch gestapelte Kisten mit Gebetskerzen, Seidenschmetterlingen und Hunderten bunter Scherenschnittgirlanden – papel picado – türmten sich auf der abgewetzten Ledercouch. Der Esstisch stand an die Wand geschoben und lag voller weißer Schädel aus Zucker, die darauf warteten, dekoriert zu werden.

Eigentlich hätten hier bloß die Vorbereitungen für den wichtigsten Feiertag des Jahres stattfinden sollen, doch stattdessen waren alle in panischem Aufruhr. Maritza hielt sich am Rücken von Yadriels Hoodie fest, um ihn im Gedränge nicht zu verlieren.

Miguels Mutter Claudia saß am Esstisch, neben ihr Yadriels abuelita und weitere Brujas. Sie rieben ihr die Arme und redeten mit sanften Stimmen auf Spanisch auf sie ein, aber Claudia war untröstlich.

Der Kummer ging in Wellen von ihr aus. Yadriel spürte ihn bis in die Knochen. Das tiefe Wehklagen ließ ihn erschaudern. Er kannte dieses Heulen nur zu gut. Er hatte es selbst schon erlebt.

Yadriel konnte nichts anderes tun als zuzusehen, wie seine abuelita ihre Magie wirken ließ.

Während sie ihr Portaje unter ihrer schwarzen, mit bunten Blumen bestickten Bluse hervorzog, sprach sie weiter ruhig in Claudias Ohr. Ihr Portaje war ein alter Rosenkranz aus Holzperlen mit einem zinnernen Herz Jesu daran. Mit sicheren Fingern schraubte Lita den Anhänger auf und verteilte Hühnerblut über dem Herz Jesu. »Usa mis manos«, rief sie mit leiser, fester Stimme la Santa Muerte an. Während sie sprach, leuchtete der Rosenkranz in goldenem Glanz. »Te doy tranquilidad de espíritu

Lita hielt den Rosenkranz an Claudias Stirn. Einen Augenblick später ließ ihr Schluchzen nach. Ihre Miene entspannte sich, der gequälte Gesichtsausdruck verschwand. Yadriel spürte, wie Claudias Schmerz langsam abklang. Sie ließ die Schultern sinken und lehnte sich, die Hände im Schoß, schwer seufzend auf dem Stuhl zurück. Auch wenn ihr Gesicht ganz rot geweint war und die Tränen ihr weiterhin über die Wangen liefen, war ihr Leiden jetzt weniger schlimm.

Der goldene Glanz von Litas Rosenkranz wurde schwächer, bis nur noch Zinn und Holz zurückblieben.

Einmal hatte Yadriel seine Mom gefragt, warum die Brujas nicht einfach allen Schmerz von einer trauernden Person nahmen, und sie hatte ihm erklärt, dass es wichtig war, den Schmerz zu spüren und den Verlust eines geliebten Menschen zu betrauern.

Yadriel hatte großen Respekt vor seiner Großmutter und den anderen Brujas und vor der unglaublichen Gabe, die sie besaßen. Es war nur noch nie seine Gabe gewesen.

Als Lita den Rosenkranz wieder wegnahm, hinterließ er einen roten Abdruck auf Claudias gerunzelter Stirn. Claudia wurde von Schluckauf geschüttelt. Eine der Brujas reichte ihr ein Glas Wasser, eine andere tupfte ihr mit einem Taschentuch sanft die Wange ab.

»In ein paar Tagen beginnt Día de Muertos«, sagte Lita mit spanischem Akzent auf Englisch. Sie drückte Claudias Hand und lächelte sie an. »Du wirst Miguel bald wiedersehen.«

Damit hatte sie natürlich recht, aber Yadriel glaubte nicht, dass Claudia das tröstete. Als seine Mutter gestorben war, hatte Lita das Gleiche zu ihm gesagt. Er sah zwar ein, dass die Brujx froh sein konnten, ihre verstorbenen geliebten Menschen wiedersehen zu können, doch in dem Moment hatte ihm das überhaupt nicht geholfen. Ein Besuch für zwei Tage im Jahr konnte nie den Verlust wiedergutmachen, sie den Rest der Zeit nicht mehr um sich zu haben.

Und dann gab es noch ein anderes Problem: Wenn Miguel noch nicht ins Jenseits übergegangen war – wenn er immer noch an diese Welt gebunden war –, konnte er am Día de Muertos nicht zurückkehren.

