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Neubeginn im kleinen Strickladen in den Highlands

Als Buch hier erhältlich:

Zu Hause ist, wo Wolle ist!

Der Nebel über dem Loch Lomond, die kühle Herbstsonne, die über den Hügeln der Highlands aufgeht. Amely liebt die frühen Stunden des Tages, wenn sie allein durch die Landschaft streift und sich Zeit nimmt, für ihre Erinnerungen, bevor sie sich wieder zu ihren Freunden gesellt und die Tage mit Nadeln und Wolle auf dem Schoß im kleinen Strickladen verbringt. Erst vor kurzem hat sie ihre Mutter verloren und konnte nicht anders, als aus ihrem bisherigen Leben zu fliehen, vor der Trauer und der Einsamkeit. Doch Amely ist klar, dass sie sich nicht ewig verstecken kann. Sie beschließt, nach Edinburgh zurückzukehren und sich ihren Ängsten zu stellen. Doch das Schicksal scheint andere Pläne zu haben. Als Amely zufällig ein altes Anwesen entdeckt, das zum Verkauf steht, beginnt sie neuen Mut zu schöpfen.


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Aus der Serie: Der Kleine Strickladen
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000960

Leseprobe

Für alle Heldinnen,

die bereit sind, das Leben

immer wieder neu zu entdecken.

Und für jene,

denen die ungewisse Zukunft

manchmal Angst macht.

Kapitel 1

Amely

Wie so oft, seit Amely in Callwell zu Besuch war, hatte sie es sich wieder einmal in der Sitzecke in Maighreads Wolle & Zeit gemütlich gemacht.

Sie liebte diesen kleinen Strickladen mit all den Wollschätzen, die in den Regalen darauf warteten, entdeckt zu werden. Fast kam es ihr vor, als läge hier Magie in der Luft. Auf jeden Fall herrschte in Maighreads kleinem Reich eine Atmosphäre, die die Menschen glücklich machte und auch Amelys aufgeraute Seele ganz allmählich glättete. Wobei das sicher nicht nur am Strickladen lag, sondern vor allem auch an den Menschen hier in Callwell.

Amely saß auf dem dick gepolsterten Zweiersofa, knabberte Kekse und trank Tee. Sie sah dem Kommen und Gehen zu, lauschte Maighreads Erklärungen zu den verschiedenen Garnarten und strickte. Maighread hatte ihr eine Anleitung für Handstulpen gegeben und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, Teststrickerin für sie zu sein.

»Schau«, hatte sie gesagt und ihr die fertigen Stulpen gezeigt. »Ich habe sie mit der Merino extrafine 120 gestrickt. Ein tolles Garn von der Firma Schachenmayr aus Deutschland. Ich bin sehr begeistert.«

Amely hatte die Stulpen genommen und übergestreift. »Wow, die sind herrlich weich«, stellte sie fest. »Und die Farben sind perfekt, um ein tristes Wintergemüt aufzumuntern«, sagte sie und bewunderte die Stulpen an ihrer Hand.

»Wie wäre es, wenn du es mit der Bo Peep pure von den West Yorkshire Spinners probieren würdest? Dann könnte ich sie fotografieren und den Kunden zeigen, wie die Stulpen damit rauskommen.« Sie zwinkerte Amely zu und meinte: »Oder du strickst einfach drei, dann stelle ich einen hier aus. Es ist immer prima, wenn ich zur Wolle passende Strickstücke zeigen kann. Dann sieht man, wie das Garn verarbeitet wirkt und kann fühlen, wie weich es ist.«

Diese Chance hatte Amely sofort ergriffen. Maighread hatte noch nicht zu Ende gesprochen gehabt, da hatte Amely ihr auch schon die Anleitung aus der Hand genommen.

»Ich kann dir nichts versprechen«, hatte sie vorsorglich betont. »Aber ich möchte es zumindest versuchen. Und ich werde mir sehr viel Mühe geben, das verspreche ich dir!«

»Und ich bin sehr zuversichtlich, dass du das ganz locker hinbekommst. Im Zweifel weißt du ja, wen du fragen kannst«, hatte Maighread geantwortet und sie angelächelt. »Die Stulpen sollen Teil einer neuen Kollektion werden. Ich stelle mir eine Mütze, einen Loop oder Schal und vielleicht sogar noch Beinstulpen vor. Ich möchte die Kollektion Happy Time nennen, was meinst du?«

»Klingt perfekt«, sagte Amely.

Sie betrachtete das verspielte Muster, die Spitzen, Zacken, Bobbel und bunten Farben und fand, dass schon der Anblick einen glücklich machte. Maighreads Name für das Design war absolut stimmig.

Amely freute sich sehr über Maighreads Vertrauen in sie und ihre Strickkünste. Vor allem war sie froh, etwas für die Gastfreundschaft und Fürsorge zurückgeben zu können. Es war wenig genug, fand Amely. Sie wurde ohnehin von einem schlechten Gewissen geplagt, weil alle in Callwell ihr so unendlich viel Hilfe zukommen ließen und sich so viel Zeit für sie nahmen.

Amely hielt mit dem Stricken inne und studierte die Angaben zu den nächsten Reihen. Sie war es nicht gewohnt, nach Vorgabe zu stricken und hatte immer Angst, etwas zu übersehen. Meistens arbeitete sie der eigenen Fantasie folgend drauflos. Aber obwohl sie anfangs Bedenken gehabt hatte, der Aufgabe gerecht werden zu können, klappte der Teststrick abgesehen von ihrer Unsicherheit bis jetzt ganz ausgezeichnet. Reihe für Reihe wuchs die erste Stulpe. Maighread hatte wirklich Ahnung von dem, was sie tat. Die Anleitung war super verständlich geschrieben.

Neben Amely lag Maighreads Hündin Molly in ihrem Körbchen und döste. Das schwarzweiße seidene Fell, das Molly vom Border-Collie-Elternteil geerbt hatte, glänzte, denn Amely hatte es vorhin nach einem langen gemeinsamen Spaziergang ausgiebig gebürstet. Es bereitete Amely Freude, dass Molly ihr hin und wieder bei ihren Streifzügen Gesellschaft leistete. Sie liebte Tiere und genoss die Ausflüge in Mollys Begleitung immer sehr.

Bei ihren ausgedehnten Spaziergängen rund um Callwell träumte Amely manchmal davon, hier zu leben. Schon als sie im letzten Jahr für das Yarn-Festival zum ersten Mal hier gewesen war, um ihre selbst gefärbte Wolle und Färbeworkshops anzubieten, hatte sie sich in den Ort und die Menschen verliebt. So schnell wie nie hatte sie hier Freunde gefunden und sich beinahe sofort wie zu Hause gefühlt. Sie stellte sich vor, sie würde Hühner halten und Alpakas. Amely liebte Alpakas – und das nicht nur wegen der wundervollen Wolle, sondern auch wegen ihres sanften Wesens. Es machte Amely Spaß, sich ihr Leben hier am Loch Lomond auszumalen, auch wenn sie wusste, dass es nie wahr werden würde. Zumindest nicht in absehbarer Zukunft.

