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Love & Gelato

Die Buchvorlage zur erfolgreichen Serie auf Netflix!

Das Land von Gelato und Amore! Doch Lina ist nicht in Urlaubsstimmung. Sie ist nur in die Toskana gereist, um ihrer Mutter den letzten Wunsch zu erfüllen. Aber dann findet sie das alte Tagebuch ihrer Mom, das von deren Zeit in Italien erzählt. Plötzlich erschließt sich Lina eine Welt aus romantischen Kunstwerken, magischen Konditoreien - und heimlichen Affären. Dabei stößt sie auf eine tragische Liebesgeschichte und ein Geheimnis, das nicht nur ihr Leben verändern wird …

"»Love & Gelato« ist eines der Bücher, die man in einem Rutsch durchliest, die Zeit dabei völlig vergisst und wenn man die letzte Seite umblättert und das Buch zuschlägt, wünscht man sich, dass es noch weiter gehen würde (…)." mei-infoeck.at (Jugendportal Tirol)

"Dieses Buch ist nicht nur für Romantik-Fans ein Muss, sondern auch für alle die Lust auf eine Reise ins wunderschöne Italien haben, denn das südliche Flair ist für den Leser bei diesem Buch selbst an den grausten Regentagen zu spüren." Obermain-Tagblatt

"Eine mitreißende Geschichte über Familie, Romantik und was es wirklich bedeutet, geliebt zu werden."
Booklist Online

"Ein Roman für alle, die Fernweh verspüren."
School Library Journal

"Mit seinen sinnlichen Schilderungen von Renaissance-Architektur und italienischem Essen ist der Roman gleichermaßen ein Volltreffer für Romance-Fans und Leute, die es lieben zu reisen."
Kirkus Reviews

"Sie werden dieses Buch nicht mehr weglegen können."
VOYA starred review


  • Erscheinungstag: 12.06.2017
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676397

Leseprobe

PROLOG

Ihr hattet doch auch schon mal schlechte Tage, oder? Ihr wisst schon, solche, an denen der Wecker nicht funktioniert, der Toast praktisch Feuer fängt und euch viel zu spät einfällt, dass eure Klamotten alle triefnass in der Waschmaschine liegen. Also rast man mit einer Viertelstunde Verspätung zur Schule und betet, dass keiner merkt, dass man eine Frisur hat wie Frankensteins Braut. Doch kaum sitzt man an seinem Platz, meckert der Lehrer: „Sind wir heute spät dran, Miss Emerson?“ Spätestens dann gucken alle und merken es.

Ich bin mir sicher, ihr habt solche Tage auch schon erlebt. Wie wir alle. Aber was ist mit den richtig miesen Tagen? Also die, die so aufgeheizt und gemein sind, dass sie alles zermalmen, woran einem liegt, nur damit sie es einem danach ins Gesicht spucken können.

Der Tag, an dem meine Mom mir von Howard erzählte, fiel eindeutig in die Kategorie der richtig miesen Tage. Aber damals war das meine geringste Sorge.

Ich war erst seit zwei Wochen im zweiten Highschool-Jahr, Mom hatte einen Arzttermin gehabt, und wir fuhren zusammen nach Hause. Im Auto war es still, abgesehen von dem Werbespot im Radio mit den zwei Arnold-Schwarzenegger-Imitatoren. Obwohl es ein heißer Tag war, hatte ich Gänsehaut an den Beinen. Genau an diesem Morgen war ich bei meinem ersten Wettkampf im Geländelauf Zweite geworden – unglaublich, wie unwichtig das jetzt war.

Mom schaltete das Radio aus. „Lina, wie fühlst du dich?“ Ihre Stimme war ruhig, und als ich sie anschaute, kamen mir wieder die Tränen. Sie war so blass und zerbrechlich. Warum war mir nicht aufgefallen, wie zerbrechlich sie geworden war?

„Weiß ich nicht“, antwortete ich und bemühte mich um eine feste Stimme. „Ich fühle mich wie unter Schock.“

Sie nickte und hielt an einer roten Ampel. Die Sonne strengte sich an, uns zu blenden, und ich starrte direkt hinein, sodass meine Augen brannten. Dies ist der Tag, der alles ändert, dachte ich. Von jetzt an wird es nur noch vor und nach dem heutigen Tag geben.

Mom räusperte sich, und kaum dass ich sie ansah, richtete sie sich geradeaus, als hätte sie mir was Wichtiges zu sagen. „Lina, habe ich dir schon mal von der Zeit erzählt, als jemand mich herausgefordert hat, in einem Brunnen zu schwimmen?“

Ich fuhr herum. „Was?“

„Erinnerst du dich, dass ich dir von dem Jahr berichtet habe, in dem ich in Florenz studierte? Ich war zum Fotografieren mit meinen Kommilitonen unterwegs, und es war ein so heißer Tag, dass ich meinte, zu schmelzen. Damals hatte ich diesen Freund – Howard –, und der hat mich doch tatsächlich dazu gebracht, in einen Brunnen zu hüpfen.“

Jetzt darf man nicht vergessen, dass wir gerade die schlimmsten Neuigkeiten unseres Lebens erfahren hatten. Die allerschlimmsten.

„… damit versetzte ich eine Gruppe deutscher Touristen in Panik. Die posierten gerade für ein Foto, und als ich aus dem Wasser auftauchte, verlor eine Frau das Gleichgewicht und wäre fast zu mir reingefallen. Die waren so wütend, dass Howard losbrüllte, ich würde ertrinken, und mir nachsprang.“

Ungläubig starrte ich sie an, und sie lächelte zaghaft.

„Äh … Mom? Das ist ja lustig und alles, aber warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?“

„Ich wollte dir von Howard erzählen. Der war wirklich richtig witzig.“ Die Ampel sprang auf Grün, und sie gab Gas.

Was? fragte ich mich verwirrt. Was, was, was?

Zunächst glaubte ich, die Brunnenepisode sei so eine Art Bewältigungsstrategie. Weil sie vielleicht dachte, eine Geschichte über einen alten Freund könnte uns von den beiden Granitblöcken ablenken, die über unseren Köpfen hingen, die da hießen: „Inoperabel“ und „Unheilbar“. Doch dann erzählte sie mir noch eine Geschichte. Und noch eine. Irgendwann hatte ich es kapiert: Sie fing mit etwas an, und nach den ersten drei Worten war klar, dass es erneut auf Howard hinauslaufen wird. Als sie mir schließlich den Grund für all die Howard-Storys verriet, nun … drücken wir es mal so aus, dass Unwissenheit ein Segen sein kann.

„Lina, ich will, dass du nach Italien gehst.“

Es war Mitte November, und ich saß neben ihrem Bett im Krankenhaus. Auf dem Schoß einen Stapel Cosmopolitan – Hefte, die ich mir aus dem Wartebereich mitgenommen hatte. In den letzten zehn Minuten hatte ich einen Test gemacht, der hieß: „Auf einer Skala von eins bis glühend: Wie heiß sind Sie?“ (7 von 10).

„Italien?“ Irgendwie war ich noch abgelenkt. Diejenige, die das Quiz vor mir ausgefüllt hatte, war auf zehn von zehn gekommen, und ich überlegte, wie sie das angestellt hatte.

„Ich meine, ich will, dass du in Italien lebst. Danach.“

Jetzt hatte sie meine Aufmerksamkeit. Erstens glaubte ich definitiv nicht an danach. Ja, ihr Krebs schritt genauso voran, wie ihre Ärzte es prognostiziert hatten, aber Ärzte wussten ja auch nicht alles. Erst heute Morgen hatte ich mir eine Geschichte im Internet gespeichert, die von einer Frau handelte, die ihren Krebs besiegt und danach den Kilimandscharo bestiegen hatte. Und zweitens, Italien?

