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Liebesglück in der kleinen Kaffeerösterei

Als Buch hier erhältlich:

Kaffee wärmt die Seele!

Es ist lange her, doch die tiefe Schuld, die ihre Familie einst auf sich genommen hat, nagt noch immer an Corinne: Als regimetreuer Nazi hat ihr Urgroßvater eine jüdische Familie verraten und in eine grausame Zukunft geschickt. Im Tagebuch ihres Großvaters hat Corinne von Sarahs Geschichte erfahren und weiß inzwischen: Sarah lebt. Erst zögerlich, hat sie Kontakt zu ihr aufgenommen, um diese Schuld endlich zu tilgen, und kann nun selbst kaum glauben, dass Sarah ihr zu einer guten Freundin geworden ist. Die Gespräche mit der älteren Frau geben ihr Halt und Kraft. Als plötzlich Corinnes Traum zu zerplatzen scheint und ihre Kaffeerösterei »Öcher Böhnchen« vor dem Aus steht, könnte ausgerechnet Sarah die Lösung ihrer Probleme in der Hand halten.


»Paula Stern schreibt gefühlvoll und fesselnd zugleich und dabei so wunderbar bildreich, dass wir beim Lesen ständig den Duft von frischem Kaffee in der Nase hatten ...« Mrs. Greenbird. (Sarah & Steffen Brückner)


  • Erscheinungstag: 24.01.2023
  • Aus der Serie: Die Kaffeedynastie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904860
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Christiane.
Danke für die wunderbare gemeinsame Arbeit.

Personen und Handlungsorte

Euweiler

Ein kleiner fiktiver Ort in der Eifel, in der Nähe von Aachen. Hier lebt Eberhard Ahrensberg in den ersten Jahren der Nachkriegszeit.

Aachen

Die Villa Ahrensberg ist im Preusweg angesiedelt.

Die Firmenvilla von Ahrensberg Kaffee steht in der Lütticher Straße. Das Firmengebäude bekam im Laufe der Jahrzehnte mehrere Anbauten – in diesen Hallen wird Kaffee gelagert, geröstet und für den Einzelhandel verpackt.

Corinnes Rösterei Öcher Böhnchen liegt in der Aachener Innenstadt, in der Nähe des Doms.

Noahs Rösterei ist am Marschiertor angesiedelt.

Brasilien

Die verpachtete Kaffeeplantage der Familie Ahrensberg liegt in São Paulo.

Schweiz – Aargau – Bottwil

Ein kleiner erfundener Ort in der Schweiz, in dem die Rosenbaums nach dem Krieg eine neue Heimat finden.

Familie Ahrensberg

Die Urgroßeltern

August Ahrensberg

Johanna Ahrensberg

Die Kinder

Marianne, Rudolf, Barbara und Eberhard

Die Großeltern

Eberhard Ahrensberg, geb. 1929

Magdalena Ahrensberg, geb. 1930

Sohn

Günther

Die Eltern

Günther Ahrensberg, geb. 1950

Esther Ahrensberg, geb. 1960

Die Kinder

Alexander Ahrensberg, geb. 1985

Corinne Ahrensberg, geb. 1992

Mitarbeiter bei Ahrensberg Kaffee, im Öcher Böhnchen und in der Villa

Dr. Waldemar Hartmann – Unternehmensjurist

Thomas Feldmann – Marketing

Beatrice Breithaupt – Chefsekretärin

Karsten Otto – Qualitätsbeauftragter

Karl Lohmeyer – Außendienst

Emil – Pförtner

Kurt – Hausmeister

Klara – Haushälterin in der Villa Ahrensberg

Alfred – Gärtner

Frieda – Verkäuferin im Öcher Böhnchen

Freunde

Susan Jones

Sebastian Wagner

Noah Engel

Sarah Rosenbaum

Familie Pelzmann

Bernhard Pelzmann

Charlotte Pelzmann

Tochter

Isabella Pelzmann

Familie Rosenbaum

Jacob Rosenbaum, geb. 1918

Rebecca Rosenbaum, geb. 1917

Tochter

Sarah, geb. 1941

Die Bewohner der Kaffeeplantage

Fernando Oliveira Silva

Luciana Crepaldi Oliveira

Tochter

Katalina Oliveira Silva

Kapitel 1
Frühlingsgefühle

Aachen • Oche • Aix-la-Chapelle • Aken • Aquae Granni

Gegenwart: März

Der Wind hatte seine eisige Bissigkeit verloren und strich an diesem frühen Vormittag sanft durch die Straßen. Er streichelte Corinnes Gesicht und spielte mit ihren Locken, ohne dass sie fröstelnd den Kragen ihrer Jacke hochschlagen musste. In den Scheiben der Häuser spiegelten sich die schräg stehende Sonne, die nun täglich mehr Kraft bekam, und der blaue Himmel, an dem nur vereinzelte Schäfchenwolken zu sehen waren. Natur und Menschen kamen aus ihrer Deckung und schüttelten sich den Winter von der Seele.

Seit Tagen arbeiteten die Mitarbeiter der städtischen Grünflächenpflege auf Hochtouren, um Tausende Frühlingsboten zu pflanzen. Überall blühten Stiefmütterchen, Primeln, Narzissen, Hornveilchen, rote Bellis, blaue Vergissmeinnicht und viele andere Frühlingsblumen. Die liebevoll angelegten Rabatten leuchteten mit ihrem Potpourri aus kräftigen Farben gegen das Wintergrau an. Corinne konnte sich kaum sattsehen daran. Auch das endlich wieder sprudelnde Wasser in den Brunnen, die bis gestern noch im Winterschlaf gelegen hatten, verstärkte ihre gute Laune. Ihr fröhlich klingendes Plätschern war wie Musik für Corinne – die Musik ihrer Heimat.

Aachen war für sie die schönste aller Städte. Sie liebte die vielen Wasserspiele und Skulpturen, die Architektur, den Dom, die Menschen und den Lebensstil. Besonders innig liebte sie die Stadt aber im Frühling, denn dann legte sich ein Zauber über alles und erzählte von Hoffnung und neuer Energie.

In diesem Jahr spürte Corinne das vielleicht noch intensiver, nahm es noch bewusster wahr, denn ihr Leben stand selbst im Zeichen des Neubeginns – privat wie auch geschäftlich. Sie hatte vor vier Wochen ihre eigene kleine Rösterei eröffnet, das Öcher Böhnchen. Es war ein grandioser Start gewesen und die Begeisterung der Kunden riss seither nicht ab.

Ihr Wagnis mit der eigenen Rösterei hatte die Feuertaufe bestanden. Mehr noch – ihre Hoffnungen waren übertroffen worden. Vom ersten Tag an schaffte ihr Öcher Böhnchen weit mehr als den täglichen Sollumsatz, den sie sich als Ziel gesetzt hatte. Es gab so viel zu tun, dass Corinne das gar nicht allein bewältigen konnte, deshalb hatte sie bereits kurz nach der Eröffnung eine Aushilfskraft eingestellt. Frieda arbeitete momentan stundenweise im Böhnchen, doch Corinne hatte ihr gestern angeboten, ihre Anstellung auf eine Halbtagsstelle auszuweiten.

Für Corinne war ihre junge Mitarbeiterin ein Segen. Sie hoffte, dass Frieda das Angebot annehmen würde, denn dann hätte sie selbst mehr Planungsfreiheit und wäre nicht komplett an ihre Geschäftszeiten gebunden. Die Rösterei warf auf jeden Fall genug ab, um eine Angestellte zu tragen, das hatte sich in der kurzen Zeit bereits erwiesen.

Beruflich stand Corinne damit jetzt schon, so kurz nach ihrem Start in die Selbstständigkeit, auf sicheren Beinen. Als Sahnehäubchen auf ihrem Kaffee kam hinzu, dass sie seit ein paar Monaten frisch verliebt und gerade erst zu ihrem Freund Noah gezogen war – der ebenfalls eine eigene Kaffeerösterei betrieb.

In seiner Junggesellenbude, direkt über seinem Laden, hatten sie sich ein kuschliges Nest eingerichtet und genossen jede Sekunde, die sie gemeinsam dort verbringen konnten. Doch trotz aller Verliebtheit war ihnen beiden bewusst, dass die knapp vierzig Quadratmeter zwar gemütlich waren, auf Dauer allerdings deutlich zu beengt.