Was war mit ihm passiert?

Ein Brujo kam aus der Küche geeilt, und da fiel Yadriel die Stimme seines Vaters auf. Er riss den Blick von Claudia und schlängelte sich durch die Menschenmenge zur Küche, Maritza dicht hinter ihm.

In der Küche standen ein paar Brujos um Yadriels Vater versammelt. Enrique Vélez Cabrera war ein großer Mann – diese Gene hatte Yadriel eindeutig nicht geerbt – von durchschnittlicher Statur. Er hatte einen leichten Bauch, über dem sich das in die Jeans gesteckte, rot karierte Hemd etwas spannte. Seit Yadriel denken konnte, trug Enrique denselben einfachen Haarschnitt und buschigen Bart. Der einzige Unterschied zu früher waren die grau melierten Haare an den Schläfen.

Nachdem Yadriels Großvater gestorben war, hatte Enrique die Position als Kopf der Brujx von East Los Angeles übernommen. Lita war seine rechte Hand und als Matriarchin das spirituelle Oberhaupt der Brujx. Enrique war ein respektierter und angesehener Mann. Alle Brujos im Raum schenkten ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, besonders Diego, Yadriels älterer Bruder, der neben Enrique stand und bei jeder Anweisung, die sein Dad gab, energisch nickte.

»Wir müssen Miguels Portaje finden. Wenn er noch nicht ins Jenseits übergegangen ist, wird er daran gebunden sein«, erklärte Enrique und umklammerte die Kante des kleinen Holztischs. Seine Stimme war tief und rau, sein Blick ernst. Yadriel sah sich unter den Brujos um, deren Mienen alle verschiedene Grade des Entsetzens widerspiegelten.

»Wir suchen bereits den Friedhof ab – Miguel hatte heute Nacht Wachdienst –, aber ich brauche noch Leute, die zu Claudias und Bennys Haus gehen«, sagte Enrique. Obwohl Miguel schon Ende zwanzig war, hatte er immer noch bei seinen Eltern gelebt, um seinem behinderten Vater zu helfen. Miguel war freundlich und geduldig, und er war immer gut zu Yadriel gewesen. Auf einmal hatte Yadriel einen Kloß im Hals.

»Wir müssen eins von Miguels Shirts holen und Julio wecken. Wir brauchen vielleicht seine Hunde«, fügte Enrique hinzu, und der nächste der Brujos rannte los.

Julio war ein mürrischer alter Brujo, der Pitbulls hielt und sie als Spürhunde abrichtete. Was recht praktisch war, um Leichen und verlorene Geister zu finden.

»Sucht überall!« Enrique hob den Kopf und blickte sich in der überfüllten Küche um. »Hat irgendwer …«

»Dad!« Yadriel drängte sich nach vorne.

»Yadriel!« Die Erleichterung war Enrique anzusehen. Er packte Yadriel und drückte ihn fest an sich. »¡Ay, Dios mío!« Dann legte er seine rauen Hände auf Yadriels Wangen und küsste ihn auf den Kopf.

Yadriel verkrampfte sich, der plötzliche Körperkontakt war ihm zu viel.

Sein Dad fasste ihn an den Schultern und blickte ihn stirnrunzelnd an. »Ich habe mir Sorgen gemacht, dass dir was passiert ist!«

Yadriel löste sich von seinem Dad und machte einen Schritt zurück. »Mir geht’s gut …«

»Wo wart ihr beide?«, fragte Diego und sah mit seinen hellbraunen Augen zwischen ihm und Maritza hin und her.

Yadriel wusste nicht, was er sagen sollte. Maritza zuckte wenig hilfreich mit den Achseln.

Es gab einen Grund dafür, dass sie Yadriels Zeremonie im Geheimen abgehalten hatten. Dass Maritza so lange an Yadriels Dolch gearbeitet hatte, damit ihr Dad nichts davon mitbekam. Die Bräuche der Brujx gingen auf alte Traditionen zurück. Sich gegen diese Traditionen zu richten wurde als Blasphemie angesehen. Als Yadriel sich geweigert hatte, zu seiner Quinces-Zeremonie als Bruja vor la Santa Muerte zu treten, und er die Sache stattdessen als Brujo hatte durchziehen wollen, war ihm das verwehrt worden. Es stand außer Frage. Angeblich würde es nicht funktionieren. Nur weil er sagte, dass er ein Junge sei, würde das nichts daran ändern, wie la Santa Muerte ihren Segen gab.