„Warum sollte ich?“, fragte ich so beiläufig, wie ich konnte, weil ich sie nicht aufregen wollte. Stressvermeidung ist fürs Gesundwerden enorm wichtig.

„Ich möchte, dass du bei Howard wohnst. Das Jahr, das ich in Italien verbracht habe, hat mir so viel bedeutet, und ich wünsche mir die gleiche Erfahrung für dich.“

Kurz schweifte mein Blick zu dem Knopf, mit dem man die Schwester rufen konnte. Bei Howard in Italien wohnen? Verabreichten die ihr zu viel Morphium?

„Lina, sieh mich an“, verlangte sie in ihrem autoritärsten Ich-bin-deine-Mutter-Ton.

„Howard? Du meinst den Typen, von dem du so viel redest?“

„Ja. Er ist der beste Mann, der mir je begegnet ist. Er wird dich beschützen.“

„Vor was denn beschützen?“ Ich schaute ihr in die Augen, und mein Atem ging plötzlich rasch und heftig. Sie meinte das ernst. Gab es in Krankenhauszimmern eigentlich Papiertüten zum Reinatmen?

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten feucht. „Es wird … hart. Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen, aber ich wollte dir meine Entscheidung auf jeden Fall direkt mitteilen. Du wirst jemanden brauchen. Danach. Und ich denke, er ist der Beste dafür.“

„Mom, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Warum sollte ich bei einem Wildfremden leben?“ Ich sprang auf und begann, die Schubladen ihres Nachttischs zu durchsuchen. Irgendwo musste da doch eine Papiertüte sein.

„Lina, setz dich.“

„Aber, Mom …“

„Setz dich. Es wird dir gut gehen. Du schaffst das. Dein Leben wird weitergehen und ganz toll werden.“

„Nein“, sagte ich. „Du schaffst das. Manchmal werden Leute wieder gesund.“

„Lina, Howard ist ein wunderbarer Freund. Du magst ihn bestimmt.“

„Das bezweifle ich. Wenn er tatsächlich so ein guter Freund ist, warum bin ich ihm dann noch nie begegnet?“ Ich gab die Suche nach einer Tüte auf, ließ mich wieder auf meinen Stuhl fallen und ließ den Kopf zwischen meine Knie sinken.

Mühsam richtete sie sich auf, streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf meinen Rücken. „Die Dinge zwischen uns waren ein bisschen kompliziert, aber er möchte dich gern kennenlernen. Und er meinte, dass er dich gern bei sich wohnen lassen würde. Versprich mir, dass du es wenigstens ausprobieren wirst. Mindestens für ein paar Monate.“

Es klopfte, und als wir beide zur Tür sahen, stand da eine Schwester in einem babyblauen Kittel. „Wollte nur mal nach dem Rechten schauen“, erklärte sie und übersah oder ignorierte dabei meinen Gesichtsausdruck. Auf einer Skala von „eins“ bis „angespannt“ war die Atmosphäre im Zimmer bei hundert von zehn.

„Guten Morgen. Ich habe meiner Tochter gerade gesagt, dass sie nach Italien muss.“

„Italien“, meinte die Schwester und schlug sich mit beiden Händen an die Brust. „Dahin habe ich meine Hochzeitsreise gemacht. Gelato, der Schiefe Turm von Pisa, die Gondeln in Venedig … Du wirst begeistert sein.“

Meine Mutter lächelte mich triumphierend an.

Nein, Mom. Ich fahre auf gar keinen Fall nach Italien.“

„Aber Süße, du musst“, beharrte die Krankenschwester. „Das wird ein einmaliges Erlebnis sein.“

In einem Punkt sollte die Schwester recht behalten: Ich musste fahren. Aber ich war kein bisschen darauf vorbereitet, was mich dort erwartete.

1. KAPITEL

Das Haus erhob sich in der Ferne wie ein Leuchtturm in einem Meer aus Grabsteinen. Aber dort konnte er doch nicht wirklich wohnen, oder? Wahrscheinlich war das nur so ein italienischer Brauch. Fahrt Neuankömmlinge immer über einen Friedhof. Auf diese Weise bekommen sie ein Gefühl für die einheimische Kultur. Genau, so musste es sein.

Ich knetete die Finger in meinem Schoß, und mir wurde immer flauer, je näher das Haus kam. Es war, als würde der weiße Hai aus den Fluten auftauchen. Duuuum, dum. Nur dass das hier kein Film war. Es passierte in echt. Es gab nur die Möglichkeit, nach links einzubiegen. Ruhig bleiben. Das kann gar nicht sein. Mom hätte dich nicht losgeschickt, um auf einem Friedhof zu leben. Sie hätte dich gewarnt. Sie hätte …

Er setzte den Blinker, und alle Luft wich aus meiner Lunge. Sie hat es mir einfach nicht gesagt.

„Geht es dir gut?“

Howard – mein Dad, denn so sollte ich ihn wohl nennen – blickte mich besorgt an. Wahrscheinlich weil ich gerade ein pfeifendes Geräusch von mir gegeben hatte.

„Ist das dein …?“ Mir fehlten die Worte, daher konnte ich nur drauf deuten.

„Äh, ja.“ Er zögerte kurz und zeigte dann aus dem Fenster. „Wusstest du das nicht, Lina? Das hier?“

„Das hier“ beschrieb diesen riesigen mondbeschienenen Friedhof nicht annähernd. „Meine Grandma hat mir erzählt, ich würde auf einem Stück Land wohnen, das Amerika gehört. Sie meinte, du wärst der Aufseher einer Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg. Ich dachte nicht …“ Panik durchfloss mich wie heißer Sirup. Anscheinend konnte ich nicht mal mehr einen Satz zu Ende bringen. Atmen, Lina. Das Schlimmste hast du schon überlebt. Da kannst du das hier auch überstehen.

Er zeigte zum entfernten Ende des Anwesens. „Die Gedenkstätte steht dort oben, den Rest der Anlage nehmen die Gräber der amerikanischen Soldaten ein, die während des Krieges in Italien gefallen sind.“

„Aber das hier ist nicht dein Wohnhaus, stimmt’s? Hier arbeitest du nur, oder?“

Er antwortete nicht. Stattdessen bogen wir in eine Einfahrt, und meine letzte Hoffnung verlosch mit dem Licht der Autoscheinwerfer. Das hier war nicht irgendein Haus. Es war ein Zuhause. Rote Geranien säumten den Weg zum Eingang, und auf der Veranda schwang eine Schaukel hin und her, als hätte eben noch jemand darin gesessen und wäre gerade aufgestanden. Wenn man sich die Kreuze auf den Rasenflächen rundherum wegdachte, war es ein beliebiges Gebäude in einer beliebigen Umgebung. Doch es war eben keine beliebige Umgebung. Und diese Kreuze wirkten nicht so, als würden sie irgendwohin verschwinden. Jemals.

„Man wollte einen Experten, der ständig da ist, deshalb wurde in den Sechzigerjahren dieses Haus gebaut.“ Howard zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. „Es tut mir wirklich leid, Lina. Ich dachte, du wüsstest Bescheid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du jetzt denkst.“

„Das ist ein Friedhof.“ Meine Stimme klang so dünn wie verwässerter Tee.

Er drehte sich um und sah mich an, mied aber meinen Blick. „Ich weiß. Und das Letzte, was du jetzt brauchst, ist eine Erinnerung daran, was du dieses Jahr durchgemacht hast. Aber ich denke, dieser Ort wird dir ans Herz wachsen. Es ist so friedlich, und es gibt so viel interessante Geschichte. Deine Mutter hat es hier geliebt. Ich bin jetzt schon fast siebzehn Jahre hier und kann mir gar nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu wohnen.“

Seine Stimme hörte sich hoffnungsvoll an, aber ich ließ mich gegen die Lehne meines Sitzes sinken. In meinem Kopf kreisten jede Menge Fragen. Wenn sie es so geliebt hat, warum hat sie mir dann nichts davon gesagt? Wieso hat sie, bevor sie krank wurde, nie von dir gesprochen? Und was um Himmels willen hat sie dazu gebracht, die winzige Kleinigkeit zu verschweigen, dass du mein Vater bist?

