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Bis ans Ende aller Fragen

Wenn der Weg das Ziel ist – ist die Richtung dann egal?

Meistens kommt es anders, als man denkt. Mit Anfang vierzig wird Maxi klar, wie viel Wahrheit in diesem Sprichwort steckt. Denn ihr Leben ist von dem, was sie sich als Teenager erträumt hat, Lichtjahre entfernt. Statt steiler Karriere ein Job im Café, statt großer Liebe nur verkorkste Typen, die Hoffnung auf Kinder ist längst begraben. Aus der Traum vom Familienglück? Auf keinen Fall! findet Maxis Nichte. Ihre skurrile Idee: Ein Witwer mit Anhang wäre perfekt! Süße Kinder, keine nervige Ex. Wo Maxi den findet? In einer Trauergruppe! Klar, dass sie dort behaupten muss, ihr Mann sei verstorben. Und ebenfalls klar, dass das Kribbeln im Bauch, das sie bei gleich zwei »Leidensgenossen« verspürt, in Wahrheit das Donnergrollen der nahenden Katastrophe ist …

»Das Schwestern-Duo Anne Hertz liefert mit seinem siebten Frauenroman wieder allerfeinsten Lesespaß. [...] Ein echter Hertz-Roman, der die romantischen Seiten starker Frauen auch mal auf die Schippe nimmt, urkomisch und lebensweise.«
Petra über Wunschkonzert

»Es gibt liebenswerte Figuren, gelungene Milieuschilderungen, sogar alltagstaugliche Lebensweisheiten.«
Westdeutsche Allgemeine Zeitung über Flitterwochen


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951222
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Für Luzie, Eric & Rebecca

… für dieses seltsame Jahr,

das wir gemeinsam bewältigt haben!

Motto

Es ist nie zu spät, das zu werden,
was man hätte sein können.

(George Eliot, 18191880)

Prolog

12. Oktober 1991

Liebes Tagebuch!

Heute ist ein ganz besonderer Tag, denn ab heute werde ich dir all meine Geheimnisse anvertrauen. Du musst wissen, dass ich mir das schon mindestens tausendmal vorgenommen habe, aber irgendwie wusste ich dann nie, wie ich beginnen soll. Mir ist einfach nicht klar gewesen, wie ich so ein Tagebuch am besten führe. Wen genau ich anspreche und was es überhaupt wert ist, von mir aufgeschrieben zu werden.

Doch gestern Abend hatte ich dann so was wie einen Geistesblitz: Ich tue einfach so, als wärst du meine beste Freundin, und erzähle dir alles, was ich eben auch einer besten Freundin anvertrauen würde! Und sogar noch ein bisschen mehr.

Bei Lisa und mir ist das nämlich so, dass ich sie irre gernhabe und wir wirklich die besten Freundinnen sind. Doch neulich habe ich ihr das mit Rafi gestanden. Dass ich ihn toootal süß finde und so. Und was macht Lisa, sie sagt es Caroline, Britta und sogar der blöden Stinkbratze Diana. Seitdem kichern die jedes Mal voll peinlich herum, sobald Rafi in der Nähe ist, und stoßen mir richtig auffällig ihre Ellbogen in die Seite oder grinsen mich dämlich an.

Boah, wie mich das nervt!!!

So lieb, wie ich Lisa habe, doch zukünftig werde ich ihr bestimmt nicht mehr alles erzählen. Muss ich aber auch gar nicht, denn jetzt habe ich dich, liebes Tagebuch. Und du, da bin ich mir ganz-ganz-ganz sicher, wirst bestimmt nicht meine Geheimnisse ausplaudern. Und weil das so ist, kann ich dir auch schon anvertrauen, wie mein Leben mit Rafi später sein wird. Ich habe nämlich heute während der gesamten, ansonsten stinklangweiligen Mathe-Doppelstunde davon geträumt. Und deswegen einen tierischen Anschiss vom blöden Herrn Faber bekommen, denn ich hatte nicht gehört, dass ich an die Tafel sollte … Egal, jedenfalls leben Rafi und ich später in einer Villa in Hamburg. Richtig schön und mit riesigem Garten, in dem sogar Platz für mein eigenes Pferd ist. Außerdem haben wir eine Segeljacht und verreisen viel, für die Kinder kommt immer eine Nanny mit. Urlaub machen wir in der Karibik oder in Südafrika, im Winter geht’s zum Skifahren in die Berge.

Wir lieben uns wie verrückt und sind die glücklichsten Menschen des Universums!

Das war es jetzt auch schon fürs Erste.

Bis ganz bald. Es drückt dich fest,

deine Maxi

PS: Wie stelle ich es nur an, dass Rafi mich bemerkt?

Kapitel 1

»Darf ich Sie vielleicht kurz stören?«

Erschrocken zucke ich zusammen, klappe mein Notebook zu und schiebe es auf dem Tresen meines Cafés mit einem so hektischen Stoß zur Seite, dass es fast herunterfällt. In der letzten Sekunde kann ich es am Kabel festhalten und vor dem sicheren Absturz retten. Während ich mich in die Richtung umdrehe, aus der die Stimme gekommen ist, sage ich automatisch: »Entschuldigung …«

Vor mir steht ein Mann und das Erste, was ich absurderweise denke, ist: O mein Gott, hat der schöne Augen. Im nächsten Moment komme ich mir deshalb ziemlich albern und insbesondere extrem unprofessionell vor. Jetzt reiß dich mal zusammen, Maxi! weise ich mich selbst zurecht. »Wie bitte?«, bringe ich ziemlich krächzend heraus. Dann räuspere ich mich geräuschvoll und hoffe, dass der Frosch in meinem Hals davonhüpft.

»Ob das in Ordnung für Sie ist, habe ich gefragt«, wiederholt der Mann.

»Entschuldigen Sie bitte, ich fürchte, ich war mit meinem Kopf gerade woanders und habe nicht richtig zugehört«, gestehe ich und trete einen kleinen Schritt zurück. Dabei vergesse ich allerdings, dass ich auf dem Vorsprung stehe, der unten einmal rings um die Theke verläuft und eigentlich dazu gedacht ist, dass man dort gemütlich seine Füße abstellen kann, wenn man auf einem der Barhocker davor sitzt. Kurz gerate ich ins Wanken, kann mich aber mit einem weiteren Griff nach dem Ladekabel des Notebooks abfangen und das Gleichgewicht halten. Glaube ich jedenfalls, bis ich nur eine Sekunde später mein Rettungsseil in Händen halte, da es sich aus der Anschlussbuchse des Laptops gelöst hat. Mit einem erschrockenen Aufschrei taumele ich ungebremst nach hinten.

»Hoppla!« Im letzten Moment bekommt der Mann mich am Arm zu packen, und verhindert damit, dass ich im freien Fall auf dem geölten Holzparkett aufschlage.

»Danke schön«, murmele ich, während er mich wieder loslässt. Die Lider gesenkt, streiche ich mir über den Oberarm, an dem ich noch immer den Druck seiner Finger spüren kann. Es tut etwas weh, aber wesentlich schmerzhafter ist der Gedanke, was für einen konfusen Eindruck ich gerade gemacht haben muss. Peinlich!