Seit Corinnes Einzug studierten sie deshalb allmorgendlich bei einer Tasse Kaffee gemeinsam die Immobilienanzeigen. Sie wussten genau, was sie sich wünschten. Die neue Wohnung sollte groß genug sein, um auch ihre Büros unterzubringen, und in der Innenstadt liegen, sodass sie beide ihre Geschäfte bequem zu Fuß erreichen konnten. Leider gab der völlig überlaufene Wohnungsmarkt bislang nichts auch nur annähernd Passendes her und auch über ihr Netzwerk hatte sich noch nichts ergeben.

Für Corinne war das wie ein Déjà-vu, denn es war noch gar nicht lange her, da hatte sie intensiv nach geeigneten Räumen für ihre Rösterei gesucht und war drauf und dran gewesen, die Hoffnung aufzugeben. Aber genau wie die Suche nach Geschäftsräumen würde auch die Wohnungssuche über kurz oder lang erfolgreich sein. Ganz sicher wartete irgendwo das perfekte Heim für sie, die Überzeugung hatte sich in Corinne fest verankert.

Ihre Gedanken wanderten zu Noah. Sie hatte sich gerade erst vor zehn Minuten von ihm verabschiedet, doch sie vermisste ihn jetzt schon. Wie gut, dass es nur ein paar Stunden dauerte, bis sie sich wiedersahen. Sie hatten sich im Café Emotion zum Mittagessen verabredet. Susan, die Inhaberin des Cafés, war ihre gemeinsame Freundin und so etwas wie die Patin ihrer Liebe, denn durch sie war Corinne auf Noah aufmerksam geworden. Er belieferte Susan mit ausgewählten Kaffeesorten und sein erlesenes Sortiment hatte Corinne begeistert. Doch damit nicht genug. Susan, die eine gebürtige Engländerin war, hatte ihr in ihrem amüsanten Mix aus Deutsch und Englisch so lange von dem »lovely Zuckerstückchen« vorgeschwärmt, bis Corinne gar nicht mehr anders gekonnt hatte – sie hatte diesen Mann kennenlernen müssen, der Susan so in Verzückung versetzte.

Kurz entschlossen hatte sie ihn in seinem Geschäft aufgesucht. Erst einmal nur, um ihre Neugier zu befriedigen.

Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie vor Noahs Geschäft gestanden und einen ersten Blick durch das Schaufenster geworfen hatte, bevor sie in den Laden getreten war. Bei dieser ersten Begegnung damals war sehr schnell klar gewesen, dass sie nicht nur die Leidenschaft für guten Kaffee teilten, sondern sich auch auf Anhieb ziemlich gut leiden konnten. Susan hatte mit ihren Beschreibungen wahrlich nicht übertrieben. Noah war tatsächlich ein Zuckerstückchen, auch wenn Corinne dieses Wort nie in den Sinn gekommen wäre, sie hätte vielleicht gesagt, er war ein Hingucker. Und er hatte Charme und Herzenswärme, das hatte sie von der ersten Sekunde an gespürt.

Noah führte seine kleine Kaffeerösterei bereits etliche Jahre und hatte viel Erfahrung mit schonendem Rösten und exquisiten Kaffeesorten. Er kannte Kaffeebauern auf der ganzen Welt und achtete sehr genau auf die Anbaubedingungen vor Ort. So oft es ihm möglich war, reiste er auch in Anbaugebiete, um die Menschen dort zu erleben und sich zu überzeugen, dass es allen gut ging. Außerdem war er ein sehr großzügiger Mensch, dem Neid und Konkurrenzdenken vollkommen fremd waren. Das war auch der Grund, weshalb Corinne sich schon kurz nach ihrem Kennenlernen ein Herz gefasst hatte. Sie hatte ihren Mut zusammengenommen, war zu ihm gegangen und hatte ihn gebeten, ihr alles rund um den Betrieb einer kleinen Rösterei und das behutsame Rösten von Kaffee beizubringen.

Als eine Ahrensberg war sie zwar mit Kaffee aufgewachsen und hatte sich von Kindheit an mit diesem Thema beschäftigt, aber sie kannte nur die familieneigene Großrösterei, die in großen Chargen für kommerzielle Abnehmer produzierte. Von der Kunst des langsamen Röstens wusste Corinne zwar, nicht zuletzt, weil ihr Großvater ihr oft davon erzählt hatte, aber zu dem Zeitpunkt, als sie beschlossen hatte, eine eigene Kaffeemanufaktur zu eröffnen, hatte ihr das Detailwissen noch gefehlt. Außerdem hatte Corinne mit ihrem Betriebswirtschaftsstudium zwar eine gute theoretische Basis, um eine eigene Firma zu gründen, sie hatte aber in der Praxis etwas Unterstützung gebraucht.

Insgesamt waren die Umstände für sie nicht ganz einfach gewesen, denn sie hatte sich kurzfristig gegen ihre Familie stellen müssen, um sich selbst nicht zu verlieren. Und diese Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen.

Corinne gehörte zur Kaffeedynastie Ahrensberg. Die Großrösterei Ahrensberg Kaffee war seit Generationen im Familienbesitz und seit Jahrzehnten Marktführer in Deutschland. Sie hatte das gemachte Nest verlassen, um in eine unsichere Zukunft zu starten.

In ihre Gedanken hinein klingelte ihr Handy. Sie sah kurz auf das Display und nahm den Anruf an. »Alexander, guten Morgen. Was ist los? Brauchst du guten Kaffee?«

Sie lachte und ihr Bruder stimmte ohne zu zögern mit ein. Dass sie ihn so locker necken konnte, erfüllte Corinne mit Glück. Sie hatten Zeiten hinter sich, in denen sie sich kaum ohne Streit hatten grüßen können.

»Tja, Löckchen, ich glaube es ist eher umgekehrt. Ich habe guten Kaffee für dich«, nahm Alexander das Gefecht auf. Doch bevor sie weiter herumalbern konnte, wurde er geschäftsmäßig. »Nein, im Ernst, Schwesterchen, gestern kam eine Lieferung von Fernando bei uns an und deine fünf Säcke handgeernteter Arabica waren auch dabei. Möchtest du die Ware abholen oder soll ich Kurt bitten, sie dir vorbeizubringen? Ich bin sicher, er würde sich über den Auftrag freuen.«

Der Hausmeister von Ahrensberg Kaffee war ein patenter Mann, der Corinne sehr in sein Herz geschlossen hatte. Er freute sich immer, wenn er ihr helfen konnte – daran hatte sich auch nach ihrem Weggang aus dem Familienbetrieb nichts geändert. Die Belegschaft war der Tochter des Hauses weiterhin wohlgesonnen. Viele der Mitarbeiter kannte sie von Kindesbeinen an und sie hatte immer ein gutes Verhältnis zu den Leuten gepflegt. Das wirkte nach.

»Wenn Kurt das übernehmen würde, wäre ich sehr dankbar. Ich habe so viel zu tun, dass ich kaum hinterherkomme. Hat alles geklappt? Hat Fernando zwei Rechnungen geschrieben?«, fragte sie.

Das Prozedere war noch nicht richtig eingespielt, denn das war erst die zweite Lieferung, die Corinne über diesen Weg bezog. Beim ersten Mal hatte Fernando alles Ahrensberg Kaffee in Rechnung gestellt, was ein buchhalterisches Kuddelmuddel zur Folge hatte. Eine saubere Trennung der Betriebe war wichtig, damit es nicht irgendwann Probleme gab, falls eines der Unternehmen einer Kontrolle durch das Finanzamt unterzogen wurde.

»Mach dir keine Sorgen, alles bestens. Die Rechnung liegt bei mir auf dem Tisch. Wir sehen uns die Tage sicher, dann gebe ich sie dir. Aber jetzt was anderes. Warst du diese Woche schon bei unseren Eltern? Ich wollte gestern hin, aber habe es dann doch nicht geschafft«, wechselte Alexander nun das Thema.