Howard schien mein Schweigen förmlich in sich aufzusaugen, dann öffnete er seine Tür. „Lass uns reingehen. Ich nehme deinen Koffer.“

Mit seinen knapp ein Meter sechsundneunzig bewegte Howard sich ums Auto herum. Ich beugte mich zur Seite, damit ich ihn im Außenspiegel beobachten konnte. Meine Grandma war diejenige gewesen, die meine Wissenslücken geschlossen hatte. Er ist dein Vater. Deshalb wollte sie, dass du bei ihm lebst.

Ich hätte das vielleicht ahnen können, doch andererseits finde ich, dass meine Mutter die wahre Identität des guten alten Kumpels Howard doch zumindest hätte erwähnen müssen.

Howard ließ den Kofferraumdeckel zufallen, und ich setzte mich wieder gerade hin. Danach kramte ich noch kurz in meinem Rucksack herum, um ein paar Sekunden zu schinden. Lina, denk nach. Du bist allein in einem fremden Land, ein ausgewachsener Riese hat sich gerade als dein Vater ausgegeben, und dein neues Zuhause könnte Drehort für einen Film über eine Zombie-Apokalypse sein. Tu gefälligst was.

Doch was? Außer Howard die Autoschlüssel zu entreißen, fiel mir rein gar nichts ein, was mich davor bewahren könnte, dieses Gebäude zu betreten. Schließlich öffnete ich meinen Sicherheitsgurt und folgte ihm zur Eingangstür.

Drinnen war das Haus geradezu aufdringlich normal – als könnte es seinen Standort wettmachen, wenn es sich nur genug Mühe gäbe. Howard stellte meinen Koffer im Flur ab, und wir betraten ein Wohnzimmer mit zwei Polstersesseln und einem Ledersofa. An den Wänden hingen einige alte Plakate mit Reisemotiven, und es roch, als wäre alles mit Zwiebeln und Knoblauch durchtränkt, allerdings nicht unangenehm. Im Gegenteil.

„Willkommen zu Hause“, verkündete Howard und schaltete das Deckenlicht ein. Erneut erfasste mich Panik, und er zuckte zusammen, sowie er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich meine, willkommen in Italien. Ich bin so froh, dass du hier bist.“

„Howard?“

„Hallo, Sonia.“

Eine große gazellenhafte Frau trat ins Zimmer. Sie war vielleicht ein paar Jahre älter als Howard – mit kaffeebrauner Haut und einer Menge goldener Armreifen an jedem Handgelenk. Umwerfend. Und auch eine Überraschung.

„Lina“, sagte sie und sprach meinen Namen mit Sorgfalt aus. „Du hast es geschafft. Wie waren deine Flüge?“

Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Würden wir einander vielleicht mal vorgestellt? „Die waren in Ordnung. Der letzte war ziemlich lang.“

„Wir freuen uns so, dass du jetzt hier bist.“ Sie strahlte mich an, und dann herrschte erst einmal bedrückendes Schweigen.

Schließlich überwand ich mich. „Sie … sind dann wohl Howards Frau?“

Howard und Sonia schauten sich an und brachen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.

Lina Emerson. Die geniale Komikerin.

Schließlich fing Howard sich als Erster wieder. „Lina, das hier ist Sonia. Sie ist die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte. Sie arbeitet sogar schon länger hier als ich.“

„Nur ein paar Monate länger“, wandte Sonia ein und wischte sich die Lachtränen ab. „Aus Howards Mund klingt das immer, als wäre ich so eine Art Dinosaurier. Mein Haus liegt auch auf dem Gelände, nur etwas näher bei der Gedenkstätte.“

„Wie viele Leute wohnen denn hier?“

„Nur wir zwei. Jetzt drei“, antwortete Howard.

„Und etwa viertausend Soldaten“, fügte Sonia grinsend hinzu. Sie zwinkerte Howard zu, und ich sah gerade noch rechtzeitig zu ihm hin, um mitzukriegen, wie er sich mit einem Finger über die Kehle fuhr. Zeichensprache. Na toll.

Sonias Grinsen verschwand. „Hast du Hunger, Lina? Ich habe Lasagne gemacht.“

Daher der Geruch. „Ich bin ziemlich hungrig“, gestand ich. Und das war noch untertrieben.

„Gut. Es gibt Lasagne mit extraknofeligem Knoblauchbrot. Meine Spezialität.“

„Wunderbar!“, rief Howard und wedelte so aufgeregt mit den Armen wie eine Hausfrau bei Der Preis ist heiß. „Du verwöhnst uns ja richtig.“

„Heute ist schließlich auch ein besonderer Abend. Deshalb darf das schon mal sein. Lina, wahrscheinlich möchtest du dir noch die Hände waschen. Ich decke den Tisch, und dann treffen wir uns gleich im Esszimmer.“

Howard zeigte auf die andere Seite des Wohnzimmers. „Die Toilette ist dort drüben.“

Ich nickte und stellte meinen Rucksack auf den nächstbesten Stuhl, bevor ich quasi aus dem Raum floh. Das Bad war miniklein und bot kaum genug Platz für Kloschüssel und Waschbecken. Ich ließ das Wasser so heiß werden, wie es ging, und schrubbte mir den Flughafenschmutz mit einem Stück Seife vom Waschbeckenrand ab.

Während ich mir die Hände wusch, fiel mein Blick in den Spiegel. Ich stöhnte auf, denn ich sah aus, als hätte man mich durch drei Zeitzonen gezerrt. Und das stimmte ja auch. Meine normalerweise leicht gebräunte Haut wirkte gelblich, und unter den Augen hatte ich dunkle Ringe. Und meine Haare erst. Anscheinend war es mir gelungen, die Gesetze der Physik außer Kraft zu setzen. Mit feuchten Händen versuchte ich, meine Locken zu glätten, doch sie schienen sich nur noch stärker zu kringeln. Schließlich gab ich es auf. Was spielte es für eine Rolle, dass ich aussah wie ein Igel, der Red Bull entdeckt hatte? Väter akzeptierten einen doch so, wie man war, oder nicht?

Vor der Toilette hörte ich Musik, und meine Nervosität wurde von einem Flämmchen zu einem lodernden Scheiterhaufen. Musste ich wirklich zu Abend essen? Vielleicht konnte ich mich ja einfach in irgendeinem Zimmer verstecken und diese Sache mit dem Friedhof erst mal verarbeiten. Oder auch nicht verarbeiten.

Doch dann protestierte mein Magen knurrend. Ich musste echt was essen.

„Da ist sie ja“, sagte Howard und erhob sich, während ich das Esszimmer betrat. Auf dem Tisch lag eine rot karierte Decke und aus dem iPod neben der Tür erklang ein alter Rocksong, der mir bekannt vorkam. Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber, und auch Howard nahm wieder Platz.

„Ich hoffe, du hast Hunger. Sonia ist so eine fantastische Köchin, dass man meinen könnte, sie habe ihren Beruf verfehlt.“ Jetzt, wo wir nicht mehr nur zu zweit waren, hörte er sich deutlich entspannter an.

Sonia strahlte. „Auf keinen Fall. Mir war das vorherbestimmt, hier an dieser Gedenkstätte zu leben.“

„Das sieht aber gut aus.“ Und mit „gut“ meinte ich fantastisch. Neben einer dampfenden Auflaufform mit Lasagne standen ein Korb mit dicken Scheiben Knoblauchbrot und eine Schüssel mit knackigem Salat und Tomaten. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um mich nicht darauf zu stürzen.

