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Das göttliche Mädchen

Als Buch hier erhältlich:

Einen schlimmeren Geburtstag hat Kate noch nicht erlebt. Ihre Mutter ist sterbenskrank. Und Kate muss in die Kleinstadt Eden ziehen. Als sie auf der neuen Schule den geheimnisvollen Henry kennenlernt, gerät ihr Leben komplett aus den Fugen: Denn er ist Hades, der Gott der Unterwelt. Und er macht ihr ein verlockendes Angebot. Er wird ihre Mutter heilen, wenn Kate sieben Prüfungen besteht und sein Wintermädchen wird. Aber ob ihre Seele stark genug ist? Bisher haben alle ihr Scheitern mit dem Tod bezahlt.

"Eine Geschichte wie ein strahlendes Funkeln!"
Cassandra Clare, New York Times-Bestsellerautorin


  • Erscheinungstag: 13.11.2017
  • Aus der Serie: The Goddess
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 464
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677325

Leseprobe

Für Dad, der jedes Wort gelesen hat.
Du hattest recht.
Und im Gedenken an meine Mutter.

Prolog

„Wie ist es diesmal passiert?“

Beim Klang ihrer Stimme versteifte sich Henry. Er riss den Blick lange genug von dem leblosen Körper auf dem Bett los, um sie anzusehen. Diana stand an der Tür. Sie war seine beste Freundin, seine Vertraute, seine Familie – in jeder Hinsicht, außer dass sie nicht blutsverwandt waren. Doch nicht einmal ihre Gegenwart half ihm, Ruhe zu bewahren.

„Ertrunken“, sagte Henry, während sein Blick wieder auf die Leiche fiel. „Ich habe sie heute Morgen gefunden, sie trieb im Fluss.“

Er hörte nicht, wie Diana sich bewegte, doch im nächsten Moment spürte er ihre Hand auf der Schulter. „Und wir wissen immer noch nicht …?“

„Nein.“ Sein Ton war schärfer als beabsichtigt, und er zwang sich, ruhiger zu sprechen. „Keine Zeugen, keine Fußspuren, kein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass sie nicht einfach in den Fluss gesprungen ist, weil sie es so wollte.“

„Vielleicht wollte sie es ja“, erwiderte Diana. „Vielleicht hat sie Panik bekommen. Vielleicht war es auch ein Unfall.“

„Ja, oder sie wurde ermordet.“ Ruckartig löste er sich von ihr, ging auf und ab, versuchte, den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die Leiche zu bringen. „Elf Mädchen in achtzig Jahren. Versuch nicht, mir zu erzählen, das hier wäre ein Unfall gewesen.“

Diana seufzte und strich mit den Fingerspitzen über die bleiche Wange des Mädchens. „Mit dieser hier waren wir so dicht dran, nicht wahr?“

„Bethany“, fuhr Henry sie an. „Ihr Name war Bethany, und sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Meinetwegen wird sie niemals vierundzwanzig werden.“

„Wäre sie die eine gewesen, wäre sie es ebenso wenig geworden.“

Henry schäumte vor Wut, doch als er Diana ansah und das Mitgefühl in ihrem Blick erkannte, verging sein Zorn. „Sie hätte es schaffen sollen“, stieß er hervor. „Sie hätte leben sollen. Ich dachte …“

„Das dachten wir alle.“

Henry sank auf einen Stuhl, und sofort war sie an seiner Seite, strich ihm mütterlich über den Rücken, so wie er es von ihr erwartete. Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, die Schultern gebeugt von der vertrauten Last des Kummers. Wie viel sollte er noch ertragen, bevor sie ihn endlich gehen ließen?

„Es ist immer noch Zeit.“ Dianas hoffnungsvoller Ton versetzte ihm einen tiefen Stich, schmerzhafter als alles andere, was an diesem Morgen geschehen war. „Wir haben noch Jahrzehnte …“

„Ich bin fertig.“

Seine Worte schienen durch den Raum zu hallen, während sie neben ihm erstarrte. In den Sekunden, die sie brauchte, um etwas darauf zu erwidern, dachte er daran, es zurückzunehmen. Zu versprechen, dass er es noch einmal versuchen würde. Doch er konnte nicht. Zu viele waren schon gestorben.