»Gern geschehen.« Seine tiefe Stimme klingt unbewegt, nicht ein Hauch von Fröhlichkeit oder Belustigung schwingt in ihr mit, dabei war mein Beinahe-Abgang mit Sicherheit nicht nur blamabel, sondern gleichzeitig auch ziemlich komisch. Über besonders viel Humor scheint der Gute wohl nicht gerade zu verfügen.

»Äh, also … ich …«, stottere ich, unterbreche mich dann mit einem zweiten Räuspern und betrachte mutig, wenn auch wahrscheinlich mit hochrotem Kopf, das Gesamterscheinungsbild meines Helfers.

Der Mann ist schlank, groß und trägt einen grau gemusterten Kaschmirschal zum schwarzen Anzug. Er wird zwischen Mitte und Ende vierzig sein, seine dunklen Haare sind zwar noch voll und dicht – und vor allem sehr akkurat geschnitten, was einen starken Kontrast zu den Bartstoppeln an seinem Kinn bildet –, aber die Schläfen sind schon ergraut. Auf der Stirn und in den Augenwinkeln entdecke ich die gleichen feinen Fältchen, die auch mir bei jedem Blick in den Spiegel beweisen, dass der erste Lack unwiderruflich ab ist. Wobei solche »Lebenslinien« bekanntermaßen nur bei Frauen ein Zeichen vom Älterwerden sind – Männer machen sie interessanter. Und interessant, ja, das ist mein Retter durchaus.

Und dennoch entspricht er so gar nicht dem klassischen »Coffee & Cream«-Gast. Durch die erdigen Farbtöne und die lichten Nuancen herrschen hier drinnen ländliche Naturverbundenheit und gelassene Gemütlichkeit vor. Wer der Hektik und dem Lärm der Großstadt für einen Augenblick entfliehen will, kann bei mir behagliche Landhaus-Atmosphäre genießen und schätzt das in der Regel auch sehr. Nur danach sieht mir der Mann in seinem schwarzen, eleganten Anzug und dem ausgesprochen ernsten Gesichtsausdruck beim besten Willen nicht aus. »Tut mir leid«, erkläre ich und versuche mich an einem schiefen Grinsen. »Sie müssen wohl noch einmal ganz von vorn anfangen.«

»Ich bin Gregor Blomberg«, stellt er sich vor, streckt mir dabei allerdings nicht seine rechte Hand entgegen, sondern lässt sie in der Tasche seines Mantels verschwinden, als wolle er ganz sichergehen, dass ich mich ihrer nicht gewaltsam bemächtige.

»Herr Blomberg?«, rufe ich aus. Dabei klinge ich so überrascht, als stünde niemand Geringeres als der Heilige Geist vor mir. Nun, eine Art Erscheinung ist dieser Mann in der Tat, und er bringt mich komplett aus dem Konzept, weil ich mit jemand vollkommen anderem gerechnet hatte und vor allem nicht schon jetzt.

Gregor Blomberg, der vor einigen Tagen bei meiner Nichte Summer – Summer wie Sommer und nicht wie der Türsummer – das Coffee & Cream für eine Trauerfeier gebucht hat, ist kein tattriger Greis. Er ist auch nicht der gebeugte Witwer, von dem ich ausgegangen war, als Summer mir erzählt hatte, es handele sich um einen Mann, der nach der Bestattung seiner Frau mit etwa sechzig Personen kommen wird.

Nein, das alles ist Gregor Blomberg wahrhaftig nicht. Ganz im Gegenteil, er ist ein attraktiver Mann im sogenannten besten Alter, der seine Frau betrauert, die höchstwahrscheinlich aus der Mitte ihres Lebens gerissen wurde.

»Tut mir leid«, stottere ich meine dritte Entschuldigung innerhalb von fünf Minuten. »Mein herzliches Beileid!«, schiebe ich schnell hinterher.

»Danke«, sagt er und verzieht dabei keine Miene, sein Gesichtsausdruck ist nach wie vor traurig und ernst. Was ich nun natürlich verstehen kann. Er schluckt einmal kurz, dann spricht er in sachlichem Ton weiter: »Ich hatte ab fünf …«

»Ich weiß«, unterbreche ich ihn dienstbeflissen. »Circa sechzig Personen ab fünf Uhr.« Während ich das sage, hole ich den Kellnerblock hervor, der hinterm Bund meiner langen Schürze klemmt, und halte ihn mir dicht vors Gesicht. Da steht allerdings rein gar nichts, den Kalender mit Reservierungen verwalte ich in meinem Notebook, das gerade beinahe zu Bruch gegangen wäre. Aber ich hoffe, mit dieser Geste einen professionellen und geschäftigen Eindruck zu vermitteln. Quasi absolut im Bilde. Wenn Gregor Blomberg nicht merkt, dass ich nur ein leeres Blatt Papier anstarre, könnte das vielleicht sogar klappen. »Sie sind allerdings um einiges zu …«

»Fünfzehn«, unterbricht er mich, ehe ich »zu früh dran« sagen kann.

»Wa…« Ich korrigiere mich schnell. »Wie bitte?«

»Fünfzehn Uhr«, erwidert er. »Ich habe ab fünfzehn Uhr reserviert.« Er nimmt seine rechte Hand aus ihrem sicheren Versteck, schiebt den Ärmel seines Mantels nach oben und wirft einen Blick auf die Armbanduhr, die an seinem Handgelenk zum Vorschein kommt. »Und das ist genau jetzt.«

»Fünfzehn Uhr?«, hake ich irritiert nach, woraufhin er nickt. »Hier steht aber fünf Uhr!«, behaupte ich, runzele demonstrativ die Stirn und tippe mit dem Zeigefinger auf meinen leeren Block.

»Dann ist das falsch«, gibt er trocken zurück. »Und Sie können ganz sicher davon ausgehen, dass ich mich da nicht vertue.«

»Nein, äh, natürlich nicht!« Augenblicklich bricht mir der kalte Schweiß aus, weil ich in der nächsten Sekunde eine Katastrophe befürchte. Wenn Gregor Blomberg einen Blick auf meine »Notizen« erhascht und feststellt, dass ich nur weiße Blätter in der Hand halte, werde ich vor Scham im Boden versinken. Dabei ist die Situation bereits peinlich genug. Fünfzehn Uhr, nicht fünf, ganze zwei Stunden früher! Und ich habe noch seelenruhig an meinem Laptop gesessen und mich durchs Netz geklickt, statt mich auf die große und wichtige Gesellschaft vorzubereiten, die jeden Moment ins Café einfallen wird!

Wenn ich Summer in die Finger kriege, bringe ich sie um! Schließlich hat sie die Reservierung angenommen und die Sache somit versemmelt. Was natürlich mal passieren kann. Jedenfalls bei anderen kann es vorkommen, ich selbst habe eher zwanghafte Züge und gelte in meinem Umfeld als pathologisch pünktlich. Nie im Leben hätte ich die Uhrzeiten verwechselt, schon gar nicht bei einer Trauerfeier. So eine Reservierung hätte ich doppelt und dreifach gecheckt, damit auf gar keinen Fall etwas schiefgeht.