Sie hatte das Haus in Edinburgh, um das sie sich bald wieder kümmern musste. Und sie musste schließlich auch Geld verdienen, nachdem sie Hals über Kopf aus ihrem alten Leben verschwunden war, alles hinter sich gelassen und sich in ihrem Kummer vergraben hatte. Die Jobs waren hier in Callwell nicht so dicht gesät. Eine Stelle zu finden, war in einer größeren Stadt sicher sehr viel einfacher. Dort hatte sie auch mehr Möglichkeiten. Im Moment wusste Amely noch nicht einmal, welche Art von Stelle für sie infrage kam. Aber jetzt gerade wollte sie nicht darüber nachdenken. Der Zeitpunkt würde früher oder später von allein kommen.

Den Vormittag hatte Amely für eine ausgiebige Runde mit Molly genutzt. Danach hatte sie die Hündin fein gemacht und war mit ihr zu Maighread in den Laden gegangen. Molly hatte sich bei dem Ausflug mit Amely ausgepowert. Diese Verrückte hatte sogar im See gebadet, dabei war das Wasser schon herbstlich kühl. Molly hatte das nicht gestört. Danach war sie im gestreckten Galopp über die Wiesen gerast, als ob sie für einen Wettlauf trainieren müsste, und hatte unermüdlich die Stöckchen apportiert, die Amely ihr ebenso unermüdlich geworfen hatte.

Während sie mit Molly zusammen war, hatte Amely immer das Gefühl, ein bisschen zu heilen. Vielleicht sollte sie sich doch einen eigenen Hund anschaffen. Es würde ihr gefallen, Gesellschaft zu haben. Vielleicht wäre die Einsamkeit dann weniger laut. Aber bevor sie eine solche Entscheidung traf, musste sie erst wissen, wohin das Leben sie führen wollte und ob sie einem eigenen Hund überhaupt würde gerecht werden können.

Amely bedachte Molly mit einem liebevollen Blick und bedauerte, die Entscheidung aufschieben zu müssen. Sie würde es wissen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, dessen war sie sich sicher. Sie hoffte nur, dass es nicht mehr allzu lange dauerte.

Bevor sie dem Gedanken Einhalt gebieten konnte, sah sie vor ihrem inneren Auge auch schon einen wuscheligen großen Hund um drei Alpakas herumtoben. Sie schob das Bild energisch beiseite. Was sollte das denn? Natürlich war es schön, Träume zu haben. Aber es tat auch weh, besonders in dieser Situation, in der sie so sehr in der Luft hing. Ganz sicher war es besser, wenn sie sich erst einmal auf das konzentrierte, was gerade anstand. Und das waren kleine Schritte zurück in ihr eigenes Leben, wie auch immer das aussehen mochte.

Amely merkte, dass Molly, obwohl sie sich ordentlich müde getobt hatte, nicht richtig entspannen und schon gar nicht schlafen konnte. Sicher hatte sie Angst, etwas zu verpassen. Zum einen behielt sie natürlich ihr Frauchen Maighread im Blick, die sich um die Kundschaft kümmerte, zum anderen aber auch Amely, denn bei ihr gab es immer etwas Leckeres zu knabbern. Sobald Amely sich nach vorn beugte, blinzelte Molly zu ihr hoch. Nahm Amely nur einen Schluck Tee, schloss Molly ihre Augen direkt wieder. Gönnte sie sich jedoch ein Stück Shortbread, hob die Hündin erwartungsvoll den Kopf. Sie wusste genau, dass Amely mit ihr teilte. Aber natürlich bekam Molly kein süßes Shortbread.

»Molly hat dich schon ganz gut erzogen«, hatte Maighread grinsend festgestellt. »Sie weiß genau, wie sie dich um die Pfote wickeln kann.« Damit hatte sie einen Teller mit Hundekeksen auf den Tisch gestellt.

Maighread hatte recht, Amely konnte Mollys bettelndem Blick nicht standhalten. Ein Blick auf den Keksteller, der bereits zur Hälfte geleert war, bestätigte das. In diesem Fall hatte Amely aber kein schlechtes Gewissen. Schließlich war sie für Molly so etwas wie eine liebe Tante. Und Tanten hatten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die kleinen Racker zu verwöhnen – seien es nun Kinder oder Hunde, das war egal. Und Molly genoss es sehr, verwöhnt zu werden. Wenn es um Kekse ging, war sie wie ein Staubsauger, der gierig auch den letzten Krümel verschlang.

Mit einem Lächeln auf den Lippen lehnte Amely sich in das Polster zurück und bewunderte ihr Strickzeug. Sie liebte die Farben der Bo Peep pure, die sie auf dem Nadelspiel hatte. Die Handstulpen wurden bunt. Maighreads fröhliches Design gefiel ihr sehr gut und die Wolle war traumhaft kuschelweich und trug sich angenehm auf der Haut. Amely konnte es kaum erwarten, die Arbeit zu beenden und endlich hineinzuschlüpfen. Tagsüber war es zwar noch relativ warm, aber frühmorgens waren die Temperaturen zum Teil schon sehr frisch. Der Herbst hatte den Spätsommer abgelöst. Da Amely oft bereits im Morgengrauen unterwegs war, würden ihre neuen Lieblinge ganz sicher auch direkt zum Einsatz kommen.

Seit Maighread, Chloe und Peter Amely vor sechs Wochen am Tag nach der Beerdigung ihrer Mutter quasi nach Callwell entführt hatten, standen Essen, Schlafen, Spaziergänge, Zeit im Strickladen und natürlich Unternehmungen mit Peter auf ihrem Tagesplan. Alle waren für sie da, doch Peter kümmerte sich besonders hingebungsvoll um Amely.

Manchmal schimpfte sie mit ihm und scheuchte ihn zurück an die Arbeit. Um ihn nicht zu sehr aufzuhalten, hatte sie ihm einen Kompromiss vorgeschlagen und sich zu ihm ins Büro gesetzt, um zu stricken. So konnte Peter arbeiten und hatte trotzdem nicht das Gefühl, sie sich selbst zu überlassen. Das hatte leider nur mäßig gut funktioniert.

Sie hatten sich wunderbar verstanden, viel geplaudert und auch gelacht. Amely durfte Whisky verkosten und Peter hatte ihre Lieblingsmusik aufgelegt. Nur gearbeitet hatte er, während sie bei ihm war, kaum etwas. Deshalb hatte Amely die Besuche bei ihm reduziert. Sie wollte nicht schuld sein, wenn wichtige Dinge nicht erledigt wurden.

Peter war Inhaber von McDurmanns Whisky, der örtlichen Whiskydestillerie, und Amely wollte nicht, dass er sein Geschäft vernachlässigte, nur weil er dachte, den Alleinunterhalter für sie geben zu müssen. Aber natürlich freute sich ein Teil von ihr auch, weil ihm so viel daran lag, dass es ihr gut ging.

Peter konnte kaum die Augen von Amely lassen und war so offensichtlich verknallt, dass es sogar die Fische im Loch Lomond schon wussten – zumindest war Amely sich ziemlich sicher, dass es so war. Und sie mochte ihn auch sehr. Peter war charmant, liebenswürdig, hilfsbereit und immer zu einem Scherz bereit. Dieser freche, liebenswerte Kerl schlich sich Tag für Tag ein wenig tiefer in Amelys Herz. Obwohl sie das gerade überhaupt nicht zulassen wollte, konnte sie es doch nicht verhindern. Aber das verriet sie ihm nicht. Noch nicht. Vielleicht, eines Tages … Amely hatte keine Ahnung, was die Zukunft bringen würde. Im Moment konnte sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken.