»Nein, ich war nicht dort, will sie aber in den nächsten Tagen auf jeden Fall besuchen. Gestern habe ich mit Mama telefoniert. Es ist alles in Ordnung. Papa kann zwar noch nicht aufstehen, aber er probt wohl den Aufstand und treibt die Schwestern in den Wahnsinn. Aber du kennst ja unsere Mutter, sie lässt sich so schnell nicht von Papa aus der Ruhe bringen. Sie ist froh, dass es ihm schon wieder so gut geht.«

Vor fast genau einem halben Jahr hatte ihr Vater, der Kaffeebaron, einen Schlaganfall erlitten. Im Anschluss hatte man ihn für einige Zeit in ein künstliches Koma gelegt, um die bestmögliche Genesung zu gewährleisten. Corinne und Alexander hatten in dieser Zeit gemeinsam die Firmenleitung von Ahrensberg Kaffee übernommen oder es zumindest für ein paar Wochen versucht. Doch es hatte von Anfang an viel Streit gegeben. Alexander hatte sie nicht als ebenbürtige Partnerin gesehen. Er hatte vehement all ihre Vorschläge und Ideen abgeschmettert und sie bei wichtigen Entscheidungen immer wieder übergangen. Sie hatten hitzige Debatten geführt, aber so sehr Corinne es sich auch gewünscht hatte, sie hatten keinen gemeinsamen Nenner finden können. Zu unterschiedlich waren ihre Vorstellungen von der Firmenleitung und auch von den Geschäftszielen. Für Alexander war Ahrensberg Kaffee in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen und Kaffee eine Handelsware. Es galt, möglichst günstig einzukaufen und zu produzieren und möglichst gewinnbringend weiterzuverkaufen. Der Kaffee musste einer breiten Masse schmecken und erschwinglich sein. Für Corinne hingegen stand nicht der Gewinn an erster Stelle, sondern der Kaffee und die Menschen. Sie wollte bestmögliche Qualität, selbst wenn dadurch die Gewinnspanne etwas kleiner wurde. Für Alexander waren ihre Ideen weltfremde Träumereien gewesen, die sich nicht mit der Führung eines großen Unternehmens vereinen ließen. Machtkämpfe, die Corinne so nicht gewollt hatte, waren deshalb unvermeidlich gewesen.

Und aus diesem Grund hatte Corinne sich für ihren eigenen Weg entschieden. Sie hatte ihren Platz in der Firmenleitung abgegeben und ihre kleine Rösterei eröffnet, in der sie ganz nach ihren Vorstellungen und Prinzipien agieren konnte. Nun führte ihr Bruder das Familienunternehmen allein und er machte seine Sache gut.

Kurz vor Weihnachten war der Kaffeebaron dann endlich aus dem Koma erwacht und sie hatten eine Möglichkeit gefunden, ihn zu Hause weiterzupflegen. Dass er inzwischen wieder in der Lage war mit seinen Pflegerinnen zu streiten, erleichterte Corinne sehr. Es zeigte ihr, dass er auf einem guten Weg war.

»Das ist fantastisch!« Corinne hörte, wie Alexander tief durchatmete. »Ich bin wirklich froh, dass sich das so entwickelt. Nach allem was die Ärzte gesagt haben, ist das fast ein Wunder.«

Er klang unsicher. Corinne verstand sofort, was ihn beschäftigte. Natürlich war er ebenso glücklich wie sie selbst, dass es ihrem Vater besser ging, aber es machte ihm vermutlich auch Angst.

»Wir sind alle froh, Alexander. Mach dir keine Sorgen. Sobald Papa stark genug ist, werden wir ihn mit der Wahrheit konfrontieren. Er wird toben, aber er wird es akzeptieren. Mama und ich stehen dir bei, zu dritt werden wir unseren alten Herrn schon weichkochen. Das wäre doch gelacht!«

»Dein Wort im Gehörgang des Kaffeebarons«, sagte Alexander und seufzte. »Egal was passiert, Corinne. Ich bin dir dankbar. So wie es jetzt ist, ist es richtig.« Alexanders Stimme klang belegt, Corinne hörte, wie sehr ihn das Thema aufwühlte. Doch nur einen Moment, dann räusperte er sich und hatte sich wieder im Griff. »Also, ich muss jetzt mal wieder. Bei uns wird wirklich gearbeitet, nicht nur mit Kaffeebohnen gespielt wie in einem gewissen Böhnchen, weißt du?«

»Pass nur auf, dass du nicht zu laut schnarchst bei deiner Arbeit«, konterte Corinne gut gelaunt. Bevor Alexander sich eine Antwort überlegen konnte, trällerte sie: »Tschüs, Brüderchen. Grüß Thomas von mir. Bis demnächst. Und danke!«

Sie kappte die Verbindung und steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche. Wieder mit ihrem wunderbaren Bruder flachsen zu können, ihn wieder eng in ihrem Leben zu haben, so richtig, nicht nur die undurchdringliche Fassade, war wunderbar. Noch vor wenigen Wochen war Alexander ihr gegenüber ein völlig anderer Mensch gewesen, abweisend und schroff. Die Streitereien um die Abläufe in der Firma waren auch daraus entsprungen, dass Alexander sich und seine Gefühle verschlossen hatte. Zu groß war seine Angst davor gewesen, dass sein Lebensgeheimnis aufgedeckt wurde.

Alexander war schwul. Er lebte in einer Beziehung mit Thomas Feldmann, dem Marketingleiter von Ahrensberg Kaffee, und er hatte unfassbar große Angst vor dem Outing gehabt. Alexander hatte befürchtet, durch ein Bekenntnis alles zu verlieren – seine Stellung im Familienunternehmen ebenso wie seine Familie.

Doch das Doppelleben hatte seinem Glück im Weg gestanden. Er hatte sich dadurch von der Familie abgewandt, hatte sie aus seinem Leben und von seinem Glück ausgeschlossen und war immer einsamer geworden. Als Corinne hochmotiviert und voller Pläne für Veränderung in die Firma gekommen war, war sie in die Schusslinie geraten. Erst als sie eines Tages wutschnaubend in Alexanders Büro gestürmt war und dabei versehentlich das Geheimnis gelüftet hatte, hatten die Geschwister endlich die Aussöhnung geschafft.

Corinne hatte ihrem Bruder gezeigt, dass seine Familie hinter ihm stand und sowohl sie als auch ihre Mutter nur sein Glück wollten, unabhängig davon, bei wem oder wo dieses Glück lag.

Der konservative Kaffeebaron wusste allerdings bis heute noch nichts davon, dass Alexander einen Mann liebte und mit ihm zusammenlebte. Vermutlich würde er die Nachricht nicht so entspannt aufnehmen, wie Corinne und ihre Mutter es getan hatten. Die anstehende Aussprache mit ihrem Vater nahm ihren Bruder sehr mit.

Corinne konnte Alexander verstehen, denn das würde kein Spaziergang werden. Ihr Vater war leider ein konservativer Sturschädel. Für Schwule und Lesben hatte er absolut kein Verständnis, an dieser Einstellung hatte sicher auch die Krankheit nichts geändert. Corinne konnte sich an manch derbe Aussprüche erinnern. Einmal hatte er beim Frühstück einen Teller zerbrochen, weil er wütend mit der Faust auf den Tisch geschlagen hatte. Auslöser seines Zorns war ein ganzseitiger Bericht über die Loveparade in der Tageszeitung gewesen. Als Corinne sich plötzlich an diese Szene erinnerte, kamen weitere Bilder hoch. Alexander war sehr blass gewesen an diesem Morgen. Ihre Mutter hatte sogar seine Stirn gefühlt, weil sie dachte, er wäre krank. Er musste sich elend gefühlt haben. Durch diese Erinnerung wurde Corinne plötzlich noch viel deutlicher vor Augen geführt, wie unfassbar einsam und ängstlich Alexander sich all die Jahre gefühlt haben musste.

Aber jetzt waren sie an seiner Seite und gemeinsam würden sie das hinbekommen – das hatte sie nicht nur so dahergesagt. Sie glaubte daran, dass alles gut werden würde. Zu dritt würden sie dem Kaffeebaron die Stirn bieten. Wenn sie Noah und Thomas dazurechnete, waren sie sogar zu fünft.

Noch einmal würde sie ihren Bruder nicht verlieren, das stand für Corinne fest. Sie würde es nicht zulassen, dass sich je wieder etwas zwischen sie stellte. Zu sehr genoss sie das liebevolle Miteinander innerhalb ihrer Familie ebenso wie das positive geschäftliche Nebeneinander.