Sie ließen es ihn noch nicht einmal probieren. Es war eben leichter, sich hinter Traditionen zu verstecken, als die eigenen Glaubenssätze und die Vorstellungen dessen, wie die Dinge in der Welt der Brujx zu laufen hatten, zu hinterfragen.

Seitdem schämte Yadriel sich für sich selbst. Ihre offenkundige Ablehnung fühlte sich persönlich an, denn sie war persönlich.

Es war eine unverhohlene Ablehnung dessen, wer er war – ein transgender Junge, der versuchte, einen Platz in ihrer Gemeinschaft zu finden.

Aber sie irrten sich. La Santa Muerte hatte ihm geantwortet. Jetzt musste er es ihnen nur noch beweisen.

Orlando kam in die Küche geeilt, und alle sahen zu ihm.

»Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Enrique.

Orlando schüttelte den Kopf. »Wir suchen immer noch den Friedhof ab, aber bisher keine Spur von ihm«, sagte er, nahm sein Baseball-Cap vom Kopf und wrang es in den Händen. »Wir haben ihn noch nicht einmal spüren können – es ist, als wäre er einfach verschwunden!«

»Dad!« Yadriel versuchte, sich größer zu machen. »Wie kann ich helfen?« Die Blicke der anderen gingen einfach über ihn hinweg.

»Wir müssen die Straßen um den Friedhof absuchen, verteilt euch vom Eingangstor aus«, sagte Enrique, während seine Hand immer noch schwer auf Yadriels Schulter lag. »Er wird den Wachdienst nicht ohne Grund abgebrochen haben.«

Orlando nickte und lief wieder zur Tür hinaus. Yadriel wollte hinterher, doch sein Dad hielt ihn fest.

»Du nicht, Yadriel«, sagte er ruhig, aber entschlossen.

»Aber ich kann doch mithelfen!«

Ein weiterer Brujo kam in die Küche, und Yadriel spürte einen Funken Hoffnung.

Tío Catriz war der ältere Bruder seines Vaters, auch wenn ihnen das nicht anzusehen war. Während Enrique Vélez Cabrera einen kräftigen, eher runden Körperbau hatte, war Catriz Vélez Cabrera knochig und schlaksig. Er hatte hohe Wangenknochen, eine große Nase und lange schwarze Haare, die er zu einem Knoten zusammengenommen im Nacken trug. Seine Ohrläppchen zierten traditionelle Flared Plugs aus Jade, so groß wie eine Vierteldollar-Münze.

»Da bist du ja, Catriz«, seufzte Enrique.

»Tío«, rief Yadriel erleichtert. Er fühlte sich gleich weniger als Außenseiter.

Catriz grinste Yadriel leicht an, bevor er sich seinem Bruder zuwandte. »Ich bin sofort los, als ich es spürte«, sagte er leicht außer Atem und zog die dünnen Augenbrauen zusammen. »Ist Miguel …?«

Yadriels Dad nickte. Catriz schüttelte langsam den Kopf. Mehrere Brujos im Raum bekreuzigten sich.

Yadriel hielt es nicht länger aus, nur herumzustehen. Er wollte etwas tun. Er wollte helfen. Miguel gehörte zu seiner Familie und war ein guter Mann – er hatte seine Eltern unterstützt und war immer freundlich zu Yadriel gewesen. Eine von Yadriels schönsten Kindheitserinnerungen war, wie Miguel ihn immer auf dem Motorrad mitgenommen hatte. Yadriels Eltern hatten ihm ausdrücklich verboten, auch nur in die Nähe des Motorrads zu gehen, aber wenn er genug bettelte, gab Miguel jedes Mal nach. Yadriel wusste noch, dass der Helm viel zu groß und schwer gewesen war, wenn Miguel mit knapp fünfzehn Kilometern pro Stunde mit ihm um den Block gefahren war.

Als Yadriel bewusst wurde, dass er ihn nie wieder lebendig sehen würde, traf ihn eine neue Woge der Trauer.

»Was ist, wenn wir ihn nicht finden?«, fragte Andrés in die Stille hinein. Er war ein dünner, sommersprossiger Junge und Diegos bester Freund.