Peter war ein wunderbarer Gesellschafter und tat Amely unglaublich gut und für den Moment zählte nur das. Sie machten Bootstouren, wanderten, redeten, ritten zusammen aus oder gingen ins Kino. Er lenkte Amely ab und sorgte dafür, dass sie auf andere Gedanken kam. Aber er ließ sie auch über ihren Kummer sprechen, wenn ihr danach war. Ganz so, wie es gut für sie war, als würde er sie in- und auswendig kennen.

Auch Maighread, Chloe und die anderen sorgten dafür, dass Amely sich möglichst wohlfühlte. Sie sollte sich erholen und umsorgen lassen. Ihre Freunde hatten sich fest vorgenommen, sie so lange zu verhätscheln, bis es ihr wieder richtig gut ging. Alle halfen mit und passten auf Amely auf.

Als Amely an Eilidh dachte, die in den ersten Tagen bei den Mahlzeiten wie ein Feldwebel mit strenger Miene nicht von ihrer Seite gewichen war, bis sie ihren Porridge oder das Stew aufgegessen hatte, wurde ihr wohlig warm ums Herz. Und Eilidhs Einsatz hatte gewirkt. Obwohl Amely nicht danach zumute gewesen war, hatte sie bis auf kleine Ausnahmen – wenn Eilidh es mit dem Nachschlag gar zu gut gemeint hatte – ihren Teller immer brav leer gegessen.

Hier in Callwell wurde Amely mit liebevoller Aufmerksamkeit überschüttet, ohne dass man ihr auf die Nerven ging. Maighread und Joshua hatten sie ganz selbstverständlich in einem der Gästezimmer auf Callwell Castle einquartiert. Scott hatte sie schon zweimal zum Check-up in seine Praxis geholt. Chloe schleppte fast täglich selbst gemachte Badezusätze zur Entspannung und Kräuter für Tees an. Und Peter hatte ihr einen Flachmann geschenkt.

»Da ist ein dreißig Jahre alter Single Malt drin«, hatte er gesagt und ihr zugezwinkert. »Das ist der beste Whisky, den ich im Moment zu bieten habe. Ein kleiner Schluck zwischendurch ist wie Medizin. Das wärmt Bauch und Seele.«

Kein Wunder also, dass Amely sich langsam, aber sicher erholte. Nur in den frühen Morgenstunden hatte sie immer noch mit Wellen der Traurigkeit zu kämpfen.

Anfangs hatte Amely sich im Bett hin und her gewälzt, alle paar Minuten auf die Uhr gesehen und gehofft, dass es endlich Zeit zum Aufstehen war. Aber irgendwann hatte sie die Strategie geändert. Jetzt quälte sie sich nicht mehr mit dem Versuch, noch einmal einschlafen zu können, sondern stand auf, sobald sie wach wurde, schlüpfte in warme Klamotten und ging hinaus in die Natur. Diese Stunden zwischen Nacht und Tag gehörten ihr ganz allein.

Es war fantastisch, über die Hügel der Highlands zu spazieren oder am Ufer des Loch Lomond zu sitzen, der Welt beim Erwachen zuzusehen und den eigenen Träumen nachzuhängen. Viel besser und viel heilsamer, als im Bett zu liegen und das Kissen nass zu weinen.

Wenn Amely frühmorgens nach ihren Ausflügen mit von der frischen Luft gefärbten Wangen und dem kühlen Wind noch in den Haaren ins Haus kam, lächelte Eilidh immer sehr zufrieden. Dann verschwand sie in der Küche und stellte kurz darauf eine extra große Portion Porridge mit frischem Obst und kandierten Nüssen und eine Tasse Tee vor Amely auf den Tisch. Und Amely aß immer alles auf. Nicht nur, weil sie keinen Ärger mit Eilidh riskieren wollte, sondern auch, weil die Ausflüge ihren Appetit zurückbrachten und sie ordentlich hungrig machten.

Während Amely über ihren Aufenthalt in Callwell nachdachte, arbeiteten ihre Hände automatisch immer weiter. Masche für Masche wanderte von der linken auf die rechte Nadel. Ihr Blick fiel wieder auf das Strickzeug. Sie hielt inne und betrachtete zufrieden ihr Werk. Diese Stulpen wurden wirklich hübsch. Mit den bunten Farben würden sie einen fröhlichen Akzent gegen das sicher bald vorherrschende triste Wintergrau setzen.

»Danke für deinen Einkauf, Charlette.«

Amely hob den Blick und sah zu Maighread und ihrer Kundin hinüber. Die beiden hatten ausgiebig Wolle bewundert und Farben kombiniert. Charlette wollte sich einen Pullover stricken. Weich sollte er sein, mit zarten Farben und etwas Besonderes. Gerade packte Maighread Strang für Strang in eine Tüte und reichte sie ihrer Kundin.

»Das war eine wirklich gute Wahl, ich wünsche dir viel Spaß beim Stricken. Und nicht vergessen: Ich möchte den Pullover unbedingt bewundern, wenn er fertig ist.«

Maighread lächelte Charlette freundlich an, kam um den Tresen herum und hielt ihr die Tür auf.

»Die Entscheidung war wirklich nicht einfach. Was für ein Glück, dass Amely gerade die Bo Peep pure auf den Nadeln hat, das hat mich endgültig überzeugt. Vielleicht komme ich die Tage auf einen Tee vorbei und zeige dir meine Fortschritte«, antwortete Charlette und fügte hinzu: »Gut möglich, dass ich zwischendurch deine Hilfe brauche, ich habe noch nie einen Pullover von oben gestrickt.«

»Jederzeit, meine Liebe, ich helfe gern, das weißt du ja. Ich glaube zwar, dass du mit meinen Online-Tutorials wunderbar zurechtkommen wirst, aber du darfst trotzdem gern auf einen Tee vorbeikommen, auch wenn du keine Hilfe brauchst. Ich freue mich immer über nette Gesellschaft.«

Mit einem letzten Winken schloss Maighread die Tür hinter der jungen Frau und drehte sich schwungvoll zu Amely um. Sie kam zu ihr herüber, ließ sich in den Sessel fallen und nahm mit sehr zufriedenem Gesichtsausdruck einen Schluck Tee, bevor sie sich ihr Strickzeug vom Tisch angelte. Sie arbeitete gerade an einem Streifentuch, das aus mehreren aneinandergefügten gestreiften Dreiecken bestand. Amely staunte über die Leichtigkeit, mit der Maighread immer wieder neue Designideen scheinbar aus dem Ärmel schüttelte. Jedes Teil war einzigartig.