Und auch mit Noah klappte es nicht nur privat hervorragend, sondern auch beruflich lief es reibungslos. Genau wie er es vorhergesagt hatte, kamen sie sich mit ihren beiden Röstereien nicht in die Quere. Corinnes Geschäft lag direkt beim Dom und Noah hatte seinen Laden am Marschiertor. Beide Röstereien hatten ihren eigenen Kundenstamm, es funktionierte ausgezeichnet.

Die Entwicklung der letzten Monate erschien Corinne noch immer wie ein Wunder. Manchmal musste sie sich kneifen, um sicherzugehen, dass sie das alles wirklich erlebte.

Noch vor einem halben Jahr hätte sie sich nicht träumen lassen, dass ihr Leben innerhalb weniger Monate eine derart glückliche Wendung nehmen könnte – nicht nur in Sachen Liebe. Sie fühlte jeden Tag, dass sie ihren eigenen beruflichen Weg gefunden hatte und dabei dem Erbe ihrer Familie dennoch treu blieb, auch wenn sie nicht in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war. Diese kleine Rösterei war ihre wahre Bestimmung.

Corinne war wieder da, wo ihr Großvater nach dem Zweiten Weltkrieg angefangen hatte, ganz nah am Kaffee und an der Kundschaft. Sie war sicher, dass ihr Großvater sehr zufrieden wäre, wenn er das erleben dürfte. Wenn es einen Himmel gab, dann saß er nun ganz bestimmt irgendwo auf einer Wolke und hatte Spaß dabei, den Weg seiner Enkeltochter zu verfolgen.

Corinne war entschlossen, ihr Glück festzuhalten.

Der Frühling machte seinem Namen alle Ehre, alles schien zu wachsen und sich prächtig zu entwickeln. So viel Glück und Lebenslust, wohin sie auch blickte, was sollte da noch schiefgehen?

Beschwingt lenkte Corinne ihre Schritte durch die Innenstadt. Am liebsten hätte sie getanzt und die ganze Welt umarmt. Eine Gruppe Schüler marschierte plappernd und lachend mit schweren Ranzen vor ihr her in Richtung Schule am Fischmarkt. Einer der Jungs zeigte den anderen sichtlich stolz einen dick verbundenen Zeigefinger.

»Fünf Stiche!«, verkündete er. »Und ich hab sogar hingeguckt.«

Ein echter Held, dachte Corinne und schmunzelte. Es machte ihr großen Spaß, die Jungs zu beobachten. Sie waren so unbedarft und voller Neugier auf alles, was die Welt ihnen bieten konnte. Und trotzdem legten sie auch eine unverkennbare Ernsthaftigkeit in ihr Handeln.

»Hat es sehr wehgetan?«, fragte einer seiner Kameraden den Verletzten und schluckte. Allein der Gedanke daran, genäht zu werden, ließ ihn blass werden.

Der Held warf sich in die Brust. »Sehr!«, antwortete er inbrünstig.

Alle nickten und zeigten sich beeindruckt. So viel Tapferkeit – da fehlten ihnen die Worte. Der Held mit dem verbundenen Finger schien angesichts der Wirkung seiner Geschichte durchaus zufrieden. Nach dem Moment ehrfurchtvollen Schweigens wechselten die Jungs das Thema. Jetzt unterhielten sie sich über einen anstehenden Mathetest und über die Hausaufgaben. An der Jesuitenstraße bogen sie ab und verschwanden aus Corinnes Gesichtsfeld.

Aus einem der Häuser wehte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee zu Corinne herüber und sie hob im Vorbeigehen schnuppernd die Nase. Obwohl sie Tag für Tag Kaffeeduft um sich herum hatte, konnte sie nicht genug davon bekommen. Sofort machte sich ein warmes Gefühl in ihr breit. Kaffee wärmt die Seele – der Spruch stand auf einer ihrer Karten, die sie auch im Laden verkaufte. Aber es war viel mehr als nur ein Spruch, denn genau so erlebte Corinne es. Kaffee bedeutete Glück für sie.

Ihr Handy meldete sich mit einem lauten Piepsen. Corinne zog es aus ihrer Jackentasche und las die Nachricht, während sie langsam weiterschlenderte. Noah wollte wissen, ob sie schon im Böhnchen angekommen war. Er wünschte ihr einen erfolgreichen Vormittag und schickte ihr einen Kuss.

Jetzt blieb sie kurz stehen, um ihm zu antworten. Lächelnd schickte sie ihm tausend Küsse und genoss das warme Gefühl, geliebt zu werden.

Es war so wundervoll mit Noah. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, der so liebevoll und aufmerksam war. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass im Licht von Noahs Liebe ihre früheren Erlebnisse zu blassen Erinnerungsflecken geworden waren.

Ein Blick auf die Uhr riss Corinne aus ihrer Tagträumerei. Vor lauter Frühling hatte sie sich auf dem Weg zum Geschäft vertrödelt. Sie sollte sich jetzt besser beeilen.

Das Glockenspiel läutete, als Corinne die Tür zu ihren Geschäftsräumen aufstieß. Wie immer fiel ihr Blick beim Eintreten zuerst auf den Spruch, der in großen geschwungenen Buchstaben über ihrem Arbeitstisch prangte und der viel mehr für sie war als nur ein paar freundliche Worte. Es war Corinnes Lebensmotto.

Mit Liebe und Kaffee wird alles gut!

Sie lächelte. Ja, sie hatte in ihrem Leben beides im Überfluss – Liebe und Kaffee. Alles war gut.

»Guten Morgen!«, trällerte sie fröhlich in den leeren, noch dunklen Raum hinein. Sie durchquerte den Verkaufsraum und ging in ihren kleinen Aufenthaltsraum. Als Erstes knipste sie alle Lampen an, um ihren Laden auch von außen einladend wirken zu lassen. Dann legte sie ihren Mantel ab, bändigte ihre dunklen Locken in einem Pferdeschwanz und band sich die braune Schürze um, die an einem Garderobenhaken auf sie wartete. Auf dem Latz prangten ihr Firmenlogo und der Name der Rösterei. Corporate Identity, dachte sie und schmunzelte.

Für das perfekte und einheitliche Erscheinungsbild ihrer Rösterei war in erster Linie ihr bester Freund Sebastian zuständig. Er hatte bereits an der Webseite für ihre Manufaktur gearbeitet, als Corinne noch nicht mehr als den Plan hatte, sich selbstständig zu machen. Sie hatte großes Glück, einen Freund wie Sebastian zu haben. Anfangs war es zu kleineren Reibereien zwischen ihm und Noah gekommen, doch inzwischen waren die Fronten geklärt. Noah war ihr Lebensmensch und Sebastian ihr bester Freund und jetzt auch der gemeinsame Freund von ihr und Noah.

Seit Corinne ihr Öcher Böhnchen eröffnet hatte, war sie Tag für Tag mindestens eine Stunde vor Ladenöffnung da. Diese ruhige Stunde am frühen Vormittag war ihr ein lieb gewonnenes Ritual geworden. In dieser Zeit füllte sie die Regale auf, ging ihre Mails durch, kümmerte sich um Bestellungen oder trank auch nur in aller Ruhe eine Tasse Kaffee und ließ dabei die Seele baumeln.

Heute allerdings musste die Tasse Kaffee warten. Corinne wollte die neue Röstung über den Sortiertisch schleusen und für das Abpacken vorbereiten, bevor sie gleich die Tür öffnete und die ersten Kunden begrüßte. Neben dem Bedienen blieb ihr für diese Arbeit keine Zeit und Frieda kam erst am Nachmittag.

Sie machte sich ohne Umschweife ans Werk, kippte die frisch gerösteten Bohnen in den großen Trichter auf ihrem Sortiertisch und setzte sich auf den bereitstehenden Schemel. Mit inzwischen geübten Handgriffen betätigte sie den Hebel und ließ immer nur eine kleine Menge Bohnen auf die Tischplatte rutschen.

Konzentriert und leicht nach vorn gebeugt saß sie da. Sie mochte diese Arbeit, sie wirkte wie eine Art Meditation auf Corinne. Während ihr Blick über die Ware huschte und alles kontrollierte, war sie voll bei der Sache. Bohne für Bohne scannte sie ab und achtete dabei auch auf kleinste Fremdteile. Entdeckte sie etwas, sauste ihr Finger darauf zu und schob den Störer blitzschnell beiseite. Immer wenn sie eine bestimmte Menge abgesucht hatte, bewegte sie die kontrollierten Bohnen mit der linken Hand flink über den Tischrand direkt in den Kaffeesack hinein, den sie dort platziert hatte. Fast zeitgleich mit dieser Bewegung betätigte sie mit der rechten Hand den Hebel, um die nächste Ladung Kaffee auf den Tisch rutschen zu lassen. Dann begann das Spiel von Neuem.

