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Das Ausrufezeichen. Eine rebellische Geschichte

Als Buch hier erhältlich:

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Wie ein Satzzeichen die Welt bewegte ...

Kaum ein anderes Zeichen erregt unsere Gemüter wie das Ausrufezeichen. Ein Pathossymbol, das uns jubeln und wüten lässt, uns warnt und motiviert – und trotzdem wird es als »schreiendes« Symbol verkannt oder fällt populistischen Machtspielen zum Opfer.

Die Literaturwissenschaftlerin Florence Hazrat befreit das Ausrufezeichen aus den staubigen Schubladen der Grammatik und geht seiner Bedeutung als universelles, politisches und menschliches Phänomen auf den Grund. Wie konnte es sich seit seiner Erfindung vor 600 Jahren in Florenz über alle Kulturen hinweg durchsetzen? Wo hat es den Lauf unserer Geschichte entscheidend verändert, und wie prägt es unseren Alltag, unsere Kunst und Kultur bis heute? Und warum reiben sich bis heute ganze Generationen an ihm auf?

Hazrat erzählt von der Macht, Geschichte und Zukunft eines Zeichens, das es uns auf wundersame Weise ermöglicht, echte Gefühle und körperlichen Ausdruck in unsere Schriftsprache zu legen und nachzuempfinden – eine Eigenschaft, die in unseren postfaktischen Zeiten wichtiger ist denn je!


»Florence Hazrats flottes, vergnügliches und schelmisches Buch ist weniger ein Loblied als vielmehr eine Aufforderung, sich von den Vorschriften der Sprachpolizei zu verabschieden und den Sinn für das Wunderbare wiederzuerwecken.«

The Times


»Ein kurzes Buch mit einem großen Standpunkt«

Kirkus Reviews


»Dieses schmale Buch ist so satt an interessanten Fakten und Ideen, dass die meisten Leser am Ende einfach nur ›Wow!‹ sagen werden.«

Booklist


»Florence Hazrats scharfsinnige Analyse ist von einer überzeugenden Sprachphilosophie getragen.«

Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004883

Leseprobe

Dieses Buch ist denen gewidmet, die den kleinen Dingen ihre Aufmerksamkeit schenken. Und Alpoleius, der ein neues Satzzeichen erfand, das uns dazu einlädt, mehr zu staunen und zu bewundern – möglichst mit Leib und Seele.

EINLEITUNG

Die pikanten Freuden des !

Am 21. Januar 1788 hätte ein Trio !!! das Projekt der Vereinigten Staaten von Amerika fast zum Scheitern gebracht, noch bevor es richtig begonnen hatte. Die Boston Gazette hatte eine prägnante Schlagzeile in Großbuchstaben gedruckt und diese durch drei hysterische Ausrufezeichen verstärkt, sodass sie die Öffentlichkeit in größte Besorgnis über die Zukunft der jungen Nation stürzte. Von »BESTECHUNG UND KORRUPTION!!!« war die Rede. Weiter las man, dass »der teuflischste Plan ausgeheckt werde, um jene Mitglieder der Versammlung zu bestechen, die sich der Annahme der neuen Verfassung widersetzten«. Politikern in Massachusetts würden »große Summen« von einem »Nachbarstaat« geboten, damit sie ihre Bedenken gegen das wichtigste Dokument des neu formierten Staates, die Verfassung, aufgäben.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten war in vier inspirierenden Monaten ausgearbeitet worden, musste allerdings noch in mindestens neun der dreizehn Gründerstaaten ratifiziert werden, ehe sie in Kraft treten konnte. Der Weg dorthin war beschwerlich. In den örtlichen Versammlungen kam es zu hitzigen Debatten über genau jene Fragen, derentwegen die Staaten sich von ihrem Mutterland losgesagt hatten: Besteuerung, Handelskontrollen, Gewaltenteilung, persönliche Freiheiten. Im Januar 1788 hatten die ersten fünf Staaten die Verfassung ratifiziert, doch in Massachusetts war der Prozess ins Stocken geraten. Zweifel fielen hier auf fruchtbaren Boden, und der Artikel in der Gazette schürte das Feuer der Unzufriedenheit und des Misstrauens. Die Macht dieser !!!, die öffentlichen Gefühle aufzuheizen, war so groß, dass George Washington eingreifen musste. Er teilte der Staatsversammlung mit, dass sie der Verfassung auf jeden Fall zustimmen müsse, dass es jedoch eine Reihe von Zusatzartikeln geben werde, die den Bedenken der Delegierten Rechnung tragen würden. Aus diesen Zusatzartikeln sollte schließlich die Bill of Rights hervorgehen, die die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Regierung ins Zentrum der politischen Identität Amerikas rückte.

