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You, with a View

Als Buch hier erhältlich:

TikTok trifft auf Polaroidkamera – ein Roadtrip der besonderen Art auf den Spuren der Verganenheit

Arbeitslos und noch immer bei den Eltern lebend versucht Noelle, den Verlust ihrer geliebten Großmutter zu überwinden. Dabei stößt sie auf ein uraltes Foto von ihrer Grams und einem attraktiven Mann, inklusive Liebesbrief. Von der Neugierde gepackt, startet Noelle einen Aufruf auf TikTok, um den Fremden ausfindig zu machen. Doch als sich sein Enkel darauf bei ihr meldet, schlägt Noelles Herz schneller – und zwar nicht auf die gute Art und Weise: Es ist Theo Spencer, ihr ehemaliger Klassenkamerad und ewige Nemesis. Heute ist er erfolgreich, gutaussehend und hat zu allem Überfluss auch noch ein Lächeln, das Noelle um den Verstand bringt. Wider Willen starten sie gemeinsam mit Theos Großvater den wohl verrücktesten Roadtrip aller Zeiten. Aber hat Theo sich wirklich geändert?


  • Erscheinungstag: 27.12.2023
  • Seitenanzahl: 380
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906154
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Liebe Gram, all deine Hinweise darauf, dass du bei mir warst, während ich an diesem Buch schrieb, sind bei mir angekommen. Ich werde dich ewig und noch länger lieben.

1. KAPITEL

Als ich aufwache, habe ich zwei Millionen Views.

Zuerst weiß ich gar nichts davon. Ohne die Augen zu öffnen, taste ich mit einer Hand durch den Hindernisparcours aus Tassen, Essensverpackungen und Lippenpflegestiften auf dem Nachttisch nach meinem Smartphone. Ich will nur wissen, wie spät es ist.

Vielleicht aber auch lieber nicht. Das Sonnenlicht dringt schon durch meine zugekniffenen Augenlider, und demnach wird es unangenehm spät sein.

Meine Finger kriegen das Ladekabel zu fassen, und ich ziehe das Handy zu mir, quer übers Nachttischchen, wobei die Pflegestifte durch die Gegend gekegelt werden.

Egal. Die Zukunfts-Noelle kann sich mit dem Chaos befassen.

Endlich erwische ich die Beute und schalte das Display hell. Anstelle der Zeit jedoch erfasst mein verschwommener Blick die Lawine von TikTok-Benachrichtigungen. Ich blinzle, aber die astronomische Zahl bleibt, blinkt, wobei sie um fünf, um siebzehn, um zweiundvierzig anwächst.

»Was, zum Teufel …«, krächze ich.

Dann fällt es mir wieder ein: mein Video.

So verschlafen, wie ich bin, rutscht mir das Telefon aus der Hand und landet auf meinem Gesicht, sodass ich vor Schmerz laut aufschreie.

Im selben Moment fliegt die Tür auf, und die Gestalt meiner Mom wird durch den Tränenschleier hindurch sichtbar. »Noelle, was ist denn?«

Befände ich mich in einer Sitcom, dann wäre dies der Moment, in dem die Szene erstarrt: Fokus auf mir, achtundzwanzig Jahre alt, wie ich mich in dem Bett meiner Kindheit wälze, geblendet durch einen verrückten iPhone-Unfall, nachdem ich auf einer Social-Media-App für Teenager viral gegangen bin.

Das Einzige, was mich davon abhält, innerlich sterben zu wollen, ist, dass so viele Leute dieses Video gesehen haben. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Vielleicht sogar die richtige Person.

Ich richte mich auf, presse die Finger an den Knochen am Auge, wo der Schmerz sitzt, und fische nach meinem Handy. Von der Tür aus beobachtet Mom mich verwirrt. Sie trägt ihr Peloton-Fitnessbike-Outfit anstelle des Power Suits. Es muss wohl Samstag sein.

»Alles okay mit dir?« Ihre braunen Augen – so braun wie meine – konzentrieren sich auf das Fahrrad in der Zimmerecke. An der Wand fordert ein Neonschild: »BE AWESOME« – sei großartig.

Sie brennt darauf, es einzuschalten, das weiß ich genau. Ich wünschte, ich könnte es abreißen. Nichts ist schlimmer, als jeden Morgen von aggressivem Optimismus begrüßt zu werden, wenn man erwachsen ist und wieder bei den Eltern einziehen musste, nachdem man einen Job verloren hat, den man nicht mal mochte.

»Ja, Mom, mir geht’s super.« Ich seufze auf, denn der Kopfschmerz entfaltet sich. »Mir ist nur das Telefon ins Gesicht gefallen.«

»Tut mir leid, Sweetie. Hey, wenn du sowieso auf bist, fahre ich schnell eine Runde.«

All das sagt sie in einem Atemzug, und gleichzeitig ist sie schon beim Fahrrad, hält aber immerhin ihre extralauten Spezialschuhe in der Hand. Ich könnte an all meinen Körpergliedern nicht abzählen, wie oft sie mich in den letzten vier Monaten mit dem Klackern dieser Schuhe auf den Hartholzdielen geweckt hat. Aber klar kann man es ihr nicht verübeln, dass sie mein ehemaliges Kinderzimmer in einen Schrein für ihr Zweitausend-Dollar-Fahrrad verwandelt hat. Keiner hätte je in Betracht gezogen, dass ich irgendwann wieder hier wohnen würde.

»Mach nur.« Ich vergrabe mich aufs Neue unter der Decke und rufe mit Herzklopfen meinen TikTok-Account auf.

Genau dort, unter dem letzten Video von vor einer guten Woche, steht die Anzahl der Aufrufe: 2,3 Millionen. Es gibt über vierhunderttausend Likes und tausendsechshundert Kommentare.

Heilige Scheiße!

Was, zur Hölle, ist bitte passiert? Als ich gestern Abend um neun eingeschlafen bin, hielten sich meine mickrigen achtzig Likes dort noch hartnäckig neben der – ziemlich niederschmetternden – Anzahl von null Kommentaren.

Meine Erwartungen waren nicht sehr hoch gewesen, aber ich hätte sie noch niedriger ansetzen sollen. Den Account hatte ich letzten September spontan aus Langeweile eröffnet und Fotografien, die ich geschossen habe, gepostet, nachdem mir aufgefallen war, wie andere Fotoaccounts durch die Decke gingen. Um meinen schien sich niemand zu scheren.

Aber Hoffnung wächst aus einem kleinen Keim, stimmt’s? Zumindest hat meine Oma, meine Gram, mir das immer gesagt und dabei gezwinkert.

All ihre guten Ratschläge hüte ich und trage sie immer bei mir, damit ich sie zur Hand habe, wenn sie nötig werden. Das kam vor ihrem Tod oft vor, und jetzt, da sie nicht mehr hier ist, praktisch durchgehend. Sie war ein Fixpunkt in meinem Leben, von Anfang an habe ich mich an sie gewandt, wenn irgendwas passierte, egal ob gut oder schlecht. Vielleicht ist es komisch, seine Großmutter als beste Freundin zu bezeichnen, aber genau das war Gram für mich, von dem Zeitpunkt an, als ich verstand, was eine beste Freundin ausmacht.

Nach ihrem Tod brauchte ich zwei Monate, um mir wieder Fotos von ihr ansehen zu können, ohne direkt loszuheulen. Ich habe eine AB-Aufzeichnung von ihr, auf der sie »Happy Birthday« singt, doch nicht mal jetzt, sechs Monate später, kann ich sie mir anhören.

Aber dieses Video – dasjenige, das gerade millionenweise Aufrufe bekommt – ist ebenso sehr ein Liebesbrief an sie, wie es eine Frage ans Universum ist. Oder eher eine Bitte.

Wenn du herausfindest, dass deine Großmutter mit zwanzig einen heimlichen Lover hatte, dann willst du mehr wissen. Und wenn sie nun mal nicht da ist, um den Orkan an Fragen zu beantworten, die in der Sekunde aufgewirbelt wurden, als du diese Fotos aus einem vergilbten Umschlag gezogen hast? Tja, dann musst du wohl zu anderen Mitteln greifen.

Den Umschlag entdeckte ich in einer Schachtel, die in einer verstaubten Ecke in der Garage stand, und mein Dad war die erste Anlaufstelle. Ich fragte ihn eher nebenbei, ob er irgendwas über die romantische Vergangenheit seiner Mom wüsste, denn ich musste vorsichtig vorgehen. Falls er nichts über diese Beziehung wüsste, könnte es ihn beunruhigen. Seine Trauer war noch genauso frisch wie meine.

»Für sie hat es immer nur Pop gegeben und für ihn nur Mom. Sie hat immer gesagt, dass er ihre größte Liebe war«, erklärte er mir.