Natürlich werde ich Gregor Blomberg nicht verraten, wie dieses Debakel geschehen konnte und wer die Schuld daran trägt. Weil ich ihn zum einen in seiner tragischen Situation bestimmt nicht mit unseren internen Kommunikationsproblemen belästigen will und es zum anderen als meine Verantwortung betrachte, mich voll und ganz hinter mein Team zu stellen. Auch, wenn dieses »Team« mit meiner Nichte fast nur aus einer einzigen Mitarbeiterin besteht. Summer, die die älteste Tochter meines Bruders Joachim und seiner Frau Anne ist, arbeitet als studentische Aushilfe bei mir, was mir allerdings meine Schwester Claudia gern mal vorwirft, weil ich ihrer Meinung nach Summer meinen anderen drei Nichten und Neffen vorziehen würde. Neben Summer gibt es lediglich noch Emil, unseren zweiundsiebzigjährigen Koch und ehemaligen Besitzers meines Cafés. Eine Seele von Mann und ein absoluter Star an Topf und Herd, nur bedauerlicherweise nicht mehr der Allerflinkste, seitdem ihm seine Bandscheibe ordentlich zu schaffen macht.

»Und was tun wir jetzt?«, beendet Gregor Blomberg meinen gedanklichen Exkurs.

»Das ist überhaupt kein Problem«, erwidere ich und gebe mir Mühe, dabei so selbstsicher und gelassen wie möglich zu klingen. »Wir sind längst startklar.« Was eine etwas gewagte Behauptung ist. Zwar sind sämtliche Tische eingedeckt, und vorn auf dem Tresen steht der große geflochtene Weidenkorb, in den ich heute Mittag die frischen Brötchen und Brezeln gefüllt habe, die Summer auf dem Weg hierher vom Bäcker abgeholt hat. Aber weder habe ich die Suppentassen für die Selbstbedienung danebengestapelt, noch die Chafing-Dishes zum Warmhalten der von Gregor Blomberg bestellten Suppen aus der Küche geholt und eingeschaltet. Allerdings weiß ich nicht, ob die Gulaschsuppe und Minestrone überhaupt schon fertig sind. Keine einzige Kanne Kaffee oder Tee ist gekocht, keine Karaffe mit Wasser oder Saft befüllt – einzig den ebenfalls georderten Kuchen (Kirschstreusel, gedeckter Apfel, Bienenstich) hat Emil bereits gestern Abend gebacken. Jedoch müssen die Teilchen noch auf mehreren Tabletts angeordnet und auf den Tischen verteilt werden.

Alles in allem noch ein Arbeitsaufwand von etwa zwanzig Minuten für mich allein, wenn Summer und Emil mithelfen, ist es in zehn zu schaffen – aber ich habe leider nicht die geringste Ahnung, ob die zwei überhaupt hier sind oder sich gerade irgendwo draußen in Eppendorf rumtreiben, nachdem ich ihnen vorhin gesagt hatte, wir würden um halb fünf die restlichen Vorbereitungen erledigen. In Eppendorf kann man sich nämlich ganz hervorragend rumtreiben, es ist mit seinen Gründerzeitaltbauten, den vielen hübschen Cafés, Geschäften und den kleinen Parks einer der schönsten Stadtteile Hamburgs – so schön, dass ich sogar darüber hinwegsehen kann, dass Schick und Mick hier ihren ständigen Wohnsitz haben. Immerhin sind die beiden bereit, für ein Stück Streuselkuchen schon mal einen Euro mehr herauszurücken als der Rest der Bevölkerung. Für mich als Cafébetreiberin keine ganz unwesentliche Eigenschaft. Ich hoffe also mal, dass Summer und Emil schon an Bord sind. Sicher bin ich mir nicht, denn ich war so darin vertieft, nach Einträgen über Fitness-Bootcamp-Kurse im Netz zu suchen, weil meine Freundin Tina mich doch unbedingt zu einem solchen mit hinschleppen will, dass ich keinen Schimmer habe, ob sie hinten in der Küche stecken. Doch wie auch immer es ist, ändern lässt es sich jetzt sowieso nicht mehr, also lächele ich Gregor Blomberg weiterhin selbstsicher an. Und falls hier in einer Minute sechzig Leute stehen, die alle sofort einen Kaffee, ein Stück Kuchen und eine Schüssel Suppe haben möchten, biete ich ihnen zur Überbrückung einfach ein paar Schnäpse an.

»Sehr gut«, meint Gregor Blomberg. »Ich hatte gerade schon kurz die Sorge, meine Gäste müssten noch zwei Stunden draußen warten.«

Ich lache künstlich und verkrampft auf. »Nein, selbstverständlich nicht!«

Sollte das ein Witz sein? Er sieht nicht so aus, als hätte er einen machen wollen. Außerdem wäre es auch ein Wunder, wenn er zum Scherzen aufgelegt wäre.

»Und das mit den weiteren Personen geht auch in Ordnung?«, will er wissen.

»Welche Personen?«

Für den Bruchteil einer Sekunde huscht nun doch etwas über sein Gesicht, das ich fast für ein Lächeln halten könnte. »Ich vergaß, Sie waren ja eben mit Ihrem Kopf woanders und haben mir nicht zugehört.« Das Lächeln verschwindet so schnell, wie es gekommen ist, und er wirkt wieder so betrübt wie anfangs. »Also, was ich Sie eben gefragt habe, war, ob es in Ordnung ist, wenn wir etwa zehn Leute mehr sind. Es sind spontan noch ein paar dazugekommen, und ich wusste nicht, ob …«

»Oh, äh, ja, natürlich«, falle ich ihm im vorauseilenden Gehorsam ins Wort. »Wir haben noch weitere Tische und Stühle im Lager, das kriegen wir hin!« Dass das Café schon mit sechzig Gästen so proppenvoll ist, dass jeder Brandschutzbeauftragte Schnappatmung bekommen würde, behalte ich für mich. Ich will dem armen Witwer nicht noch mehr Kummer bereiten, als er eh schon hat. Und zehn Leute mehr sind außerdem gut fürs Geschäft. Sofort schäme ich mich für meinen zweiten Gedanken. Ein so furchtbarer Anlass – und ich denke ans Geld! »Ich hole gleich noch ein paar Tische und Stühle.«

»Gut, dann gehe ich mal zu meiner Schwester, die sich gerade noch um die Kinder kümmert«, erklärt er und wirkt dennoch unschlüssig. Nun ist es an ihm, sich lautstark zu räuspern, dabei hat seine Stimme im Gegensatz zu meiner nicht im Geringsten gekrächzt. Er fährt sich mit einer Hand durch die grau melierten Haare, wirft erneut einen Blick auf seine Armbanduhr und sieht dann wieder mich an. »Gut, Frau …«

»Sievers«, beantworte ich seine unausgesprochene Frage.

»Ja, richtig, Frau Sievers.«

»Wieso richtig?«, rutscht es mir heraus, ehe ich es verhindern kann.

»Wie meinen Sie das?«

»Ist egal«, antworte ich schon wieder verlegen.

»Sagen Sie ruhig!«

»Nein, nein«, bringe ich stammelnd hervor. »Damit meine ich gar nichts.«

»Glaube ich Ihnen nicht.« Täusche ich mich? Oder zucken seine Mundwinkel tatsächlich ein kleines bisschen?

»Ich habe mich nur gewundert, woher Sie meinen Nachnamen kennen«, gebe ich schließlich zu.

»Der steht unter Ihrem Foto auf der Homepage des Cafés.«

»Ach so.« Ich komme mir unglaublich dämlich vor, natürlich hat er sich die Seite vom Coffee & Cream im Netz angeschaut, bevor er bei uns für die Beerdigungsfeier seiner Frau reserviert hat.