Selbstverständlich war die Ware bereits vorsortiert, doch eine Endkontrolle war unumgänglich. Oft fanden sich zwischen den Kaffeebohnen kleine Steinchen oder auch Metallstücke, die beim Verpacken hineingeraten sein konnten – nichts, was Corinnes Kunden in ihrem Kaffee finden sollten.

Gleichzeitig begutachtete die frisch gebackene Kaffeerösterin bei dieser Gelegenheit immer auch noch ihre Arbeit. Waren alle Bohnen gleichmäßig geröstet, hatten sie die richtige Farbe und nicht zu viel Glanz? Sie hielt nach einem möglichen Schädlingsbefall Ausschau und achtete darauf, dass die Bohnen möglichst ganz waren. Lieferte ein Anbauer mehrfach Ware, die ihren Ansprüchen nicht genügte, gab es ein Gespräch. Im Wiederholungsfall flog er aus ihrer Lieferantenliste. Theoretisch zumindest, bisher war Corinne mit ihren Kaffeelieferanten sehr zufrieden und hatte keinen Grund zur Klage.

Was ihr Großvater wohl sagen würde, wenn er seine Enkeltochter so erleben könnte? Vermutlich würde er sehr zufrieden nicken und brummen: »Alles ist für etwas gut.« Corinne vermutete, dass er sie als Kind so oft in die Firma mitgenommen hatte, weil er sich genau das erhofft hatte, was eingetreten war. Er hatte damit den Grundstein für Corinnes Kaffeeleidenschaft gelegt.

Vor einigen Monaten hatte Corinne auf dem Dachboden von Ahrensberg Kaffee nicht nur den alten Röster ihres Großvaters entdeckt, der inzwischen das Herzstück ihrer Manufaktur war, sondern auch persönliche Unterlagen und ein Tagebuch. Seither las sie immer wieder in den Aufzeichnungen, die ihr Großvater ihr hinterlassen hatte. Sie freute sich schon darauf, bald wieder darin zu blättern.

Die Geschichten und Gedanken, die Eberhard Ahrensberg aufgeschrieben hatte, waren allerdings keine leicht verdauliche Kost. Ihr Großvater hatte den Krieg miterlebt, war in amerikanische Gefangenschaft geraten, hatte Familienmitglieder und Freunde verloren und – das war das Schlimmste an allem – gegen seinen eigenen Vater gekämpft, der ein überzeugter Nazi gewesen war.

Über dieses dick gefüllte Tagebuch hatte Corinne auch von Sarah Rosenbaum erfahren und war mit ihr in Kontakt getreten. Während des Krieges hatte Corinnes Urgroßvater Sarahs Familie verhaften lassen und ihr Großvater hatte erfolglos versucht, sie zu retten. Es war eine schlimme Vergangenheit, die Corinnes Großvater Zeit seines Lebens belastet hatte. Er hatte eine Schuld auf seinen Schultern getragen, die durch seinen regimetreuen Vater verursacht worden war. Seit Corinne mithilfe der Niederschrift ihres Großvaters ihre Familiengeschichte aufarbeitete, war sie sich ihrer Verantwortung, ein guter Mensch zu sein, noch sehr viel bewusster geworden. Die Vergangenheit durfte sich nicht wiederholen. Nie wieder.

Aus der zaghaften Kontaktaufnahme zu Sarah durch einen Brief von Corinne hatte sich eine warmherzige Beziehung entwickelt. Manchmal konnte Corinne kaum glauben, dass Sarah Rosenbaum bereits über achtzig war. Ihr Geist war jung und voller Esprit. Gleichzeitig hatte sie aber natürlich einen reichen Schatz an Lebenserfahrung und einen sehr eigenen Blick auf die Welt.

Corinne nahm sich vor, Sarah bald wieder einen Brief zu schreiben. Die alte Dame lebte in der Schweiz und sie empfanden eine herzliche Verbundenheit zueinander, obwohl sie sich bisher noch nicht persönlich kennengelernt hatten. Das wollte Corinne bald nachholen.

In Gedanken versunken schob Corinne die nächsten Bohnen in den bereitstehenden Sack und betätigte den Hebel am Trichter. Doch es kam nichts mehr, sie hatte es geschafft. Und es wurde auch höchste Zeit, die Tür zu öffnen.

Sie verschloss den Kaffeesack und brachte ihn nach hinten, in das Arbeitszimmer. Heute Nachmittag, wenn Frieda den Verkauf wuppte, konnte Corinne in aller Ruhe abfüllen und etikettieren.

Während sie zur Ladentür ging, meldete sich ihr Handy. Ihre Mutter rief an. Das war ungewöhnlich. Corinne beeilte sich, den Anruf anzunehmen. Ihr Puls beschleunigte sich schlagartig, als hätte sie gerade einen Spurt hingelegt.

»Guten Morgen, Mama. Alles in Ordnung? Ist etwas mit Papa?«

Kapitel 2
Zwei Angebote

Aachen • Oche • Aix-la-Chapelle • Aken • Aquae Granni

Gegenwart: März

Corinne trat so ordentlich in die Pedale, dass ihre Locken im Fahrtwind wirbelten. Wenn schon radeln, dann wenigstens schnell. Zu ihrer Freude hielt das laue Frühlingswetter an. Es war zum ersten Mal in diesem Jahr warm genug, dass ihr auch ohne Handschuhe nicht die Finger im eisigen Fahrtwind abfroren.

Als sie Noahs Rösterei erreichte, bremste sie quietschend ab und lenkte das Rad geschickt zwischen zwei parkenden Autos hindurch auf den Gehweg, direkt vor das Schaufenster der Rösterei.

Eigentlich ging sie viel lieber zu Fuß, doch heute trieb die Neugier sie zur Eile an. Außerdem war ihre Mittagspause zu kurz, um gemütlich vom Öcher Böhnchen zur Villa zu marschieren und wieder zurück. Was für ein Glück, dass sie das Lieferfahrrad im Böhnchen stehen hatte. Normalerweise nutzte sie es ausschließlich für die täglichen Kaffee-Auslieferungen. Dieser Spezialservice, den sie von Beginn an innerhalb Aachens anbot, wurde sehr gut angenommen.

Radfahren fand Corinne viel anstrengender als Laufen. Vor allem weil man sich beim Radeln viel mehr auf den Verkehr konzentrieren musste und nicht in den Tag hineinträumen konnte. Zumindest nicht, wenn man keinen Unfall riskieren wollte. Beim Schlendern hingegen ließ Corinne liebend gern nicht nur ihre Füße, sondern auch ihre Gedanken auf Wanderschaft gehen. Oft schon hatte sie durch die langsame körperliche Betätigung auch ihre Denkmuster in Bewegung gebracht und so manches Problem gelöst, das ihr vorher schier unlösbar erschienen war. Zu Fuß unterwegs zu sein war ihre Art, das Leben zu entschleunigen.

Corinne musste ihr Fahrrad gar nicht erst abstellen, denn Noah hatte sie bereits entdeckt. Er winkte ihr zu und strahlte sie an. Corinne sah, wie er die Schürze auszog und sich seine Jacke schnappte. Während er noch in die Ärmel schlüpfte, durchquerte er mit großen Schritten den Verkaufsraum und trat unter dem Klang des Tür-Glockenspiels aus dem Laden. An der Tür blieb er stehen, kramte den Schlüssel aus der Hosentasche und schloss ab. Corinne nutzte diese Gelegenheit, um ihren Freund eingehend zu betrachten. Wie immer, wenn sie in seine Nähe kam, flog ihr Herz ihm zu.

Noah war groß und durchtrainiert und er sah verdammt gut aus. Die dunkelblonden Haare hatte er, wie immer, wenn er in der Rösterei war, zu einem Zopf zusammengefasst. Er trug einen Dreitagebart und hatte kornblumenblaue Augen, die sich zu Mitternachtsblau verdunkelten, wenn er erregt war. Abseits dieser Äußerlichkeiten verzauberten Corinne jedoch vor allem seine Ausstrahlung, seine herzliche Art und das warme Lächeln immer wieder aufs Neue. Gerade als sie das dachte, drehte er sich um und kam zu ihr.