»Ich sollte dich als Schau-Strickerin anstellen, Amely«, sagte Maighread. »So viel Bo Peep pure wie in den letzten Tagen habe ich lange nicht verkauft. Du kurbelst mein Geschäft spürbar an.«

»Ach was«, gab Amely zurück. »Du hattest Charlette doch längst in der Tasche, bevor sie überhaupt gesehen hat, was ich stricke. Genau wie all deine Kundinnen. Dir und deiner Begeisterung für deine Wolle kann niemand widerstehen. Dass ich zufällig gerade das Garn verstricke, das Charlette sich ausgesucht hat, hat die Entscheidung allenfalls ein wenig beschleunigt. Gekauft hätte sie es aber auf jeden Fall. Ich meine, hey, so, wie du ihr vorgeschwärmt hast, hatte sie doch gar keine Wahl.«

Jetzt musste Maighread lachen. Sie schüttelte den Kopf und zeigte eine halb amüsierte, halb schuldbewusste Miene. »Ich bin schlimm, ich weiß«, bekannte sie. »Aber wenn ich von etwas begeistert bin, dann gehen die Schafe mit mir durch. Ich kann nichts dafür.«

»Und genau das ist das Geheimnis deines Erfolges, Maighread. Es ist nur zum Teil die Wolle und zu einem noch kleineren Teil äußere Begebenheiten wie ich mit meinem Strickzeug hier auf dem Sofa zum Beispiel. Der Hauptteil liegt bei dir selbst. Du liebst, was du tust. Du stehst einhundert Prozent hinter dem, was du den Menschen erzählst und das kommt an. Sie spüren, dass du authentisch bist und wollen dieses Glücksgefühl, das dir aus den Augen blitzt und dich umgibt, auch erleben. Was ich absolut verstehe, jeder möchte doch glücklich sein.«

Dieser Gedanke versetzte Amely einen Stich. Aber sie atmete über den Schmerz hinweg und sprach weiter. Es ging jetzt gerade nicht um sie und ihr Unglück. »Also kaufen deine Kundinnen das, was dich so zum Strahlen bringt und hoffen, dass es bei ihnen auch wirkt.«

Maighread kicherte. »Das klingt ein bisschen so wie: Ich will genau das, was sie hat. Erinnerst du dich? Harry und Sally mit der legendären Orgasmus-Szene.«

Amely prustete. »Also wirklich, Maighread. Du hast vielleicht Ideen!« Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich das aber nicht gemeint.«

Es war ein Wunder, aber wenn sie mit ihren Freunden zusammen war, fiel ihr das Lachen schon wieder viel leichter und es gab Minuten, in denen sie sich richtig gut fühlte. Die dunklen Momente wurden weniger und verloren langsam ihren Schrecken.

»Keine Angst, Liebes, ich habe dich schon richtig verstanden, aber irgendwie fiel mir das gerade ein.« Maighread grinste immer noch. »Ich liebe meine Wolle zwar, aber so dann doch nicht. Außerdem hinkt der Vergleich«, fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu. »Meine Begeisterung ist ja nicht gespielt. Auf jeden Fall hast du das sehr lieb gesagt, Amely. Danke schön« Sie warf ihr ein Luftküsschen zu. »Wenn ich dir so zuhöre, klingt es absolut nachvollziehbar. Und das Schöne ist, es scheint zu funktionieren. Sonst kämen die Menschen nicht immer wieder zu mir, um Nachschub zu ordern.«

»Tolle Wolle macht eben süchtig«, sagte Amely.

Maighread saß da, strickte ein paar Maschen, lauschte dem eben Gesagten hinterher und prustete schon wieder los.

»Wenn man uns zuhört, ohne zu wissen, wovon wir sprechen, könnte man annehmen, ich sei eine Drogenhändlerin.«

Maighread und ihre Purzelbäume schlagende Fantasie waren wirklich unglaublich. Erst Harry und Sally und jetzt Drogenhandel. Amely amüsierte sich. Die Idee gefiel ihr sogar irgendwie.

»Vielleicht solltest du dir Tassen bedrucken lassen: Wolle ist meine Droge«, schlug sie vor und sah es direkt vor sich. Solche Zusatzartikel würden sich bestimmt gut machen zwischen der Wolle und ganz bestimmt begeisterte Abnehmer finden.

Doch Maighread wollte nichts davon wissen.

»Immer schön positiv bleiben«, entgegnete sie. »Die Idee mit den Tassen ist prima, aber wenn, dann vielleicht etwas wie: Wolle ist mein Glückszauber. Oder auch: Stricken ist wie Zaubern können.«

»Hashtag strickenmachtglücklich«, schlug Amely nun vor, indem sie den positiven Ansatz aufgriff.

Maighread nickte begeistert. »Wirklich gar nicht schlecht, die Idee. Warte, das muss ich mir direkt aufschreiben. Vielleicht mache ich das tatsächlich. Tassen mit unterschiedlichen positiven Sprüchen und auf die andere Seite der Tasse kommt mein Der kleine Strickladen-Logo. Das wäre eine sehr stimmige Sortimentserweiterung.« Sie sah sich um und seufzte. »Ach, wenn ich doch nur mehr Platz hätte.«

Kapitel 2

Maighread

Mit Amely zusammen in der gemütlichen Sitzecke im Strickladen zu sitzen und sie wieder lachen zu sehen, machte Maighread glücklich. Es war ein Geschenk, mit ihr zu plaudern, zu stricken und verrückte Ideen zu spinnen. Wobei die Idee mit den Tassen so verrückt ja gar nicht war – sie musste nur das Platzproblem lösen. Sie würde mit Joshua darüber sprechen, vielleicht hatte er eine Idee.

Eigentlich schade, dass sie nicht früher darauf gekommen waren, für das Yarn-Festival, das sie in Callwell nun schon zum zweiten Mal organisierten, wäre das toll gewesen. Aber dafür war die Zeit zu knapp, das würden sie für dieses Jahr nicht mehr schaffen. Maighread wollte die Umsetzung dieser schönen Werbeidee nicht übers Knie brechen, sondern lieber in Ruhe nach seriösen Anbietern suchen und gute Qualität anbieten. Sie mochte es, Unternehmer aus ihrem Umfeld zu unterstützen. Vielleicht gab es jemanden in der Gegend, oder zumindest in Glasgow, der Tassen bedruckte oder sogar selbst töpferte. Ihr Logo wäre vermutlich eine Herausforderung, aber solche Tassen würden ihr gefallen.

Maighread verschob die Überlegungen zu einer möglichen Sortimentserweiterung auf später. Stattdessen musterte sie Amely verstohlen. Ihre Freundin sollte nicht merken, dass Maighread sie einem visuellen Check-up unterzog. In den letzten Wochen hatte Amely sich sichtbar erholt. Ihre Wangen waren nicht mehr so eingefallen und hatten auch wieder einen rosa Hauch bekommen, aber unter ihren Augen lagen noch immer dunkle Schatten. Und hinter dem Lachen, das inzwischen deutlich häufiger zu sehen war, sah Maighread einen Rest des traurigen Schleiers, der Amely eingehüllt hatte, als sie zu ihnen an den Loch Lomond gekommen war. Er war jetzt heller als zu Anfang, aber er war noch da. Vielleicht würde er auch nie wieder ganz verschwinden.

Schicksalsschläge brannten sich in die Seele und hinterließen Narben, das hatte Maighread selbst erlebt. Es hatte sie verändert und reifer werden lassen. Dunkle Zeiten waren nie schön und Maighread wünschte sie niemandem, aber sie wusste auch, dass es das Glück nur noch wertvoller machte und die schönen Gefühle noch tiefer werden ließ, wenn man diese Tiefs überwunden hatte. Wer nie vor Traurigkeit geweint hatte, wusste nicht, wie köstlich Glückstränen schmeckten.

Man musste sich erlauben, traurig zu sein, davon war Maighread überzeugt. Es kam nur darauf an, nicht zu lange in einem emotionalen Loch zu verharren. Man musste den richtigen Moment finden, um sich wieder aus der Traurigkeit heraus zurück ins Leben zu kämpfen. Allein war das sehr schwierig, aber mithilfe von guten Freunden wurde es einfacher. Niemand sollte die ganze Last allein tragen müssen.