»Gut«, sagt Gregor Blomberg und blickt erneut auf seine Armbanduhr. »Die Gäste müssten auch jeden Moment eintreffen, ich bin nur schon vorausgefahren, um das mit der größeren Personenzahl zu klären.« Er schaut mich fragend an. »Soll ich Ihnen kurz beim Tragen der Möbel helfen?«

»Nein, das ist nicht nötig«, lehne ich ab. »Das mache ich mit meinen Mitarbeitern.« Die hoffentlich einsatzbereit hinten in der Küche sind, schiebe ich in Gedanken hinterher.

»Sind Sie sicher?«, hakt er nach. »Ich will Ihnen da keine Umstände …«

»Ganz sicher!«, unterbreche ich ihn. »Wäre ja noch schöner, wenn wir unsere Gäste Tische und Stühle schleppen lassen würden!« Ich lache auf, was selbst in meinen eigenen Ohren grauenvoll gönnerhaft und auch absolut unpassend klingt. »Suchen Sie sich doch einfach schon einen Platz aus«, füge ich eilig hinzu, »wir kümmern uns um alles.«

»Danke.« Er sieht sich um, lässt seinen Blick langsam über die sieben langen Tafeln und die fünf Vierertische wandern, die Emil, Summer und ich heute Morgen zusammengeschoben und eingedeckt haben. Scheinbar ist er unentschieden, wo er sich hinsetzen soll. Oder, auch das ist eine Möglichkeit, er fragt sich gerade, wie ich hier zehn weitere Plätze unterbringen will. Allerdings habe ich das im Kopf bereits überschlagen: An die Stirnseiten der Tafeln passen insgesamt noch sieben Stühle. Rechts neben den Eingang kann ich noch einen Vierertisch stellen und habe sogar noch einen Platz in Reserve. Wäre es Sommer, könnten wir zusätzlich unseren kleinen Innenhof nutzen, aber an einem grauen Oktobertag ist das natürlich nicht möglich.

»Vielleicht nehmen Sie den hier«, schlage ich vor, da Gregor Blomberg keine Anstalten macht, sich irgendwohin zu setzen oder auch nur seinen Mantel auszuziehen, und deute auf den langen Tisch direkt vor der Theke. »Von hier aus haben Sie den gesamten Raum gut im Blick und werden auch von allen Gästen gesehen.« Noch immer bewegt er sich nicht, was mich zu einem ermunternden: »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause!« veranlasst. Wie zu Hause, autsch!

Er runzelt die Stirn, nickt mir zu – oder vielleicht ist es auch ein Kopfschütteln –, wendet sich von mir ab und geht Richtung Ausgang. Einen Moment später hat er das Café verlassen, und ich meine, ihn noch ein leises »Ganz großartig!« murmeln gehört zu haben.

Ratlos schaue ich ihm nach, beobachte durch das große Schaufenster, wie er die Straße überquert, so eilig, dass die Schöße seines langen Mantels fliegen. Dann verschwindet er um die Ecke. Habe ich etwas so Falsches gesagt, dass Gregor Blomberg gleich die Flucht ergreifen muss? Na gut, dass er sich »wie zu Hause« fühlen soll, war vielleicht nicht sonderlich sensibel. Aber das sagt man halt so, oder nicht?

Mit schnellen Schritten folge ich ihm, durchquere den Laden und bin schon halb aus der Tür, um ihm hinterherzurufen, als ich ihn wieder auf das Café zukommen sehe. Er hat einen kleinen Jungen auf dem Arm, an seine linke Hand klammert sich ein Mädchen. Beide sind wie er komplett in Schwarz gekleidet, und der blonde Pferdeschwanz des Mädchens hüpft unpassend fröhlich hin und her. Dafür lässt der Stoffhase, den sie an ihre Brust presst, seine langen Ohren hängen, und auch die große schlanke Frau, die den dreien folgt, und bei der es sich dann wohl um seine Schwester handelt, hat ihren Kopf so tief nach unten gesenkt, dass ich von hier aus lediglich die Krempe ihres schwarzen Huts ausmachen kann.

Hektisch trete ich von der Tür zurück und eile Richtung Küche. Zum einen muss schnell alles fertig werden, zum anderen will ich mich kurz ein bisschen sammeln, bevor ich den nächsten Fauxpas begehe. Ganz großartig, wiederhole ich stumm Gregor Blombergs letzte Worte. Nicht nur, dass ich bis hierher einen total konfusen Auftritt hingelegt habe – ich habe dem frischgebackenen Witwer und offenbar Vater von zwei Kindern auch noch einen Platz empfohlen, an dem er und seine Familie zum Mittelpunkt dieser unfreiwilligen Gesellschaft werden würden.

Allein bei dem Gedanken, welchen ersten Eindruck ich auf diesen armen Mann gemacht habe, schießt mir erneut die Röte ins Gesicht. Vermutlich kann ich von Glück reden, dass er nur seine Kinder geholt und nicht tatsächlich gleich das Weite gesucht hat. Der restliche Nachmittag sollte absolut reibungslos verlaufen, und ich hoffe inständig, dass Summer und Emil zugegen und einsatzbereit sind. Wenn nicht, muss ich sie schleunigst über Handy zusammentrommeln.

»Ein echter Hottie, oder?« Ich zucke erschrocken zusammen, als mir von rechts die Stimme meiner Nichte ins Ohr trompetet, kaum, dass ich die Schwingtür zur Küche aufgestoßen habe. »Der wäre doch was für dich!«, stellt sie fest und grinst mich dabei so fröhlich an, dass ich fast glauben könnte, sie meint das ernst. »Und über seine weibliche Begleitung musst du dir keine Gedanken machen. Seine Frau kann’s ja schließlich nicht sein.« Sie knufft mir mit einer Faust gegen die Schulter, als hätte sie gerade einen unheimlich guten Witz gerissen. Ich selbst bin für den Bruchteil einer Sekunde versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen und Gregor Blomberg eine andere Lokalität zu empfehlen.

Kapitel 2

Unauffällig wische ich mir mit dem Handrücken die kleinen Schweißperlen von der Stirn. Jede einzelne davon habe ich mir schwer erarbeitet, immerhin ist es mir gelungen, was ich vor knapp einer Viertelstunde noch für schier unmöglich gehalten hätte. Die zehn zusätzlichen Gäste haben allesamt eine Sitzgelegenheit gefunden, und zwar ganz genauso, wie ich es mir gedanklich vorgestellt hatte.

Auf sämtlichen Tischen befinden sich Kaffee, Tee und natürlich diverse Erfrischungsgetränke. Der Kirschstreusel, der gedeckte Apfelkuchen und der Bienenstich sind in kleine Teilchen geschnitten und liegen verzehrbereit auf ovalen Platten. Schmackhaft duftende Gulaschsuppe und Minestrone warten darauf, in die selbstverständlich ebenfalls für die Gäste bereitgestellten Suppenterrinen gefüllt und von ihnen verspeist zu werden. Alles ist perfekt, ich kann es selbst kaum fassen.

»Puh, das war echtes Teamwork«, sagt Summer neben mir, die mich tatkräftig unterstützt hat. »Respekt, Tantchen, wie cool du geblieben bist und mit was für einem Überblick du das hier alles gemanagt hast.« Sie klopft mir lobend auf die Schulter, genau in dem Moment, als mein Auftraggeber kurz aufschaut und mir mit dem Anflug eines Lächelns zunickt.