Die Versammlung von Massachusetts nahm den Verfassungsentwurf daraufhin an, und die Vereinigten Staaten von Amerika waren geboren. Einer Reihe von Ausrufezeichen sei Dank!

– !!! –

Das ! lässt uns aufschreien – so sehr, dass man es als Schreihals, als Lärmstange, Macho und Brüller bezeichnet hat. Es ist aufbrausend und maßlos, ein emotionaler Verstärker, dessen extravaganter Gestus die Leser wissen lässt: Hier geht es um Gefühle! In dieser Rolle musste das ! übermäßig heftige Kritik einstecken. So veröffentlichte das britische Bildungsministerium 2016 eine neue Richtlinie für Grundschüler, die einen öffentlichen Aufschrei nach sich zog: Lehrer wurden dazu aufgefordert, Schüler, die eine als exzessiv empfundene Anzahl von Ausrufezeichen verwendeten, schlechter zu benoten. Ein ! sollte nur noch am Ende von Sätzen stehen, die mit »wie« oder »was« beginnen (wie in »Wie dumm!« und »Was für ein Unsinn!«). Die Öffentlichkeit und die Medien protestierten gegen diese als diktatorisch empfundene Sprachpolitik, obwohl die Regierung natürlich nichts anderes im Sinn hatte, als die jungen Bürger des Landes vor jener Krankheit zu schützen, die im Volksmund als »Bangorrhea« – auf Deutsch also etwa: »Knall-Durchfall« – bezeichnet wird.

Doch nicht nur konservative Regierungsbeamte nehmen Anstoß am Ausrufezeichen. Viele Autoren haben uns davor gewarnt, das Ausrufezeichen als eine billige Form des Nachdrucks zu verwenden. F. Scott Fitzgerald erklärte, ein Ausrufezeichen sei, als würde man über seine eigenen Witze lachen; Terry Pratchett erfand in seinen Scheibenwelt-Romanen eine Figur, die sagte, mehrere Ausrufezeichen seien ein »sicheres Zeichen für einen kranken Geist (und der Gebrauch von fünf davon »weist eindeutig auf jemanden hin, der seine Unterhose auf dem Kopf trägt«). Das Ausrufezeichen ist stets »zu«: zu laut, zu auffällig, zu mächtig, zu präsent. Der Journalist Philip Cowell verspottet das selbstbewusste, selbstbezügliche Dasein des ! und nennt es das »Selfie der Grammatik«. Und auf dem Blog Excessive Exclamation regen sich einige Streber über den inflationären Gebrauch von !, !!! oder gar !!!!!!!!!! im öffentlichen Raum auf und posten entsprechende Fotos.

Gibt es das Ausrufezeichen also nur für die Unvernünftigen, die Verwirrten und die nach Selbstrepräsentation süchtige Generation Z? Ist es die fettige und schwer verdauliche Beilage, die wir auf dem bereits reich gefüllten Bankett der Sprache nicht wirklich benötigen? Wenn dem so ist, überrascht es umso mehr, dass es vom Persischen bis zum Mandarin in fast jeder Sprache existiert. Erstaunlich ist auch, mit wie vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen kulturellen Funktionen wir das Ausrufezeichen beauftragt haben. Seine präzise und ausdrucksstarke »Ta-da!«-Eigenschaft brachte Victor Hugos Verleger dazu, auf ein banges ?-Telegramm des Autors mit einem kurzen, triumphierenden »!« zu antworten. Die Verkaufszahlen seines gerade erschienenen Romans Les Misérables gingen durch die Decke. Und der Schriftsteller Christian Morgenstern verpasste dem Ausrufezeichen in seinem Humorgedicht »Im Reich der Interpunktionen«, das den Mord an den Semikolons beschreibt, die Rolle des empathischen Predigers bei dessen Beerdigung.