Yadriels Dad biss die Zähne zusammen. Die Leute tauschten Blicke aus.

»Sucht weiter. Wir müssen sein Portaje finden«, erklärte Enrique. »Wenn wir seinen Geist rufen können, werden wir ihn fragen, was passiert ist.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Offensichtlich glaubte Yadriels Dad nicht, dass Miguel einfach friedlich eingeschlafen war. Yadriel konnte sich das auch nicht vorstellen, so gewaltsam, wie sich sein Tod angefühlt hatte. »Sein Portaje wird hoffentlich bei seiner Leiche sein.«

Beim Gedanken daran, Miguels leblosen Körper irgendwo auf dem Friedhof zu finden, zog sich Yadriel der Magen zusammen.

Andrés’ Gesicht färbte sich beeindruckend grün. Yadriel konnte es nicht fassen, dass er einmal in ihn verknallt gewesen war.

Enrique nahm sein eigenes Portaje vom Küchentresen, ein Jagdmesser, das viel größer und schwerer war als Yadriels Portaje, aber im Vergleich mit denen der jungen Brujos im Stil immer noch zurückhaltend.

Diegos und Andrés’ Dolche mit ihren geschwungenen Klingen waren viel zu groß, um irgendeinen praktischen Nutzen zu haben oder leicht versteckt werden zu können. Diego und Andrés hatten sich ihre Namen in die Klingen gravieren und protzige Talismane am Heft anbringen lassen. An Andrés’ Dolch hing ein kleines Kreuz. Diegos zierte ein goldener Totenschädel. »Kitschig«, fand Maritza. Solche Verzierungen waren unpraktisch und absolut überflüssig.

»Wir müssen los«, sagte Enrique, und alle setzten sich in Bewegung.

Das war seine Chance.

Yadriel würde ihnen helfen, Miguel zu finden und auf dem Friedhof der Brujx beizusetzen. Das war Aufgabe der Brujos, also würde er dabei sein. Vielleicht konnte sogar er selbst Miguels Geist ins Jenseits entlassen, jetzt wo er sein eigenes Portaje besaß.

Yadriel wollte den anderen hinausfolgen, doch Enrique hielt ihn zurück.

»Du nicht. Du bleibst hier«, sagte er.

Yadriel verlor beinah den Mut. »Aber ich kann doch mithelfen!«, rief er.

»Nein, Yadriel«, erwiderte Enrique. Da klingelte sein Handy in der Tasche, und er zog es hervor und ging ran. »Benny, habt ihr ihn gefunden?«, fragte er angespannt.

Alle verstummten. Yadriel hörte gehetztes Spanisch am anderen Ende.

Sein Vater ließ die Schultern sinken. »Nein, wir auch nicht.« Seufzend rieb er sich über die Stirn. »Wir versuchen, noch mehr Leute zusammenzubekommen …«

Yadriel ergriff die Gelegenheit. »Ich kann auch helfen!«, wiederholte er.

Sein Dad drehte ihm den Rücken zu und telefonierte weiter. »Nein, wir haben nichts …«

Frustriert trat Yadriel vor ihn. »Dad!«, rief er. »Lass mich doch mithelfen! Ich …«

»Nein, Yadriel«, zischte Enrique, während er stirnrunzelnd versuchte, die Stimme am anderen Ende zu verstehen.

Normalerweise neigte Yadriel nicht zu Streit mit seinem Dad, aber das hier war wichtig. Er blickte sich unter den Brujos um, nach einer Person, die ihm zuhören würde, doch die anderen verließen den Raum bereits nach und nach. Bis auf Tío Catriz, der Yadriel ratlos ansah.

Als auch sein Dad den Raum verlassen wollte, wurde Yadriel von wilder Entschlossenheit erfasst.

»Wenn du mir einfach mal zuhören würdest!« Er nahm den Rucksack ab und kämpfte mit dem Reißverschluss.

»Yadriel …«

Er griff in den Rucksack und umfasste das Heft seines Portaje. »Guck doch …«

»¡Basta!«

Enrique schrie so laut, dass Yadriel erschrocken zurückwich.

Sein Vater war an sich ein ausgeglichener Mann, den so schnell nichts aus der Fassung brachte. Unter anderem deswegen war er ein so guter Anführer. Ihn jetzt mit rot angelaufenem Gesicht und laut brüllend zu erleben war beängstigend. Selbst Diego, der dicht hinter Enrique stand, wirkte beunruhigt.