„Henry, bitte“, flüsterte sie. „Es bleiben noch zwanzig Jahre. Du kannst nicht aufgeben.“

„Es wird keinen Unterschied machen.“

Sie kniete sich vor ihn hin und zog ihm die Hände vom Gesicht fort. Zwang ihn, sie anzusehen. Ihre Furcht zu sehen. „Du hast mir ein Jahrhundert versprochen, und du wirst mir ein Jahrhundert geben, hast du verstanden?“

„Ich werde nicht zulassen, dass noch ein Mädchen meinetwegen stirbt.“

„Und ich werde dich nicht vergehen lassen, nicht so. Nicht wenn ich dazu irgendwas zu sagen habe.“

Verbittert blickte er sie an. „Und was willst du tun? Noch ein Mädchen finden, das dazu bereit ist? Jedes Jahr eine neue Kandidatin aufs Anwesen bringen, bis eine besteht? Bis es eine über Weihnachten hinaus schafft?“

„Wenn es sein muss, ja.“ Entschlossen sah sie ihn an. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.“

Genervt wandte er den Blick ab. „Ich habe schon Nein gesagt. Darüber werden wir nicht weiter diskutieren.“

„Und ich werde dich nicht kampflos ziehen lassen“, sagte sie. „Niemand könnte dich je ersetzen, ganz egal, was der Rat dazu sagt – und ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich dich einfach so aufgeben lassen würde. Ich habe keine andere Wahl.“

„Das würdest du nicht tun.“

Sie schwieg.

Wütend sprang er auf, sodass der Stuhl umkippte, und riss sich los. „Das würdest du einem Kind antun? Es auf die Welt bringen, nur um es dem hier auszusetzen?“ Angewidert deutete er auf die Leiche, die noch immer auf dem Bett lag. „Das würdest du tun?“

„Wenn ich dich damit retten kann, ja.“

„Sie könnte sterben. Ist dir das klar?“

Diana erhob sich ebenfalls, und ihre Augen funkelten, als sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. „Mir ist vor allem eins klar: Wenn sie es nicht schafft, werde ich dich verlieren.“

Verzweifelt um Selbstbeherrschung bemüht, wandte Henry sich von ihr ab. „Das ist kein großes Opfer.“

Diana ergriff ihn beim Arm und drehte ihn wieder zu sich um. „Lass das“, stieß sie wütend hervor. „Wag es ja nicht, aufzugeben.“

Er blinzelte, aufgerüttelt durch ihren eindringlichen Ton. Als er den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, erklärte sie: „Sie wird eine Wahl haben, das weißt du genauso gut wie ich. Aber egal, was passiert, sie wird nicht so enden, das verspreche ich dir.“ Lächelnd wies sie auf das leblose Mädchen. „Sie wird jung sein, aber keine Närrin.“

Diesmal brauchte Henry einen Moment, um nachzudenken, was er darauf erwidern sollte. Er wusste, dass er sich an eine trügerische Hoffnung klammerte. „Der Rat würde es niemals gestatten.“

„Ich habe bereits gefragt. Da die Frist noch nicht abgelaufen ist, haben sie mir die Erlaubnis gegeben.“

Verärgert biss er die Zähne aufeinander. „Du hast sie gefragt, ohne vorher mit mir zu sprechen?“

„Ja. Weil ich wusste, was du sagen würdest“, erwiderte sie. „Ich kann dich nicht verlieren. Wir können dich nicht verlieren. Wir sind alles, was wir haben, und ohne dich … Bitte, Henry. Lass es mich versuchen.“

Geschlagen schloss Henry die Augen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Nicht wenn der Rat zugestimmt hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Mädchen aussehen mochte, doch jedes Mal, wenn sich ein Bild zu formen schien, schob sich ein anderes Gesicht davor.

„Ich könnte sie nicht lieben.“

„Das müsstest du auch nicht.“ Diana drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Aber ich denke, du wirst es doch tun.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Ich kenne dich – und ich weiß um die Fehler, die ich damals gemacht habe. Ich werde sie nicht wiederholen.“

Er seufzte, während seine Entschlossenheit unter ihrem bittenden und doch unbeugsamen Blick immer mehr ins Wanken geriet. Es waren nur zwanzig Jahre, so lange würde er es noch schaffen. Vor allem wenn das bedeutete, ihr nicht noch mehr wehzutun, als er es bereits getan hatte. Und dieses Mal, dachte er mit einem weiteren Blick auf die Tote, werde auch ich meine Fehler nicht wiederholen.

„Ich werde dich vermissen, solange du fort bist“, sagte er, und sie seufzte vor Erleichterung auf. „Aber sie wird die Letzte sein. Wenn sie versagt, war es das für mich, und zwar endgültig.“

„Okay“, erwiderte sie und drückte ihm die Hand. „Danke, Henry.“

Stumm nickte er, und sie ließ ihn los. Auf dem Weg zur Tür blickte sie ebenfalls noch einmal zum Bett, und Henry schwor sich, dass das hier nie wieder passieren würde. Was auch immer geschah – dieses Mädchen würde leben.

„Es ist nicht deine Schuld“, brach es aus ihm heraus, bevor er sich bremsen konnte. „Was passiert ist … Ich habe es gestattet. Dich trifft keine Schuld.“

Kurz hielt sie inne und warf ihm ein trauriges Lächeln zu. „Doch.“

Bevor er noch etwas erwidern konnte, war sie fort.