Ein gerader Abwärtsstrich über einem knackigen Punkt: Das Ausrufezeichen mit seiner einmalig selbstsicheren Form besitzt eine gehörige Schlagkraft. Im Jahr 2010 ließ die amerikanische Kinderfernsehsendung The Electric Company niemand Geringeren als die Hip-Hop-Legende LL Cool J verschiedene Regeln zur Zeichensetzung rappen, während überlebensgroße animierte Versionen jedes einzelnen Satzzeichens neben ihm aufpoppten. Das erste, das neben ihm auftauchte und sich zu doppelter Größe des Sängers aufschwang, war das Ausrufezeichen in seiner imposanten Form und mit der Ausstrahlung eines herrischen Vorgesetzten.

Das berühmte Ermittler-Trio Die drei ??? aus der gleichnamigen Jugendbuchreihe stellt Fragen über Fragen, bis sie selbst den tiefsten Geheimnissen auf die Spur kommen. Im Jahr 2006 führte der deutsche Kosmos-Verlag das längst überfällige weibliche Pendant des Trios mit dem Namen Die drei !!! ein und baute dabei geschickt auf den Wiedererkennungswert des Logos.

– !!! –

Wenn es ein Satzzeichen gibt, das potenziell einem Phallus ähnelt, dann das !. Der allseits beliebte französische Komiker Pierre Desproges mahnt uns im Scherz, ein derart oberflächliches Satzzeichen zu meiden, »dessen anmaßendes, nur einen Hoden zur Schau stellendes Design gegen jede Bescheidenheit verstößt«. Womöglich ist dies der Grund, warum Henry Miller, ein Wegbereiter sexuell expliziter Literatur, übereifrige erotische Schriftsteller warnte: »Zügelt eure Ausrufezeichen!« In der Geschichte selbst darf ruhig einiges passieren, doch sollte nicht das ! die Quelle der Erregung sein. Eine der größten Unterhaltungskünstlerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und gleichzeitig eine der am besten bezahlten Frauen ihrer Zeit), die französische Kabarettistin Mistinguett, sagte, »ein Kuss kann ein Komma, ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen sein«. Beim Kuss mit ! dachte sie bestimmt nicht an keusche Wangenküsschen.

Das Ausrufezeichen (samt seiner Form) besitzt auch eine gewisse Schockwirkung: Das ! bedeutet erhöhte Aufmerksamkeit und Protest. So erwies es sich als wirkungsvolles Instrument für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die bei einer Sitzung 2013 in Straßburg mit einem stummen Meer aus Ausrufezeichen ihren Unmut über die autoritären Änderungen der ungarischen Verfassung zum Ausdruck brachten.

Ungarns Angriff auf die Demokratie provoziert das Europäische Parlament.

Das Ausrufezeichen hält uns auf Trab, und wenn wir es sehen, wissen wir, dass gerade etwas Bemerkenswertes, möglicherweise etwas Gefährliches oder Provokatives passiert. In den Listen, die von professionellen Scrabble-Spielern verwendet werden, markiert ein Ausrufezeichen ein Wort, das zwar als beleidigend gilt, jedoch unter gewissen Umständen, wenn nicht gar unbedingt, dennoch gelegt werden sollte. Im Jahr 1978 veröffentlichte das Merriam-Webster-Wörterbuch die erste Scrabble-Liste, sah sich jedoch bald mit Kritik konfrontiert, weil sich unter die tendenziell unschuldigeren Schimpfwörter auch rassistische und sexistische Begriffe mischten. Unter dem Druck verschiedener Interessengruppen, von Menschenrechtsorganisationen bis hin zu Scrabble-Spielervereinigungen, begannen die Herausgeber des Wörterbuchs und die Spielzeugfirma Mattel daraufhin Listen zu veröffentlichen, die den soziolinguistischen Befindlichkeiten ihrer Zeit Rechnung tragen. Derzeit verboten sind Beleidigungen wie LEZ (abfällige Bezeichnung für Lesben), jedoch auch Wörter jenseits der Gebote der Höflichkeit wie FARTED, BOOBIE und PISSED (wenngleich FUCK bislang wohl verschont wurde). Mattels Ray Adler bemerkt, dass es »in Scrabble – wie im richtigen Leben – auf die Wortwahl« ankomme. Und Gleiches gilt für die Zeichensetzung.