Sonia schnitt die Lasagne und platzierte ein großes quadratisches Stück mitten auf meinem Teller. „Brot und Salat kannst du dir selbst nehmen. Buon appetito.

„Buon appetito“, echote Howard.

Buon appe… irgendwas“, murmelte ich.

In der Sekunde, als alle etwas auf ihren Tellern hatten, griff ich nach meiner Gabel und legte los. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein wild gewordenes Mammut, aber nach einem ganzen Tag mit nichts außer Flugzeugessen, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Die Portionen waren mini gewesen. Als ich mich endlich wieder aufrichtete, um Luft zu holen, starrten Sonia und Howard mich an. Er wirkte leicht entsetzt.

„Also, Lina, was sind denn so deine Hobbys?“, erkundigte sich Sonia.

Ich schnappte mir meine Serviette. „Außer Leute mit meinen Tischmanieren zu schocken?“

Howard schmunzelte. „Deine Großmutter hat mir erzählt, dass du gerne läufst. Sie meinte, so ungefähr sechzig Kilometer pro Woche – und dass du auch am College damit weitermachen willst.“

„Na, das erklärt dann ja den Appetit.“ Sonia nahm ein weiteres Stück Lasagne auf den Pizzaheber, und ich hielt ihr dankbar meinen Teller entgegen. „Läufst du auch an der Schule?“

„Früher schon. Ich war in der Leichtathletikmannschaft, aber ich habe meinen Platz frei gemacht, nachdem wir es erfahren haben.“

Fragend sahen mich beide an.

„Das mit dem Krebs. Das Training kostete mich viel Zeit, und ich wollte keine Wettkämpfe mehr machen, weil man dann so viel unterwegs ist.“

Howard nickte. „Der Friedhof ist klasse, um zu laufen. Jede Menge Platz und gute Wege. Ich bin hier früher dauernd gelaufen. Bevor ich fett und faul geworden bin.“

Sonia verdrehte die Augen. „Also bitte. Du könntest nicht mal fett werden, wenn du es drauf anlegen würdest.“ Dann schob sie den Korb mit dem Knoblauchbrot näher zu mir. „Wusstest du, dass deine Mutter und ich befreundet waren? Sie war wundervoll. So talentiert und lebenslustig. Wir können uns übrigens gern duzen.“

Nee, auch das hat sie mir nicht erzählt. War es möglich, dass ich hier einem ausgefeilten Entführungsplan zum Opfer fiel? Aber würden Kidnapper einen mit der besten Lasagne füttern, die man je gegessen hat? Und würden sie einem, wenn man ihnen entsprechend zusetzte, das Rezept verraten?

Howard räusperte sich und riss mich so aus meinen Gedanken. „Sorry“, sagte ich. „Äh, nein. Sie hat nie von Ihnen, äh, von dir gesprochen.“

Sonia nickte mit ausdrucksloser Miene. Howard warf ihr einen raschen Blick zu und schaute dann wieder mich an. „Du bist bestimmt ziemlich müde. Gibt es jemanden, bei dem du dich melden möchtest? Deiner Großmutter habe ich schon eine Nachricht geschickt, sobald dein Flugzeug gelandet war, doch du kannst sie natürlich auch gern anrufen. Auf meinem Handy sind die internationalen Vorwahlen eingespeichert.“

„Kann ich Addie anrufen?“

„Ist das die Freundin, bei der du gewohnt hast?“

„Genau. Aber ich habe ja meinen Laptop. Da kann ich einfach FaceTime benutzen.“

„Das funktioniert heute Abend vielleicht nicht. Italien ist technologisch nicht gerade auf dem allerneuesten Stand, und unsere Internetverbindung war schon den ganzen Tag über langsam. Morgen wird jemand vorbeikommen und sich das ansehen, aber in der Zwischenzeit kannst du einfach mein Mobiltelefon benutzen.“

„Danke.“

Er stand vom Tisch auf. „Möchte jemand Wein?“

„Ja, bitte“, sagte Sonia.

„Lina?“

„Äh … ich bin ja noch minderjährig.“

Er lächelte. „In Italien wird das mit der Altersgrenze für Alkohol ein wenig lockerer gesehen, also ist es hier ein bisschen anderes. Aber ich will dich natürlich nicht drängen.“

„Dann verzichte ich.“

„Bin gleich wieder da.“ Er verschwand in der Küche.

Etwa zehn Sekunden lang herrschte Stille im Raum, dann legte Sonia ihre Gabel aus der Hand. „Ich freue mich so, dass du hier bist, Lina. Falls du irgendwas brauchen solltest, bin ich nur einen Steinwurf entfernt. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Danke.“ Ich richtete meine Augen auf eine Stelle knapp oberhalb ihrer linken Schulter. Erwachsene bemühten sich immer ein bisschen zu viel. Vermutlich weil sie dachten, wenn sie nur nett genug zu mir wären, würde das den Verlust meiner Mom ausgleichen. Das war irgendwie süß und furchtbar zugleich.

Sonia blickte zur Küche und senkte dann die Stimme. „Ich wollte dich noch bitten, morgen mal bei mir vorbeizuschauen. Ich habe etwas, was ich dir geben möchte.“

„Was denn?“

„Darüber können wir dann sprechen. Heute Abend sollst du dich erst einmal eingewöhnen.“

Spontan schüttelte ich den Kopf. Ich wollte mich so wenig wie möglich eingewöhnen und hatte nicht einmal vor, meinen Koffer auszupacken.

Nach dem Abendessen bestand Howard darauf, mir mein Gepäck nach oben zu tragen. „Ich hoffe, du magst dein Zimmer. Ich habe es vor ein paar Wochen neu gestrichen und eingerichtet, und ich finde, es ist ganz hübsch geworden. Im Sommer lasse ich die Fenster meist offen – so bleibt es viel kühler –, aber wenn du magst, kannst du sie natürlich zumachen.“ Er redete so schnell, als habe er diese Willkommensrede den ganzen Nachmittag über geübt. Er stellte den Koffer vor der ersten Tür ab. „Das Bad ist genau gegenüber, und ich habe frische Seife und Shampoo hingelegt. Sag mir einfach, was du sonst noch brauchst, dann besorge ich es morgen, okay?“

„Okay.“

„Und wie schon erklärt, ist das Internet ziemlich zickig, aber falls du es dennoch probieren willst, unser Netzwerk heißt ‚American Cemetery‘.“

Natürlich. „Und das WLAN-Passwort?“

Wall of the Missing. In einem Wort geschrieben.“

„Wall of the Missing“, wiederholte ich. „Was bedeutet das?“

„Das ist ein Teil der Gedenkstätte. Es gibt mehrere Steintafeln, auf denen die Namen der Soldaten aufgelistet sind, deren Leichen nie gefunden wurden. Ich kann dir das morgen zeigen, wenn du willst.“

Neeeiiin danke. „Also, ich bin ziemlich müde …“ Ich bewegte mich in Richtung Tür.

Er verstand den Wink und reichte mir ein Handy und ein Stück Papier. „Da habe ich aufgeschrieben, was du wählen musst, um in den Staaten anzurufen. Du brauchst eine Vorwahl für das Land und eine für den Bezirk. Meld dich einfach, falls du Probleme damit hast.“

„Danke.“ Ich steckte den Zettel in die Tasche.

„Gute Nacht, Lina.“

„Gute Nacht.“

Er drehte sich um und ging den Flur hinunter, während ich die Tür öffnete und meinen Koffer über die Schwelle schob. Vor Erleichterung darüber, endlich allein zu sein, sackten meine Schultern spürbar nach unten. Tja, jetzt bist du wirklich hier, dachte ich. Nur du und deine viertausend neuen Freunde. Die Tür hatte ein Schloss, und ich verriegelte sie. Danach drehte ich mich langsam um und war bereit für das, was Howard „ganz hübsch“ fand.