»Hallo, Liebling«, sagte er.

»Auch hallo«, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln. Wie gut, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. So viel Schwärmerei wäre ihr wirklich peinlich gewesen.

Noah gab ihr einen Begrüßungskuss und drehte auch schon wieder auf dem Absatz um. »Bin gleich wieder da, muss nur eben mein Rad aus dem Fahrradkeller holen, dann kann es losgehen. Drei Minuten.« Damit verschwand er im Nebeneingang.

Ungeduldig trommelte Corinne auf ihrem Fahrradlenker herum, während sie darauf wartete, dass Noah samt geschultertem Fahrrad aus dem Haus trat. Seit dem Anruf ihrer Mutter war sie angespannt. Ganz entgegen ihrer sonstigen Freude an ihrer Arbeit hatte sie es heute kaum erwarten können, endlich hinter dem letzten Kunden die Tür für die Mittagspause zu schließen. Sie wollte wissen, weshalb ihre Mutter sie und Noah so dringend zu sehen wünschte. Auch nach stundenlangem Grübeln hatte sie noch immer keine Idee, worum es gehen könnte.

Natürlich hatte sie sofort versucht, den Grund für die Einladung – die eigentlich eher einem Marschbefehl glich – gleich am Telefon zu erfahren. Aber ihre Mutter hatte lediglich betont, dass es ihr sehr wichtig sei. Corinne solle sich keine Sorgen machen, aber doch bitte unbedingt mit Noah zum Mittagessen in die Villa kommen, es gebe etwas Wichtiges zu besprechen. Sie hatte Corinne nicht den kleinsten Anhaltspunkt gegeben, worum es sich bei ihrem Anliegen handeln könnte. Den Ton, den ihre Mutter angeschlagen hatte, kannte Corinne allerdings, deshalb hatte sie nicht weiter nachgefragt – es wäre zwecklos gewesen. Esther Ahrensberg war ein herzensguter Mensch, aber sie war stur wie ein Esel, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Vermutlich war dieser Sturkopf ihre Geheimwaffe gegen ihren ziemlich charakterstarken Mann, den nicht umsonst alle Welt den Kaffeebaron nannte. Sogar innerhalb der Familie wurde er oft so genannt.

Nach dem Telefonat war Corinne gar nichts anderes übrig geblieben, als Noah zu informieren. Statt sich wie vereinbart mit ihm bei Susan zum Essen zu treffen, holte sie ihren Liebsten nun eben hier bei seiner Rösterei ab, um gemeinsam mit ihm zu ihren Eltern in den Preusweg zu fahren. Was auch immer ihre Mutter auf dem Herzen hatte, Corinne war froh, Noah an ihrer Seite zu haben.

»Sag mal, und du hast wirklich keine Ahnung, was es so Wichtiges gibt, dass wir unser Essen bei Susan verschieben mussten?«, fragte Noah kurz darauf, als sie Seite an Seite die Hohenstaufenallee entlangfuhren. Sie hatten mühelos ein gemeinsames Tempo gefunden.

Selbstverständlich trieb ihn die gleiche Frage um wie Corinne. Doch auch er musste sich gedulden. Corinne sah kurz zu ihm hin, bevor sie den Blick wieder auf die Straße lenkte. Sie zuckte mit den Schultern. »Frag mich etwas Leichteres. Meine Mutter hat nur eindringlich darum gebeten, dass wir in der Mittagspause in die Villa kommen. Ich habe ihr gesagt, dass wir bei Susan verabredet sind, und ihr angeboten, dass wir heute Abend in aller Ruhe zu Besuch kommen. Aber davon wollte sie nichts wissen. Es musste unbedingt heute Mittag sein.«

»Meinst du, es ist etwas mit deinem Vater und sie wollte es nicht am Telefon sagen?«, fragte Noah.

»Also wenn, dann zumindest nichts Schlimmes«, antwortete Corinne prompt, denn natürlich hatte sie auch diese Möglichkeit in ihre Erwägungen einbezogen. »Mama klang nicht besorgt, eher positiv aufgeregt«, erklärte sie Noah ihre Einschätzung, nur um gleich darauf entnervt zu schnauben. »Ach, ich weiß wirklich nicht. Ich habe mir schon den ganzen Vormittag den Kopf zerbrochen. Stell dir vor, ich habe sogar falsch herausgegeben. Zum Glück war es bei Frau Spittler. Ich habe ihr das Wechselgeld gegeben und statt ihren Fünfzigeuroschein in die Kasse zu legen, wollte ich ihr den auch wieder in die Hand drücken. Nicht jeder Kunde wäre so ehrlich gewesen und hätte mich auf den Fehler aufmerksam gemacht.«

»Ein Hoch auf unsere guten Kunden«, sagte Noah. Er warf Corinne einen mitleidigen Blick zu. »Bei der Aufregung ist es aber kein Wunder, dass du dich nicht konzentrieren konntest«, sagte er.

»Da sagst du was! Aber darauf nimmt das Tagesgeschäft natürlich keine Rücksicht. Heute war der Andrang wirklich sehr anstrengend.« Corinne stöhnte und grinste. »Aber keine Kunden wären auch nicht gut. Also jammere ich nur ein bisschen und bin froh, wenn das Rätsel gleich gelöst wird. Diese Geheimniskrämerei meiner Mutter ist nervtötend. Ich habe sie sehr lieb, aber manchmal kann sie echt anstrengend sein. Hattest du auch so viel zu tun heute?«, fragte sie, um sich nicht zu sehr auf ihre Mutter einzuschießen.

Auch wenn sie sich gerade über die Art der Einladung ärgerte, hatte sie ihre Mutter natürlich wirklich lieb, sie wollte Noah nicht gegen sie aufbringen. Es lag Corinne viel daran, dass sie alle ein gutes Verhältnis zueinander hatten. Familie war ihr wichtig. Der Streit mit Alexander war schlimm genug gewesen.

Mit Noah an ihrer Seite fand Corinne Radeln gar nicht mehr so unangenehm. Wenn man im gleichen Rhythmus fuhr, konnte man sich nebenbei ganz gut unterhalten. Vielleicht würde sie ja doch noch Gefallen daran finden. Der Radius war mit einem Rad natürlich sehr viel größer, als wenn man nur zu Fuß unterwegs war.

Noah lachte und nickte, bevor er auf ihre Frage antwortete. »Es ging zu wie in einem Bienenstock«, erzählte er. »Ich werde diese Woche wohl einen zusätzlichen Rösttag einlegen. Wie es scheint, weckt der Frühling nicht nur die Lebensgeister, sondern auch die Kauflaune.«

Was Noah sagte, brachte Corinne auf eine Idee.

»Vielleicht hat meine Mutter ja auch Frühlingsgefühle und möchte uns bitten, ein paar Tage für sie die Stellung im Haus zu halten. Wenn sie mal rausmüsste – das könnte ich durchaus nachvollziehen. Sie liebt die Sonne und ist bis zu Papas Schlaganfall sehr oft verreist. Ein Wochenende auf Mallorca oder eine Woche Zypern, irgendetwas hat sie immer gelockt – je heißer, desto besser für sie. Vermutlich fällt ihr in der Villa längst die Decke auf den Kopf und auch wenn der Frühling es gerade gut mit uns meint, mit Griechenland oder Marokko können unsere Temperaturen natürlich nicht mithalten.«

Sie hatten mittlerweile ihr Ziel erreicht und bogen in die Einfahrt zur Villa ein. Die Räder stellten sie neben dem Treppenaufgang ab. Als sie gerade zur Eingangstür gehen wollten, klingelte Noahs Handy. Er entschuldigte sich mit einem bedauernden Achselzucken und nahm den Anruf nach einem kurzen Blick auf das Display an.

»Hey, Carlos, was steht an?«, meldete er sich. Ein paar Sekunden lauschte er, dann zog ein Strahlen über sein Gesicht. Noah begann breit zu grinsen, hob die Augenbrauen und zeigte in Corinnes Richtung mit dem Daumen nach oben.