Das Ausrufezeichen hat etwas, das uns in Bewegung versetzt. Mit drei einfachen schwarzen Strichen verwandelt der Motivationsautor James Victore eine Schmiererei aus schreiendem Orange in eine entschlossene Streichholzfigur, die uns ermutigt, »einfach anzufangen«, anstatt so lange über ein Projekt nachzudenken, bis es einschläft, noch bevor es überhaupt in Gang gekommen ist.

Das Ausrufezeichen erzeugt Aufregung und überträgt sie auf andere. Der Legende nach reiste der deutsche Bischof Johannes Fugger im 12. Jahrhundert zur Krönungsfeier des Heiligen Römischen Kaisers und schickte seinen Prälaten voran, um für ihn die Schenken mit den besten Weinen ausfindig zu machen. Der Prälat sollte die Türen der als gut befundenen Örtlichkeiten mit einem in Kreide geschriebenen lateinischen »est« markieren (»hier gibt es«, wie in »hier gibt es guten Wein«). Als er das Dorf

Einfach mal loslegen! James Victores motivierendes Ausrufezeichen.

Montefiascone erreichte, stieß der Prälat auf einen derart köstlichen Wein, dass er ein begeistertes »Est! Est!! Est!!!« an die Gasthaustür schrieb. Der Bischof war von dem Getränk so hingerissen, dass er seine Reise abbrach, obwohl er sich gerade einmal hundert Kilometer von Rom entfernt befand, und verbrachte den Rest seines Lebens damit, in Gesellschaft seines Prälaten Wein aus Montefiascone in sich hineinzukippen. Diese Geschichte ist eine Legende, denn das Ausrufezeichen wurde erst Hunderte von Jahren später erfunden, doch dem Ruf des Weins hat dies nicht geschadet. Noch heute kann man Weißwein der Marke Est! Est!! Est!!! kaufen, wenngleich dieser bei Kennern weniger beliebt ist als bei Fuggers Gefährten.

Man hüte sich vor jenen, die nicht angemessen begeistert sind. In einer denkwürdigen Szene zwischen Elaine (der weiblichen Hauptfigur aus Seinfeld) und ihrem damaligen Freund Jake bemerkt Elaine am Ende einer von Jake geschriebenen Notiz das eklatante Fehlen von !. Eine ihrer Freundinnen hatte telefonisch ausrichten lassen, dass sie ein Baby bekommen habe. Elaine fragt sich, ob eine derartige Nachlässigkeit in der Zeichensetzung ein Hinweis auf ein fehlendes emotionales Interesse an ihrem Leben sein könnte (obwohl sie ihrem Freund davon nichts erzählt). Der Konflikt um das Ausrufezeichen spitzt sich schnell zu und führt zu einer hitzigen Trennung, bei der Jake aus der Wohnung stürmt, Elaine anschreit, sie solle seinen Abschiedsworten, denen er eine in die Luft gezeichnete !-Geste folgen lässt, ein Ausrufezeichen anfügen: »Ich mach die Flatter!«

Es gibt eine kleine, aber feine Reihe von Satzzeichen-Szenen in Fernsehkomödien: In der US-Version von The Office etwa planen Jim und Dwight eine Geburtstagsparty für ihre Kollegin Kelly, bei der sie bis hin zum Plakat alles vermasseln. Dwight hängt ein schlichtes Schwarz-Weiß-Schild mit der Aufschrift »DU HAST GEBURTSTAG.« auf, womit er Jim auf die Palme bringt, der ein leidenschaftliches Ausrufezeichen für das Mindeste hält, was man für eine Kollegin tun könne. »Eine Darstellung der Fakten«, hält Dwight dagegen: »So ist das viel professioneller. Sie hat ja kein Mittel gegen Krebs entdeckt.«