»Sieht McSexy wohl genauso wie ich.«

»Summer«, zische ich ihr vorwurfsvoll zu. »Wie redest du denn über einen Mann, der gerade seine Frau beerdigt hat und nun ganz allein mit zwei Kleinkindern dasteht.«

»Du, also, ich schätze mal, allzu lang wird der sicher nicht allein mit seinen beiden Zwergen bleiben«, fährt Summer ungerührt meiner Kritik an ihr fort. »Wenn du einige der Damen hier mal genauer beobachtest, wie die den schnuckeligen Witwer anschmachten, garantiere ich dir, der ist die längste Zeit traurig und vor allem solo gewesen. Wobei ich schon sagen muss, dass es echt widerlich ist, wie die Hyänen sich um ihr Opfer scharen und darauf hoffen, sich schön ins gemachte Nest setzen zu können.«

Auch diese Aussage meiner Nichte finde ich ausgesprochen respektlos, doch ich verkneife mir eine weitere Rüge, weil es bei Summer eh auf taube Ohren trifft – und sie leider mit ihrer Beobachtung recht hat, einige der anwesenden Damen sind schon sehr auffällig um Gregor Blomberg bemüht. Was ich jedoch niemals laut aussprechen würde, geht Summer schnell über die Lippen. Sie ist nun mal jemand, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, und eigentlich schätze ich das auch sehr an ihr. Nur jetzt, keine Ahnung warum, nervt mich die Art, wie sie über den verwitweten Mann spricht. Als wäre er kein Mensch mit Gefühlen, sondern einfach nur ein Objekt der … der Begierde.

In den nächsten eineinhalb Stunden bemühe ich mich weiter darum, den von mir hingelegten Fehlstart durch erstklassigen Service auszubügeln. Ich habe ein Dauerlächeln aufgelegt und eile elfengleich zwischen den zugegeben extrem dicht beieinanderstehenden Tischen und Stühlen hin und her. Kein Wunsch meiner Gäste bleibt unerhört, kein mich suchender Blick unerwidert, ich bin die fleischgewordene Perfektion in Gastfreundlichkeit und Service. Jawoll, das kann ich mit Fug und Recht von mir behaupten.

Und weil das so ist, komme ich nicht umhin, ähnliche Beobachtungen wie meine vorlaute Nichte Summer zu machen. Unter den Gästen befinden sich eine sehr schlanke Brünette und eine etwas kompaktere Honigblondine, die keinen Zweifel daran bestehen lassen, dass sie nichts lieber täten, als den armen Witwer tröstend an ihre bebenden Busen zu pressen. Einmal etwas von dem Nektar ihrer Zuneigung, Wärme und aufopferungsvollen Hingabe gekostet, so würde es dem gramgebeugten Witwer sicherlich schwerfallen, sich der Rundumsorge einer der hochinteressierten Frauen zu entziehen. Ich schätze, der arme Mann könnte kaum bis zehn zählen und hätte schon einen neuen Ehering am Finger stecken.

Ihh, was für gehässige Gedanken. Ich kann mich nur über mich selbst wundern … zumal mich das Ganze eh nichts angeht. Sollen die Hyänen sich doch auf ihr geschwächtes Opfer stürzen. Gregor Blomberg ist bestimmt erfahren und alt genug, sich zu wehren, wenn ihm das Anbiedern der einen oder anderen Dame zu viel wird.

Was ich jedoch unerträglich finde, ja, was meinen Pulsschlag regelrecht in die Höhe schnellen lässt, ist, wie die beiden Grazien die Kinder des Witwers umgarnen. Das Ganze scheinen beide von langer Hand geplant zu haben, denn sie übertreffen sich darin, die verschüchterten Kinder mit Geschenken zu überhäufen, und schwirren jede Sekunde um die Kleinen herum. Doch wer Augen im Kopf hat, der sieht sofort, dass der Junge und seine vielleicht zwei Jahre ältere Schwester sich alles andere als wohlfühlen, wenn die Frauen um sie herumscharwenzeln. Getätschelt, geherzt, getröstet, überbeschenkt. Total verständlich, finde ich, denn sie haben vor ein paar Tagen ihre Mama verloren, die sie über alles liebten. Ich bin keine Mutter, leider hat sich das nie ergeben, was ich wirklich bedauere. Aber um zu erkennen, wie bedrängt die beiden Kinder sich von den zweifelhaften Offerten der zwei Rivalinnen um den Papa vorkommen, dafür muss ich keine eigenen Kinder haben. Das liegt klar auf der Hand.

Nur zu gern möchte ich zu Gregor Blomberg gehen und ihm sagen, dass er doch bitte mal seine Kinder aus der Schusslinie seiner Verehrerinnen bringen möge. Aber das steht mir natürlich nicht zu. Außerdem sitzen genug andere Leute mit ihnen dort am Tisch, denen doch langsam auch mal auffallen sollte, wie überfordert der Junge und das Mädchen damit sind.

»Boah, ich kann mich nur wiederholen, es ist einfach nur widerlich, wie sich die Hyänen um ihr Opfer scharen und darauf hoffen, sich schön ins gemachte Nest setzen zu können«, flüstert mir Summer hinter vorgehaltener Hand zu.

Ich nicke, als sich auf einmal Gregor Blomberg von seinem Platz erhebt und an den Nachbartisch zu einem älteren Mann läuft, okay, hindurchquetscht trifft es bei dem beengten Raum zwischen den Tischreihen womöglich besser. Seine Tochter scheint wohl ihre Chance erkannt zu haben, den Hyänen zu entkommen, die ihr Opfer mit schmachtenden Blicken verfolgen. Das Mädchen springt auf, greift nach der Hand ihres Bruders und zieht ihn mit sich vom Tisch weg. Zunächst sieht es so aus, als wollten die beiden auf die Straße rennen, doch dann wendet sich die Kleine um und eilt durch die Tür in den kleinen Innenhof. Schnell beschließe ich, den Geschwistern zu folgen.

»Bekommst du das hier einen Augenblick allein hin?«, frage ich Summer.

»Logo, sind ja alle recht genügsam. Bis auf die Hyänen, die eine wollte gerade ein Glas Champagner bestellen, die andere hat nach unserer Cocktailkarte gefragt.«

Ich kann es nicht glauben, als würde es was zu feiern geben. Die Frauen verfügen wirklich weder über Anstand noch Empathie, sie sind einfach nur zum Fremdschämen.

Die Kinder sitzen wie zwei kleine Häufchen Elend im hintersten Winkel des Innenhofes. Kaum dass sie mich bemerken, zucken sie fast ein wenig ängstlich zusammen. Der kleine Junge hat sich in die Arme seiner Schwester geschmiegt und weint herzzerreißend. Aber auch seine Schwester hat sichtbar mit den Tränen zu kämpfen. Aus einem Impuls heraus gehe ich vor den Geschwistern in die Hocke und lege beruhigend meine Hände auf ihre bebenden Rücken.

»Hier seid ihr sicher«, sage ich leise zu ihnen. Schon möglich, dass so eine Aussage vollkommen übertrieben ist, in echter Gefahr waren die Kinder nun wieder auch nicht. Doch sie scheinen zu verstehen, was ich ihnen damit sagen will, und nicken, während sie mich mit großen, tränenverhangenen Augen anschauen.