Auf die Beziehung seiner Eltern zueinander war er seit Ewigkeiten stolz. Aufgrund ihrer Liebesgeschichte hatte er seine eigenen Erwartungen so himmelhoch geschraubt, dass er ein hoffnungsloser Romantiker wurde. Diese Erwartungen sind sogar noch weiter durchgesickert. Es gab diesen langjährigen Witz in unserer Familie: Wenn’s nicht wie bei Gram und Grandpa Joe ist, wollen wir’s nicht.

Als ich daraufhin schwieg, kniff Dad die Augen zusammen, seine Neugier war geweckt, vielleicht auch ein Verdacht. »Wie kommst du denn auf diese Frage?«

»Ach, nur so«, antwortete ich, während das Bild von Gram mit einem anderen Mann ein Loch in meine Hosentasche zu brennen drohte.

Dad war also raus aus der Sache. Und wenn er raus war, war es auch der Rest der Familie. Sie würden es ihm sonst bei der nächsten Gelegenheit erzählen.

Ich hatte genügend Zeit auf TikTok verbracht, um zu wissen, dass es zu gleichen Teilen nutzlos und transformierend war – fade Tanznummern, gemischt mit Videos von Wiederbegegnungstreffen, die bewirkten, dass ich um zwei Uhr morgens in mein Kissen schluchzte. Wenn ich die Info, die ich gefunden hatte, posten und fesselnd genug gestalten würde, bestand die Chance, dass jemand es sah. Die Chance, dass jemand es wusste.

Vielleicht wusste jemand etwas über die Fotosammlung und den einen Brief, den Gram über sechzig Jahre versteckt hatte, oder jemand kannte den gut aussehenden Mann auf den Bildern mit den welligen Haaren und dem tiefen Grübchen – Paul, der Name stand auf der Rückseite, in einer gleichmäßigeren Version von Grams schnörkelfreudiger Handschrift, zusammen mit den Jahreszahlen 1956 und 1957.

Sie heiratete Grandpa Joe 1959 nach einer stürmischen Romanze. Ich kannte ihre Geschichte auswendig. Gram hatte es geliebt, mir davon zu erzählen. Wir spielten ständig dieses Spiel, das wir liebevoll »Erzähl mir ein Geheimnis« nannten. Ich erzählte ihr immer meine und sie mir ihre.

Dachte ich zumindest.

Bevor ich den Mut finde, die Kommentare zu checken und festzustellen, ob meine Antwort darunter ist, entscheide ich, mir das Video noch mal anzusehen.

Ich tippe aufs Display, und es startet mit dem Song von Lord Huron, den ich ausgewählt habe, damit es möglichst anrührend wirkt. Mein Text, den ich hinzugefügt habe, wird über jedem Foto eingeblendet, das ich im Rahmen hochhalte, wobei der angeschlagene mintfarbene Nagellack auf meinem Daumen einen starken Kontrast zu den Schwarz-Weiß-Drucken bildet.

Ich spüre einen Stich der Trauer, als ich Grams Gesicht ansehe, das im jugendlichen Alter so sehr meinem eigenen ähnelt. Ihre Gesichtszüge sind die gleichen, das wurde uns immer wieder gesagt. Zwillinge mit fünfzig Jahren Abstand voneinander. Seelenverwandte, geboren in verschiedenen Jahrzehnten.

Auf dem ersten Bild stehen Gram und Paul vor einem Haus, das ich nicht wiedererkenne. Der Text auf dem Display lautet:

Kürzlich starb meine Großmutter, und ich fand diese Bilder von ihr mit einem Mann, den ich nie kennengelernt habe.

Dann sieht man sie am Strand, und hier schaut sie mit einem koketten Lächeln zu Paul auf.

Ich weiß nur, dass sein Name Paul ist und sie sich in Glenlake, CA, irgendwann um das Jahr 1956 kannten.

Als Nächstes kommt ein Bild von den beiden, auf dem sie einander umarmen, ihre Wange an seine Brust gedrückt, die Augen geschlossen.

Ihr Name ist Kathleen, und ich glaube, sie war auf diesen Fotos zwanzig Jahre alt.

Das letzte Foto zeigt Paul, wie er an einem Picknicktisch sitzt, das Kinn auf die Hand gestützt, und er schaut auf eine Weise in die Kamera, die verrät, wer hinter ihr steht.

Das ist ein Schuss ins Blaue, doch falls du diesen Mann wiedererkennst, melde dich bitte. Gram erwähnte ihn nie, aber er scheint wichtig zu sein. Ich will unbedingt ihre Geschichte erfahren.

Eines haben alle Aufnahmen gemeinsam: Die beiden sehen einander immer an und lächeln. Oft haben sie die Arme umeinander gelegt. In vielen Aufnahmen sieht Gram zu Paul auf, und zwar mit Herzchen in den Augen.

Und sein Herz gehörte auf jeden Fall ihr. Ich erkenne es schon an der Art, wie er sie ansieht, aber es gibt da noch den Brief, in dem er es ausspricht.

Ich hebe vorsichtig die Bettdecke an, um sicherzugehen, dass Mom noch beschäftigt ist. Schweiß tropft von ihrem Gesicht, ihre Aufmerksamkeit ist messerscharf fokussiert auf den Bildschirm vor ihr. Genauso gut könnte ich gar nicht hier sein.

Perfekt. Ich hole den Brief unter meinem zusätzlichen Kissen hervor und glätte eine Falte mit dem Daumen.

1. Juli 1957

Liebste Kat,

ich verstehe, warum wir nicht durchbrennen können, wirklich. Ich möchte einfach nur, dass es Dir gut geht.

Das Ende unserer Beziehung wird mich nicht davon abbringen, Dich für den Rest meines Lebens zu lieben. Ich weiß nicht, ob das Dir hilft oder wehtut. Nur um eine Sache möchte ich Dich bitten, nämlich dass Du Dich daran erinnerst, was wir einander versprochen haben: dass wir niemals unsere gemeinsame Zeit vergessen und uns mit Freude daran erinnern wollen.

Ich habe Dir versprochen, dass es okay ist, weißt Du noch? Und das wird es auch sein.

Für immer Dein

Paul

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass mich nie jemand so geliebt hat. Warum also ist sie gegangen?

Noch nie habe ich mein Gesicht oder meine Stimme mit hochgeladen. Selbst mein Nutzername ist anonym, nur »User« und ein zufälliger Mix aus Ziffern, aber jetzt sind Gram und Paul in dem Video. 2,3 Millionen Menschen haben sie gesehen, und doch habe ich kein schlechtes Gefühl dabei. Meine Großmutter hat diesen Mann geliebt, aber ich kann sie nichts mehr fragen.

Deswegen hoffe ich, dass mir Paul – wenn er noch lebt – das Geheimnis ihrer Stelle erzählen wird.

Ich schiebe den Brief zurück in sein Versteck, dann drehe ich mich auf den Rücken und nehme das Handy wieder hoch, um in die Kommentare abzutauchen.

Da wird mir die Bettdecke sang- und klanglos vom Kopf gezogen. Zum zweiten Mal an diesem Morgen fällt mir das Telefon aus der Hand und ins Gesicht.

»Fuck!«, schreie ich, halte mir die Hände vors Gesicht und strampele mit den Beinen. Meine Füße treffen auf einen Körper.

»Fuck zurück!«, stöhnt eine bekannte Stimme. »Du hast mir in die Eier getreten!«

»Still! Ich höre Codys Anweisungen nicht!«, stößt Mom aus, während ihr Trainer ihr ins Ohr schreit und ihr Lamaze-Atemmuster außer Kontrolle gerät.

Ich nehme die Hände vom Gesicht und sehe Thomas, meinen kleinen Bruder, nach unten gebeugt, die Stirn aufs Bett gedrückt, die Hände zwischen die Beine geklemmt. Sein Atemmuster ist auch Lamaze-würdig.

Mitten in dem ganzen Tumult taucht der blonde Kopf meines Dads in der Tür auf. Er lächelt breit und fragt: »Möchte noch jemand Eier Benny? Ich dachte, wir könnten einen Brunch machen, wenn Thomas schon mal da ist.«

Ich reiße meine zerknitterte Bettdecke unter Thomas’ Kopf hervor und werfe sie wieder über meine Beine. »Können jetzt bitte mal alle mein Zimmer verlassen? Die Regel lautet, dass niemand sich hier aufhält, wenn ich keine Hose anhabe, schon vergessen?«

»Ich bin fast fertig«, keucht Mom. »Ich breche gerade meinen persönlichen Rekord.«

Thomas stöhnt.