– !!! –

Doch man muss keine bahnbrechenden medizinischen Entdeckungen patentieren, um auf der !-Welle zu reiten. Viele Bands, Marken und Fernsehshows kennen den Unterschied zwischen einem einfachen Punkt und einem Punkt mit Aufschwung. Während die Sängerin P!NK die Bombe in der Namensmitte platzen lässt, nutzen Yahoo!, Jeopardy!, Moulin Rouge! und Mamma Mia! das Ausrufezeichen eher als Sprungbrett am Ende. Das deutsche Modeunternehmen Joop! wollte sich das Zeichen in seinem Logo JOOP! sogar urheberrechtlich schützen lassen und brach einen drei Jahre währenden Rechtsstreit mit dem europäischen Markenamt vom Zaun, bis seine Forderung schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen wurde. Im Ausrufezeichen liegt eine Art von Entschlossenheit, eine Eile, die den Leser auf die Seite des Jetzt bannt. Der Jazzmusiker Jackie McLean verdoppelt diese Übereiltheit noch, wenn er ! auf seinem Album von 1964 leicht nach vorne kippt und sie Zeile für Zeile wild von links nach rechts laufen lässt.

Ein halbes Jahrhundert später kann ein ! uns immer noch aufschrecken, wenn wir es dicht an dicht mit seinen Brüdern und Schwestern stehen sehen. Im Jahr 2010 veröffentlichte das Punkrock-Kollektiv Bomb the Music Industry! ein Album mit dem eingängigen Titel Adults!!!: Smart!!! Shithammered!!! And Excited by Nothing!!!!!!!. Mit sieben Ausrufezeichen am Ende. Doch wie spricht man ein freistehendes Ausrufezeichen überhaupt aus? Nun, die amerikanische Rockband !!! kennt man auch unter dem nur wenig praktikablen Namen Chk Chk Chk.

Ausrufezeichen explodieren in unseren Ohren und Mündern: Das Internationale Phonetische Alphabet verwendet das !, um Laute anzuzeigen, bei denen die Zunge sich direkt hinter der oberen Zahnreihe befindet und einen Klicklaut erzeugt, den man etwa in mehreren südwestafrikanischen Khoisan-Sprachen wie »!Kung« findet. Die meisten Gebärdensprachen kennen für Satzzeichen bestimmte Handbewegungen, die die geschriebenen Formen imitieren, doch im Fall des Ausrufezeichens wird diese Aufgabe von Gesicht, Posen und Gesten übernommen.

Das berühmteste musikalische Ausrufezeichen steckt im Namen der für immer auf ein Weihnachtslied reduzierten Band Wham!, die von den Schulfreunden George Michael und Andrew Ridgeley im Jahr 1981 gegründet worden war. Mit Blick auf ihr interpunktuelles Markenzeichen erklärte Ridgeley einmal, das in Comics übliche Wort für Zusammenstöße, gefolgt von einem vorlauten Ausrufezeichen, würde die »Energie« und »Freundschaft« des Duos perfekt repräsentieren. Wham! sei ein »schwungvoller, unmittelbarer, lustiger und ungestümer« Name, den man nicht so schnell vergesse. Kurz vor Weihnachten 2020 verwandelte ein Fan das Ortsschild des nordenglischen Dorfes »Low Wham« in »Last Christmas Wham!« (So wie das Lied vorhersagt, sah das Schild am nächsten Tag noch genauso aus).

Die Verwandlung von Low Wham!

Es gibt Ausrufezeichen auf Schildern, und es gibt Ausrufezeichen in der Natur. Die kleinen türkischen Inseln Yılan und Siçam, gleich vor der Südwestküste der Region Antalya gelegen, bilden aus der Luft betrachtet ein perfektes Ausrufezeichen. Tatsächlich bedeutet der Name der langen, schlanken Insel Yılan »Schlange« und jener der kreisrunden Insel Siçam, die sich unter dem bedrohlichen Kopf ihres Satzzeichengegenstücks zusammenkauert, »Maus«.