1. KAPITEL

Eden

Meinen achtzehnten Geburtstag habe ich im Auto auf dem Weg von New York City nach Eden, Michigan, verbracht – damit meine Mutter in der Stadt sterben konnte, in der sie zur Welt gekommen war. Neunhundertvierundfünfzig Meilen Asphalt, immer in dem Wissen, dass jedes Schild, an dem wir vorbeikamen, mich dem näher brachte, was ohne Zweifel der schlimmste Tag meines Lebens werden würde.

Als Geburtstags-Zeitvertreib absolut nicht empfehlenswert.

Ich fuhr die gesamte Strecke. Meiner Mutter ging es zu schlecht, als dass sie lange hätte wach bleiben können – geschweige denn fahren –, aber es machte mir nichts aus. Wir brauchten zwei Tage und eine Stunde für die Reise. Als wir endlich die Brücke zur Oberen Halbinsel überquerten, sah meine Mom furchtbar erschöpft und steif aus, weil sie so lange im Auto gesessen hatte. Beinah wünschte ich mir, nie wieder eine freie Landstraße vor mir zu sehen, aber dazu wäre es noch zu früh gewesen.

Eine Stunde später wurde sie plötzlich lebhafter. „Kate, fahr hier ab!“

Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu, setzte aber den Blinker. „Wir müssen erst in drei Meilen vom Freeway runter.“

„Ich weiß. Ich will, dass du dir etwas anschaust.“

Stumm seufzend tat ich, worum sie mich gebeten hatte. In Wahrheit blieb ihr nur noch wenig Zeit, und die Chancen, dass meine Mom später noch einmal würde herkommen können, waren mehr als schlecht.

Überall standen Kiefern, riesenhaft ragten sie über uns auf. Ich entdeckte keine Schilder, nicht einmal Meilensteine, nichts als Bäume und die armselige Schotterpiste, auf der wir unterwegs waren. Nach fünf Meilen begann ich mir Sorgen zu machen. „Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Natürlich bin ich mir sicher.“ Sie hatte die Stirn ans Fenster gelehnt und sprach so leise, dass ich sie kaum verstand. „Nur noch ein, zwei Meilen.“

„Bis wohin?“

„Wirst schon sehen.“

Eine Meile weiter begann die Hecke. So hoch und dicht, dass unmöglich zu erkennen war, was dahinter lag, erstreckte sie sich am linken Straßenrand. Fast zwei Meilen mussten wir daran entlanggefahren sein, bevor die Hecke im rechten Winkel abknickte und etwas wie eine Grenze zu bilden schien. Die ganze Zeit über starrte Mom gedankenversunken aus dem Fenster.

„Das war’s?“ Ich hatte nicht bitter klingen wollen, aber Mom schien es nicht zu bemerken.

„Natürlich nicht – bieg hier links ab, Liebes.“

Ich tat wie mir geheißen und fuhr um die Kurve. „Sieht wirklich nett aus“, sagte ich vorsichtig und sorgfältig darauf bedacht, meine Mutter nicht aufzuregen, „aber es ist bloß eine Hecke. Sollten wir nicht lieber das Haus suchen und …“

„Da!“ Ihre freudige Erregung traf mich unvorbereitet. „Gleich da vorne!“

Als ich den Hals reckte, sah ich, was sie meinte. Mitten in der Hecke war ein schmiedeeisernes schwarzes Tor. Und je näher wir kamen, desto größer schien es zu werden. Es lag nicht bloß an mir – das Tor war monströs. Es war nicht da, um schön auszusehen. Es war dazu da, jeden vor Ehrfurcht erzittern zu lassen, der auch nur daran dachte, es zu öffnen.

Direkt davor hielt ich und versuchte durch die Stäbe einen besseren Blick auf das Grundstück zu erhaschen. Doch alles, was ich sah, waren nur noch mehr Bäume. Weiter hinten schien das Land abzufallen, aber egal, wie ich mir den Hals verrenkte – ich konnte nicht sehen, was dahinter lag.

„Ist es nicht wunderschön?“ Mom klang versonnen, fast entspannt, und für einen Moment war sie wieder ganz die Alte. Ich spürte, wie sie nach meiner Hand griff, und drückte ihre, so fest ich es wagte. „Das ist der Eingang zu Eden Manor.“

„Sieht … groß aus“, entgegnete ich mit so viel Enthusiasmus, wie ich aufbringen konnte. Besonders erfolgreich war ich nicht. „Warst du jemals da drin?“

Es war eine unschuldige Frage. Aber als ich Moms Blick auffing, hatte ich das Gefühl, die Antwort darauf sei offensichtlich – dabei hatte sie diesen Ort mir gegenüber nie erwähnt.