Mir geht’s genauso. Mein unversehrtes Auge richtet sich wieder aufs Smartphone, wo eben ein Haufen Benachrichtigungen aufploppt. Ich will sie unbedingt checken, wage es aber nicht, so lange dieser Raum voller ahnungsloser Shepards ist.

Thomas richtet sich wieder auf, und der Blick aus seinen meergrünen Augen heftet sich neugierig auf mein erleuchtetes Display. Ihn anzusehen, ist für mich, als würde ich in den Spiegel schauen, minus der elf Monate Altersunterschied zwischen uns. Wir haben die gleichen honigblonden Haare und dunklen Augenbrauen, aber meine Augen haben die Farbe von Kaffeesatz.

Er deutet mit seinem Kinn auf mein Telefon. »Was geht denn da ab?«

Ich drehe es um. »Nichts.«

»Explodiert dein Tinder, Beans?« Er grinst. »Super Fang.«

Dad hat sich verzogen, um sich den Eiern Benedikt zu widmen, und Mom zelebriert eifrig das Ende ihrer Fahrt, zusammen mit ihrem neuen persönlichen Rekord. Ich riskiere es und halte beide Mittelfinger in Thomas’ Gesicht.

»Es reicht, ihr beiden«, stößt Mom außer Atem hervor.

Thomas gackert los und schlüpft durch die Tür. Wären da nicht meine chronischen Rückenschmerzen, würde ich schwören, dass ich fünfzehn bin. In diesem Haus zu sein, sorgt bei uns beiden dafür, dass wir uns zurückentwickeln.

Mom hüpft vom Fahrrad, ein beschwingtes Lächeln im Gesicht. Sie wendet sich dem »BE AWESOME«-Schild hinter ihr zu und zieht an dem Band. Sie schaltet es nur ein, wenn sie meint, es verdient zu haben. Es leuchtet auf, und das pinke Licht lässt ihr Gesicht noch röter erscheinen.

Ihre dunklen Haare sind um den Pferdeschwanz herum feucht, und in ihre Augen tritt ein sanfter Ausdruck, als unsere Blicke sich treffen. So ist es immer in letzter Zeit.

»Geht’s dir gut?«, fragt sie, und das ist nicht gerade oberflächlich gemeint, aber wir wissen beide, dass es mir nicht gut geht.

Dennoch antworte ich locker: »Yep.«

Ihr stilles Seufzen signalisiert, dass sie mir nicht glaubt. Zu Recht. Ich tu’s ja selbst nicht. »Na ja, es ist elf, also möchtest du vielleicht aufstehen?«

Be awesome, genau.

~

Den gesamten Brunch hindurch flüstern die ungelesenen Kommentare eindringlich zu mir. Ich schaufele mir die Eier Benedikt in den Mund, dass ich beinahe daran ersticke.

Das fehlte mir gerade noch – Tod durch kanadischen Bacon.

Annähernd tausendmal bin ich kurz davor, mein Telefon herauszuziehen, aber das hätte Fragen zur Folge, auf die zu antworten ich nicht vorbereitet bin. Meine Familie ist sowieso schon neugierig, doch seit ich wieder zu Hause einziehen musste, sind sie zu Helikoptern mutiert. Offensichtlich machen sie sich Sorgen, dass momentan eine einzige Mail mit einer Stellenabsage reichen würde, um mich komplett fertigzumachen.

Ich beende mein Frühstück in Rekordzeit und schmeiße die Gabel hin, als hätte ich einen Eier-Benny-Verzehrwettbewerb gewonnen, den niemand sonst mitgemacht hat. »Fertig, bis dann.«

»Wieso, hast du was vor?«, fragt Thomas durch das Quietschen meines Stuhls hindurch und um einen Mundvoll Essen herum.

»Wieso, ist das wichtig?«, schieße ich zurück.

Er hebt eine Augenbraue. »Ich bin eben erst gekommen, und du servierst mich schon ab?«

»Mas, du schlängelst doch aus der Stadt rüber, wann immer Sadie was ohne dich plant. Ganz sicher werden wir uns alle paar Tage sehen.«

»Ich schlängle nicht«, grummelt er, obwohl seine Züge bei der Erwähnung seiner langjährigen Partnerin – und meiner besten Freundin – weicher werden. Dann aber schaut er wieder verschmitzt und zieht eine Zeitschrift von seinem Schoß hoch. Sie ist aufgeschlagen. »Wir hatten gar keine Zeit, über das hier zu sprechen.«

»Was denn, diese Maxim gibt’s immer noch? Sag bloß, du abonni–?«

Als mir klar wird, was ich da sehe, bleibt mir die Luft weg, und ich schnappe mir die Zeitschrift aus Thomas’ Hand.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und grinst. »Dein Typ Theo Spencer ist einer von ›Forbes 30 Under 30‹.«

Ich schnaube. »Mein Typ? Du warst derjenige, der während der gesamten Highschoolzeit für ihn geschwärmt hat. Er ist mir auf den Keks gegangen. Mit Absicht.«

»Rede dir das nur weiter ein«, sagt er süffisant.

Ich ignoriere ihn und die beiden Männer, die Theo auf dem Foto einrahmen, und starre stattdessen auf das Gesicht, das mich jahrelang auf die Palme gebracht hat. Das wellige dunkle Haar, das kaum sichtbare Grübchen, das sich erst zeigt, wenn er schmunzelt, die tiefblauen Augen, überschattet von strengen Brauen, die er mit nerviger Regelmäßigkeit überheblich hochzieht. Zumindest war es vor Jahren so, als ich ihn zum letzten Mal sah.

Möglicherweise hätte man in der Highschool bei uns für »most likely to succeed« gestimmt, also die Überflieger des Jahres mit bester Erfolgsaussicht, aber unsere Wege trennten sich, als wir aufs College wechselten.

Sie haben sich deutlich getrennt, wie man sieht. Der Mann ist in der Forbes und ich in Sponge-Bob-Schlafshorts. Ich weiß nicht recht, was mich mehr ärgert – seine letzte Auszeichnung oder die Tatsache, dass er immer noch verdammt heiß aussieht.

»Schön für ihn«, sage ich in einem Ton, der eher nach »Scheiß auf ihn« klingt, wenn man nach Moms in die Höhe gezogenen Augenbrauen gehen kann. Ich schmeiße die Zeitschrift auf Thomas und schicke ein triumphierendes Lächeln hinterher, als sie in seinem Gesicht landet.

Thomas schnaubt laut, und ich gebe Dad einen Kuss auf seine Sandpapierwange, als Dankeschön für die Mahlzeit.

Ich dampfe unter dem Antrieb meines rauchenden Zorns ab in den Garten, genauer gesagt in die Hängematte ganz am anderen Ende, wo ich ungestört in die Kommentare eintauchen kann.

Ich vergesse Theo, sein perfektes Gesicht und seine von Erfolg gekrönte Existenz und rufe die App auf.

Im großen Ganzen hat nichts von all dem eine Bedeutung. Meine Kindheit war perfekt. Meine Eltern und Großeltern haben mich geliebt, sind zu unzähligen Aktivitäten von mir erschienen und waren davon überzeugt, dass die Sonne nur für uns – also Thomas und mich plus meine Cousins und Cousinen – auf- und unterging. Grandpa Joe war ein liebenswürdiger Mann mit einem dröhnenden Lachen, der immer an meiner Unterlippe zupfte, wenn ich schmollte, nur um mich wieder zum Lachen zu bringen. Dass Gram in ihrer Jugend einen anderen Mann geliebt hat, ändert nichts an meinem Leben.

Doch jetzt, da sie nicht mehr da ist, will ich unbedingt diese Geschichte kennen. Gram hat zweifellos ihren Weg zum vollendeten Glück gefunden. Aber wie?

Ich weiß nicht, wie mein ultimatives Glück aussieht oder wie ich es erreichen kann, falls es überhaupt existiert, ohne Gram, die mir sagt, dass alles gut wird. Nach den Pannen, die mich weiter von meinem Erfolgsaussichtspfad abgebracht haben, zweifle ich, dass ich es jemals finden werde. Ich wünschte, sie könnte mir auch nur irgendwas sagen.

Es gibt annähernd zweitausend Kommentare, aber die beliebtesten stehen oben. Ich scanne die ersten fünf mit dem Blick, fast verzweifelt, so als würde ich ein Testergebnis suchen, das über Leben oder Tod entscheidet.

Dann geschehen zwei Dinge auf einmal.

Erstens: Ich sehe einen Kommentar mit nur vier Worten.

Zweitens: Thomas taucht aus dem Nichts auf und brüllt: »ERWISCHT

Ich zucke ruckartig zusammen und schreie auf, wobei die Hängematte ins Schwingen gerät und mich ins Gras wirft.

Den Kommentar habe ich aber gelesen, bevor ich runterkippte, sodass mein Herz einen noch größeren Satz macht als ich beim Fallen.