Und mein Herz blieb fast stehen, denn … Wow.

Das Zimmer war perfekt. Eine wunderschöne goldene Lampe auf dem Nachttisch verbreitete weiches Licht. Das Bett sah beinah antik aus, und es lagen gefühlte tausend dekorative Kissen darauf. Am anderen Ende des Raums standen ein gestrichener Schreibtisch und eine Kommode. Neben der Tür hing ein ovaler Spiegel an der Wand. Es gab sogar ein paar leere Bilderrahmen – auf dem Nachttisch und der Kommode –, als warteten sie darauf, dass ich Fotos hineintat.

Eine Weile stand ich nur da und staunte. Howard hatte genau meinen Geschmack getroffen. Wie war es möglich, dass jemand, der mich noch nie gesehen hatte, mein perfektes Zimmer einrichten konnte? Vielleicht war ja doch alles nicht so schlimm …

In dem Moment bauschte der Wind die Gardinen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf das große geöffnete Fenster. Ich hatte meinen eigenen Grundsatz verletzt. Wenn etwas zu schön ist, um wahr zu sein, dann ist es wahrscheinlich genau das. Ich trat ans Fenster und steckte den Kopf hinaus. Die Grabsteine schimmerten im Mondlicht wie riesige Zahnreihen. Alles war dunkel und auf unheimliche Weise still. Kein noch so hübsches Zimmer vermochte diese Aussicht wettzumachen.

Ich zog den Kopf zurück und holte das Blatt Papier aus meiner Hosentasche. Es war an der Zeit, einen Fluchtplan auszuarbeiten.

2. KAPITEL

Sadie Danes mag einer der schlimmsten Menschen auf diesem Planeten sein, aber sie wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Denn schließlich verdanke ich ihr meine beste Freundin.

Es war zu Beginn der siebten Klasse gewesen. Addie war gerade aus Los Angeles nach Seattle gezogen, und eines Tages kriegte sie mit, wie Sadie nach dem Turnunterricht darüber lästerte, dass einige aus unserer Klasse eigentlich keine BHs brauchten. Die Wahrheit war, dass wir alle erst zwölf waren und vielleicht nur ein Prozent von uns einen BH tragen musste. Es war nur so, dass ich ganz besonders keinen brauchte, und alle wussten, dass sie mich meinte. Ich ignorierte sie nur (d h. ich steckte meinen Kopf in den Spind und blinzelte die Tränen weg), aber Addie machte sich die Mühe, ihren Arm auszustrecken und Sadie zur Rede zu stellen, während diese versuchte, die Umkleide zu verlassen. An jenem Tag war sie für mich eingestanden und hörte von da an nie mehr damit auf.

„Hau ab. Das könnte Lina sein.“ Addies Stimme klang leise, so als hielte sie das Telefon ein Stück von sich weg. „Hallo?“, sagte sie dann direkt ins Handy.

„Addie, ich bin’s.“

„Lina! Ian, lass mich in Ruhe!“ Dann nahm ich gedämpftes Geschrei wahr und etwas, was sich anhörte wie eine mexikanische Messerstecherei zwischen ihr und ihrem Bruder. Addie hatte drei große Brüder, aber anstatt sie zu verhätscheln, schienen sie sich einig darin, sie wie einen von ihnen zu behandeln. Das erklärte eine Menge über Addies Charakter.

„Sorry“, entschuldigte sie sich, nachdem sie endlich wieder ins Telefon sprach. „Ian ist ein Idiot. Jemand ist über sein Handy drübergefahren, und jetzt meinen meine Eltern, ich soll meins mit ihm teilen. Doch mir ist egal, was passiert ist. Jedenfalls werde ich seinen Neandertaler-Freunden meine Nummer bestimmt nicht geben.“

„Ach, komm, so schlimm sind die doch nicht.“

„Hör auf. Du weißt, wie sie sind. Heute Morgen hab ich einen von ihnen dabei erwischt, wie er unsere Cerealien gegessen hat. Dazu hatte er eine ganze Packung in eine Rührschüssel gekippt und sie mit einer Suppenkelle in sich reingeschaufelt. Ich glaube, Ian war nicht mal zu Hause.“

Lächelnd schloss ich kurz die Augen. Wenn Addie eine Superheldin wäre, dann wäre ihre besondere Stärke die Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass ihre Freundinnen sich normal fühlen. In den ersten finsteren Wochen nach der Beerdigung war sie diejenige gewesen, die mich zum Laufen aus dem Haus holte und die darauf bestand, dass ich mich mal unter die Dusche stellte oder etwas aß. Sie war diese Art von Freundin, von der man sich sicher ist, sie nicht zu verdienen.

„Vergiss es. Warum verschwenden wir unsere Zeit damit, über Ians Kumpel zu reden? Ich schätze, du hast inzwischen Howard kennengelernt.“

Ich öffnete die Augen wieder. „Du meinst, meinen Vater?“

„Ich weigere mich, ihn so zu nennen. Bis vor ungefähr zwei Monaten wussten wir doch nicht mal, dass er dein Vater ist.“

„Vor weniger als zwei Monaten“, erwiderte ich.

„Lina, du machst mich fertig. Wie ist er denn so?“

Ich warf einen Blick auf die Zimmertür. Von unten klang immer noch Musik herauf, aber ich senkte trotzdem die Stimme. „Ich sage nur so viel: Ich muss hier weg. Und zwar sofort.“

„Wie meinst du das? Ist er ein Widerling?“

„Nein. Er ist eigentlich ganz in Ordnung. Und er ist so groß wie ein Basketballprofi, was mich irgendwie wundert. Doch das ist nicht das Problem.“ Ich holte tief Luft. Ich brauchte den größtmöglichen dramatischen Effekt. „Er ist Aufseher eines Friedhofs. Was bedeutet, dass ich auf einem Friedhof wohnen muss.“

„Was?“

Ich war auf ihren Ausbruch gefasst gewesen und hatte das Telefon vorsorglich ein Stück von meinem Ohr weggehalten.

„Du musst auf einem Friedhof wohnen? Ist er etwa Totengräber oder so was?“ Den letzten Satz flüsterte sie nur noch.

„Ich glaube nicht, dass die hier noch Leute beerdigen. Alle Gräber sind aus dem Zweiten Weltkrieg.“

„Das macht es doch nicht besser! Lina, wir müssen dich da wegholen. Das ist echt unfair. Erst verlierst du deine Mom, und dann musst du um die halbe Welt fliegen, um bei einem Typen zu leben, der plötzlich behauptet, dein Dad zu sein. Und jetzt wohnt der auch noch auf einem Friedhof? Das ist einfach zu viel.“

Ich setzte mich an den Schreibtisch und drehte den Stuhl davor so, dass ich mit dem Rücken zum Fenster saß. „Glaub mir, wenn ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, was mir blüht, dann hätte ich mich noch heftiger gewehrt. Es ist unheimlich hier. Überall Grabsteine. Außerdem fühlt man sich richtig weit weg von der Zivilisation. An der Straße, die hierherführte, habe ich zwar ein paar Häuser gesehen, aber ansonsten glaube ich, gibt es hier nur Wald um den Friedhof.“

„Hör auf! Ich hol dich da raus! Wie viel kostet ein Flugticket? Mehr als dreihundert? Das ist nämlich alles, was ich nach unserem kleinen Zusammenstoß mit dem Hydranten noch habe.“

„Dabei bist du doch gar nicht so fest dagegen gefahren!“

„Erzähl das mal dem Mechaniker. Anscheinend musste die ganze Stoßstange ersetzt werden. Und daran bist bloß du schuld. Hättest du nicht drauflos gesungen und gezappelt, dann hätte ich nicht mitmachen müssen.“