Eine Sekunde später blinzelte sie, und der Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. „Schon sehr lange nicht mehr“, erwiderte sie tonlos, und ich biss mir auf die Lippe und bereute, was auch immer ich getan hatte, um den Zauber für sie zu zerstören. „Tut mir leid, Kate, ich wollte es nur sehen. Wir sollten weiterfahren.“

Sie ließ meine Hand los. Plötzlich war mir unangenehm bewusst, wie kühl die Luft war. Und als ich aufs Gaspedal trat, griff ich wieder nach Moms Hand. Ich wollte noch nicht loslassen. Sie sagte nichts. Als ich zu ihr hinübersah, hatte sie den Kopf wieder ans Seitenfenster gelehnt.

Eine halbe Meile weiter passierte es. Im einen Moment war die Straße noch frei, im nächsten stand eine Kuh mitten darauf, keine fünf Meter vor uns, und versperrte uns den Weg.

Erschrocken trat ich auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Das Auto schleuderte und machte eine Dreihundertsechziggraddrehung, die meinen Körper wie eine Stoffpuppe gegen die Tür warf. Ich knallte mit dem Kopf ans Fenster, während ich darum kämpfte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, aber es war zwecklos. Genauso gut hätte ich versuchen können, ihn zum Fliegen zu animieren.

Schließlich kamen wir schlitternd zum Stehen – wie durch ein Wunder und ohne in die Bäume zu krachen. Mein Puls raste, und ich rang nach Atem, um mich zu beruhigen. „Mom?“, fragte ich panisch.

Leicht benommen schüttelte sie neben mir den Kopf. „Mir geht’s gut. Was ist passiert?“

„Da steht eine …“ Ich hielt inne, als ich den Blick wieder auf die Straße richtete. Die Kuh war weg.

Verwirrt blickte ich in den Rückspiegel und sah hinter uns eine Gestalt mitten auf der Straße stehen. Es war ein dunkelhaariger Junge ungefähr in meinem Alter, er trug einen schwarzen Mantel, der leicht im Wind flatterte.

Stirnrunzelnd drehte ich mich auf dem Fahrersitz um, um einen besseren Blick auf ihn werfen zu können.

Er war verschwunden. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Als ich mich wieder umwandte, zuckte ich zusammen und rieb mir den schmerzenden Kopf. Das jedenfalls war keine Einbildung.

„Nichts“, sagte ich zittrig. „Ich sitz wohl schon zu lange hinterm Steuer, das ist alles. Tut mir leid.“

Vorsichtig fuhr ich wieder an, warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und sah nur die Hecke und eine leere Straße. Mit links griff ich fest ans Lenkrad und suchte mit der anderen Hand erneut die meiner Mutter, während ich mich vergeblich bemühte, den Anblick des Jungen zu vergessen, der sich in mein Gehirn eingebrannt hatte.

In meinem Schlafzimmer tropfte es von der Decke. Zwar hatte der Makler, der uns das Haus unbesehen verkauft hatte, tausend Eide geschworen, dass alles in Ordnung sei, aber ganz offensichtlich hatte der Mistkerl gelogen.

Nach unserer Ankunft packte ich nur aus, was wir für die Nacht brauchen würden – einschließlich eines Topfs, um das Wasser, das unaufhörlich von der Decke tropfte, aufzufangen. Wir hatten nicht viel mitgebracht, nur was irgendwie ins Auto gepasst hatte. Und ich hatte schon im Voraus eine Garnitur Secondhandmöbel ins Haus liefern lassen.

Selbst wenn meine Mutter nicht im Sterben gelegen hätte – ich war sicher, dass ich hier todunglücklich sein würde. Die nächsten Nachbarn wohnten eine Meile von uns entfernt, alles roch nach Natur, und in der Kleinstadt Eden gab es nicht mal einen Pizzaservice.

Nein, es Kleinstadt zu nennen war noch milde ausgedrückt. Eden war noch nicht mal auf der Landkarte verzeichnet. Die Hauptstraße war keine halbe Meile lang, und jedes Geschäft schien entweder Antiquitäten oder Lebensmittel zu verkaufen. Kein einziger Klamottenladen – jedenfalls keiner, der jemals Sachen verkaufen würde, die man auch tragen konnte. Es gab nicht mal McDonald’s, Pizza Hut oder Taco Bell – nichts. Nur ein angestaubtes Imbissrestaurant und einen Tante-Emma-Laden, in dem die Bonbons noch aus dem Glas verkauft wurden.

„Gefällt’s dir?“

Mom saß im Schaukelstuhl neben ihrem Bett, den Kopf auf ihr Lieblingskissen gebettet. Das gute Stück war schon so mitgenommen, dass ich nicht einmal mehr wusste, welche Farbe es ursprünglich gehabt hatte. Aber der Stuhl hatte vier Jahre voller Krankenhausaufenthalte und Chemotherapien überstanden. Entgegen jeder Prognose – genau wie Mom.