»Das klingt verdammt genau nach dem, was wir suchen. Was meinst du, können wir uns heute Abend treffen?« Wieder ein kurzes Zuhören, dann nickte Noah. »Perfekt. Alles klar, mein Freund. Ich danke dir. Wir sehen uns.«

Im nächsten Moment hatte Noah den Anruf beendet und ehe sie sichs versah, hatte er Corinne hochgehoben und wirbelte sie im Kreis. Sie kiekste und lachte.

»Wenn wir wollen, haben wir eine Wohnung.« Noah stellte Corinne vorsichtig wieder auf ihre Füße. »Es klingt perfekt, wie für uns gemacht. Penthouse mit Dachterrasse. Innenstadt. Und wohl bezahlbar, aber einen genauen Preis hat Carlos nicht genannt. Stell dir das nur vor. Heute Abend können wir sie uns ansehen.« Noah sprudelte über vor Freude.

»Was?«, rief Corinne und lachte laut. Sie konnte es kaum fassen. »Noah, das ist fantastisch. Wie kommt das so plötzlich? Wer ist Carlos?«

»Hallo, ihr beiden«, klang jetzt die Stimme von Corinnes Mutter von der Eingangstür zu ihnen hinüber. »Ihr braucht gar nicht zu klingeln, ihr seid nicht zu überhören«, sagte sie, lächelte aber dabei. Corinne wusste, dass ihre Mutter es mochte, wenn Leben um sie herum war, das durfte ruhig auch mal ein bisschen lauter sein.

»Hallo, Mama«, sagte Corinne und strahlte ihre Mutter an.

»Was gibt es denn so zu jubeln?«, fragte Esther Ahrensberg nun und ließ ihren Blick fragend von Corinne zu Noah und wieder zu Corinne zurück wandern.

»Mama, stell dir vor, wir haben eine Wohnung!«, sprudelte Corinne auch schon los. Sie war mit drei großen Schritten bei ihrer Mutter und umarmte sie stürmisch. »Also so gut wie zumindest. Ist das nicht fantastisch? Wir haben es gerade erfahren. Hallo, Mama«, wiederholte sie ihren Gruß von eben und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, dass es schmatzte.

»Hallo, Esther«, grüßte auch Noah. »Danke für die Einladung«, schob er hinterher und kam nun ebenfalls die Treppe herauf.

Esther Ahrensberg umarmte Noah und winkte die beiden dann mit einer energischen Handbewegung zur Tür hinein. »Kommt jetzt erst einmal ins Esszimmer. Wir müssen das ja nicht vor dem Haus besprechen. Klara hat Hühnerfrikassee für dich gekocht, Löckchen. Sie ist außer sich vor Freude, dass du endlich mal wieder zum Essen da bist.«

»Oh wie schön. Da freu ich mich.« Corinne rieb sich voller Vorfreude den Bauch. Der Knoten, der ihr seit dem Anruf ihrer Mutter den Magen zugeschnürt hatte, hatte sich aufgelöst.

Ihre Mutter wirkte vollkommen normal, nicht aufgelöst oder durcheinander. So schlimm konnte das, was sie zu besprechen hatten, also wirklich nicht sein. Und außerdem hatten sie eine Wohnung! Was sollte da noch schiefgehen?

»Geht ihr doch schon mal vor, ich sag schnell Klara Hallo, geh kurz zu Papa und komme dann nach.« Schon eilte sie durch die große Halle auf die Küchentür zu, die ganz am Ende hinter der breiten Treppe links lag.

Als Kind hatte Corinne die breite geschwungene Treppe geliebt – ganz besonders natürlich das Treppengeländer, auf dem man herrlich rutschen konnte. Das war selbstverständlich streng untersagt, aber Alexander und Corinne hatten sich selten an dieses Verbot gehalten. Es verpasste dem Spaß vielmehr einen zusätzlichen Reiz, selbst heute noch hin und wieder. Genau wie auf Socken in der Halle mit Anlauf über den glänzenden Marmor zu schlittern. Automatisch testete Corinne kurz an, doch ihre Schuhe rutschten nicht. Der Versuchung, sie einfach auszuziehen, widerstand sie, denn sie hatte die Küchentür schon erreicht.

»Papa schläft«, verkündete Corinne, als sie ein paar Minuten später das Esszimmer betrat. »Das Essen ist gleich so weit. Klara hat extra Bandnudeln gemacht und Gurkensalat mit Dill. Noah, sag ehrlich, das ist schon fast wie im Schlaraffenland, oder?« Übermütig zog Corinne sich einen Stuhl hervor und ließ sich darauf fallen. »Wenn ich so verwöhnt werde, könnte ich glatt darüber nachdenken, doch wieder hier einzuziehen«, sagte sie scherzhaft.

Erst als ihre Mutter und Noah beide nur verhalten über ihren Scherz lächelten, wurde ihr bewusst, dass etwas nicht stimmte.

»Ich habe Noah gerade vorgeschlagen, mit dir zusammen zu uns in die Villa zu ziehen«, erklärte ihre Mutter ohne Umschweife. »Wir haben so ein großes Haus, es ist doch albern, dass ihr eine Wohnung mietet. Und wir haben Klara«, fügte ihre Mutter mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. »Wie du gerade sagtest, fast wie im Schlaraffenland. Das ist ein ziemlich gutes Argument, findest du nicht?«

Corinne stand vor Überraschung der Mund offen. Unsicher sah sie von ihrer Mutter zu Noah und wusste nicht genau, wie sie reagieren sollte. Das kam überhaupt nicht infrage, so viel stand fest. Und Noahs Miene zeigte ihr, dass er das genauso sah.

»Mama, das ist wirklich ein sehr großzügiges Angebot und wir …« Corinne griff nach Noahs Hand. Er erwiderte den leichten Druck. Sie räusperte sich und beschloss, bei der klaren Linie zu bleiben. Keine Ausflüchte, das würde nur zu Diskussionen führen. »Weißt du, ich bin doch gerade erst ausgezogen. Noah und ich wollen uns ein eigenes Zuhause einrichten. Ich möchte lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und mich selbst um mein Leben und all die Alltagsdinge kümmern.« Corinne schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, es ehrt uns, dass du Lust hättest, uns im Haus zu haben. Aber das wäre nicht richtig. Mama, du hast mir Wurzeln gegeben, die mir im Leben sehr hilfreich sind. Und du hast mir Flügel geschenkt. Die musst du mich jetzt ausprobieren lassen. Verstehst du, was ich meine.«

»Wir sind gern hier, Esther«, sagte Noah jetzt. »Und ich möchte mich auch für das Angebot bedanken. Aber wie Corinne es schon sagt – wir wollen gern unser eigenes Zuhause einrichten, die Zweisamkeit genießen und uns etwas aufbauen.«

Esther Ahrensberg saß nachdenklich da. Sie hatte die Ellbogen auf den Tisch gestellt und die Hände gefaltet. Noahs Worte hingen in der Luft, während Esther Ahrensberg ihn und ihre Tochter musterte.

»Einen Versuch war es wert«, sagte sie schließlich und nickte. Dann zeigte sie ein Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, dachte ich es mir bereits. Dennoch finde ich, die Ahrensbergs sollten zusammenhalten und diesen Schulterschluss auch nach außen präsentieren. Besonders jetzt, da Corinne sich mit ihrer kleinen Rösterei vom Familienunternehmen abnabelt und der Kaffeebaron noch immer zu krank ist, um seine Aufgaben wieder zu übernehmen. Wir müssen ein Zeichen setzen, um der Welt zu zeigen, dass Ahrensberg Kaffee nicht nur stark ist, sondern trotz allem stärker denn je. Corinne, die Firma ist auch dein Erbe, das ist dir doch hoffentlich bewusst. Ich fürchte, diese Doppelung der Ereignisse – die Eröffnung der Rösterei und dein Wegzug – schadet dem Ansehen der Familie und des Unternehmens.«

»Wie bitte?« Corinne starrte ihre Mutter an und versuchte das Gehörte zu verstehen. Noah lauschte der Auseinandersetzung schweigend. Vermutlich konnte er das Gesagte noch weniger einordnen als Corinne.