Grinsend zog ich die Füße hoch in den Schneidersitz. „Es ist absolut nicht meine Schuld, dass du dich nicht unter Kontrolle hast, wenn ein alter Britney-Spears-Song im Radio läuft. Aber brauchst du was, um es zurückzuzahlen? Für meine Finanzen sind meine Großeltern zuständig, aber ich bekomme jeden Monat Taschengeld.“

„Nein, natürlich nicht. Du wirst dein Geld noch brauchen, um aus Italien zurück nach Hause zu kommen. Meine Eltern sind bestimmt einverstanden damit, wenn du hier wieder einziehst. Meine Mom hält dich für einen guten Einfluss. Sie brauchte ungefähr einen Monat, um darüber hinwegzukommen, dass du dein Geschirr in die Spülmaschine räumst.“

„Tja, ich bin einfach ziemlich bemerkenswert.“

„Wem erzählst du das? Okay, ich rede bald mit ihnen. Ich muss nur warten, bis Mom wieder halbwegs normal ist. Sie ist doch verantwortlich für dieses Wohltätigkeits-Football-Turnier von Ian, und man könnte denken, sie muss einen Debütantenball schmeißen. Nee, im Ernst, sie stresst sich viel zu viel. Gestern Abend ist sie ganz durch den Wind gewesen, weil keiner von uns ihren Nudelauflauf essen wollte.“

„Ich mag ihren Nudelauflauf. Den mit Thunfisch, oder?“

„Igitt, den magst du nicht. Du warst wahrscheinlich nur am Verhungern, weil du tausend Kilometer gelaufen warst. Außerdem isst du sowieso alles.“

„Stimmt“, räumte ich ein. „Aber, Addie, vergiss nicht, dass wir uns eher den Kopf darüber zerbrechen sollten, wie wir meine Grandma überzeugen. Sie ist total einverstanden damit, dass ich hier lebe.“

„Was absolut keinen Sinn ergibt. Warum schickt sie dich denn um den halben Globus, damit du bei einem Wildfremden wohnst? Sie kennt ihn doch noch nicht mal.“

„Ich glaube, sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Auf dem Weg zum Flughafen hat sie mir erzählt, sie überlegt, zusammen mit Grandpa in eine Anlage für betreutes Wohnen zu ziehen. Es wird ihr einfach zu viel, ihn zu versorgen.“

„Deshalb solltest du ja auch bei uns wohnen.“ Sie atmete tief aus. „Mach dir keine Sorgen. Überlass Grandma Rachelle einfach mir. Ich werde mit ihr losgehen und ein paar von diesen Butterscotch-Bonbons kaufen, die alle alten Leute lieben, und dann werden wir besprechen, warum das Haus der Familie Bennett deine beste Wahl ist.“

„Danke, Addie.“ Dann schwiegen wir beide. Nur Howards Musik und ein paar Insektengeräusche drangen an mein Ohr. Ich wäre am liebsten durchs Telefon zurück nach Seattle gekrochen. Wie sollte ich ohne Addie bloß überleben?

„Warum bist du so still? Ist der Totengräber da?“

„Ich bin in meinem Zimmer, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieses Haus ziemlich hellhörig ist. Ich weiß nicht, ob er nicht mein ganzes Gespräch mitkriegt.“

„Na toll. Du kannst also nicht mal frei sprechen. Wir sollten uns lieber mal ein Codewort überlegen, damit ich weiß, ob es dir gut geht. Sag ‚Eisvogel‘, wenn du gefangen gehalten wirst.“

„‚Eisvogel?‘ Sollten wir dafür nicht eher ein Wort nehmen, das nicht total ungewöhnlich klingt?“

„Mist. Jetzt bin ich irritiert, du hast das Wort benutzt, aber ich habe keine Ahnung, ob du es so meinst. Wirst du jetzt gefangen gehalten oder nicht?“

„Nein, Addie. Ich werde gerade nicht gefangen gehalten.“ Ich seufzte. „Außer vielleicht von dem Versprechen, das ich meiner Mom gegeben habe.“

„Schon, doch zählen Versprechen überhaupt, wenn man sie unter falschem Vorwand macht? Das soll jetzt nicht respektlos klingen, aber deine Mutter war ja nicht gerade aufgeschlossen, was die Gründe für diese Italienreise betraf.“

„Ja, stimmt schon.“ Jetzt atmete ich tief aus. „Ich hoffe immer noch, dass es irgendeinen Grund dafür gab.“

„Vielleicht.“

Ich schaute über meine Schulter aus dem Fenster. Der Mond stand genau über der dunklen Silhouette des Waldes, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich denken können, dass die Aussicht auf eine verrückte Weise schön war. „Ich mach jetzt lieber Schluss. Denn ich rufe von seinem Handy aus an, und das kostet wahrscheinlich schon ein Vermögen.“

„Okay. Ruf mich wieder an, sobald du kannst. Und im Ernst, mach dir keine Sorgen. Wir haben dich in null Komma nichts da rausgeholt.“

„Danke, Addie. Hoffentlich erreiche ich dich morgen über FaceTime.“

„Ich werde vor meinem Computer warten. Wie verabschieden die sich in Italien? Mit ‚Choo‘? Oder ‚Chow‘?“

„Ich hab keine Ahnung.“

„Lügnerin. Du bist doch diejenige, die immer davon geredet hat, um die Welt zu reisen.“

„Für Hallo und Auf Wiedersehen sagt man ‚Ciao‘.“

„Wusste ich’s doch. Ciao, Lina.“

„Ciao.“

Unsere Verbindung war getrennt. Ich legte das Telefon auf den Tisch und spürte einen Kloß im Hals. Schon jetzt vermisste ich sie wieder.

„Lina?“

Howard! Ich fiel fast vom Stuhl. Hatte er gelauscht?

Hektisch sprang ich auf, öffnete die Tür aber nur ein paar Zentimeter weit. Howard stand mit einem Packen Handtücher, die wie eine Hochzeitstorte gestapelt waren, im Flur.

„Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört“, sagte er rasch. „Mir ist nur eben eingefallen, dass ich dir die hier noch geben wollte.“

Ich musterte sein Gesicht, doch es war so glatt wie Schlagsahne. Anscheinend bedeutete verwandt zu sein nichts. Ich konnte ihm jedenfalls nicht ansehen, ob er mein Gespräch mit Addie belauscht hatte.

Erst zögerte ich eine Sekunde lang, dann machte ich die Tür weiter auf und nahm die Handtücher in Empfang. „Danke schön. Und hier ist dein Handy.“ Ich schnappte es mir vom Tisch und gab es ihm zurück.

„Also … was meinst du dazu?“

Ich wurde rot. „Wozu?“

„Zu deinem Zimmer.“

„Oh. Es ist toll. Wirklich hübsch.“

Ein erleichtertes, ein bisschen schiefes Lächeln breitet sich auf seiner Miene aus. Es war definitiv das erste echte an diesem Abend, und Howard wirkte, als wäre eine Last von ungefähr hundert Pfund von ihm abgefallen.

„Gut.“ Jetzt lehnte er sich an den Türrahmen. „Mir ist bewusst, dass ich nicht den besten Geschmack habe, aber ich wollte, dass es nett aussieht. Eine Freundin hat mir geholfen, den Tisch und die Kommode zu streichen. Den Spiegel haben Sonia und ich auf einem Flohmarkt entdeckt.“

Würg. Jetzt hatte ich das Bild von ihm vor Augen, wie er durch Italien pirschte, auf der Suche nach Zeug, von dem er glaubte, es könnte mir gefallen. Woher das plötzliche Interesse? Soweit ich sagen konnte, hatte er mir niemals auch nur eine Geburtstagskarte geschickt.

„Du hättest dir nicht so viele Umstände machen müssen“, erwiderte ich.