„Das Haus? Klar“, log ich, während ich ein Laken auf ihre Matratze zog. „Es ist … niedlich.“

Sie lächelte, und ich spürte ihren Blick auf mir ruhen. „Du gewöhnst dich schon noch dran. Vielleicht gefällt es dir später sogar so gut, dass du bleibst, wenn ich nicht mehr da bin.“

Ich presste die Lippen aufeinander und weigerte mich, darauf einzugehen. Es war eine unausgesprochene Regel, dass wir nie darüber sprachen, was passieren würde, nachdem sie gestorben war.

„Kate“, sagte sie sanft, und der Schaukelstuhl knarzte, als sie aufstand. Sofort blickte ich auf, bereit, augenblicklich zu reagieren, falls sie fiel. „Irgendwann müssen wir darüber reden.“

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich sie weiter, während ich das Laken glatt strich und einen dicken Quilt über das Bett breitete. Anschließend griff ich nach den Kissen.

„Nicht jetzt.“ Ich schlug die Decke auf und trat einen Schritt zur Seite, damit sie ins Bett krabbeln konnte. Ihre Bewegungen waren langsam und qualvoll, und ich wandte den Blick ab. Ich wollte nicht sehen, wie sie litt. „Noch nicht.“

Als sie bequem lag, sah sie zu mir auf, die Augen gerötet und müde. „Bald“, sagte sie leise. „Bitte.“

Ich schluckte, antwortete jedoch nicht. Ein Leben ohne sie war für mich unvorstellbar. Und je weniger ich versuchte, daran zu denken, desto besser.

„Morgen früh kommt die Tagesschwester.“ Behutsam küsste ich sie auf die Stirn. „Ich sorge dafür, dass sie alles hat und Bescheid weiß, bevor ich zur Schule fahre.“

„Warum bleibst du heute Nacht nicht hier?“, fragte sie und klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Leiste mir Gesellschaft.“

Ich zögerte. „Du brauchst deinen Schlaf.“

Liebevoll strich sie mir mit den kalten Fingerspitzen über die Wange. „Wenn du neben mir liegst, schlafe ich besser.“

Die Versuchung, mich an sie zu kuscheln wie früher, war zu groß. Vor allem jetzt, da ich mich jedes Mal, wenn ich sie verließ, fragen musste, ob es das letzte Mal war, dass ich sie lebend sah. In dieser Nacht würde ich mir das ersparen. „Okay.“

Ich krabbelte neben sie ins Bett und sah nach, ob sie auch gut zugedeckt war, bevor ich mir ein Stück der Decke über die Beine zog. Als ich sicher war, dass sie es warm hatte, umarmte ich Mom und sog ihren vertrauten Duft in mich auf. Selbst nach Jahren stetig wiederkehrender Krankenhausbesuche roch sie immer noch nach Äpfeln und Freesien. Sie gab mir einen Kuss auf den Scheitel, und ich schloss die Augen, bevor mir die Tränen kamen.

„Ich hab dich lieb“, murmelte ich. So gern hätte ich sie fest gedrückt, doch ich wusste, ihr Körper hielt das nicht aus.

„Ich liebe dich auch, Kate“, sagte sie leise. „Morgen früh bin ich genau hier, versprochen.“

Sosehr ich mir das auch wünschte, so wusste ich doch – das war ein Versprechen, das sie nicht mehr lange würde halten können.

In dieser Nacht waren meine Albträume unerbittlich, voll von Kühen mit roten Augen, Flüssen aus Blut und Wasser, das um mich herum stieg, bis ich keuchend aufwachte. Ich schob die Decke weg und wischte mir die feuchte Stirn, besorgt, ich könnte meine Mutter geweckt haben, doch sie schlief immer noch.

Trotz der unruhigen Nacht konnte ich am nächsten Tag nicht zu Hause bleiben. Es war mein erster Tag an der Eden High – einem Backsteinbau, der eher einer großen Scheune als einer Schule ähnelte. Aber es gab auch kaum genug Schüler, dass sich die Mühe gelohnt hätte, überhaupt eine Schule zu bauen – geschweige denn, sie am Laufen zu halten. Mich hier anzumelden war die Idee meiner Mutter gewesen. Nachdem ich mein letztes Schuljahr ausgelassen hatte, um sie zu pflegen, war sie fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ich meinen Abschluss machte.

Zwei Minuten nach dem Klingeln fuhr ich auf den Parkplatz. Am Morgen war es Mom schlechter gegangen. Und ich traute der Krankenschwester, einer rundlichen, mütterlichen Frau namens Sofia, nicht zu, sich ausreichend um sie zu kümmern. Nicht, dass an ihr irgendetwas bedrohlich gewirkt hätte. Aber ich hatte den größten Teil der vergangenen vier Jahre damit verbracht, für meine Mutter zu sorgen, und wenn es nach mir ging, konnte das niemand so gut wie ich. Fast hätte ich geschwänzt, um bei ihr zu bleiben. Doch meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich hinging. Jetzt war ich zu spät dran.