User34035872: Das ist mein Großvater.

2. KAPITEL

»Du hast das wirklich selbst fabriziert?«

Ich setze mich direkt neben Thomas auf meine Bettkante. Nach dem Durcheinander draußen wollte er wissen, was los ist. Wir haben die Party nach oben verlegt, damit ich ihn vertraulich in alles einweihen konnte. Jetzt habe ich den Stapel Fotos in der Hand, und Pauls Brief liegt auseinandergefaltet auf meiner Bettdecke.

»Ja, zum fünften Mal. Hab ich.«

Thomas schaut vom Handy hoch, staunend. »Also, zunächst mal – das ist superhochwertig produziert.«

Ich seufze.

Er greift herüber, um die Tiefkühlerbsenpackung zu richten, die ich mir an den Kopf halte. »Im Ernst, Beans, das ist klasse. Deine Firma hat dir mit der Kündigung einen Gefallen getan.« Er neigt den Kopf zur Seite und tippt aufs Handydisplay. »Aber wir wissen ja bereits, dass du deine wahren Talente nicht nutzt.«

Ich klatsche seine Hand weg und ignoriere den wohlmeinenden Seitenhieb. Das Fotografieren habe ich auf unbestimmte Zeit aufs Abstellgleis geschoben. »Wer ist schon besonders talentiert für die Eingabe von Grunddaten? Wenn das mein wahres Talent wäre, würde ich dich bitten, in der Zeit bis zu dem Tag zurückzureisen, an dem du mich in Grams Pool fast ertränkt hättest, und es durchzuziehen.«

»Ich war sieben«, antwortet er abwehrend. »Es war ein Unfall.«

»Alles kann mit Absicht geschehen, wenn man sich nur genug anstrengt.«

»Okay, konzentrieren wir uns auf das hier.« Abwesend fummelt er an dem dünnen goldenen Ring in seiner Nase. »Gram hatte wirklich einen Kerl nebenher?«

»Nein, er war kein Seitensprung. Sie müssen vor der Zeit mit Grandpa zusammen gewesen sein, und er war ihr anscheinend sehr wichtig. Sie wollten durchbrennen, also bitte. Dieser Brief legt es doch nahe, dass sie die Liebe seines Lebens war!«

Thomas schnappt mir den Brief aus der Hand, überfliegt ihn, blättert dann die Fotos durch. Ich beobachte genau, wie sein Gesichtsausdruck sich verändert, von Neugier über Erstaunen bis hin zu etwas Tieferem. Er fährt mit dem Daumen über Grams lächelndes Gesicht und schluckt, als er die Fotos wieder hinlegt und den Brief aufhebt. »Wo hast du das alles gefunden?«

»Das war in einer der Kisten in Grams Garage. Dad hat mal einen Stapel mitgebracht, weißt du noch?«

»Ach, stimmt, die Kisten, in denen du rumgewühlt hast, um was abzustauben.«

Ich stoße ihn hart mit dem Ellenbogen an. Er knufft mich noch härter zurück, sodass mir die Erbsentüte aus der Hand fliegt.

Tatsächlich ist er nah dran. Die letzten paar Monate habe ich mich durch die Kisten gearbeitet, die Dad mit nach Hause gebracht hatte, als er und meine drei Onkel Grams Haus leer geräumt hatten. Still und mit roten Augen war er von dieser Arbeit zurückgekehrt, hatte die Kisten in die Garage gestellt und sie seitdem nicht mehr angefasst.

Deshalb und aufgrund seiner Beteuerung, dass Grandpa Joe Grams ein und alles gewesen sei, weiß ich mit Sicherheit, dass er all dies nie gesehen hat. Brief und Fotos waren ganz unten in einer Kiste, in einem großen Manilabriefumschlag. Einem versiegelten Umschlag. Ich meine, hallo? Verdächtig. Von meinem Dad habe ich übrigens meine unstillbare Neugierde geerbt.

Oder vielleicht haben wir beide sie von Gram geerbt. Unser »Erzähl mir ein Geheimnis«-Spiel begann, als ich alt genug war, um überhaupt Geheimnisse zu haben. Wir haben damit gehandelt, als wären sie eine Währung, und es war immer ein ausgeglichener Deal. Meine fingen ganz klein und belanglos an und wuchsen genauso, wie ich wuchs. Ich erzählte Gram von meinen Beziehungen, von Sorgen, Kummer in der Schule, später dann von meinem Ringen mit der Orientierungslosigkeit und Enttäuschung des Erwachsenseins. Am Ende wusste sie alles – sie bewahrte meine Geheimnisse wie ein lebendes Tagebuch.

Wenn man bedenkt, wie unser Spiel in die Tiefe ging, als ich erwachsen war, erwartet man eigentlich, dass die Sache mit Paul hätte zur Sprache kommen müssen. Noch immer bin ich die Einzige, die weiß, dass Gram und Grandpa in den Achtzigern eine schwierige Phase durchlebten oder dass die »Erledigungen«, zu denen sie manchmal aufbrachen, eigentlich nur eine Ausrede waren, um es im Auto zu treiben. Sie kannte jedes pikante Detail meiner Beziehungen. Warum also habe ich nie erfahren, dass es diesen Mann gab? Wollte sie es speziell mir nicht erzählen, oder ist an der Geschichte selbst etwas, was sie schweigen ließ? Was es auch sein mag, es ärgert mich. Es ist ein kleiner Verrat an den Spielregeln.

Wenn sie einen Grund hatte, das zu verheimlichen, will ich es wissen.

Ich nehme mein Handy von Thomas zurück und scrolle nach unten zu dem Kommentar, der mir immer noch Herzrasen beschert.

Das ist mein Großvater.

Dutzende Antworten kaskadieren darunter, ein Wasserfall aus OMGs und IST DAS ZU FASSEN, ES PASSIERT WIRKLICH!

Die Millionen-Dollar-Frage ist nur: Was genau passiert eigentlich? Diese Person könnte ja auch lügen. Vielleicht sagt sie auch die Wahrheit, aber Paul weigert sich womöglich, mit mir zu sprechen. Oder er erinnert sich an nichts mehr. User34035872 hat vielleicht auch Schwierigkeiten, Präteritum und Präsens auseinanderzuhalten, sodass Paul womöglich verstorben ist.

Thomas stützt sein Kinn auf meiner Schulter ab. »Was hast du jetzt vor?«

Seine Stimme klingt jedoch, als wüsste er es, denn er kennt mich. Es ist nämlich das, was auch er tun würde. Wir sind annähernd identisch, bis auf seine irritierend schönen Augen und seinen Hang dazu, ein Mistkerl zu sein. Wir haben eine endlos impulsive Ader, Wettkampfgeist, der ans Selbstmörderische grenzt, und einen hingebungsvollen Alles-super-Optimismus, der uns überall durchlotst, wenn hastige Entscheidungen schiefgehen.

Ich tippe auf den Nutzernamen, wodurch ich auf ein leeres Profil stoße. Weder Posts noch Follower.

»Ziemlich suspekt«, murmelt Thomas.

Trotzdem rufe ich die Nachrichtenfunktion auf und habe zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl, einer Bestimmung zu folgen.

Dann schreibe ich eine Nachricht an Pauls angebliches Enkelkind.

~

Sadie rutscht auf den Sitz mir gegenüber und schiebt mir den Salat hin, den sie bestellt hat, während ich im Außenbereich des Restaurants einen Tisch für uns ergattert habe. Über uns steht eine blasse Sonne am prächtigen Frühlingshimmel.

Ich ziehe mit einem glücklichen Seufzer den Deckel vom Behälter. »Du bist ein Engel, Sadie Choi. Ich hab’s dir mit Venmo überwiesen.«

Dass ich sie liebevoll mit ihrem vollständigen Namen anspreche, bringt nicht die Ablenkung, die ich mir erhofft habe. Sie runzelt die Stirn. »Was habe ich dir über deine hinterlistige Venmo-Taktik gesagt? Hör auf, mir Sachen zurückzuzahlen, die ich selbst bezahlen will.«

Ich spieße ein Stück Salat und Hähnchen auf. Meine Wangen werden heiß. »Ich kann keinen Zwanzig-Dollar-Mitleidssalat auf dem Gewissen haben, okay?«

Obwohl sie eine weiße Sonnenbrille mit herzförmigem Rahmen trägt, weiß ich, dass ihre braunen Augen hinter den Gläsern mich sanft anblicken. »So was wie Mitleid gibt’s nicht zwischen besten Freundinnen. Ich freue mich immer, dir etwas Gutes tun zu können, und ich bin diejenige, die dich heute eingeladen hat. Zumal ich schon auf die guten Neuigkeiten von deinem Vorstellungsgespräch gespannt bin. Also, nur dass du’s weißt, ich werde deine Zahlung ablehnen.«

»Nur dass du’s weißt – das Vorstellungsgespräch ist geplatzt.« Ich grinse sie kess an, als hätte es meine Panik nie gegeben. Als ich in diesem muffigen Konferenzraum saß, zählte mir der Personalmanager Aufgaben auf, die langweilig genug gewesen wären, um meine Seele verschrumpeln zu lassen. Zum vierhundertsten Mal habe ich mich gefragt, warum, zum Teufel, ich einfach nicht dahinterkomme, wie man erfolgreich erwachsen ist.