Eine Weile sitzen wir einfach nur so da, meine Hände ruhen auf ihren schmalen Rücken, die Kinder weinen leise vor sich hin. Ich könnte etwas sagen, irgendwelche tröstenden Worte für sie finden. Dass ihre Mama nicht weg ist, nur eben woanders oder was man in solchen Situationen zu Kindern ihres Alters sagt. Ich könnte auch was vom Himmel erzählen und der Wolke, auf der ihre Mama sitzt und über sie wacht, egal, wo sie sind, egal, zu welcher Zeit. Aber irgendwie spüre ich, dass hier keine Worte nötig sind, denn wenn die beiden von etwas heute schon mehr als genug bekommen haben, dann sind das irgendwelche trostspendenden Floskeln.

Irgendwann sind die Tränen der Geschwister getrocknet. »Danke schön«, flüstert mir das Mädchen zu.

Ich lächele. »Alles gut, du musst dich nicht bedanken.«

»Mama sagt, wir sollen immer Danke sagen«, gibt sie fast ein wenig trotzig zurück.

»Ja, natürlich. Da hat deine Mama absolut recht«, räume ich schnell ein, denn die Augen des Mädchens fangen schon wieder an, verdächtig zu glänzen.

»Wir müssen wieder reingehen«, meint sie zu ihrem Bruder und hört sich dabei an, als müsste sie in eine große Schlacht ziehen. »Papa macht sich sonst Sorgen.«

Ich nicke. Ich muss nämlich so allmählich auch wieder zurück ins Café. Ewig kann ich Summer nicht mit meinen Gästen allein lassen. Doch irgendwie mag ich die beiden so auch noch nicht gehen lassen – zurück auf ihre Plätze – in die Fänge der Brünetten und der Honigblondine, die sie wieder tätscheln und herzen werden, obwohl es den Kindern sichtbar zuwider ist.

»Wenn ihr noch einen Moment Zeit habt, dann laufe ich ganz schnell hoch in meine Wohnung und stelle euch zwei vor«, platzt es spontan aus mir heraus.

»Sollen wir mitkommen?«, fragt das Mädchen mit einem Hauch von Misstrauen in der Stimme. Sicher hat ihre Mama ihnen eingebläut, dass sie auf gar keinen Fall mit Fremden, ob männlich oder weiblich, mitgehen dürften und erst recht nicht in deren Wohnungen.

Ich beeile mich zu verneinen. »Ihr könnt hier unten auf mich warten. Ich bringe diejenigen, die ihr unbedingt kennenlernen solltet, hierher.«

»Gut«, sagt erneut das Mädchen und ich flitze los. Idealerweise befindet sich meine 3-Zimmer-Wohnung direkt über meinem Café. Das ist wirklich praktisch, weil ich somit keinen Arbeitsweg habe und auch mal auf Socken runterlaufen kann, wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich das Licht, den Herd oder sonst was ausgestellt habe – etwas, das leider ziemlich häufig vorkommt. Andererseits hat man dadurch immer die Arbeit vor Augen, was echt nervig sein kann, weil so das Abschalten schwerfällt. Aber in diesem Moment überwiegen mal wieder die Vorteile. Sonst könnte ich nicht hochlaufen und Flips und Flops hinunterholen, die die Geschwister bestimmt für eine Weile von ihrem Kummer ablenken werden können.

»Oh, Kaninchen«, rufen die Kinder auch direkt, als sie erkennen, was ich da auf meinem Arm hocken habe.

»Darf ich vorstellen, das sind Flips und Flops. Die beiden sind übrigens auch Geschwister.« Okay, okay, das war eine glatte Lüge. Flips habe ich vor knapp einem Jahr von meinem Bruder Joachim zum Geburtstag geschenkt bekommen. »Dann hast du auch mal was zum Liebhaben« – schönen Dank, Bruderherz, dass du keine Gelegenheit ungenutzt lässt, mich an mein erneutes Singledasein zu erinnern. Dabei meint er es bestimmt nicht böse, eher … äh … motivierend. Komm mal in die Hufe, Schwesterherz, und fall vor allem nicht immer auf den Falschen herein. Du bist weder hässlich noch blöd, da muss sich doch mal endlich einer finden, der sich nicht als Volltrottel entpuppt – ja, ja, mein Bruder hat seine ganz eigene Art und Weise, mir seine Zuneigung zu zeigen.

Flops habe ich zwei Monate später in einer Zoohandlung dazugekauft. Flips erschien mir etwas einsam in seinem großen Gehege (das Joachim mir ebenfalls geschenkt hat und das ungefähr die Hälfte meines Wohnzimmers einnimmt).

Von daher ist es recht unwahrscheinlich, dass die beiden Brüder sind.

»Dürfen wir sie streicheln?«, fragte dieses Mal tatsächlich der kleine Junge, der bisher keinen Ton von sich gegeben hat. Doch nun beginnt er regelrecht aufzublühen. Meine Idee war also alles andere als dumm.

»Natürlich. Und wenn ihr mögt, dann könnt ihr sie auch auf den Arm nehmen.«

»Wirklich?«, rufen die beiden. Vorfreudig klatscht das Mädchen in die Hände, während ihr Bruder einfach nur selig lächelnd dasitzt und darauf wartet, dass ich ihm Flips gebe. Flops landet auf dem Schoß seiner Schwester und dann wird geherzt und gekuschelt, gestreichelt und gedrückt. Es ist zu schön, zu beobachten, wie die Kinder für einen Moment lang ihre Traurigkeit vergessen haben und einfach nur verzückt von meinen beiden Fellnasen sind.

Auf einmal habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden, und wende mich zur Seite um. Tatsächlich, Gregor Blomberg steht, die Stirn gerunzelt, in der Tür zum Café. Herrje, so wie der guckt, hält der mich nun endgültig für absolut unfähig und unter Garantie auch für reichlich übergriffig. Ich klappe den Mund auf, um ihm die Situation zu erklären, da kommt er auf mich zu. Zaghaft lächelnd streckt er die Hand nach mir aus, berührt mich sacht am Unterarm. »Danke«, sagt er dann.

Für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir uns an, eine seltsame vertraute Atmosphäre herrscht zwischen uns, die ich mir einfach nicht erklären kann. Doch bevor das Ganze noch eigenartiger werden kann, ruft Summer durch die offene Tür hinaus, dass sie eine neue Platte Streuselkuchen bräuchte.

»Äh … okay, Sie … Sie haben ja gehört, ich werde im Café gebraucht«, stammele ich verwirrt und will zurück an die Arbeit gehen.

»Und die Kaninchen?«, fragt Gregor Blomberg. »Wo ist der Käfig?«

Ich schlucke. Natürlich oben in der Wohnung. Aber Summer braucht mich im Café und irgendwie bringe ich es nicht übers Herz, den beiden kleinen Kindern die Fellnasen so abrupt zu entreißen.

»Ihre Tochter und Ihr Sohn können gern noch ein bisschen mit Flips und Flops kuscheln und spielen, wenn Ihnen das recht ist, Herr Blomberg?«

Gregor Blomberg schaut zu seinen Kindern, die begeistert nicken.

»Bitte, Papi«, fleht der Kleine.

»Ich bin gleich zurück und nehme sie Ihren Kindern dann ab«, erkläre ich.