Genau deshalb hatten Maighread und Chloe beschlossen, Amely nach Callwell zu holen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie sollte mit ihrem Kummer nicht allein sein und wissen, dass sie an ihrer Seite standen. Wenn Maighread Amely nun betrachtete, sah es so aus, als sei der Plan aufgegangen. Ganz abgesehen davon, fand Maighread es wirklich schön, Amely hier in Callwell zu haben. Sie war in kürzester Zeit zu einer wunderbaren Freundin geworden und gehörte zu ihnen, als wäre sie schon immer ein Teil ihres Freundeskreises gewesen. Nur schade, dass sie nicht für immer bleiben konnte.

Amely passte perfekt zu ihnen, sie bereicherte das Leben der Menschen um sie herum. Vor allem Peter bedeutete sie viel, das wusste Maighread. Sie würde ihm sehr fehlen.

Bisher hatten die beiden zwar, soweit Maighread wusste, nur locker miteinander geflirtet, aber sie war sich absolut sicher, dass Peter mehr wollte. So, wie er sich bei Amely ins Zeug legte, hatte er sich wohl zum ersten Mal, seit Maighread ihn kannte, richtig verliebt. Amely schien seine Aufmerksamkeit zu genießen und Peters Nähe zu suchen, das wurde jedem aufmerksamen Beobachter schnell klar. Was Amely dabei wirklich fühlte, konnte Maighread nur ahnen, dazu kannte sie die Freundin noch nicht lange genug, aber sie war überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war …

Das Glockenspiel über der Tür schlug an und Chloe kam zurück. Sie war nur für einen Moment hinüber in ihren Kräuterladen gehuscht, um eine Kundin zu bedienen.

»Na, ihr beiden, alles klar?«, fragte sie. Sie kam zu ihren Freundinnen herüber und setzte sich neben Amely auf das Sofa. »Zehn Minuten und eine Tasse Tee gönne ich mir noch, dann muss ich wieder richtig arbeiten.«

Sie stellte ein mit einem Lavendelzweig und einem kleinen lila Häkelherz hübsch dekoriertes Fläschchen vor Amely auf den Tisch. »Hier, das ist für dich. Lavendel, Sonnenblume und Haferstroh als Badeöl.«

»Chloe, du sollst mir doch nicht jeden Tag etwas schenken«, protestierte Amely.

»Wenn es mir aber doch Freude macht«, antwortete Chloe. »Nimm es einfach und genieße – das wirkt entspannend und bringt Licht in die Seele.«

Amely seufzte. »Du bist ein Schatz«, sagte sie und gab den Widerstand auf. Sie nahm das Fläschchen in die Hand, zog den Stöpsel heraus und schnupperte.

Der liebliche Duft strömte bis zu Maighread hinüber und tanzte ihr in die Nase. Der Lavendel dominierte, aber durch die anderen Kräuter wirkte er nicht penetrant, sondern leicht und verspielt. Amely atmete mit geschlossenen Augen tief ein.

»Hmm«, machte sie. »Himmlisch. Ich freue mich tatsächlich schon darauf, im warmen Badewasser zu liegen und mich von dem Duft in wohlige Entspannung tragen zu lassen. Dein Talent, Kräuter und Düfte zu kombinieren, ist wirklich beachtlich, Chloe.«

Amelys Reaktion zauberte Chloe ein Lächeln auf die Lippen. Sie nahm einen Schluck Tee und wollte gerade nach ihrem Strickzeug greifen, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde.

»Guten Tag. Lieferung für das Wolle & Zeit«, schmetterte ein junger Paketbote in den Raum. »Wohin damit?«

»Komme schon!« Maighread stand hastig auf. »Bitte alles hier hinüber«, sagte sie und zeigte auf den Platz neben der Sitzecke.

Molly war aufgesprungen und wollte den Boten begrüßen, doch Maighread hielt sie am Halsband zurück und schickte sie wieder in ihr Körbchen.

»Lass ihn lieber in Ruhe die Pakete hereinbringen«, erklärte sie ihrer Hündin. »Wir wollen doch nicht, dass er über dich stolpert.«

Maighread streichelte Molly unter dem Kinn und steckte ihr einen Hundekeks zu. Dann klatschte sie in die Hände und kiekste vor Freude. »Wolle!«, jubelte sie und brachte Amely damit schon wieder zum Lachen.

»Man könnte glauben, du stehst nicht gerade in deinem kleinen Strickladen, ohnehin schon umgeben von den wunderbarsten Wollschätzen«, sagte sie.

Maighread zuckte mit den Schultern und grinste. »Wolle kann man nie genug haben«, meinte sie. »Außerdem sind neue Schätzchen dabei und eine Überraschung. Ich kann es kaum erwarten.«

Sie war ganz aus dem Häuschen. Aufgrund hoher Nachfrage und ein paar Lieferengpässen hatte es dieses Mal mit der Zustellung etwas länger gedauert als üblich. Aber jetzt war die neue Ware da, der Wollhimmel tat sich vor Maighread auf. Gleich würde sie die neuen Schätze in Händen halten.

Schon als sie die Wolle ausgesucht hatte, waren ihr erste Ideen gekommen, was sie damit stricken wollte. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, endlich die ersten Maschen anzuschlagen. Sie musste sich gleich nur noch entscheiden, womit sie anfangen wollte.

Schon kam der junge Mann mit der ersten Fuhre Kartons auf einem Sackkarren wieder herein. Er stellte alles ab, warf einen kurzen Blick Richtung Sitzecke, machte kehrt und mit einem: »Bin gleich wieder da« war er auch schon wieder draußen.

Sechsmal musste er gehen, bis alle Pakete im Laden waren. Den Tee, den Maighread ihm anbot, lehnte er ab.

»Danke, aber keine Zeit«, sagte er, wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn, streckte Maighread den Lieferschein hin, damit sie unterschrieb, grinste in die Runde und verschwand mit einem kurzen Gruß.

Chloe kicherte. »Dem konnte man an der Stirn ablesen, was er von uns dachte«, sagte sie.

»Langweilige strickende Frauenzimmer«, mutmaßte Amely.

Chloe nickte. »Ja, so in der Art.«

»Ach, der hat doch keine Ahnung«, kam es von Maighread hinter dem Verkaufstresen. »Stricken ist voll hipp, es gibt einen regelrechten Boom und vor allem: Immer mehr Männer entdecken das Hobby für sich«, erklärte sie und kramte währenddessen in den Fächern unter dem Tresen. »Ist ja auch kein Wunder, oder? Stricken entspannt mindestens so gut wie Angeln, aber für dein Strickzeug musst du nicht im Morgengrauen aufstehen und dir in der Kälte den Hintern abfrieren. Oder kommst nass bis auf die Haut wieder nach Hause. Stattdessen kannst du ganz gemütlich auf dem Sofa liegen oder im Schaukelstuhl vor dem Feuer sitzen und stricken. Denkt nur an Duncon, er ist einer meiner besten Kunden, strickt Socken im Akkord und ist dabei absolut entspannt.«

»Stimmt«, warf Amely ein. »Ich erinnere mich an ihn. Er hat doch letztes Jahr beim Yarn Festival beim Wettstricken mitgemacht, richtig?«

»Yep«, antwortete Chloe. »Mitgemacht und den zweiten Platz belegt.«

»Ganz genau«, mischte sich Maighread wieder ein. »Ihr seht: Strickende Männer sind längst keine Weltwunder mehr.«

»An Duncon kann ich mich jedenfalls sehr gut erinnern«, sagte Amely. »Der hatte ziemlich Spaß auf der Bühne.«

»Und die Zuschauer vor der Bühne auch«, ergänzte Maighread. »Mal sehen, ob er dieses Jahr wieder dabei sein wird.«

»Ich habe den Durchschlag vergessen«, tönte es von der Tür und ließ die Freundinnen zusammenzucken. Sie hatten gar nicht gemerkt, dass der Zusteller in der offenen Tür stehen geblieben war. Hatte er etwa alles gehört? Maighread versuchte, sein Gesicht zu lesen, aber er ließ sich nichts anmerken.