Sadie schiebt sich eine Strähne ihres kinnlangen schwarzen Haars hinter das reich verzierte Ohr. »Ein Grund mehr, dich zu verwöhnen.«

»Wenn du mir etwas Gutes tun willst, gib mir gratis große Mengen Alkohol.«

Ihre Antwort darauf wird vom Ton meines Mobiltelefons unterbrochen. Ich schaue nach unten, hole scharf Luft, und Erwartung durchströmt meine Adern. Es ist die TikTok-Benachrichtigung darüber, dass ich eine Mitteilung erhalten habe.

»Vom Pausengong gerettet?«

»Buchstäblich.«

Nach einigen Tagen Hin und Her mit demjenigen, der sich tatsächlich als Pauls Enkel herausgestellt hat, hat jede Benachrichtigung einen Adrenalinstoß zur Folge. Zusätzlich zum Nachrichtenaustausch hat er mir einige Bilder von einem Mann zukommen lassen, der so aussieht wie der Paul auf Grams Fotos.

Gestern habe ich gefragt, ob Paul bereit sei, mit mir zu sprechen. Ich war nahe daran, mir in die Hose zu machen, und als ich nur Funkstille zur Antwort bekam, fragte ich mich, ob ich wohl allzu dreist war. Obwohl ich Pauls Enkel nicht gerade als schreibwütigen Brieffreund bezeichnen würde – seine Antworten sind kurz, frei von Persönlichkeit, sehr Bot-artig –, antwortet er doch immer zügig.

Bis jetzt. Sechsundzwanzig Stunden hat er meine Frage in der Luft hängen lassen. Ich habe regelrecht Angst, diese zu öffnen.

»Reiß dich zusammen, Noelle«, brumme ich, als Thomas zu uns tritt. Eine Plastiktüte baumelt von seinen Fingerspitzen. Er und Sadie haben beide Jobs in Downtown San Francisco, wobei Thomas zwei Tage die Woche von zu Hause aus arbeitet. Als ich noch in der Stadt gewohnt – und gearbeitet – habe, trafen wir uns oft zum Lunch und zu Happy Hours.

Thomas plumpst auf einen Sitz und wischt sich die Haare aus der Stirn. Es ist ein vergebliches Unterfangen, denn sie sind dick und im Moment fast so lang wie bei einem Surferboy, darum holt die Erdanziehungskraft sie immer wieder zurück. »Hey, Mädels. Dieser Lunch ist offiziell mein Höhepunkt des Tages, dank dir.« Er schenkt Sadie ein strahlendes Lächeln, wendet sich dann mir zu. »Und du bist auch hier.«

Ich verdrehe die Augen. Sadie gehörte technisch gesehen zuerst zu Thomas. Sie lernten sich am College kennen und haben sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Aber sobald Sadie und ich uns trafen, war klar, dass wir füreinander bestimmt waren. Thomas und ich haben die letzten fünf Jahre um Sadies ultimative Gunst konkurriert. Ich bin davon überzeugt, dass ich verlieren werde, aber das hindert mich nicht daran, es zu versuchen, und wenn auch nur, um meinen Bruder zu ärgern.

Nachdem sie sich hinübergelehnt hat, um sich von Thomas küssen zu lassen, wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. Sie schwingt die Gabel in Richtung meines Handys. »Öffne schon die Nachricht!«

Thomas raschelt mit seiner Plastiktüte herum und holt ein Sandwich und eine Chipstüte heraus. »Was für eine Nachricht?«

»Pauls Enkel hat ihr geantwortet.«

»Teddy?« Irgendwie ist sein Mund bereits voller Chips, und sie sprühen in einem ekelerregenden Schauer heraus.

Sadie hebt eine Augenbraue. »Teddy?«

Ich habe Sadie in die ganze Geschichte eingeweiht, einschließlich Updates in Echtzeit, aber seinen Namen habe ich erst gestern herausbekommen. Irgendwie hat es mich umgehauen, ihn zu erfahren, zu wissen, dass ich so viel näher daran bin, ein neues Geheimnis über Gram zu lüften.

Also bin ich wandern gegangen, so richtig. Das mache ich immer, wenn die Trauer sich um meinen Hals zu legen und mich zu ersticken droht. Ich nehme irgendeinen Weg, der mich am meisten an sie denken lässt – einen von denen, die wir zusammen mit viel Ehrfurcht abgelaufen sind –, und wandere mich bis an den Rand der Erschöpfung. Dann schreie ich es am Gipfel hinaus, sodass keine Gefahr besteht, dass Dad es mitbekommt. Ich konnte es schon bald nicht mehr aushalten zu sehen, wie seine Augen sich mit seiner eigenen Trauer und der Empathie für mich füllen. Stundenlange Wanderungen sind meine Flucht und die Rettung für meinen Geisteszustand.

Nachdem ich von meinem Neuneinhalb-Kilometer-Weg am Mt. Tam zurückkam, fiel ich ins Bett, ausgelaugt in zu vielerlei Hinsicht, um es aufzählen zu können, und vergaß darüber, Sadie auf den neuesten Stand zu bringen.

Aber es ist ihr wichtig, jedes Detail zu kennen. Sie war von Anfang an davon gefesselt, als ich ihr die Geschichte erzählte.

Thomas ergreift das Wort, bevor ich angemessen um Gnade betteln kann. »Vielleicht ist das sein Name, vielleicht aber auch Fake. Noelle hat einen Fakenamen angegeben.«

»Hab ich nicht.« Ich bereue schon, meinem Bruder überhaupt was erzählt zu haben. »Ich habe gesagt, dass ich Elle heiße. Der Name ist also halb echt.«

»Teddy heißen pausbäckige Babys und lustige alte Knacker«, sagt Thomas. »Wenn dieser Typ Pauls Enkel ist, muss er in unserem Alter sein. Er hat dir einen komplett gefakten Namen genannt.«

Sadie legt Thomas eine Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Nun mach sie auf.«

Als Thomas einen spöttischen Ton von sich gibt, sehe ich ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Dann öffne ich die App.

Meine Nachricht von gestern erscheint:

Es freut mich, dass Paul das Video angesehen hat und dass es ihm gefällt. Das bedeutet mir sehr viel. Du meinst also, er ist bereit, mit mir zu sprechen? Dann würde ich mich gern so bald wie möglich mit ihm unterhalten. Ich bin hier in der Bay Area. Wo wohnt ihr? Wir könnten telefonieren oder uns per Videochat austauschen oder was immer ihm lieber ist.

Und darunter steht nun Teddys Antwort:

Wir wohnen auch in der Bay. Mein Großvater möchte dich persönlich kennenlernen. Hättest du Lust/Zeit für ein Treffen in der Stadt?

Falls ja, sag gern Bescheid, welche Termine infrage kommen.

»Oh mein Gott!«

Dass ich es gerufen habe, merke ich erst, als sich alle Gäste an den Nachbartischen zu uns umdrehen.

»Was?«, ruft Sadie zurück.

»Sie wohnen hier. Ich meine, Paul wohnt hier, wen kümmert schon sein Enkel?« Ich lege mein Smartphone mit dem Display nach unten auf den Tisch. Ich bin überwältigt. »Er will sich mit mir treffen.«

»Das musst du machen.« Sadie beugt sich nach vorn. Neben Thomas’ Schwimmerschultern wirkt sie wie eine halbe Portion, aber die Aufregung treibt ihre eins fünfzig Körpergröße locker um acht Zentimeter in die Höhe.

»Das ist ein Mordkomplott«, sagt Thomas und klingt dabei gleichermaßen bestimmt wie gleichgültig.

»Im Gegenteil.« Sadie hält ihm einen Finger vors Gesicht. »Sie könnte die Liebe ihres Lebens treffen.«

»Paul?«

»Seinen Enkel.« Genervt lehnt sie sich zurück. »Alter, echt jetzt, hast du je bei einer der Rom-Coms, die wir gesehen haben, hingeschaut?«

Thomas sieht sie eindringlich an, schaut zu mir und wieder zurück. »Fragst du mich das jetzt ganz im Ernst?«

Sadie wird rot, und ich werfe meinem Bruder eine zusammengeknüllte Serviette an den Kopf. »Du Ekel. Also echt.«

Sie fangen an, sich liebevoll zu zanken, also wende ich meine Aufmerksamkeit ab.