»In Ordnung. Ich wollte zwar gerade mit den beiden aufbrechen, aber ein paar Minuten Zeit haben wir schon noch«, stimmt Gregor Blomberg schließlich zu. »Sind Sie dann bitte auch so freundlich und machen mir die Rechnung fertig?«

Ich nicke und verschwinde endgültig im Café.

Gut zwei Stunden später ist mein Café menschenleer und tipptopp aufgeräumt. Flips und Flops befinden sich wieder in ihrem Käfig oben in meiner Wohnung und Summer ist im Begriff, aufzubrechen.

»Ist am Ende doch noch alles glattgelaufen. Und ein fettes Trinkgeld hat es obendrein auch gegeben«, meint meine Nichte freudig, der ich den größten Teil des Geldes in ihren Umschlag zu ihrem normalen Lohn getan habe.

»Ja, zum Glück«, murmele ich und will meine Nichte, wie es bei uns üblich ist, zum Abschied flüchtig umarmen. Doch sie zieht mich etwas fester als üblich an sich. »Ich habe dich übrigens im Innenhof mit den Kindern gesehen«, raunt sie mir ins Ohr. »Du bist toll mit denen umgegangen! Hast genau gewusst, was die beiden in diesem Moment gebraucht haben, ohne sie zu nerven, wie zum Beispiel die beiden Hyänen. Echt zu schade, dass du keine eigenen Kinder hast.«

Tja, da kann ich ihr nur zustimmen. Echt zu schade. Aber so ist es eben.

23. Oktober 1991

Liebes Tagebuch!

Entschuldige bitte, dass ich mich seit meinem letzten (und ersten) Eintrag so lange nicht mehr »gemeldet« habe, aber es ist einfach nix wirklich Spannendes passiert. Und was ich dir jetzt anvertraue, ist auch nicht toootal aufregend … also zumindest nicht topaktuell. Was daran liegt, dass es um die Zukunft geht. Kannst du mir noch folgen? Logooo, bist ja immerhin MEIN Tagebuch

Also, Frau Kauert war krank und deshalb hatten wir Vertretung bei Herrn Otto in Sozialkunde. Der ist erst seit Kurzem an der Schule und unterrichtet eigentlich nur in der Oberstufe.

Ich fand den sofort nett, auch wenn Lisa meinte, der hätte voll die altmodischen Klamotten an. Sah ich zwar nicht so, doch Lisa hat manchmal sowieso komische Ansichten. Egal, darum geht es jetzt nicht, sondern um das »Experiment«, das Herr Otto mit uns in der Vertretungsstunde gemacht hat.

Der hat doch tatsächlich ’ne Kiste mit leeren Glasflaschen dabeigehabt, die er an uns verteilt hat. Frank hat rumgeblökt, was er denn mit ’ner leeren Pulle machen soll, er hätte lieber ’ne volle. Haha! Was für’n Scherzkeks.

»Das sind Zeitkapseln«, hat der Otto erklärt. »Schreibt auf ein Blatt Papier, wie euer Leben in dreißig Jahren aussehen soll. Danach kommt die Seite zusammengerollt in die Flasche, Korken drauf, fertig.«

Okay, ich musste echt nicht lange nachdenken, und habe sofort mit dem Schreiben angefangen: In dreißig Jahren bin ich 44 Jahre alt und glücklich verheiratet (uhhh, natürlich mit Rafi, der dann 46 ist) und Mutter von zwei oder drei Kindern. Aber natürlich bin ich nicht »nur« Hausfrau und Mutter, sondern Kinderärztin mit eigener Praxis.

Wow, und während ich so im Klassenzimmer gesessen und mir alles noch mal durchgelesen habe, da konnte ich es kaum erwarten, dass es endlich so weit ist. Ich hoffe echt, dass alles so kommt, wie ich es auf den Zettel geschrieben habe. Doch andrerseits, was spricht schon dagegen? Ich bin da toootal zuversichtlich.

Bis ganz bald.

Deine Maxi

PS: Wird etwas wahr, wenn man nur fest daran glaubt?

Kapitel 3

Am nächsten Morgen fällt es mir unendlich schwer, in Gang zu kommen. Ich bin heilfroh, dass Summer meine Frühschicht im Café übernommen hat, damit ich in die Metro fahren kann. So war es zumindest geplant! Doch nun komme ich einfach nicht in die Hufe, schleppe mich vom Badezimmer an den Küchentisch, wo ich ungesüßten Fencheltee trinke und appetitlos an einer Scheibe trockenem Toast herumknabbere. Irgendwie fehlt mir der Elan. Vielleicht werde ich auch krank, brüte eine Erkältung oder sogar richtige Grippe aus?

Mein Vorhaben mit der Metro kommt mir schier unmöglich vor, ein Vorhaben, zu dem ich mich heute Morgen schlichtweg außerstande fühle.

Ich könnte mich einfach wieder ins Bett legen und erst gegen Mittag runter ins Café gehen, um Summer abzulösen. Ein wirklich verlockender Gedanke. Dummerweise brauche ich aber dringend Zucker, portionierte Kaffeesahne, Servietten und noch ein paar lebensnotwendige Dinge fürs Café, die mir aufgrund der gestrigen gästereichen Veranstaltung komplett ausgegangen sind.

Also schleppe ich mich erneut ins Bad, spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, kämme mir die Haare, um sie anschließend zu einem schlichten Zopf zusammenzufassen, und creme mir das Gesicht mit einer leicht getönten Tagescreme ein. Für weiteres Make-up fehlt mir einfach die Motivation. Außerdem, wer soll mir im Großmarkt schon Tolles begegnen, für den es sich lohnt, sich großartig in Schale zu werfen?

Ich schlüpfe in eine leicht abgewetzte Bluejeans und eine schlichte hellblaue Hemdbluse, ziehe mir meine wattierte dunkelblaue Steppjacke über und gleichfarbige flache Stiefeletten an. Kaum habe ich die Haustür hinter mir zugezogen, überkommt mich eine neuerliche Woge bleierner Antriebslosigkeit, wie ich sie mir wirklich nicht erklären kann. Mit den Fingerspitzen betaste ich meine Stirn. So matt und kraftlos, wie ich mich fühle, bin ich mir sicher, dass sie glühend heiß sein muss. Doch das Gegenteil ist der Fall, und auch mein Pulsschlag befindet sich im absoluten Normalbereich.

»Was ist mit dir los?«, frage ich mich selbst, während ich mich auf die Treppenstufen konzentriere, die ich angestrengt herunterschlurfe.

Als ich am Café vorbeikomme und durch das seitliche Fenster einen Blick ins Innere erhasche, sehe ich Summer, die sich gerade mit Alfred, unserem Neun-Uhr-Morgenkaffee-Stammkunden, unterhält. Augenblicklich weiß ich, was mir so schwer in die Knochen gefahren ist, mich richtiggehend lähmt, sodass ich mich krank und antriebslos fühle, ihr mitleidiges »Echt zu schade, dass du keine eigenen Kinder hast«. Sie hat damit, ohne böse Absicht natürlich, da bin ich mir ganz sicher, einen wunden Punkt bei mir getroffen, den ich meistens sehr gut überdecken kann. Doch hin und wieder, weiß der Teufel warum, vielleicht weil der Mond oder die Sonne ungünstig stehen oder die Wolken zu schnell vorbeiziehen, überkommt mich dieser wahnsinnige Frust, was meine geplatzten Lebensträume betrifft. Einen netten Ehemann, zwei entzückende Kinder und ein schönes Haus am Stadtrand. O ja, so habe ich mir mein ganz und gar wunderbares Leben vorgestellt.