»Löckchen, ich weiß, ich war damit einverstanden, dass du deine eigene Rösterei eröffnest. Daran hat sich auch nichts geändert. Aber der Auszug zur selben Zeit war keine gute Idee, wie ich feststellen musste. Es wäre besser gewesen, wenn du wenigstens noch ein halbes Jahr gewartet hättest, bis die Situation sich etwas beruhigt hat oder der Kaffeebaron die Geschäfte wieder zumindest teilweise übernehmen kann.«

In Corinnes Ohren brauste es. Sie spürte, wie Wut in ihr hochkochte. Machte ihr ihre Mutter jetzt zum Vorwurf, dass sie nicht um Erlaubnis gefragt hatte, bevor sie zu ihrem Freund gezogen war? Und was bitte schön ging das fremde Menschen an? Das konnte und wollte sie so nicht stehen lassen.

»Mutter, bitte«, protestierte sie deshalb und hob abwehrend ihre Hände. »Das ist doch lächerlich. In welchem Jahrhundert leben wir denn? War das der Grund für deine Einladung? Das hätte doch wirklich bis zum Abend warten können.«

»Hätte es nicht, Corinne. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Man munkelt von einer Familienfehde im Hause Ahrensberg. Das kann ich nicht dulden und das hatte auch nicht Zeit bis zum Abend.« Hastig nahm sie einen großen Schluck Wasser und straffte ihre Schultern, bevor sie weitersprach. »Wir sind nicht irgendwer, Corinne. Wir sind eine Kaffeedynastie, auf die alle Welt blickt. Und auch du hast immer noch eine gewisse Verantwortung für das Unternehmen und natürlich den Ruf der Familie. Das mag veraltet klingen, aber Ahrensberg Kaffee ist ein Familienunternehmen und deshalb besteht nun mal eine Verbindung zwischen dem einen und dem anderen. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Vergiss das nicht. Und deshalb habe ich einen Kompromissvorschlag, der euch beiden vielleicht sogar richtig gut gefallen könnte.«

Corinne holte Luft, um ihrer Mutter zu erklären, dass es keinen weiteren Vorschlag brauchte. Sie lebte mit Noah zusammen. Wenn sich alles so entwickelte, wie sie es sich erhofften, dann hatten sie bald eine wunderschöne eigene Wohnung. Daran gab es nichts zu rütteln. Doch ihre Mutter duldete an diesem Punkt ihrer Rede keine Unterbrechung. Sie hob die Hand, um Corinnes Einwand zu stoppen.

»Lass mich bitte aussprechen, Corinne, ich möchte erst die Fakten auf dem Tisch haben, bevor wir Argumente austauschen. Also, folgende Situation: Alfred, unser Gärtner, geht in Rente und wird zu seiner Tochter nach Kassel ziehen. Ich habe beschlossen, diese Stelle nicht neu zu besetzen, sondern stattdessen einen Gartenbaubetrieb mit der Betreuung unserer Grünanlagen zu beauftragen. Das bedeutet, das Gesindehaus steht ab April leer. Ihr wollt selbstständig sein, euren Alltag selbst regeln und ein eigenes Zuhause haben? Zieht ins Gesindehaus! Dort könnt ihr schalten und walten, wie es euch beliebt. Ich werde mich sicher nicht aufdrängen und ihr könnt dort vollkommen eigenständig leben. Trotzdem wohnt ihr wieder auf unserem Grund und Boden. Damit setzen wir ein wichtiges Zeichen. Corinne Ahrensberg, Mitglied der Kaffeedynastie, betreibt zwar eine eigene kleine Rösterei, aber sie lebt da, wo sie hingehört – bei ihrer Familie.«

Bevor Corinne oder Noah etwas sagen konnten, öffnete sich die Tür. Klara schob den Servierwagen herein und stellte die Porzellanschüsseln, aus denen es verführerisch duftete, auf den Tisch. Corinne betrachtete das Geschirr, es war neu. Ihre Mutter hatte ein Faible für Meissner Porzellan und konnte kaum je widerstehen, wenn ein neues Design auf den Markt kam. Corinne mochte das Geschirr zwar auch, aber sie selbst hatte eine Leidenschaft für die Marke Greengate. Sie mochte nicht nur das Porzellan mit den Blumenmotiven, sondern hatte sich gleich ihr ganzes Zimmer hier in der Villa in diesem skandinavisch-romantischen Stil eingerichtet. Ganz sicher würde sie sich auch bei ihrer ersten Wohnung daran orientieren. Dieses Faible für Porzellan und hübsche Accessoires teilten sich Mutter und Tochter.

Der Duft, der nun das Zimmer erfüllte, ließ Corinne das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Hmm«, machte sie. »Klara, du bist ein Engel!« Sie warf der Haushälterin eine Kusshand zu.

Die freute sich sehr, ihre ohnehin roten Wangen färbten sich noch intensiver. Corinne war von klein auf Klaras Liebling gewesen und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

»Ich wünsche einen guten Appetit. Der Nachtisch steht auf dem Wagen. Falls noch etwas fehlt, ich bin in der Küche.«

»Danke, Klara«, sagte Esther Ahrensberg. »Es duftet köstlich.« Sie schenkte der Haushälterin ein kurzes Lächeln und wandte sich dann an Corinne und Noah. »Was meint ihr? Wollen wir jetzt erst einmal in Ruhe essen und Klaras Bemühungen würdigen. Wir können nachher weitersprechen. Dann habt ihr Gelegenheit, einen Moment darüber nachzudenken und das Pro und Contra abzuwägen.«

Es war eine rhetorische Frage, daran ließ Corinnes Mutter keinen Zweifel, denn nun wechselte sie das Thema und begann locker zu plaudern. »Ich habe heute Vormittag einen Rundgang durch unseren Park gemacht, um zu sehen, wie die Pflanzen den Winter überstanden haben«, erzählte sie und lachte. »Na ja, um bei der Wahrheit zu bleiben – die Sonne hat mich gelockt, die Pflanzen waren ein Vorwand. Ich bin ja nicht für meinen grünen Daumen berühmt, aber ich kann es kaum erwarten, dass endlich wieder Sommer ist. Nächste Woche wird der Pool gereinigt und frisch gefüllt. Die morgendlichen Bahnen zu ziehen, hat mir den Winter über gefehlt.«

Ihre Mutter hatte zwar vordergründig das Thema gewechselt, doch Corinne konnte sie nicht täuschen. Es war offensichtlich, dass Esther Ahrensberg Noah die Vorzüge vor Augen führen wollte, die ein Umzug auf das Ahrensberg-Anwesen für ihn hätte.

»Falls du gerne ein Pferd hättest, Noah, ich bin sicher, Mutter hätte nichts dagegen. Die Stallungen stehen derzeit leer.« Es hatte spöttisch klingen sollen, aber es war mehr ein Eigentor, wie Corinne im nächsten Moment klar wurde. Die leere Stallanlage schmerzte sie in der Seele. Bis vor zwei Jahren hatte dort noch Herr Mokka gestanden, ihr Oldenburger Wallach. Kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag war er gestorben. Es hatte Corinne das Herz zerrissen. Seit ihrem fünften Geburtstag hatte der Wallach sie begleitet und war ihr bester Freund gewesen. Es hatte lange gedauert, bis sie den Abschied überwunden hatte, und seither war sie nicht mehr geritten. Die Erinnerung überflutete sie, sie hatte so lange nicht mehr an Herrn Mokka gedacht.

Ihre Mutter schenkte ihr einen warmen, verständnisinnigen Blick. Sie konnte an Corinnes Miene ablesen, was sie fühlte, das hatte sie schon immer gekonnt. Jetzt lächelte sie und sagte: »Warum auch nicht, wenn es dir Freude machen würde, Noah.«

Corinne war ihrer Mutter dankbar, dass sie Herrn Mokka nicht erwähnte. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie dieses Thema überhaupt angeschnitten hatte. Das lag sicher daran, dass ihre Mutter sie ganz durcheinanderbrachte mit ihrem eigenartigen und für sie sehr ungewöhnlichen Ansinnen.

Es ginge um Verantwortung dem Familienerbe gegenüber, hatte sie gesagt. Corinne dachte an ihren Großvater. Wie er die Sache wohl einschätzen würde? Was gäbe sie darum, ihn fragen zu können. In diesem Zusammenhang fiel ihr Sarah ein. Vielleicht würde es helfen, den besonnenen Rat ihrer älteren Freundin zu hören. Sarah war nicht in die Sache involviert und Corinne schätzte ihre oft weise Sicht auf die Dinge sehr. Vielleicht würde sie ihr einen Brief schreiben. Zuerst musste sie aber selbst ein paar Dinge in ihrem Kopf sortieren.

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