Die Geografie kennt das erstaunliche Phänomen eines ! in einigen Ortsbezeichnungen. Ein Paradebeispiel hierfür

Yılan und Siçam versehen die türkische Ägäis-Küste mit einem Ausrufezeichen.

ist der Badeort Westward Ho! in der englischen Grafschaft Devon, der mithilfe eines Ausrufezeichens Touristen anzulocken versucht (der Name samt ! geht auf den gleichnamigen Roman von Charles Kingsley aus dem Jahr 1855 zurück). Doch den Guinness-Weltrekord für die Stadt mit den meisten Ausrufezeichen im Namen errang 2017 Saint-Louis-du-Ha! Ha!. Wie genau die kleine Stadt der kanadischen Provinz Quebec zu ihrem Namen kam, ist nicht geklärt – womöglich hatten die Gründungsmissionare einen überraschten Ausruf getan, als sie in eine unerwartete Sackgasse in Form eines vor ihnen liegenden Sees tappten.

An der Princeton University wurde das ! für Pfadangaben in frühen Formen von E-Mails verwendet. In Nachahmung neuronaler Netzwerke, die Informationen zunächst zerlegen, um sie ökonomisch zu entschlüsseln und zu übertragen, hatte eine prototypische E-Mail-Adresse die Form Princton!maths!Bob. Die Nachricht lief von der Princeton-Zentrale auf den Mathematik-Server und von dort zu einem Mitglied dieses Fachbereichs, in diesem Fall zu Bob; die Ausrufezeichen repräsentierten die jeweiligen Schnittstellen. Wenn Mathematiker Spaß haben wollen, denken sie sich Fakultäten aus, die sie mit ! kennzeichnen. Oder sie erfinden sogenannte »Schreikarten«, in denen ungewöhnliche Funktoren f und g mit f! oder g! gekennzeichnet werden.

In der Schachnotierung werden außerordentliche Züge mit !! kommentiert: ein einfaches ! bezeichnet einen starken Zug; !? bedeutet interessant, aber riskant, und ?! kennzeichnet ein zweifelhaftes Manöver.

Das ! taucht überall in unserem Alltag auf, sei es in Gedichten, Museen und hochtrabenden Forschungsprojekten oder in Werbeanzeigen, Tweets und der Popkultur. Das vielseitige Ausrufezeichen überwindet ohne Mühe gesellschaftliche Schranken und passt sich allen erdenklichen Situationen und Kontexten an. Es ist ein Chamäleon, das unsere Stimmung auf erfreuliche wie auf beunruhigende Weise beeinflussen kann. Unerschütterliche Anhänger wie eingefleischte Gegner wissen: Mit großem Geschick weckt es in uns starke Emotionen genauso, wie es die Gefühle der Schreibenden registriert. Das Ausrufezeichen schleicht sich in unsere Gehirne und Körper, es macht uns nervös – und genau so sollte es auch sein.

– !!! –

Unsere Rebellische Geschichte hat sich zum Ziel gesetzt, das Ausrufezeichen von seinem viel geschmähten und missverstandenen Platz am unteren Ende der Satzzeichenhierarchie zu erlösen. Sie will darlegen, warum es durchaus Sinn ergibt, einen Schrei in Texten als solchen zu kennzeichnen (man denke etwa an die zoologische Feststellung »Das ist eine Ente.« im Gegensatz zum empörten Ausruf »Das ist eine Ente!« über eine möglicherweise lancierte und kriegsauslösende Falschmeldung), und sie entwickelt ein viel differenzierteres Verständnis zur Funktionsweise von Ausrufezeichen in Sätzen und unseren Köpfen. Sie untersucht, wie das Ausrufezeichen vor etwa sechshundert Jahren entstand, und liefert Argumente, warum es sinnvoll ist, an ihm festzuhalten. Wir werden die verschiedenen Formen aufzeigen, in denen das Ausrufezeichen seine Spuren in der Kunst, der Literatur, der Popkultur und fast allen anderen Formen menschlichen Tuns hinterlassen hat.

Das verräterische Ausrufezeichen birgt Bedeutungen auch jenseits des Texts und fordert für sich neue Aufgaben auf unerwarteten Gebieten. Damit ist das ! anfällig für Missbrauch; sein umstrittenes Charisma führt es in die dunklen Gefilde der Massenmanipulation, wie die Kapitel über Politik, Werbung, Kognitionswissenschaft und digitale Kommunikation zeigen werden.