„Das waren überhaupt keine Umstände. Wirklich nicht.“

Jetzt grinste er wieder, und plötzlich trat eine lange unangenehme Pause ein. Der ganze Abend war mir schon vorgekommen wie ein Blind Date mit jemandem, mit dem ich keine Gemeinsamkeiten hatte. Nein, schlimmer. Wir hatten ja was gemeinsam. Wir redeten bloß nicht drüber. Wann werden wir darüber reden?

Hoffentlich nie.

Howard nickte. „Also dann – gute Nacht, Lina.“

„Gute Nacht.“

Seine Schritte verhallten im Flur. Ich schloss die Tür und verriegelte sie. Die Wirkung der neunzehnstündigen Reise war jetzt genau in meiner Stirn angekommen – und bescherte mir grässliche Kopfschmerzen. Es war an der Zeit, dass dieser Tag zu Ende ging.

Ich legte die Handtücher auf die Kommode, schleuderte dann die Schuhe von meinen Füßen und ließ mich aufs Bett fallen. Dabei flogen massenhaft Zierkissen in alle Richtungen. Endlich. Das Bett war so weich, wie es aussah, und die Bettwäsche duftete herrlich. So, wie früher manchmal, wenn meine Mom sie draußen zum Trocknen aufgehängt hatte. Ich schlüpfte unter die Decke und schalte das Licht aus.

Von unten erklang lautes Gelächter. Die Musik war immer noch laut aufgedreht, und entweder wuschen die beiden gerade ab, oder sie spielten eine geräuschvolle Runde Krocket im Zimmer, aber wen kümmerte das? Nach diesem Tag hätte ich überall einschlafen können.

Ich war gerade erst in diesen seltsamen Halbschlaf geglitten, da weckte Howards Stimme mich auf. „Sie ist ziemlich still.“

Ich riss die Augen auf.

„Das ist doch nicht verwunderlich, wenn man die Umstände bedenkt“, entgegnete Sonia.

Ich rührte mich nicht. Offenbar war Howard nicht klar, dass Geräusche durch offene Fenster hinaus und hinein gelangten.

Nun senkte er die Stimme. „Natürlich. Ich war einfach nur überrascht. Hadley war so …“

„Lebhaft? Ja, das stimmt. Aber vielleicht wird Lina dich auch noch überraschen. Mich würde es nicht im Geringsten wundern, wenn sich herausstellte, dass sie einiges vom Pep ihrer Mutter hat.“

Leise lachte er. „Pep. So kann man das auch nennen.“

„Gib ihr ein bisschen Zeit.“

„Selbstverständlich. Danke noch mal für das Abendessen – es war köstlich.“

„Und mir ein Vergnügen. Ich will morgen im Besucherzentrum nach dem Rechten sehen. Bist du im Büro?“

„Ja, allerdings nicht die ganze Zeit. Und ich möchte früh Schluss machen, damit ich Lina die Stadt zeigen kann.“

„Prima. Nacht, Chef.“ Sonias Schritte knirschten auf dem Kies der Einfahrt, und ein paar Sekunden später hörte ich, wie die Haustür geöffnet und wieder zugemacht wurde.

Ich zwang mich, die Augen zu schließen, aber es fühlte sich an, als hätte ich sprudelnde Limo in meinen Adern. Was hatte Howard denn erwartet? Dass ich außer mir war vor Freude, weil ich bei jemandem einziehen durfte, den ich noch nie gesehen hatte? Dass ich es superaufregend fand, auf einem Friedhof zu wohnen? Es war ja auch kein großes Geheimnis, dass ich nicht hatte herkommen wollen. Erst als Grandma die schweren Geschütze aufgefahren hatte, hatte ich eingewilligt. Du hast es deiner Mom versprochen.

Warum hatte er mich „still“ genannt? Ich hasste das. Leute sagten das immer, als wäre es quasi ein Makel. Als wäre ich unfreundlich oder arrogant, nur weil ich nicht sofort über alles rede, was mich bewegt. Mom hatte das verstanden. Du brauchst vielleicht ein bisschen, um warm zu werden, aber dann kannst du einen ganzen Raum erhellen.

Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich drehte mich um, sodass ich das Gesicht ins Kissen pressen konnte. Es war jetzt sechs Monate her, und manchmal gelang es mir, einige Stunden lang so zu tun, als käme ich ohne sie klar. Doch das war nie von Dauer. Anscheinend ist die Wirklichkeit so hart und unerbittlich wie der Hydrant, gegen den Addie und ich gefahren waren.

Ich würde den ganzen Rest meines Lebens ohne sie leben müssen. Ende Gelände.

3. KAPITEL

„Schau mal, das Fenster da steht offen. Hier muss also jemand sein.“

Die Stimme war quasi direkt an meinem Ohr, und sofort setzte ich mich kerzengerade auf. Wo war ich? Ach ja. Genau. Auf einem Friedhof. Nur dass der jetzt sonnenbeschienen war und es in meinem Zimmer etwa vierhundert Grad waren. Okay, vielleicht auch hundert mehr oder weniger.

„Sollte es hier nicht irgendwelche Schilder geben, die einem sagen, wohin man muss?“ Das war eine Frauenstimme, und zwar eine mit so heftigem Akzent wie scharfe Barbecuesoße.

Ein Mann antwortete ihr. „Gloria, das sieht wie ein privates Wohnhaus aus. Ich glaube, wir sollten hier nicht herumschnüffeln …“

„Juhuuu! Hallo? Jemand zu Hause?“

Ich warf meine Decke zurück, kletterte aus dem Bett und stolperte über ein paar verstreute Zierkissen. Ich war vollständig angezogen. Anscheinend war ich am Vorabend so müde gewesen, dass ich an einen Pyjama nicht mehr gedacht hatte.

„Hallo-ooo!“, rief die Frau wieder. „Keiner daaa?“

Rasch drehte ich meine Haare zu einem Dutt zusammen, damit ich keinen erschreckte, danach trat ich ans Fenster. Mein Blick fiel auf zwei Leute, die exakt zu ihren Stimmen passten. Die Frau hatte feuerrote Haare und trug taillenhohe Shorts, der Mann ein Anglerhütchen und außerdem noch eine fette Kamera um den Hals. Beide hatten Gürteltaschen um den Bauch geschnallt. Ich unterdrückte ein Lachen. Addie und ich hatten mal einen Kostümwettbewerb gewonnen, indem wir uns als spießige Touristen verkleidet hatten. Diese beiden hätten unser Vorbild sein können.

„Hallo“, sagte die echte Touristin betont langsam. Dann zeigte sie auf mich. „Verstehst du mich?“

„Ich bin auch Amerikanerin.“

„Dem Himmel sei Dank! Wir suchen Howard Mercer, den Zuständigen hier. Wo können wir ihn finden?“

„Keine Ahnung. Ich … bin neu hier.“ Die Aussicht lenkte mich ab, sodass ich hochschaute. Die Bäume vor meinem Fenster waren von einem satten samtigen Grün, und der Himmel war so blau, wie ich es noch nie gesehen hatte. Aber dennoch befand ich mich immer noch auf einem Friedhof. Ich wiederhole. Auf. Einem. Friedhof.

Die peinliche Touristin blickte zu ihrem Mann, schließlich wieder zu mir hinauf und verlagerte ihr Gewicht auf eine Hüfte, als wollte sie So schnell wirst du mich nicht los sagen.