Daraus geworden ist leider nichts, weder kann ich auf eine großartige Karriere verweisen noch darauf, Teil einer entzückenden Familie zu sein. Das mit dem nervigen Numerus clausus hat mir damals einen gehörigen Strich durch mein anvisiertes Medizinstudium gemacht, und auch direkt meine Motivation erstickt, irgendwas anderes zu studieren oder einfach auf ein, zwei, drei … Wartesemester zu setzen. Wobei, bei einem NC von 2,9 hätte ich womöglich heute noch darauf gewartet, von irgendeiner Uni angenommen zu werden. Letztendlich habe ich mich für eine Ausbildung zur Bürokauffrau entschieden, weil man bekanntlich mit einem kaufmännischen Beruf überall einen Fuß in die Tür bekommen kann. Doch dazu muss man das, was man da macht, auch wirklich gern tun, was bei mir einfach nicht der Fall war. Also habe ich mich von Job zu Job gehangelt und dann irgendwann die Chance erhalten, mein damaliges Stammcafé von meinem jetzigen Teilzeitkoch übernehmen zu können, da er in den Ruhestand gehen wollte.

Ich liebe mein Café, o ja, ich bin, was das Berufliche betrifft, inzwischen einigermaßen mit meinem Schicksal versöhnt. Was ich im privaten Bereich leider nicht behaupten kann, denn mir ist es bisher einfach nicht gelungen, einen Mann zu finden, der zu mir passt und den Weg gemeinsam mit mir gehen will – zumindest auf längere Sicht. Affären und Co sind davon ausgeschlossen, darüber kann ich mich nicht beklagen. Aber irgendwann war bei mir der Punkt erreicht, wo ich eben mehr wollte, nämlich einen Mann, mit dem ich endlich meine Traumfamilie gründen kann. In Thomas glaubte ich sechs lange Jahre diesen auch gefunden zu haben. Ich habe mich von ihm hinhalten lassen, was das Kinderkriegen und Heiraten betrifft. »Schatz, wir haben doch noch so viel Zeit«, lautete sein Standardspruch, wenn ich ihn auf das eine oder das andere angesprochen habe. Am Ende ist mir die Zeit dann einfach davongerannt, und Thomas hat mich kurz vor meinem zweiundvierzigsten Geburtstag wegen einer anderen – Achtung, Klischee! – jüngeren Frau sitzen lassen.

Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert, sonst hätte ich mir unter Garantie ein paar ganz andere Songs ausgesucht.

Im Großen und Ganzen habe ich mich mit dem, so wie es gekommen ist, gut arrangiert … abgefunden. Nur eben hin und wieder, wenn ich eine glückliche Familie sehe oder mich, wie Summer gestern, jemand gut gemeint darauf anspricht, dass ich eine tolle Mutter geworden wäre, dann fühle ich mich so elend und auch irgendwie vom Leben enttäuscht, dass mir jegliche Kraft fehlt, um Tag für Tag für Tag so weiterzumachen.

Morgen ist es wieder besser, tröste ich mich selbst und schreite einigermaßen entschlossen voran. Morgen ist ein neuer T…

»Maxi? Hey, Maxi, du bist es ja wirklich!«

Liebes Universum, bitte tu mir das nicht an. Nicht heute. Nicht in dieser Verfassung – nein, egal wann, bitte niemals!

Langsam und absolut widerwillig hebe ich den Blick, der bis eben noch auf meine Schuhspitzen gerichtet war. Ich habe das für eine gute Idee gehalten, denn so neben der Spur, wie ich mich, seitdem ich die Augen geöffnet habe, durchgängig fühle, wäre mir absolut zuzutrauen gewesen, über meine eigenen Füße zu stolpern. Nun bin ich also tatsächlich gestolpert, und wenn mich mein akustischer Sinn nicht ganz und gar täuschen, dann ausgerechnet über meinen Ex Thomas.

»Hi«, bringe ich mühsam hervor. Mehr ist nicht drin. Nope!

O mein Gott, er sieht wie immer verboten gut aus, während ich quasi nackt bin. Also im Gesicht. Bitte, bitte ein ganz tiefes Loch und zwar auf der Stelle.

»Geht es dir gut?«, fragt er mit hörbar besorgter Stimme.

Mein Pulsschlag beschleunigt sich. Ist mein Ex tatsächlich um mich besorgt? Und … äh … was macht er eigentlich in meiner Straße? Kann es möglich sein, dass er nicht zufällig hier aufkreuzt, sondern das Ganze von langer Hand von ihm geplant ist? Weil Thomas, der Mann, mit dem ich eigentlich in einem schnieken Einfamilienhaus mit Butzenscheiben und grüner Friesentür mein absolut geniales Happy-Family-Leben verbringen wollte, nämlich festgestellt hat, dass das letzte Jahr sein schlimmstes war? Weil er bemerkt hat, dass ihm etwas Entscheidendes fehlt – nämlich ich?

Ein feines, aber eindeutig zuversichtliches Lächeln schummelt sich in meine Mundwinkel. »Ja, alles bestens«, antworte ich. »Danke der Nachfrage.« Etwas förmlich, eindeutig. Aber ich finde, ganz so leicht sollte ich es ihm nicht machen. Immerhin hat er mich für eine andere Frau verlassen. Auch wenn er endlich kapiert hat, dass es mit den beiden niemals klappen wird, was ich damals schon wusste, bedeutet das nicht automatisch, dass ich ihn mit offenen Armen zurücknehme.

Wenn ich mich an Churchill halte, der da sagte: Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter! – ist es wenig ratsam, den Weg wieder zurückzulaufen. Die Hölle habe ich dank Thomas bereits durchschritten und im Großen und Ganzen hinter mir gelassen. Doch dieser Triumph geht mir in diesem Augenblick runter wie Öl. Ich gebe es zu, das ist Balsam für meine geschundene Seele. All das Unwohlsein, mein geschwächter Zustand von ungefähr noch drei Sekunden zuvor ist wie weggefegt. Ich fühle mich blendend. Yes! Maxi is back!

»Und bei dir so?«, erkundige ich mich lässig.

Geräuschvoll atmet Thomas aus. Aha, er leidet, er ringt um die richtigen Worte … herrlich.

»Ich wollte es dir längst gesagt haben«, beginnt er herumzudrucksen. Jaja, lieber Ex, nicht so einfach, wenn man sich selbst eingestehen muss, wie sehr man sich doch getäuscht hat. »Dich anrufen. Aber am Telefon wäre ich mir feige vorgekommen, obwohl ich dir im Grunde genommen überhaupt keine Rechenschaft schuldig bin.«

Hallo? Höre ich da etwa leisen Trotz in seiner Stimme anklingen? Gedenkt mein Ex, der allem Anschein nach reumütig zu mir zurückgekrochen kommen will, mir noch so etwas wie Teilschuld an unserer Trennung vor knapp eineinhalb Jahren unterzujubeln? Damit er nicht ganz so schlecht dasteht oder sogar so an meinem schlechten Gewissen anknüpfen kann?

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