Mit großen Schritten durchquerte er noch einmal den Raum, drückte Maighread das vergessene Papier in die Hand und meinte beim Hinausgehen lässig: »Nächstes Mal bringe ich ein bisschen Zeit und mein Strickzeug mit, dann zeig ich euch mal, wie cool die Männer heutzutage sind – und das ganz ohne Angel.« Die Tür schlug hinter ihm und seinem Lachen zu.

Chloe stand der Mund offen. Ihre Wangen waren tiefrot und Amely musste so sehr lachen, dass sie sich verschluckte und einen Hustenanfall bekam.

Maighread kicherte. »Sag ich doch: Stricken ist hipp. Mist. Ich hätte ihn direkt zum Wollfestival einladen sollen. Er hätte Duncon beim Wettstricken herausfordern können.« Sie zuckte mit den Schultern und bückte sich zu den Fächern unter dem Tresen. Dort zog sie eine Schere hervor und trat an die Kartons mit der neuen Ware.

»Du hast vollkommen recht«, stimmte Chloe ihr immer noch rot im Gesicht zu. »Ich schäme mich, dass ausgerechnet ich so derart in die Klischeefalle getappt bin. Ich müsste es wirklich besser wissen. Wenn er nächstes Mal kommt, mache ich das wieder gut«, versprach sie. »Aber es ist toll, dass Stricken so einen Boom erfährt. Schließlich ist es nicht nur hipp, es mindert auch den allgemeinen Stresspegel, ist kommunikativ, fördert die Konzentrationsfähigkeit und stärkt das Selbstbewusstsein«, erklärte sie. »Und die Wolle streichelt auch noch Körper und Seele – und die fertigen Strickstücke erst.«

Amely lächelte und warf Chloe einen bewundernden Blick zu. Und auch Maighread war beeindruckt, wie klar Chloe die positive Kraft von Stricken und Wolle in Worte fassen konnte. Sie konnte nicht verbergen, dass sie Psychologin war, auch wenn sie schon eine Weile nicht mehr in diesem Beruf arbeitete. Zumindest nicht offiziell. Wenn ihre Mitmenschen jemanden zum Reden brauchten, landeten sie nicht ohne Grund sehr oft bei Chloe im Kräuterladen. Dort fanden sie nicht nur die passende Kräutermischung oder den richtigen Tee, sondern immer auch ein offenes Ohr und Herz.

Maighread wusste, dass Chloe auch in vielen Gesprächen mit Amely heimlich als Therapeutin gearbeitet hatte. Chloe hatte es ihr verraten.

»Weißt du, es ist gar nicht so schwierig. Vor allem höre ich zu. Das ist für viele Menschen schon enorm hilfreich. Und dann kann ich mit ein paar eingeworfenen Fragen mein Gegenüber dazu bringen, die eigenen Gedanken zu reflektieren. Das ist schon der ganze Zauber. Am Ende einer Unterhaltung soll sich mein Gesprächspartner besser fühlen. Ich therapiere eigentlich gar nicht, sondern gebe nur Impulse, damit der andere sich selbst therapiert, verstehst du, was ich meine? Wir tragen die Lösung meistens schon in uns, finden nur nicht den richtigen Zugang.«

Egal was Chloe behauptete, Maighread wusste, dass sie es war, die den Menschen half. Sie hatte es selbst erlebt. Chloe hatte ihr beigestanden, als sie nach Callwell gekommen war und es ihr sehr schlecht gegangen war. Ohne Chloe wäre sie verloren gewesen, davon war Maighread überzeugt.

Aber sie wusste auch, dass es nichts brachte, mit Chloe zu diskutieren. Sie war viel zu bescheiden, um das anzunehmen. Vermutlich war sie sogar tatsächlich davon überzeugt, dass es nicht an ihr lag, wenn es den Menschen um sie herum besser ging. Also beschloss Maighread, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Außerdem hatte sie gar keine Geduld mehr, noch länger auf das Auspacken zu warten. Sie wollte endlich Wolle kuscheln.

»Was ist?«, fragte sie und klapperte ungeduldig mit ihrer Schere. »Auspackparty? Wir könnten ein Unboxing-Video drehen. Meine Follower sind ganz heiß auf Woll-Videos und sicher begeistert, wenn ich ihnen die neuen Schätze zeige.«

Chloe sprang auf und hob bedauernd die Hände.

»Ich würde so gern, aber ich muss jetzt wirklich rüber und nach meiner Haferflockenseife sehen. Die müsste inzwischen so weit abgekühlt sein, dass ich sie aus den Formen holen kann. Und ein paar Teemischungen muss ich auch noch machen, im Regal klaffen schon erste Lücken. Ich bin also mal eine Weile beschäftigt.«

»Haferflockenseife?«, fragte Amely verdutzt. »Hast du das wirklich gesagt oder habe ich mich verhört?«

Doch Chloe nickte. »Sie enthalten wertvolle Inhaltsstoffe und haben gleichzeitig einen sanften Peelingeffekt. Richtig gut. Ich bring dir später eine mit. Wir sehen uns ja heute Abend beim Essen auf Callwell Castle.«

Eilidh hatte Chloe, Scott und Peter zum Essen eingeladen. Chloes und Maighreads Großmütter Gwendolyn und Elisabeth würden auch kommen, sie waren Eilidhs beste Freundinnen und steckten ständig zusammen. Maighread und Chloe nannten die drei oft das Granny-Kleeblatt.

Zielstrebig hielt Chloe auf die Tür zu und rief: »Bis später!«

Amely sah Chloe nach, machte den Mund auf – vermutlich wollte sie Chloe noch einmal sagen, dass sie ihr nicht dauernd Geschenke machen sollte, aber sie schloss ihn wieder, ohne einen Ton gesagt zu haben, denn Chloe war schon zur Tür hinausgerauscht. Nur das Bimmeln des Glockenspiels hing noch in der Luft. Amely zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

»Freu dich einfach«, sagte Maighread. »Die Haferflockenseife ist klasse. Chloe verspricht nicht zu viel, wenn sie von sanftem Peeling spricht.«

»Ich bin gespannt«, antwortete Amely. »Und eins ist klar: Ich werde mir etwas überlegen, um das alles wiedergutzumachen. Und damit meine ich nicht nur Chloes viele Geschenke. Alles.«

»Papperlapapp, hast du doch eh längst, indem du wieder lachst und langsam zu Kräften kommst«, sagte Maighread. »Das Rot, das deine Wangen wieder ziert, ist Dank genug. Also vergiss das mal schnell wieder, sonst wird nicht nur Chloe fuchsteufelswild.«

Maighread drohte Amely lächelnd mit erhobenem Zeigefinger und sagte: »Ich hetze Eilidh auf dich.«

Sie wartete gar nicht ab, ob Amely die Sache noch weiter diskutieren wollte. Stattdessen klapperte sie wieder mit der Schere.

»Was ist jetzt? Bist du dabei?«

Amely nickte.