Yadriel spürte alle Blicke auf sich.

Er schloss den Mund. Der Schnitt an seiner Zunge brannte, es schmeckte metallisch.

Enrique zeigte aufs Wohnzimmer. »Du bleibst mit den anderen Frauen hier!«

Yadriel zuckte innerlich zusammen. Er ließ den Dolch zurück in den Rucksack fallen. Die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Seine Augen brannten und seine Hände zitterten, aber er sah seinen Vater herausfordernd an.

»Mit den anderen Frauen«, wiederholte er und spuckte die Worte aus, als wären sie giftig.

Enrique blinzelte, seine Wut verwandelte sich in Verwirrung, als würde er Yadriel erst jetzt richtig bemerken. Er ließ die Schultern sinken. Erschöpft sah er ihn an. »Yadriel«, seufzte er und streckte die Hand nach ihm aus.

Doch Yadriel wollte nichts mehr hören.

Maritza versuchte ihn aufzuhalten. »Yads …«

Er ertrug ihren mitleidigen Gesichtsausdruck nicht. »Lass mich.«

Er drängte sich durch die umstehenden Leute und floh durch die Tür in die Garage. Die Tür knallte gegen die Wand und fiel dann krachend hinter ihm zu, während er die kurze Treppe hinunterpolterte. Das Licht ging an und beleuchtete das organisierte Chaos und das Auto seines Dads an der Seite.

Er kochte vor Wut. Schnaubend lief er auf dem Betonboden voller Ölflecken auf und ab, während sein Binder ihm die Luft abschnürte. Wut und Scham wechselten sich in ihm ab.

Yadriel hätte am liebsten geschrien oder irgendetwas kaputt geschlagen.

Oder beides.

Er sah die Miene seines Vaters noch vor sich – den reuevollen Blick, als ihm bewusst geworden war, was er gesagt hatte. Yadriel verzieh den Leuten ihre Gedankenlosigkeit eigentlich immer. Wenn sie ihn misgenderten oder ihn mit seinem Deadname anredeten. Er ging immer davon aus, dass sie ihn nicht mit böser Absicht verletzten, sondern einfach in ihren Überzeugungen festgefahren waren und es nicht verstanden.

Aber Yadriel hatte es satt. Er hatte es satt, ständig allen zu vergeben. Er hatte es satt, immer darum kämpfen zu müssen, einfach nur existieren und er selbst sein zu dürfen. Er hatte es satt, der Außenseiter zu sein.

Doch dazugehören zu wollen hieß, dass er leugnen musste, wer er war. Es hatte ihn in den vergangenen Jahren fast zerrissen nicht seine wahre Identität leben zu können. Und trotzdem liebte er seine Familie und seine Gemeinschaft. Es war schon schlimm genug, ein Außenseiter zu sein. Aber was würde passieren, wenn sie sein wahres Ich niemals akzeptieren würden – oder wollten?

Niedergeschlagenheit machte sich in ihm breit. Frustriert trat er mit seinem Kampfstiefel gegen einen Autoreifen, was nichts anderes bewirkte, als dass ihm der Fuß höllisch wehtat.

Yadriel fluchte laut und humpelte zu einem alten Stuhl. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er sich schwer darauf sinken.

Bescheuerte Aktion.

Finster blickte er zum schwarzen Wagen, und sein wütendes Spiegelbild starrte zurück. Vom vielen Laufen waren seine Haare ganz durcheinander. Yadriel trug die Haare an den Seiten kurz und oben länger, und er verwendete eine Menge Zeit darauf, sie zu stylen. Seine Haare waren eins der wenigen Dinge an seinem Äußeren, die er kontrollieren konnte. Er konnte zwar nichts dagegen tun, dass klassische Herrenhemden bei ihm nicht saßen – entweder waren sie über der Brust und den Hüften zu eng oder sie waren übertrieben groß –, aber er konnte sich zumindest einen Fade Cut rasieren lassen und so viel Suavecito-Pomade benutzen, wie er sich von seinem bisschen Taschengeld leisten konnte. Es war das Einzige, was seine Matte welliger schwarzer Haare bändigen konnte. Es waren kleine Dinge, die ihn sich in seiner Haut wohler fühlen ließen. Die Kampfstiefel trug er aus praktischen wie ästhetischen Gründen. Sie verliehen ihm zweieinhalb Extrazentimeter, und auch wenn es nicht viel war, halfen sie ihm, nicht ständig zu spüren, wie klein er im Vergleich mit anderen sechzehnjährigen Jungen war.