Wenigstens war ich nicht allein auf meinem Spießrutenlauf über den Parkplatz. Auf halbem Weg zum Eingang bemerkte ich einen Jungen, der hinter mir ging. Er sah nicht alt genug aus, um fahren zu dürfen, und das weißblonde Haar stand fast so sehr ab wie seine übergroßen Ohren. Nach seinem fröhlichen Gesichtsausdruck zu schließen, kümmerte ihn überhaupt nicht, dass er zu spät war.

Er beeilte sich, vor mir zur Eingangstür zu kommen, und zu meiner großen Überraschung hielt er sie mir auf. In meiner alten Schule hatte es nicht einen Kerl gegeben, der so was gemacht hätte.

„Nach Ihnen, Mademoiselle.“

Mademoiselle? Ich starrte zu Boden, damit ich ihm keinen schiefen Blick zuwarf. Nicht nötig, gleich am ersten Tag unhöflich zu sein.

„Danke“, murmelte ich, ging hinein und legte einen Schritt zu. Allerdings war er größer als ich, deshalb hatte er mich in null Komma nichts eingeholt. Zu meinem Entsetzen passte er sich meinem Tempo an, statt einfach an mir vorbeizugehen.

„Kenn ich dich?“

Oh Gott. Erwartete er darauf eine Antwort? Glücklicherweise sah es nicht danach aus, denn er ließ mir keine Zeit, etwas zu erwidern.

„Ich kenn dich nicht.“

Direkt vor dem Sekretariat drehte er sich um und versperrte mir den Weg. Erwartungsvoll sah er mich an und streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin James.“

Endlich sah ich sein Gesicht richtig. Er wirkte immer noch jungenhaft, aber vielleicht war er doch älter, als ich zunächst geglaubt hatte. Seine Züge waren kantiger, reifer, als ich erwartet hatte.

„James McDuffy. Wag es zu lachen, und ich bin gezwungen, dich auf ewig zu hassen.“

Da ich keinen anderen Ausweg sah, zwang ich mich zu einem kleinen Lächeln und ergriff seine Hand. „Kate Winters.“

Er starrte mich etwas länger an, als notwendig gewesen wäre, ein dümmliches Grinsen im Gesicht. Als die Sekunden verstrichen, trat ich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und räusperte mich schließlich. „Äh – könntest du vielleicht …?“

„Was? Oh.“ James ließ meine Hand los und öffnete die Tür. Wieder hielt er sie mir auf. „Nach Ihnen, Kate Winters.“

Ich ging hinein und zog meine Umhängetasche an mich. Hinter dem Tresen im Büro saß eine von Kopf bis Fuß in Blau gekleidete Frau mit seidigem rotbraunem Haar, für das ich meinen rechten Fuß hergegeben hätte.

„Hi, ich bin …“

„… Kate Winters“, unterbrach James mich, der nun neben mir stand. „Ich kenn sie nicht.“

Irgendwie schaffte es die Sekretärin, gleichzeitig zu seufzen und zu lachen. „Was ist es denn diesmal, James?“

„Ich hatte ’nen Platten.“ Er grinste. „Hab den Reifen selbst gewechselt.“

Sie kritzelte etwas auf einen rosa Block, riss das Blatt ab und gab es James. „Du kommst zu Fuß.“

„Tatsächlich?“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ach Irene, wenn Sie weiter so an mir zweifeln, fang ich noch irgendwann an zu denken, Sie mögen mich nicht mehr. Morgen zur selben Zeit?“

Sie lachte in sich hinein, und endlich ging James. Ich weigerte mich, seinen Abgang zu verfolgen, und starrte stattdessen auf einen Zettel, der auf den Tresen geklebt war. Anscheinend war in drei Wochen Klassenfototag.

„Katherine Winters“, sagte die Frau – Irene –, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. „Wir haben auf dich gewartet.“

Geschäftig blätterte sie durch eine Akte, während ich verlegen dastand und wünschte, es gäbe etwas zu sagen. Ich war keine große Rednerin, aber eine Unterhaltung konnte ich schon am Laufen halten, zumindest manchmal. „Sie haben einen schönen Namen.“

Aufmerksam zog sie die perfekt gezupften Augenbrauen hoch. „Habe ich? Freut mich, dass du das findest. Ich mag ihn selbst auch ganz gern. Ah, da ist er ja.“ Sie nahm ein Blatt Papier aus der Mappe und überreichte es mir. „Dein Stundenplan, samt Gebäudeübersicht. Sollte alles nicht schwer zu finden sein – die Korridore sind farblich markiert. Und wenn du dich doch mal verläufst, frag einfach jemanden. Hier beißt keiner.“

Ich nickte, während ich sah, was als Erstes auf dem Plan stand. Mathe – Thema: Analysis. Na super!