»Klar. Ich helfe dir«, sagte sie, legte das Strickzeug weg und stand auf.

»Hier.« Maighread drückte Amely das Handy in die Hand. »Du filmst, ich packe aus. Einverstanden?«

»In Ordnung. Sag mir aber bitte noch, was genau du auf dem Video haben möchtest. Oder noch wichtiger: was du auf keinen Fall gefilmt haben möchtest.«

Maighread überlegte und sah sich im Laden um. »Es ist nichts da, was problematisch wäre«, sagte sie. »Keine Geheimnisse, keine Schmuddelecken – zumindest nicht hier vorn im Laden. Von dem Chaos hinten im Lager sprechen wir lieber nicht, aber das sieht man von hier aus zum Glück nicht.

Lass uns mit dem gesamten Kartonstapel beginnen. Dann sehen die Zuschauer, wie viel Ware heute gekommen ist. Nach dem Großbild gehst du auf meine Hände und zoomst etwas heran. Ich öffne die Päckchen und zeige, welche Wolle drin ist.«

Schritt für Schritt ging Maighread in Gedanken die Aktion durch. Dann hatte sie eine Idee. »Wie wäre es, wenn wir zu Beginn einmal kurz uns beide filmen? Dann wissen die Follower, mit wem ich spreche und wir können uns unterhalten, während ich auspacke.«

»Okay«, sagte Amely und hielt das Handy so, dass sie beide im Bild waren. »Dann los.«

»Hallo, Leute«, sagte Maighread und strahlte in die Linse. »Schön, dass ihr da seid. Ihr dürft Amely, hier neben mir, und mich heute beim Auspacken der neuen Lieferung begleiten. So viel kann ich schon verraten – da sind fantastische neue Wollsorten dabei. Na, was ist? Habt ihr Lust? Ich jedenfalls kann es kaum erwarten. Dann also: Ran an die Kartons!«

Amely wechselte die Stellung, der Auspacktanz begann.

»Da ist sie ja!« Maighread tauchte tief in den großen Karton ab und mit einem Strang ungefärbter Wolle wieder auf.

Es war der letzte von gefühlt hundert Kartons, durch die Maighread sich mit großer Begeisterung gewühlt hatte. Sie hatte jede Sorte Wolle in die Hand genommen und den Zuschauern vorgestellt und ihnen immer direkt Ideen mitgegeben, was man aus der Wolle stricken könnte.

Auch jetzt hielt sie den Strang in die Kamera und lächelte. Dann drehte sie das Etikett so, dass sie die Informationen zu Lauflänge und Nadelstärke lesen konnte.

»Das ist eine Neuheit«, erklärte sie. »Künftig könnt ihr Wolle zum Selbstfärben bei mir bestellen. Und wer weiß, vielleicht zeige ich euch als Inspiration demnächst ein paar schöne Pflanzenfärbungen. Meine Lieben, das war es von mir. Ich bin jetzt beschäftigt, all die Schätze zu sortieren und die Regale neu zu füllen, damit ihr dann zu mir ins Wolle & Zeit zum Stöbern, Genießen und Shoppen kommen könnt. Passt auf euch auf und habt viel Spaß beim Stricken.«

Sie winkte, lächelte und nickte Amely zu. Die tippte auf das Display und stoppte die Aufnahme. Sie hatten etwas mehr als eine halbe Stunde gefilmt.

Maighread hielt Amely auffordernd den Strang mit der ungefärbten Wolle hin. »Fühl mal, ist die nicht fantastisch?«

Amely streckte die Hand aus und nahm den Strang entgegen. Sie strich darüber, legte die Wolle an ihre Wange und nickte. »Wunderschöne Qualität, ganz weich. Merino?«

»Merino und Alpaka«, sagte Maighread jetzt. »Ich wollte das nicht vor der Kamera sagen, aber diese Wolle habe ich für dich bestellt. Ich dachte mir, du hättest Lust, mir einige Stränge für eine besondere Aktion zu färben. Ich würde mich freuen, wenn ich bei mir im Laden eine exklusive Amely-Stringer-Kollektion anbieten könnte. Starten soll der Verkauf nach Möglichkeit in drei Wochen beim Woll-Festival. Aber nicht einfach nur so. Meine Idee hat auch einen besonderen Hintergrund. Ich habe deshalb auch schon vorab mit dem Vertrieb von KingCole gesprochen, sie wären dabei. Aber bevor ich dir das erkläre, sag erst: Was meinst du? Ist das nicht eine großartige Wolle? Wie gemacht für deine Pflanzenfarben, oder?«

Amely sah Maighread mit entsetztem Blick an. Sie drückte ihr den Strang Wolle wieder in die Hand, als hätte sie sich daran verbrannt und schüttelte heftig den Kopf.

Hektisch packte sie ihre Sachen zusammen.

»Amely, bitte«, sagte Maighread. »Lass uns miteinander sprechen.« Doch sie drang nicht zu Amely durch.

»Ich muss jetzt gehen«, presste ihre Freundin gerade noch so hervor, dann war sie weg.

Kapitel 3

Amely

Die letzten zarten Nebelschleier über dem Loch Lomond lösten sich langsam im stärker werdenden Licht der Sonne auf. Ein neuer Tag bahnte sich den Weg. Sosehr Amely sich in die Landschaft und die Menschen verliebt hatte, es war ihr letzter Tag hier in Callwell. Morgen würde sie nach Edinburgh zurückgehen und sich dem Leben endlich wieder stellen. Maighreads Vorstoß mit der ungefärbten Wolle am Vortag hatte den Impuls dazu gegeben.

Als sie ihr gestern im kleinen Strickladen strahlend von einer Amely-Stringer-Kollektion vorgeschwärmt hatte, hatte es Amely wie ein Donnerschlag getroffen. Maighreads Idee hatte all die Erinnerungen an ihre Mom und die letzten Wochen auf einen Schlag wieder nach oben gewirbelt. Die Situation hatte Amely vollkommen überfordert. In ihren Ohren hatte es angefangen zu rauschen wie am Ufer des Sees bei Sturm. An ihrer Schläfe hatte Amely ihren Herzschlag gespürt. Viel zu schnell! Ihr Puls war wie von Furien gehetzt gerast. Ihr Hals hatte sich plötzlich wie zugeschnürt angefühlt.

Amely hatte versucht, etwas zu sagen, Maighread zu erklären, weshalb sie nicht mehr färben konnte. Doch sie war so aufgewühlt gewesen, dass sie nicht in der Lage gewesen war, einen Satz zu formulieren. Ihre Gedanken waren hin und her gepeitscht und hatten sich nicht fassen lassen. Es war wie ein Gewitter mit wilden bunten Blitzen in Amelys Kopf gewesen.

In ihrer Not hatte sie sich nicht anders zu helfen gewusst, als aus dem Laden zu flüchten. Ohne zu wissen, wohin sie wollte, war Amely davongerannt. Weg. Nur weg!

Ihre Schritte hatten sie wie von selbst an den See gelenkt. Dort war sie so lange gelaufen, bis sie nur noch keuchend hatte atmen können. Dann hatte sie sich auf einen Felsen gesetzt und sich bemüht herauszufinden, weshalb sie so heftig auf Maighreads Versuch, sie zum Färben zu überreden, reagiert hatte.