In der Ecke raschelte es, und kurz darauf erklang ein neugieriges Miauen. Eine kleine Katze schlenderte hinter einem Stapel Pappkartons hervor. Allerdings sah sie eher wie die Karikatur einer Katze aus, mit der großen Kerbe im einen Ohr und dem zusammengekniffenen linken Auge. Ihr Rücken war knochig und ein bisschen schief. Die Spitze ihres Schwanzes war praktisch kahl, und irgendwie hielt sie ein Hinterbein komisch.

Yadriel seufzte schwer, und das löste etwas von seiner Wut. »Komm her, Purrcaso«, sagte er leise und streckte die Hand aus.

Mit einem freudigen Miauen hinkte die Katze zu ihm, und das Glöckchen an ihrem blauen Halsband klingelte bei jedem Schritt. Sie rieb sich an seinem Bein und hinterließ büschelweise graues Fell an der schwarzen Jeans.

Grinsend strich Yadriel ihr über den krummen Rücken und kraulte sie unterm Kinn, wie sie es gernhatte, woraufhin er mit lautem Schnurren belohnt wurde.

Purrcaso war zur Familie gestoßen, als Yadriel dreizehn war. Zu der Zeit bemühte seine Mutter sich gerade, ihm das Heilen beizubringen. Brujas lernten ihr Handwerk schon lange vor ihrer Quinces-Zeremonie. Die Frauen in der Familie führten sie Schritt für Schritt ans Heilen heran.

Yadriels Mom hatte damals versucht, es langsam anzugehen, aber schon mit dreizehn hatte Yadriel gewusst, dass es nicht funktionieren würde. Dass er keine Bruja war. Vor Maritza war er damals schon geoutet, aber er hatte noch nicht den Mut aufgebracht, es seiner Mom zu erzählen. Je näher seine Quinces-Zeremonie rückte, desto unruhiger wurde er.

Alle dachten, er wäre bloß ein Spätzünder oder hätte einfach Angst vorm Erwachsenwerden. Und als er und seine Mom eines Tages auf dem Nachhauseweg von der Schule eine verletzte Katze an der Straße fanden, wollte sie die Gelegenheit nutzen, Yadriel im Heilen zu unterrichten.

Sie konnten spüren, dass die Katze verletzt war, noch bevor sie ihr Humpeln bemerkten. Vielleicht war sie von einem Auto angefahren worden oder sie hatte mit einem Hund gekämpft oder mit einem der Furcht einflößenden Waschbären, die nachts durch die Straßen streiften. Yadriel spürte den Schmerz von ihrem Bein ausstrahlen. Als er noch jünger war, hatte Yadriel die Fähigkeit, die Schmerzen anderer Lebewesen zu spüren, gehasst. Er war schon immer schrecklich empathisch gewesen, und so viel Leiden in der Welt zu spüren machte ihn fertig.

Yadriels Mutter hatte sich mit ihm auf die Bordsteinkante gesetzt und sich die Katze auf den weiten Rock gelegt. Sie nahm ihr Portaje vom Handgelenk – ein Rosenkranz aus Jade mit einem Anhänger, der auf den ersten Blick aussah wie die Jungfrau Maria von Guadalupe, aber bei genauerem Hinsehen als Skelett zu erkennen war. Seine Mom schraubte das kleine Gefäß auf, ließ etwas Hühnerblut auf ihren Finger tropfen, und dann rieb sie es über die Statuette der Santa Muerte. Sie sprach die ersten Worte, und der Rosenkranz erstrahlte in goldenem Glanz.

Es war eine so leichte Verletzung an einem so kleinen Lebewesen, eigentlich hätte es ein Leichtes für Yadriel sein sollen, die Katze mit Unterstützung seiner Mom zu heilen. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, und er hielt den Rosenkranz ans Bein der Katze. Seine Hand zitterte, er hatte Angst, dass es schiefgehen würde, oder schlimmer, dass es funktionierte und damit bewiesen wäre, dass er eine Bruja sein sollte. Seine Mom legte ihre Hand über seine und drückte sie leicht.