„Ich gehe mal gucken, ob er im Haus ist.“

„Das ist ja immerhin etwas“, meinte sie. „Wir warten vorn.“

Ich öffnete den Reißverschluss meines Koffers, zog ein Tanktop und Laufshorts an, fand auch meine Schuhe und machte mich dann auf den Weg nach unten. Das Erdgeschoss war ziemlich klein; bis auf Howards Schlafzimmer war der einzige Raum, den ich noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, das Arbeitszimmer. Für alle Fälle klopfte ich an, bevor ich es betrat. An den Wänden hingen gerahmte Plattencover der Beatles und Fotos. Ich blieb vor einem stehen, auf dem Howard und noch ein paar andere Leute eimerweise Wasser auf einen riesigen wunderschönen Elefanten schütteten. Howard trug darauf eine Cargohose und einen Safarihut. Er sah aus wie der Star einer Sendung über Abenteuer in der Natur. Howard badet Wildtiere. Offensichtlich hatte er die letzten sechzehn Jahre lang nicht nur herumgesessen und meine Mom und mich vermisst.

„Sorry, Spießer-Touris. Keine Spur von Howard.“ Ich wollte gerade zur Haustür, um den Spießern mitzuteilen, dass ich ihnen nicht helfen könne. Doch kaum setzte ich einen Fuß ins Wohnzimmer, zuckte ich zusammen, als wäre ich über einen Stolperdraht gefallen. Die Frau hatte ihr Gesicht an die Fensterscheibe gepresst und spähte herein, als sei ich ein riesiges Insekt.

Hierher. Wir sind hier! Sie formte es stumm mit den Lippen und zeigte Richtung Haustür.

„Sie machen wohl Witze.“ Ich legte eine Hand an meine Brust. Mein Herz schlug eine Million Mal pro Minute. Auf einem Friedhof würde man es sich doch deutlich … toter vorstellen. Tataa! Mein erster offizieller Friedhofsscherz. Und das erste offizielle Augenverdrehen über meinen eigenen Friedhofsscherz.

Ich drückte die Tür auf, und die Frau wich ein Stückchen zurück.

„Sorry, Darling. Habe ich dich erschreckt? Du sahst aus, als würden dir jeden Moment die Augen aus dem Kopf springen.“ Sie trug eines dieser selbstklebenden Namensschilder. Hallo, ICH HEIßE GLORIA.

„Ich hatte nur nicht damit gerechnet … dass Sie hereinschauen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, doch Howard ist nicht hier. Er hat etwas von einem Büro erwähnt. Vielleicht könnten Sie ja dort mal nachschauen.“

Gloria nickte. „Mhm. Mhm. Tja, da gibt es nur ein Problem, Süße. Uns bleiben gerade mal drei Stunden, bevor der Reisebus uns wieder abholt, und bis dahin wollen wir alles gesehen haben. Deshalb glaube ich eben nicht, dass wir genug Zeit haben, alles hier nach Mr. Mercer abzusuchen.“

„Haben Sie das Besucherzentrum schon entdeckt? Dort arbeitet eine Frau, die vielleicht weiß, wo er ist.“

„Ich hab dir doch gesagt, dass wir es dort versuchen sollten“, mischte sich der Mann ein. „Das hier ist ein Wohnhaus.“

„Welches Gebäude ist denn das Besucherzentrum?“, fragte Gloria. „Das gleich neben dem Eingang?“

„Tut mir leid, aber das weiß ich wirklich nicht.“ Am Vorabend war ich viel zu panisch gewesen, um irgendwas anderes zu registrieren außer dieser Armee von Grabsteinen, die mich anstarrten.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Tja, es tut mir leid, wenn wir dir zur Last fallen, Darlin’, aber ich bin mir sicher, dass du dich hier besser auskennst als zwei Touristen aus Alabama.“

„Offen gestanden, nein.“

„Was?“

Ich seufzte und warf noch einen hoffnungsvollen Blick hinter mich ins Haus, doch es war so still wie ein Grab. (Hach! Mein zweiter Friedhofsscherz.) Anscheinend ging es sofort los für mich mit dieser Ich-lebe-in-einer-Gedenkstätte-Erfahrung. Also trat ich auf die Veranda hinaus und zog die Haustür hinter mir zu. „Ich kenne mich hier echt nicht aus, doch ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.“

Selig lächelte Gloria. „Grah-zii-yeah.“

Ich stieg die Stufen hinunter, die beiden folgten mir.

„Auf jeden Fall ist das hier alles gepflegt“, stellte Gloria fest. „Sehr gepflegt.“

Da hatte sie recht. Die Rasenflächen waren so grün, dass sie aussahen wie mit grüner Farbe angesprüht. Und an jeder Ecke standen italienische und amerikanische Flaggen in märchenhaften Blumenbeeten. Die Grabsteine waren strahlend weiß und wirkten bei Tageslicht längst nicht mehr so unheimlich. Doch nicht, dass mich jemand falsch versteht. Sie sahen trotzdem noch unheimlich aus.

„Gehen wir hier entlang.“ Ich marschierte die Straße hinunter, die Howard und ich heraufgefahren waren.

Gloria stupste mich mit dem Ellbogen an. „Mein Mann und ich, wir haben uns auf einer Kreuzfahrt kennengelernt.“

Oh nein. Wollte sie mir jetzt etwa ihre Lebensgeschichten erzählen? Ich warf einen flüchtigen Blick auf sie, und sie lächelte gewinnend. Natürlich wollte sie das.

„Er hatte gerade erst seine Frau Anna Maria verloren. Sie war eine nette Frau, aber ziemlich speziell, was den Haushalt betraf – eine von denen, die Plastikbezüge über alle Möbel tun. Jedenfalls war mein Ehemann Clint schon ein paar Jahre zuvor verstorben. Deshalb waren wir ja auch beide auf dieser Kreuzfahrt für Singles. Es gab da tolles Essen – Berge von Shrimps und so viel Eiscreme, wie man wollte. Erinnerst du dich noch an die Shrimps, Hank?“

Doch Hank schien nicht zuzuhören. Ich beschleunigte meine Schritte, und Gloria passte sich meinem Tempo an.

„Da waren ein paar geile alte Böcke auf diesem Schiff, einfach fiese Kerle, aber ich hatte solches Glück, dass Hank und ich zum Abendessen am selben Tisch eingeteilt waren. Er machte mir einen Antrag, noch bevor wir wieder den Heimathafen erreicht hatten – so sicher war er sich. Nur zwei Monate später haben wir geheiratet. Natürlich war ich da schon bei ihm eingezogen, doch wir haben uns beeilt, weil wir ja nicht, du weißt schon …“ Sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Was denn?“, fragte ich zögernd.

Ihre Stimme klang eine Oktave tiefer. „In Sünde leben wollten.“

Verzweifelt sah ich mich um. Ich musste entweder Howard finden oder eine Stelle, wo ich hinkotzen konnte. Vielleicht sogar beides.

„Mein erster Tagesordnungspunkt bestand darin, das ganze Plastik von den Möbeln zu reißen. Man möchte doch schließlich so leben, dass man nicht mit dem Hintern an dem verdammten Sofa kleben bleibt. Nicht wahr, Hank?“

Er gab einen kehligen Laut von sich.

„Das hier ist so quasi eine zweite Hochzeitsreise für uns. Schon mein ganzes Leben lang wollte ich nach Italien, und da bin ich jetzt. Du bist wirklich ein Glückspilz, weil du hier leben kannst.“

Ich fühle mich eher wie ein Giftpilz, dachte ich.

Der Weg machte eine Kurve, und dann tauchte direkt vor uns ein kleines Gebäude auf. Es stand rechts vom Haupteingang. Auf einem Riesenschild daran stand zu lesen: BESUCHER BITTE HIER ANMELDEN. Was man ja leicht missverstehen konnte als: BESUCHER, BEGEBEN SIE SICH ZUM NÄCHSTEN HAUS, UND SCHREIEN SIE DURCH GEÖFFNETE FENSTER.

„Ich glaube, hier ist es“, verkündete ich.

„Hab ich dir doch gesagt“, meinte Hank zu Gloria und brach damit sein Schweigen.

„Du hast mir gar nichts gesagt.“ Gloria schnaubte. „Du bist mir nur wie ein ausgesetzter Welpe hinterhergedackelt.“

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