Natürlich hatte sie gewusst, dass es schwierig werden würde. Alles am Färben erinnerte sie an ihre Mutter und dieses innere Sträuben, sich dem Thema wieder zu nähern, lauerte seit ihrem Tod in Amely. Sie hatte seither vermieden, ernsthaft darüber nachzudenken. Mit einer derart klaren Abwehrhaltung hatte sie allerdings nicht gerechnet. Amely war über sich selbst überrascht.

Vielleicht hatte sie so heftig reagiert, weil es sie vollkommen unerwartet erwischt hatte. Für Amely war es ein richtiger Schock gewesen. Aber nachdem sich der Sturm in ihrem Inneren wieder gelegt hatte, hatte Amely Maighreads Vorstoß zum Anlass genommen, sich endlich mit den wirklich wichtigen Themen zu beschäftigen und ihre eigenen Gefühle zu hinterfragen.

Jetzt wusste sie, dass es nicht nur um ein Sträuben ging, sondern dass sie sich regelrecht gegen das Färben sperrte. Je länger sie nachdachte, desto klarer wurde es ihr. Färben kam für sie nicht mehr infrage. Im Moment nicht, und so, wie Amely es einschätzte, auch nicht irgendwann später. Wahrscheinlich war es besser für sie, wenn sie mit diesem Abschnitt ihres Lebens endgültig abschloss. Sie sollte nach vorne blicken und sich neu orientieren. Dann könnte sie die vielen schmerzlichen Erinnerungen Stück für Stück nach hinten in ihr Bewusstsein drängen und ihnen damit die Macht nehmen.

Selbst wenn sie sich doch entschließen sollte, ihre Leidenschaft wieder aufleben zu lassen, brauchte sie auf jeden Fall noch viel, viel mehr Zeit. Das war sehr deutlich geworden: Sie war noch nicht so weit. Und sie wusste nicht, ob sie je wieder so weit sein würde. Diese Entscheidung konnte sie im Moment nicht treffen.

Plötzlich, während sie am Tag zuvor auf diesem Felsen gesessen und versucht hatte, ihr aufgewühltes Inneres irgendwie zu beruhigen, hatte Amely gewusst, dass sie nicht mehr länger warten durfte. Sie musste abreisen.

Nach dem Abendessen, nachdem Chloe und Peter sich verabschiedet hatten und Eilidh zu Bett gegangen war, hatte Amely ihre Entscheidung verkündet. Genau wie sie es erwartet hatte, hatten Maighread und Joshua versucht, sie umzustimmen. Doch Amely hatte sie inständig gebeten, es ihr nicht so schwer zu machen und ihre Entscheidung zu akzeptieren.

Deshalb hatte sie es auch erst einmal nur den beiden gesagt. Hätten sie alle gleichzeitig bestürmt, wäre sie vielleicht schwach geworden und hätte sich umstimmen lassen. Aber das wollte sie nicht, tief in sich fühlte sie, dass es an der Zeit war, diesen Schritt zu tun. Sie musste ihr Leben wieder in die Hand nehmen.

Und es fühlte sich auch jetzt, in den frühen Morgenstunden, noch richtig an. Heute würde sie es Peter sagen. Das war die schwierigste Hürde. Sie hatte extra damit gewartet, bis sie eine Nacht darüber geschlafen hatte. Sie wollte sich ihrer Sache absolut sicher sein.

Amely wusste, dass ihr Entschluss Peter hart treffen würde. Und auch ihr fiel es nicht leicht, ihn hier in Callwell zurückzulassen. Dieses zarte Pflänzchen, das da gerade zwischen ihnen aufging, würde eine dauerhafte Trennung wahrscheinlich nicht überstehen. Sie war nicht so naiv, an ein Wunder zu glauben.

Nach einem längeren Spaziergang in der Morgendämmerung saß Amely nun ganz still mit angezogenen Beinen am Ufer des Sees. Die Knie hielt sie umschlungen und ihren Blick ließ sie in die Ferne schweifen.

Sie hatte sich in das große Tuch gehüllt, das Maighread für sie aus einem ihrer selbst gewickelten Wollbobbel gestrickt hatte.

»Es soll ein Glückstuch für dich sein«, hatte Maighread gesagt. »Wenn du es umlegst, ist es wie eine liebevolle Umarmung.«

Und genau so, wie Maighread es gesagt hatte, war es auch.

Das Tuch hieß Sweet Winter. Amely liebte die zarten Farben, die Maighread dafür ausgewählt hatte. Da sie zusätzlich glitzerndes Garn verarbeitet hatte, funkelte es obendrein. Es erinnerte Amely an die mit Raureif überzogenen Highlands in der Wintersonne.

»Sweet passt jedenfalls«, hatte Peter gesagt, als Amely sich glücklich mit dem Tuch um die Schultern vor ihm gedreht hatte. »Das sieht aus wie mit Puderzucker bestreute Marshmallows. Zum Anbeißen.«

»Glitzernde Marshmallows?«, hatte Amely gefragt und gelacht. Doch Peter hatte sich nicht beirren lassen.

»Wieso denn nicht? Es gibt doch Glitzerzucker.«

Damit hatte er natürlich recht. Amely hatte sich geschlagen gegeben.

»Solange du nicht reinbeißt, darfst du auch an Marshmallows denken, wenn du mein wunderschönes Tuch ansiehst«, hatte sie großzügig verkündet. »Die Gedanken sind schließlich frei.«

Als sie das Funkeln in Peters Augen sah, das mit ihrem Sweet Winter konkurrierte, ahnte Amely, in welche Richtung Peters Gedanken gingen. Sie hatte vorsichtshalber möglichst unauffällig das Thema gewechselt. Sie wollte Peter nicht in Versuchung bringen und ihn dann vor den Kopf stoßen, weil sie noch nicht so weit war.

Weil das Tuch so groß war, konnte Amely sich richtig hineinkuscheln. Es wärmte sie ganz wunderbar. So konnte sie ohne Frösteln den Tag beim Erwachen beobachten.

Der Himmel mit weißen Wolken, rosa Schlieren und diesem unendlich scheinenden Blau wölbte sich wie ein von Meisterhand geschaffenes Kunstwerk über dem See. Dieses Spektakel des erwachenden Tages am Loch Lomond war so unfassbar schön, dass es Amely immer wieder schier den Atem raubte. Das würde sie sehr vermissen. Und nicht nur das, dachte sie und seufzte leise. Wieso tat es ihr so weh, zu gehen, wenn es doch richtig war? Es fiel ihr nicht leicht, an ihrem Entschluss festzuhalten.

Während sie so dasaß und ihren Gedanken nachhing, quoll Amelys Herz über vor Glück und gleichzeitig war sie noch immer erfüllt von tiefer Traurigkeit. Seit ihre Mutter tot war, fühlte Amely sich verloren. Sie hatte große Angst vor dem, was in nächster Zeit in Edinburgh auf sie zukommen würde.

So oft hatte sie in den letzten Wochen hier am Ufer gesessen und wie im Rausch den Wechsel zwischen Sonne und Wolken beobachtet. Sie hatte zugesehen, wie die Dunstschleier über das Wasser waberten und sich nach und nach in der Wärme der stärker werdenden Sonne auflösten. Sie hatte viel geweint und hatte in der Obhut ihrer Freunde gelernt, den Schmerz anzunehmen und trotzdem auch wieder nach vorn zu sehen und positive Gefühle zuzulassen. Dennoch lauerte dieses Wieso noch immer in ihr und flammte oft ganz unvermittelt auf. Genau wie jetzt.

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