Das Ausrufezeichen. Eine rebellische Geschichte ist eine unverhohlene Begeisterungsbekundung für das, was der in Princeton lehrende Literaturwissenschaftler Lee Clarke Mitchell die »spiked delights«, die »pikanten Freuden« von ! nennt. Es regt uns dazu an, aufmerksam zu bleiben, genau hinzusehen, innezuhalten und nachzudenken. Es macht eine scheinbar transparente und zurückhaltende Zeichensetzung sichtbar, sodass ihre Rolle innerhalb der Kommunikation begriffen werden kann. Wenn man mit 280 Zeichen langen Tweets Wahlen beeinflussen, Pandemien kartieren und Märkte erschüttern kann, kommt es darauf an, die Verheißungen und Fallstricke von Buchstaben, Schriftarten, Emojis und Satzzeichen, vor allem aber der paradoxen !!! zu verstehen.

In seinem Englisch-Französisch-Wörterbuch von 1611 definierte Randle Cotgrave das ! als »Punkt der Bewunderung (und der Verabscheuung)«. Die Klammer, die sich in eine ansonsten klare Definition geschlichen hat, zeigt, dass das Ausrufezeichen eindeutig und zugleich auch schwer zu bestimmen ist. Es kann mehrere, sich zuweilen widersprechende Bedeutungen annehmen – Verwunderung wie Verachtung. Es entgleitet uns, es kennt die Höhen und Tiefen im Spektrum menschlicher Gefühle. Diese unberechenbare Mehrdeutigkeit hat uns schon immer beunruhigt. Vielleicht, weil das Ausrufezeichen seinen natürlichen Lebensraum, das Papier, verlässt und in unsere Körper eindringt, weil es ein gefühlsbezogenes Zeichen ist und uns eine emotionale Reaktion abverlangt. Angst, Zorn, Überraschung, Freude – plötzlich erwachen abstrakte Buchstaben zum Leben, sie werden von einem Punkt und dem darüber hängenden Strich zu Gefühlen. Ein ! übt Kontrolle über uns aus. Dieses Buch lädt dazu ein, ihm diese zu überlassen.

ERSTES KAPITEL

Ein äußerst pathetischer Punkt
Mit ! durch die Zeiten

Geschirrspüler, Autos, Handys. Wie oft halten wir inne und denken über die Dinge nach, die wir jeden Tag benutzen und die uns das Leben entscheidend erleichtern? Und das bezieht sich nicht nur auf Dinge, sondern auch auf gesellschaftliche Rituale wie Weihnachten oder den Handschlag, ja selbst auf das Schreiben, eine siebentausend Jahre alte Errungenschaft, die wir von Generation zu Generation weitergegeben haben. All diese Dinge, all diese Gewohnheiten und intellektuellen Erfolge gab es nicht schon immer, sie mussten irgendwann erfunden werden. Und doch nehmen die meisten von uns sie als gegeben hin. Wir erachten es als selbstverständlich, dass wir unsere Gedanken in einen Haufen willkürlicher Schnörkel zwängen, die die Zeilen eines Blattes Papier oder eines Bildschirms bevölkern, und dass dieselben Schnörkel wiederum in den Köpfen oder Kehlen anderer Menschen am anderen Ende der Welt oder in einer fernen unbekannten Zukunft zum Leben erwachen können.

Aber nicht nur Buchstaben haben ihre Geschichte, sondern auch jene kleinen Tupfer, die hier und da zwischen eigensinnige Wörter gestreut werden, um (nicht immer erfolgreich) deren anarchische Tendenzen zu orchestrieren. Die alten Griechen und Römer etwa verstanden die Schrift noch als Aufzeichnung des gesprochenen Wortes und nicht als eigenständige Manifestation der Sprache. Deshalb kamen sie gar nicht auf die Idee, zwischen einzelnen Wörtern Raum zu lassen, siefabriziertenalsoinetwasoetwaswasaberdaslesenziemlichmühsamundlangsammachte. Das war zwar gewiss platzsparend (was besonders nützlich sein kann, wenn man jeden Buchstaben in Marmorblöcke meißeln muss), jedoch für ungeübte Griechisch- oder Lateinleser, die keine Ahnung hatten, wo ein Wort endete und ein neues begann, eher kontraproduktiv, von all den kunstvoll verschachtelten Satzungetümen ganz zu schweigen. Antike Bibliothekare, Lehrer und Schüler entwickelten deshalb ein Zeichensystem, das half, die Anatomie von Sätzen zu verstehen und zu wissen, wo man eine Pause einlegen sollte, um Luft zu holen.