Yadriel sprach die letzten Worte, aber es ging nach hinten los.

Er konnte sich immer noch an die roten Tropfen auf dem weißen Rock seiner Mutter erinnern. An das schreckliche Jaulen. An den plötzlichen, heftigen Schmerz der armen Katze, den auch er in seinem Kopf spürte. An den schockierten Gesichtsausdruck seiner Mutter, bevor sie die Katze schnell selbst heilte.

Im Handumdrehen hatte das schreckliche Jaulen aufgehört. Der Schmerz war verschwunden. Die Katze schloss die kleinen Augen und lag als Fellknäuel auf dem Schoß seiner Mom.

Yadriel war untröstlich gewesen, einen Moment lang hatte er gedacht, das arme Wesen getötet zu haben. Seine Mom zog ihn an sich und flüsterte ihm sanft ins Ohr.

Schh, alles ist gut. Es geht ihr gut. Siehst du? Sie schläft nur.

Aber Yadriel konnte nur sein eigenes Versagen sehen. Aber dafür wusste er jetzt ganz genau, dass das Heilen nicht seins war. Dass er keine Bruja war.

Seine Mom strich ihm mit ihren kühlen Fingern übers Gesicht und die Haare aus den Augen. Es ist okay, sagte sie, als wüsste sie es auch.

Sie hatte die Katze nicht vollkommen heilen können. Die Verletzung war zu schlimm gewesen. Aber wenigstens litt die Katze keine Schmerzen mehr. Sie nahmen sie mit nach Hause, und Yadriel stellte von da an sicher, dass sie immer satt und umsorgt war. Sie schlief nach wie vor jede Nacht in seinem Zimmer, und Yadriel brachte ihr vom Abendessen heimlich Chorizo-Stückchen und Hühnchen mit.

Yadriels Mom hatte die Katze liebevoll Purrcaso genannt, in Anspielung auf die schiefen Figuren des berühmten Malers.

Purrcaso war mehr als nur eine Katze, sie war eine treue Gefährtin. Wenn Yadriel seine Mom vermisste, kam es ihm vor, als ob Purrcaso es wusste. Wenn die Schuldgefühle sich in ihm breitmachten, rollte Purrcaso sich auf seinem Schoß zusammen und schnurrte laut. Sie war eine Kugel aus Wärme und Trost, in der die Magie seiner Mutter fortlebte.

Purrcaso rollte sich vor seiner Stiefelspitze zusammen, und Yadriel kraulte ihr das weiche Fell hinter den Ohren, bis ihre gelben Augen nur noch Schlitze waren.

Nach dem Ereignis mit Purrcaso hatte seine Mom Yadriel nie wieder gedrängt zu heilen. Doch in einer derart auf Traditionen beruhenden Gemeinschaft bedeutete die Tatsache, dass Yadriel nicht heilen konnte, dass er keine magischen Fähigkeiten besaß. Und seine Quinces-Zeremonie wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.

Die Brujx glaubten, Yadriel wäre einfach ein Beispiel für die allmähliche Abschwächung der Magie in ihrer Abstammungslinie. Aber Yadriel und seine Mom kannten die Wahrheit.

Seine Mom half ihm, es seinem Dad und seinem Bruder zu erzählen, und kaufte ihm online seinen ersten Binder. Doch es war nicht leicht gewesen, Yadriels Identität nicht nur seiner Familie, sondern auch den anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zu erklären. Und offensichtlich verstanden sie es immer noch nicht. Als seine Mom noch da gewesen war, hatte sie ihm wenigstens zur Seite stehen können.

Sie hatte versucht, sich dafür einzusetzen, dass Yadriel eine Quinces-Zeremonie für Brujos erhielt, dass er in der Gemeinschaft als der angenommen wurde, der er war – ein Junge. Sie hatte versucht, ihrem Dad zu erklären, dass er ein Brujo war.

Er kann sich nicht einfach aussuchen, ein Brujo zu sein, hatte er Enrique eines Abends aus der Küche gehört, als seine Eltern sich bei süßem Kaffee leise unterhielten.

Er hat es sich nicht ausgesucht, sagte seine Mutter, ihre Stimme ruhig, aber bestimmt. Er ist nun mal, wer er ist.