Mein Magen zieht sich zusammen, als ich den Austausch noch einmal lese. Paul möchte mich treffen. Das ist genau, was ich beabsichtigt habe, auch wenn ich kaum zu hoffen wagte, dass es dazu kommt. Es ist so wie einmal Lotto zu spielen und gleich den Jackpot zu gewinnen, es kommt einem unmöglich vor, und doch spielt man, weil man weiß, dass die Chance besteht.

»Ich sage zu. Ich werde mich mit Paul treffen.«

Als keine Antwort kommt, sehe ich vom Handy auf. Sadie hat ihre eine schwer beringte Hand an den Mund gelegt, aber ihr entrücktes Lächeln kann man trotzdem sehen. Thomas fixiert mich kritisch.

Ich lasse meine Daumen über die Tastatur auf dem Display fliegen und schreibe:

Wie klein die Welt ist! Ich möchte Paul sehr gern treffen. Mögliche Termine:

Ich halte inne, kaue auf meiner Lippe. Ich kann eigentlich immer, aber das klingt erbärmlich, darum denke ich mir wahllos drei Zeiten aus.

Freitag 10:00, Samstag 14:00 oder Montag 10:00. Lass mich bitte wissen, wo wir uns am besten treffen können.

Die nächsten zwanzig Minuten habe ich ein Auge auf mein Handy. Sadie und Thomas führen ihre Unterhaltung weiter, verstummen aber, als wieder eine Nachricht eintrifft.

Freitag um 10 Uhr. Wir treffen uns beim Reveille Coffee auf der Columbus an einem Tisch im Außenbereich.

»Freitag ist es so weit.« Ich atme tief aus, und mein Herz rast. »Und es sieht so aus, als würde Teddy auch kommen.«

Sadie lässt sich auf ihrem Sitz nach hinten fallen. »Oh, ich wünschte, ich könnte mitkommen.«

»Ich würde mitkommen, wenn ich nicht arbeiten müsste.« Thomas ist sichtlich enttäuscht. Er reibt sich mit der Hand den stoppligen Unterkiefer. »Achte bloß darauf, dass du immer Leute um dich hast, okay?«

Ich salutiere stramm, schaue dann noch einmal auf Teddys Nachricht.

Erzähl mir ein Geheimnis, höre ich Gram flüstern, und mein Herz öffnet sich bei der Erinnerung ganz weit.

Ich zwinkere in den Himmel und frage mich, wo sie wohl ist.

Jemand wird mir eines von dir erzählen, Gram.

~

Die Woche zieht sich hin. Mom überredet mich, das Peloton auszuprobieren, und ich schaffe einen vollständigen Dreißig-Minuten-Kurs, verbringe aber die folgenden drei Stunden damit herauszufinden, ob ich ins Krankenhaus muss oder nicht.

Auch mache ich einen halbherzigen Anlauf, Jobs zu sichten. Die Arbeit, für die ich qualifiziert bin, lässt mich nicht gerade Feuer fangen, und einen Job, der mit Fotografie zu tun hat, würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Ich zahle hier zwar keine Miete, aber ich beteilige mich an den Haushaltskosten, und ohne ein Einkommen schwinden meine dürftigen Ersparnisse in Nullkommanichts. Mein Erbe von Gram liegt auf meinem Sparkonto, doch sie hat in ihrem Testament verfügt, dass ich es ausschließlich für etwas verwenden soll, das mich wirklich inspiriert. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es noch unberührt ist.

Außerdem unberührt: meine Kamera. Sie starrt mich von meiner Kommode aus elend an. Seit sechs Monaten habe ich sie nicht in die Hand genommen.

Ich muss etwas tun, aber meine Unentschlossenheit und Angst lähmen mich, und das beginnt an mir zu zehren.

Donnerstagabend kommt Thomas zum Dinner, und wir hängen noch am Tisch im Garten ab, als unsere Eltern längst reingegangen sind, und sprechen verschiedene Szenarien für den nächsten Tag durch. Als die Unterhaltung verebbt, erhebe ich mich stöhnend. Das kratzige Gefühl unter meinen Augenlidern erinnert mich daran, dass es längst Schlafenszeit ist.

»Hör mal«, sagt Thomas, »erhoff dir nicht zu viel davon, okay?«

Ich halte mitten in der Dehnung inne. »Was willst du mir damit sagen?«

»Ich weiß ja, dass du Gram vermisst«, sagt er mit sanftem Tonfall. Ihm selbst hat es das Herz gebrochen, als sie starb, aber seine Trauer ist anders als meine, das weiß er. »Nur … Erwarte von dieser Sache nicht, dass sie dich davon befreit.«

»Tue ich nicht.« Der defensive Tonfall verrät mich, aber er geht nicht darauf ein.

Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare und seufzt. »Sag mir morgen Bescheid, wie es gelaufen ist, okay? Ruf uns an.«

»Okay«, sage ich, obwohl mich seine scharfsinnige Beobachtung ärgert. »Nacht.«

Die Ernsthaftigkeit unserer Unterhaltung muss ihm ein Gräuel gewesen sein – jedenfalls starrt mich am Freitagmorgen Theos Bild aus der Forbes an, als ich aufwache. Die Zeitschrift ist unter mein Kissen geklemmt.

»Bah, widerlich«, sagt mein rationales Hirn. »Bin dabei«, widerspricht mein Hirnstamm.

Mit genau diesem irritierenden Gedanken ziehe ich mich an, schließe das stille Haus hinter mir ab und fahre in die Stadt. Der innere Monolog läuft so rasend schnell und so laut in mir ab, dass es sich anhört wie voll aufgedrehtes atmosphärisches Rauschen.

Erst als ich eingeparkt habe und die Columbus Avenue im Herzen von North Beach hinuntergehe, verstummt mein Geist. Es wirkt geradezu, als wäre der Ausschalter umgelegt worden, sobald das Reveille in Sicht ist und das schwarze Ziegelgebäude immer näher rückt, als läge es auf der Lauer.

Am besten sollte ich mir wohl erst mal einen Kaffee bestellen. Ich gebe mir eine Minute, um mich zusammenzureißen, aber meine Hände in den Taschen der Jeansjacke zittern dermaßen, dass Koffein mich jetzt in die Stratosphäre schießen würde. Vielleicht legt sich die erwartungsvolle Furcht ja, wenn ich Paul erst sehe.

Als ich am Café ankomme, frage ich mich, ob wohl Grams Hände auch gezittert haben, als sie Paul traf oder als sie merkte, dass sie in ihn verliebt war. Oder als sie ihm Lebewohl sagte. Ob sie jemals so große Vorfreude fühlte, dass es sie zu ersticken drohte?

Mein Geist springt so schnell von einem Gedanken zum anderen, während ich zum Außenbereich herumgehe, dass ich sie fast übersehe. Aber dort ist Paul. Er sitzt am hintersten Tisch, kein Zweifel. Weiße Haare, und seine altersfleckigen Hände umschließen einen Kaffeebecher. Sein Blick gleitet an der Person vorbei, mit der er sich über den Tisch hinweg unterhält – deren breiter Rücken und dunkelhaariger Kopf sind von mir abgewandt –, und schweift an meinem vorbei, schnellt dann wieder zurück. Seine Augen weiten sich.

Mein Herzschlag gerät ins Stocken und mit ihm meine Beine. Ich hebe die Hand, zaghaft, schockiert von seinem Schock, aber dann werde ich von dem Mann abgelenkt, der vor ihm sitzt.

Dessen Schultern über dem breiten Rücken straffen sich, und Pauls Enkel dreht sich auf seinem Platz um, indem er mit der Hand die Lehne des türkisfarbenen Metallstuhls umfasst.

Dann bleibt mir das Herz wirklich stehen, denn die vertrackte mittlere Doppelseite des Forbes-Magazins starrt mich an: Theo Spencer.

3. KAPITEL

»Soll das ein Witz sein?«

Wir sagen es gleichzeitig. Das muss auch ein Witz sein.

Theo steht auf, und ich registriere jedes Detail an ihm, bevor ich verarbeiten kann, wie ich mich fühle: die gut sitzende Levis mit Knopfleiste, dieser Mistkerl. Die welligen Haare, poetisch vom Wind verweht. Der ziemlich teuer aussehende marineblaue Pullover mit den hochgeschobenen Ärmeln. Er sieht so weich aus, dass ich mit der Wange darüberfahren möchte.

Nein, will ich nicht. Was, zum Teufel!

»Was machst du hier?«, fahre ich ihn an, als der erste Schreck wieder aus seinen Zügen gewichen ist.