„Danke.“

„Jederzeit, Liebes.“

Ich wandte mich zum Gehen, doch als meine Hand auf dem Türknauf lag, räusperte sich Irene.

„Katherine? Ich … ich wollte nur sagen, wie leid es mir tut. Das mit deiner Mutter, meine ich. Ich kannte sie schon vor sehr langer Zeit, und … na ja. Es tut mir furchtbar leid.“

Ich schloss die Augen. Jeder wusste es. Ich hatte keine Ahnung, woher, aber sie wussten es. Meine Mutter hatte erzählt, dass ihre Familie schon seit Generationen in Eden gelebt hatte. Wie dumm von mir zu glauben, ich könnte hier unbemerkt aufkreuzen.

Mühsam blinzelte ich die Tränen zurück, öffnete die Tür und floh mit gesenktem Kopf aus dem Sekretariat – in der Hoffnung, dass James nicht noch mal versuchen würde, ein Gespräch anzufangen.

Als ich um die Ecke bog, lief ich geradewegs gegen eine Wand. So fühlte es sich zumindest an. Ich prallte zurück und fiel hin, der Inhalt meiner Tasche verteilte sich über den gesamten Korridor. Mit brennenden Wangen und fast wie ein Käfer auf dem Rücken versuchte ich hektisch, meine Sachen zusammenzuraffen, während ich eine Entschuldigung murmelte.

„Alles in Ordnung?“

Ich sah hoch. Die menschliche Wand starrte auf mich herunter, und ich sah mich einem Mitglied des Footballteams der Schule gegenüber, unschwer an der Mannschaftsjacke zu erkennen. Offensichtlich waren James und ich heute nicht die einzigen Zuspätkommer.

„Ich bin Dylan.“ Er ging neben mir in die Knie, hielt mir eine Hand hin und half mir auf.

„Kate.“

Als er mir meine Schreibhefte reichte, riss ich sie ihm förmlich aus der Hand und stopfte sie zurück in die Tasche. Zwei Bücher und fünf Mappen später klopfte ich mir die Hose ab. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er süß war. Nicht bloß für Eden, sondern auch nach New Yorker Standards. Und trotzdem sah er mich auf eine Weise an, die in mir den Wunsch weckte, so wenig wie möglich mit ihm zu tun zu haben.

Bevor ich mich aus dem Staub machen konnte, trat eine hübsche Blondine an seine Seite und musterte mich von oben bis unten. Sie mochte lächeln, aber so wie sie sich an ihn lehnte und sich an seinen Arm krallte, hätte sie ihm genauso gut ans Bein pinkeln können. Dylan war ganz offensichtlich besetztes Gebiet.

„Wer ist deine Bekannte, Dylan?“, fragte sie, während ihr Griff um seinen Arm noch fester wurde.

Ausdruckslos sah er sie an, und es dauerte einen Moment, bis er den Arm um sie legte. „Äh, Kate. Sie ist neu.“

Das falsche Lächeln wurde breiter, und die Blondine streckte die Hand aus. „Kate! Ich bin Ava. Ich hab schon so viel von dir gehört. Mein Vater ist Immobilienmakler, er hat mir alles über dich und deine Mom erzählt.“

Jetzt hatte ich wenigstens einen Schuldigen für das Leck in meiner Zimmerdecke. „Hi, Ava“, sagte ich, biss in den sauren Apfel und nahm ihre Hand. „Schön, dich kennenzulernen.“

Die Art, wie sie mich ansah, schrie mir förmlich entgegen, dass sie nichts lieber täte, als mich irgendwo tief im Wald zu begraben. Lebendig. „Ich freu mich auch, dich kennenzulernen.“

„Was hast du in der Ersten?“, fragte Dylan, während er sich fast den Hals verdrehte, um auf meinen Stundenplan zu sehen. „Mathe. Ich … wir können dir den Weg zeigen, wenn du willst.“

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren – es gab wirklich keinen Grund, das Schicksal weiter auf die Probe zu stellen, indem ich in Avas Anwesenheit noch länger mit Dylan redete. Doch bevor ich ein Wort sagen konnte, nahm er mich beim Ellbogen und marschierte mit mir den Korridor hinunter. Ich sah zu Ava und wollte mich dafür entschuldigen, dass ich ihr den Freund entführte. Aber als ich die flammende Röte auf ihren Wangen und ihren angespannten Kiefer sah, blieben mir die Worte im Hals stecken.

Vielleicht würde meine Mutter mich doch noch überleben.

2. KAPITEL

Ava

Ich war nicht besonders hübsch. Ich wünschte, ich wär’s gewesen, aber ich war einfach bloß ich. Ich hatte nie gemodelt, mir hatten nie irgendwelche Typen hinterhergesabbert und neben den genetisch gesegneten Kindern reicher Eltern war ich in meiner alten Schule immer ein wenig verblasst.