Sie sagte Yadriel, die anderen bräuchten einfach Zeit, es zu verstehen. Aber seine Mom, seine große Unterstützerin, war vor fast einem Jahr plötzlich aus dem Leben gerissen worden, und außer ihr gab es keine weitere Person, die sich für ihn starkmachte. Bis auf Maritza behandelten ihn alle als Bruja ohne magische Kräfte. Mit dem Vermögen, Geister zu sehen und Leid zu spüren, aber ohne die Chance, jemals ein vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft zu werden.

»So ein Mist …«, erklang auf einmal eine Stimme.

Yadriel schreckte zusammen. In der Tür stand Tío Catriz, ein Zigarillo zwischen den Fingern. Er wirkte müde und sah Yadriel zugleich grimmig und verständnisvoll an.

Yadriel atmete auf. »Tío.« Er warf einen Blick hinter ihn, um zu sehen, ob sein Dad ihm gefolgt war.

»Keine Sorge«, sagte Tío Catriz und nahm einen Zug vom Zigarillo, während er die Stufen herunterkam. »Dein Vater und die anderen Brujos sind schon weg.« Er zog sich einen Plastikgartenstuhl heran und setzte sich neben Yadriel. »Wir sind unter uns.« Catriz legte ihm eine Hand auf den Kopf und grinste. »Como siempre

Yadriel versuchte ein Lachen. Ein bisschen hatte er gehofft, sein Dad würde kommen und sich bei ihm entschuldigen. Aber sein Onkel hatte recht, es waren immer nur sie beide am Rand der Brujx-Gemeinschaft. Zumindest hatten sie einander, und Catriz verstand Yadriels Sehnsucht – anders als Maritza, die kein Problem damit hatte, Außenseiterin zu sein. Es schien ihr sogar zu gefallen, weil sie gar nicht Teil der Gemeinschaft sein wollte.

Yadriel vergrub die Hände in den Taschen seines schwarzen Hoodies. »Ich kann es nicht glauben, dass Miguel …« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen.

Catriz schüttelte bedächtig den Kopf und nahm einen langen Zug von seinem Zigarillo. »So jung, so plötzlich«, sagte er, während ihm der Rauch in Schwaden aus den Nasenlöchern strömte. »Ich wünschte, ich könnte irgendwie helfen, aber …« Er zuckte mit den knochigen Schultern. »Ich bin ja zu nichts zu gebrauchen.«

Yadriel lachte bitter. Das Gefühl kannte er nur zu gut. »Was zum Teufel ist mit ihm passiert?«, fragte er.

Catriz seufzte schwer. Yadriel folgte seinem Blick zur Tür, hinter der sie immer noch gedämpfte Stimmen hörten. »So wie es klingt, hat dein Dad bereits die Truppen gesammelt, um es herauszufinden.«

Yadriel nickte steif, die vorherige Auseinandersetzung mit seinem Dad war ihm immer noch sehr präsent. »Alle Brujos«, grummelte er vor sich hin, während er mit Purrcasos Schwanz spielte.

»Na ja, nicht alle«, erklärte Catriz gelassen.

Yadriel hätte sich für sein eigenes mangelndes Feingefühl ohrfeigen können.

Catriz war schon vor langer Zeit von den Brujos und ihren Aufgaben ausgeschlossen worden. Vor Tausenden von Jahren hatte la Santa Muerte den Brujx ihre Kräfte geschenkt. Anfangs waren die Kräfte der Brujx noch genauso stark gewesen wie die der Göttin selbst. Die Frauen konnten ganze Arme nachwachsen lassen oder Sterbende zurück ins Leben holen, ohne dabei mehr Konzentration aufzuwenden als beim Kopfrechnen. Die mächtigsten Männer schafften es sogar, Tote wieder lebendig zu machen, wenn die Brujas ihre Geister nicht mehr erreichen konnten.

Doch im Laufe der Zeit hatten ihre Kräfte von Generation zu Generation abgenommen, und ein derart maßloser Gebrauch war nicht mehr möglich. Ihre Magie war keine unversiegliche Quelle mehr. Die Lebenden zu heilen und die Toten zu führen kostete Energie, und es dauerte, diese wieder aufzutanken.

Die Brujx wurden schwächer, und es gab einige, die mit so wenig Kräften geboren wurden, dass sie sie kaum nutzen konnten, ohne dabei ihren eigenen Tod zu riskieren.

So wie Catriz.