Theo mustert meinen Körper eingehend, doch nicht auf eine sexy Art, sondern als hätte er Wagyū-Steak bestellt und stattdessen McDonald’s bekommen. Ich bereue, dass ich den kurzen Cordrock angezogen habe, aber vor allem die Doc Martens. Sie stammen noch aus der Highschoolzeit.

Prompt macht sein Blick einen U-Turn zurück zu meinen Füßen, der eine Mundwinkel biegt sich hoch, und ich weiß, dass er sich an die verdammten Boots erinnert.

»Du trägst ja immer noch diese klobigen Treter, hm, Shep?«

Diese Stimme. Ich hasse sie dermaßen. Sie ist wie Samt, den man in die falsche Richtung streicht. Sie hat eine Textur, die mir den Rücken hochkriecht, eine Tiefe, die meinen Nacken mit Gänsehaut überzieht. Ich weiß noch genau, wie ich beim Schulabschluss auf der Bühne saß und ihm Dolche in den Rücken starrte, während seine Stimme bei der Abschlussrede zu hören war anstelle meiner.

»Was machst du hier?«, wiederhole ich.

Eine Augenbraue hebt sich, so ernst wie üblich. »Ich denke, das ist offensichtlich, oder?«

Ich will nicht, dass es wahr ist, aber die Wahrheit starrt mich förmlich an, und das vollkommen unbeeindruckt: Pauls Enkel ist ausgerechnet mein Highschoolgegner, und die ganze letzte Woche haben wir uns miteinander ausgetauscht, ohne es zu merken.

Welche Macht hat ihn wieder in mein Leben zurückkatapultiert? Satan? Nein, das ergibt keinen Sinn – dieselbe Macht hat auch Paul in mein Leben gebracht.

Ich blicke zum Himmel. Was machst du bloß da oben, Gram?

Jemand räuspert sich, und Theo und ich wenden uns dem Geräusch zu. Paul stemmt sich am Tisch hoch in den Stand und lässt den Blick aus seinen tiefblauen Augen – ganz wie die von Theo – hin- und herwandern.

»Ich kann also davon ausgehen, dass ihr euch kennt?«, fragt er.

»Ja, leider.« Entsetzt halte ich die Hände hoch. Auch wenn es stimmt, habe ich gerade seinen Enkel beleidigt. »Entschuldigung, das habe ich nicht so gemeint.«

»Doch, hat sie«, sagt Theo.

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, und das wirkt so effektiv, als würden wir tatsächlich in der Zeit zurückgeschleudert. Wir haben uns ohne Ende getriezt – in der Klasse, auf dem Tennisplatz, wo wir beide in der Schulauswahl spielten, auf Partys. Durch einen unglücklichen Zufall mochten wir dieselben Leute, sodass unsere Wege sich andauernd kreuzten. Ihn mit Blicken zu töten, ist fast wie ein Reflex in mir verankert. So wie bei ihm das wiederkehrende Schmunzeln. Er hatte eine Vorliebe dafür, mich aufs Äußerste zu reizen.

Die Genugtuung gebe ich ihm aber nicht. Selbst wenn meine Lebensumstände eine andere Sprache sprechen – ich bin erwachsen und lasse es nicht an mich herankommen … trotz des Grübchens, das in seiner Wange auftaucht … und der Hitze, die das wiederum in meinen Wangen hervorruft.

»Das Lächeln habe ich lange nicht mehr an dir gesehen, Teddy«, sagt Paul und grinst exakt wie Theo, mit Grübchen und allem.

Daraufhin verliert Theos Gesicht jeglichen Ausdruck. »Ich hole uns noch einen Kaffee.« Er hebt das Kinn in meine Richtung. »Was möchtest du haben?«

»Nichts.« Koffein ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Oder gar Theo was zu schulden.

Er zuckt mit den Achseln und geht. Paul und ich schauen ihm nach und wenden uns dann einander zu.

»Tut mir leid, das eben. Wir haben, ähm, eine gewisse Vergangenheit.«

»Das habe ich gesehen«, sagt er, und es klingt amüsiert und nachdenklich.

Ich strecke ihm die Hand hin, ganz ruhig jetzt. »Ich bin Noelle, Kathleens Enkelin.«

Er umfasst meine Hand mit seiner. Seine Haut fühlt sich dünn an, aber er hat einen festen Griff. »Oh, ich weiß, Schätzchen. Sie sehen genauso aus wie sie.«

Meine Kehle zieht sich zusammen. »Danke.«

»Es tat mir so leid zu hören, dass sie gestorben ist.«

Er klingt unsicher bei den letzten Worten, als gehörten sie zu einer Sprache, die er nicht beherrscht. Auch bei mir fühlen sie sich immer noch fremd auf den Lippen an, und so ist bereits eine Verbindung zwischen uns entstanden. Ein hauchzarter Faden von seinem Herzen zu meinem.

Er hält mir ein Taschentuch hin, bevor mir bewusst wird, dass ich Tränen in den Augen habe. Ich nehme es, drücke es mir ans Gesicht. Das Taschentuch ist alt und riecht nach Weichspüler. Irgendwie ist es, als hätte man mir in den Magen geboxt. Ich vermisse Gram so sehr, dass mir die Luft wegbleibt.

Mit sanfter Hand geleitet Paul mich zum Stuhl, und ich lasse mich nicht gerade elegant darauf fallen.

Dann patsche ich mir auf die Wangen und ziehe mir die Segeltuchtasche auf den Schoß. »Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll.«

Paul fährt sich mit einer Hand über sein kariertes Anzughemd. Am Ringfinger trägt er einen goldenen Ring. Anscheinend hat auch er sein Glück gefunden.

»Was möchten Sie wissen?«

Ich atme heftig aus. »Alles.«

Er reibt mit einer Hand über seine Wange, taxiert mich. »Das ist recht viel verlangt, Noelle.«

»Wirklich? Ich weiß ja von nichts. Ich weiß nicht mal, wie lange Sie beide überhaupt zusammen waren. Oder wie Sie sich kennengelernt haben. Oder wo Sie sich kennengelernt haben.«

Ich greife in meine Tasche, hole die Fotos heraus, die Gram verwahrt hat, und den Brief. Als ich ihn zu ihm hinüberschiebe, presst er die Handfläche darauf. Als er den Brief aufhebt und vorsichtig auseinanderfaltet, kann ich regelrecht zusehen, wie es ihn in die Zeit zurückversetzt.

Er schaut mich an und hebt die Brauen. »Sie hat das hier aufbewahrt?«

»Ja, ich habe den Brief in einem versiegelten Umschlag gefunden, zusammen mit den Fotos.«

»Haben Sie noch andere Briefe gefunden?«

Ich schüttele den Kopf, beuge mich dann etwas vor, als er den Brief wieder ablegt. »Gab es denn noch welche?«

Er seufzt, schaut auf ein Foto hinab, das er in die Hand genommen hat. »Oh ja. Wir haben einander so gern geschrieben, in der Zeit, als wir noch zusammen waren. Ich habe ihr einige Briefe geschickt, als sie wieder nach Hause zurückgekehrt war, aber es wundert mich nicht, dass sie sie nicht aufgehoben hat. Umso mehr erstaunt es mich, dass sie diesen noch hatte.«

»Nach Hause zurückgekehrt?«

Er schnipst mir ein anderes Foto zu und gluckst. Darauf hocken sie auf einer Steinmauer. Gram lehnt sich nach hinten an ihn, lächelt breit und blickt dabei schüchtern zu Boden. »Wir haben uns im College kennengelernt. Das Foto wurde da aufgenommen, an der UCLA

Ich ziehe die Stirn kraus. »Meine Großmutter war nicht auf der UCLA. Sie ging erst zum College, als ihre Kinder größer waren.«

Die Traurigkeit von eben kehrt in Pauls Gesicht zurück. »Doch, war sie, aber sie hat es nicht beendet.«

Ich lehne mich zurück und lasse das sacken, während Paul weiter durch die Fotos blättert. Wieder ein gelüftetes Geheimnis, ein kleines Stückchen von einem Puzzle, das größer ist, als ich erwartet hatte.

Eine Flasche Mineralwasser von einer coolen Marke wird ohne große Umschweife auf den Tisch gestellt, und mein Gedankenfluss wird unterbrochen. Ich blinzele hinab, wende mich an Theo, der auf seinen Platz gleitet. Sein jeansumhülltes Bein rammt mein nacktes, dann korrigiert er seine Position, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen.