Erste Fassungen von Komma, Punkt und Doppelpunkt (plus Leerzeichen zwischen den Wörtern zur besseren Übersicht) wurden zu Krücken des Lesens und Schreibens, und sie erfüllten ein knappes Jahrtausend lang ihren Zweck. Vom 5. bis ins 13. Jahrhundert betrieb die Kirche das Handwerk des Schreibens fast allein, was zu einem Mangel an Experimentierfreude und Fortschritt führte. Doch vom 13. Jahrhundert an entwickelten sich die italienischen Stadtstaaten und begannen, das alleinige Recht der Kirche auf das geschriebene Wort infrage zu stellen. Lesen und Schreiben eroberten Bereiche jenseits der Theologie: den Handel, die Diplomatie und sogar die Liebeslyrik. Doch mit Zunahme des Textverkehrs konnten drei Satzzeichen die Last der Kommunikation nicht mehr allein tragen: Neue Zeichen waren nötig, um die Feinheiten der Schrift herauszustellen, und so schlossen sich Frage- und Ausrufezeichen den Reihen der Interpunktionszeichen an. Sie halfen Lesern, den Tonfall eines Satzes mit einem Blick zu erfassen.

Während das Fragezeichen seinen Weg in die weltliche Schrift außerhalb der Klostermauern fand (wo es den musikalischen Zweck erfüllte, das Heben der Gesangsstimme anzuzeigen), war das Ausrufezeichen der Geniestreich eines Mannes, der irgendwann in der Mitte des 14. Jahrhunderts von dem Wunsch gepackt wurde, ein völlig neues Zeichen zu schaffen. In seiner Abhandlung Ars punctandi (Die Kunst der Zeichensetzung) sinniert der italienische Gelehrte und Dichter Jacobus Alpoleius de Urbisaglia: »Als ich sah, dass die exklamatorischen oder admirativen Sätze auf die gleiche Weise gesprochen wurden wie fortlaufende oder Fragesätze, gewöhnte ich mir an, das Ende solcher Sätze durch einen deutlichen Punkt und ein Komma seitlich über demselben Punkt zu kennzeichnen.« Eine Art Punkt, über dem rechts versetzt ein Komma oder Apostroph schwebt. Ein frecher kleiner textueller Ohrring, der über einer Zeile baumelt.

Das Ausrufezeichen war schon bei seiner Geburt ein Rebell. Es sollte jedoch ein weiteres halbes Jahrhundert dauern und bedurfte der Fantasie eines weiteren Interpunktionsliebhabers, ehe seine erste visuelle Form aufgezeichnet wurde. Im Jahr 1399 verwandelte der Florentiner Anwalt und Politiker Coluccio Salutati in seinem Werk De nobilitate legum et medicinae (Vom Vorrang der Jurisprudenz oder der Medizin) Alpoleius’ Worte in jenes !, das wir heute kennen. Coluccio legte sich in dieser humoristischen Streitschrift mit den Ärzten an und behauptete, dass die Medizin im Gegensatz zur Jurisprudenz keine Wissenschaft, sondern Spekulation sei. In einer Antwort auf Bernhardinus Florentinus, der zuvor die Medizin gepriesen hatte, entbrannte er in gespielter Leidenschaft: »Ich bitte Sie und andere Doktoren dringend, bitte antworten Sie mir!« Dasselbe Dokument enthält darüber hinaus die ersten Klammern für zusätzliche Informationen innerhalb eines Satzes. Wenngleich der Text von seinem Sekretär geschrieben oder aus dessen Notizen abgeschrieben wurde, zeigt er doch Coluccios eigene handgeschriebene Änderungen, darunter auch Satzzeichen, die er zwischen die engen Wortketten trieb.

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