»Was ist das?«

Verschwörerisch beugt er sich näher zu mir. Er riecht so gut, dass ich schreien könnte, nach Feuerholz und einem Hauch von Süße. »Sag mir bitte, dass ich dir nicht erklären muss, was Wasser ist, Shepard.«

Ich wende den Blick zu Paul, der uns mit heiterer Miene betrachtet, presse die Lippen zusammen und halte die vierzehn ungehobelten Erwiderungen zurück, die nur darauf warten, aus meinem Mund geschleudert zu werden.

»Danke«, schaffe ich schließlich zu sagen. »Lass es mich zurückzahlen.«

»Ich werd’s überleben«, entgegnet Theo, und es zuckt um seinen Mund.

Stimmt. Er ist der CFO von Where To Next, also »Wohin als Nächstes«, einer Reise-App, die einem alle möglichen Pakete von à la carte bis Full Service zusammenstellt. Flüge, Übernachtungsmöglichkeiten, Abenteuer, was immer man will. Ja, ich habe diese App auch schon verwendet, um eines der krassen Nebensaisonangebote zu buchen. Einmal haben Sadie, Thomas und ich in einer gigantischen Hütte in Tahoe praktisch gratis Urlaub gemacht. Theo ist auch Mitgründer. Er und zwei seiner Collegefreunde haben damit angefangen. Folglich muss er auf einem Haufen Geld sitzen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, ihn auf LinkedIn zu suchen – wobei mir nicht bewusst war, dass er meinen Besuch auf seinem Profil sehen konnte – und eine ganze Reihe überschwänglicher Artikel durchzulesen, in denen er getaggt war. Ich kann mich noch gut an die PM erinnern, die er mir am nächsten Tag schickte:

Suchst du was Bestimmtes, oder wolltest du mich einfach nur stalken?

Es hat mir einiges abverlangt, mein Profil nicht gleich zu löschen. Dass ich seitdem bei jeder Erwähnung von ihm in den Medien eine Benachrichtigung bekomme, wird mich wohl bis ins Grab begleiten.

Ich hole einen Fünfer aus der Tasche und schiebe ihn zu ihm rüber. Dann befördere ich die Flasche zur Seite und widme mich wieder Paul. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie auf die UCLA ging. Sie haben sie also nicht in Glenlake getroffen?«

Er schüttelt den Kopf und betrachtet die ausgebreiteten Erinnerungen auf dem Tisch. »Wir hatten Kunstgeschichte im zweiten Jahr, und sie hat mich von Anfang an gehasst. Sie meinte, ich sei ein eingebildetes Arschloch. War ich auch.« Er zwinkert mir zu, und ich grinse entzückt. »Ich habe erst mal auch nicht viel von ihr gehalten, obwohl sie das schönste Mädchen war, das ich je gesehen hatte. Blitzgescheit und keine Angst, das auch zu zeigen. Ich fühlte mich von ihr eingeschüchtert, darum habe ich sie ganz schön gepiesackt.«

»Gepiesackt?«

»Hab versucht, sie zu provozieren«, sagt Paul und grinst. »Das mochte sie nicht so.«

Bei der Vorstellung muss ich lachen. »Sie war ziemlich streitlustig.«

»Kommt mir bekannt vor«, kommentiert Theo in seinen Cappuccino hinein.

Ich drehe mich und hebe unbeeindruckt eine Braue. »Ist ›streitlustig‹ der Begriff, mit dem du mich beschreiben würdest?«

Er blinzelt unschuldig, und ich werde augenblicklich von seinen langen, geschwungenen Wimpern abgelenkt und von der winzigen Sommersprosse unter seiner linken Augenbraue. »Vielleicht eher angriffslustig.«

Mit einem ungeduldigen Schnauben wende ich mich wieder Paul zu. »Entschuldigung, erzählen Sie doch bitte weiter.«

»Wir hatten also einen holprigen Start, bis eine ihrer besten Freundinnen anfing, sich mit jemandem aus meiner Studentenverbindung zu treffen. Als wir uns dann nicht aus dem Weg gehen konnten, entdeckten wir, dass wir beide aus der Bay Area stammten. Ich bin hier in der Stadt aufgewachsen.« Er streicht mit dem Finger leicht über ein Foto. »Das war ein simpler Ansatz, aber auf diesem Weg haben wir eine Freundschaft geschlossen, die sich sehr schnell vertiefte. Es dauerte nicht lange, und wir gingen miteinander aus.«

Seine Haare bewegen sich in der Brise, und ich sehe, wie faltig und gefleckt seine Hände sind, als er mir ein weiteres Foto hinschiebt. Trotz dieser deutlichen Zeichen seines Alters wirkt er stark und mindestens zehn Jahre jünger, als er ist.

Gram sah auch stark aus. Sie war stark, ist wie besessen Auto gefahren, bis einen Tag vor ihrem Tod, als wir noch zum Wandern im Tennessee Valley waren. Sie spielte regelmäßig mit mir Tennis und machte mir auch ordentlich Dampf unterm Hintern, dabei habe ich selbst nach der Highschool nie aufgehört zu spielen.

Dennoch ist sie drei Tage vor Thanksgiving im Schlaf gestorben. Sie hatte die Zutaten für ihren berühmten Pumpkin Pie auf der Küchentheke aufgestellt. Sie war nicht bereit für ihren Tod. Und ich auch nicht.

Eifersucht durchzuckt mich wie ein elektrischer Schlag. Wie Gift. Ich beneide Theo dafür, dass er mit seinem Großvater Kaffee trinken kann, während ich meine Gram nie wiedersehen werde. Am liebsten würde ich Pauls Hand packen und ihn als Geisel nehmen, bis er mir jedes Detail ihrer Geschichte erzählt hat. Jede Anekdote über sie – ihre Quirligkeit, die Art, wie sie in die Hände klatschte, wenn etwas sie richtig begeisterte. Ihr lautes, übermütiges Lachen, von dem einem die Ohren klingelten, wenn es sie in einem kleinen Raum überkam. Die anderen Dinge, von denen ich anscheinend keine Ahnung habe.

Ich will seine Erinnerungen mit beiden Händen greifen, so als würde ich ein Handtuch auswringen, um alles in einem Aufwasch herauszubekommen.

»Was ist geschehen?«, frage ich. Ich kann nicht anders. »Ich meine, die Bilder, dieser Brief … Sie haben einander wirklich geliebt. Warum haben Sie sich getrennt? Sie sagen, sie hätte die Schule verlassen. Warum?«

Paul senkt den Kopf und durchbohrt mich mit einem ernsten, aber gleichzeitig gütigen Blick. »Sie sind so ungeduldig, dass Sie alles auf einmal erfahren möchten.«

»Nein, nein, so ist das nicht«, beschwichtige ich, als hinge mein Leben davon ab. Er soll nicht aufhören zu erzählen, nur weil ich ihn allzu sehr gedrängt habe.

Erst als Theo mit einem Finger gegen mein Knie drückt, merke ich, dass mein Bein federt. »Hey, du vibrierst.«

Ich schubse seine Hand weg, reibe über die Haut, wo er sie berührt hat, bedecke die Stelle dann mit meiner Handfläche, damit er die Gänsehaut nicht sieht.

»Ich würde Ihnen die Geschichte gern erzählen, Noelle, aber das lässt sich nicht an einem einzigen Tag machen«, sagt Paul.

»Granddad …«, beginnt Theo und richtet sich auf seinem Sitz auf.

Paul schaut kurz zu ihm, dann wieder zu mir. Der Hauch eines Lächelns erscheint auf seinen Lippen, fast unbemerkt. »Sie möchten alles wissen, und ich werde jede Ihrer Fragen beantworten, aber dafür möchte ich Sie um etwas mehr von Ihrer Zeit bitten.«

»Ja, natürlich. Wenn ich irgendetwas habe, dann Zeit.« Ach, verdammt! Das klingt nicht gerade nach einer erfolgreichen Person. »Ich meine, ich werde Zeit dafür finden. Sagen Sie mir nur, wann und wo.«

»Wenn ich nach Hause komme, schaue ich in meinem Terminkalender nach«, antwortet Paul. »Ich habe für nächste Woche einiges geplant und möchte nicht, dass unsere Verabredung versehentlich mit einem anderen Termin kollidiert.«

»Nicht dass du einen Pokernachmittag mit deinen Verbindungskameraden versäumst«, murmelt Theo, aber seine Stimme hat etwas Herzliches, wodurch sie sich weicher anfühlt.

»Sie werden allzu bald alle tot sein, also muss ich Zeit mit ihnen verbringen, so lange ich es noch kann«, gibt Paul munter zurück. Dann wendet er sich an mich. »Tauschen wir doch unsere Nummern aus, damit wir uns absprechen können.«

»Das ist eine gute Idee.« Ich gebe die Nummer, die Paul herunterrasselt, ins Handy ein und rufe sie an, damit er auch meine hat.

Theo lehnt sich nach vorn,...

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