Weshalb ich mir ums Verrecken nicht erklären konnte, warum Dylan mich immer noch anstarrte.

Er beobachtete mich ständig – während des Geschichts- und Chemieunterrichts und sogar in der Cafeteria. Die Nase in ein Buch gesteckt, aß ich allein am Ende eines leeren Tischs. Ich wollte mir gar nicht erst die Mühe machen, Freunde zu finden. Lange würde ich sowieso nicht hier sein, also hätte es wenig Sinn gehabt. Sobald das Ganze hier vorbei wäre, würde ich nach New York zurückkehren und versuchen, das wieder aufzunehmen, was von meinem früheren Leben noch übrig war.

Davon abgesehen war ich es gewohnt, in der Schule allein zu essen. Zu Hause hatte ich auch nicht viele Freunde gehabt, denn meine Mutter war gleich in meinem ersten Jahr an der Highschool krank geworden. Meine Freizeit hatte ich fast ununterbrochen an ihrem Krankenhausbett verbracht, während sie ein ums andere Mal Chemotherapie und Bestrahlung über sich hatte ergehen lassen. Da war nicht viel Zeit geblieben für Pyjamapartys, Dates und Unternehmungen mit Leuten, die nicht im Ansatz verstehen konnten, was wir beide durchmachten.

„Ist hier noch frei?“

Aufgeschreckt sah ich hoch und erwartete schon, Dylan vor mir zu sehen. Stattdessen traf mein Blick den von James, der mit einem Tablett voller Pommes vor mir stand. Er hatte überproportionierte Kopfhörer auf den Ohren und grinste fröhlich vor sich hin. Ich wusste nicht, ob ich entsetzt oder erleichtert sein sollte.

Schweigend schüttelte ich den Kopf, aber das spielte sowieso keine Rolle, da er sich bereits gesetzt hatte. Ich starrte in mein Buch und tat mein Bestes, ihn nicht anzusehen. Vielleicht würde er dann wieder gehen. Doch die Buchstaben verschwammen mir vor den Augen, und ich las denselben Satz viermal hintereinander. Ich war mir James’ Anwesenheit viel zu sehr bewusst, als dass ich mich hätte konzentrieren können.

„Wenn man’s genau nimmt, sitzt du auf meinem Platz“, sagte er beiläufig. Mit einem Griff in seine Tasche zauberte er eine Ketchupflasche hervor, und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich den Versuch aufgab, so zu tun, als würde ich lesen. Wer schleppte denn bitte eine Flasche Ketchup durch die Gegend?

Er musste meinen entgeisterten Blick bemerkt haben, denn als er das Zeug großzügig über seine Pommes verteilte, schob er das Tablett ein Stück zu mir herüber. „Auch welche?“

Ich schüttelte den Kopf. Mein Lunchpaket bestand aus einem Apfel und einem Sandwich. Aber seit James am Tisch saß, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Nicht, dass ich ihn für keinen netten Typen gehalten hätte – ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Um nicht mit ihm reden zu müssen, biss ich in den Apfel und ließ mir Zeit beim Kauen. James stürzte sich auf seine Pommes, und für ein paar Sekunden wagte ich zu hoffen, das Gespräch sei beendet.

„Dylan starrt dich an“, sagte er. Und bevor ich schlucken und ihm klarmachen konnte, dass ich nichts mit Dylan zu tun haben wollte, deutete James mit dem Kinn auf etwas hinter mir. „Dein Typ wird verlangt.“

Ich runzelte die Stirn und wandte mich um, aber Dylan saß immer noch am anderen Ende der Cafeteria. Trotzdem brauchte ich nicht lange, um zu erkennen, was James meinte. Ava kam direkt auf uns zu.

„Toll“, murmelte ich und ließ den Apfel auf eine Serviette fallen. War es ernsthaft zu viel verlangt, unbehelligt durchs Abschlussjahr zu kommen? Und wenn das wirklich so unmöglich war, konnte ich nicht wenigstens einen Tag haben, um mich einzugewöhnen, bevor das Drama seinen Lauf nahm?

„Kate?“ Avas glockenhelle Stimme war unverkennbar.

Stumm seufzend zwang ich mich, mich zu ihr umzudrehen, und rang mir ein unschuldiges Lächeln ab. „Oh, hi – Ava, richtig?“

Ihre Mundwinkel zuckten. Ich hätte wetten können, dass noch niemand ein zweites Mal nach ihrem Namen gefragt hatte.

„Genau!“, entgegnete sie, die Stimme voll falscher Begeisterung. „Wie schön, dass du dich erinnerst. Also, was ich fragen wollte – hast du morgen Abend schon was vor?“

Außer Bettpfannen zu schrubben, das Bett meiner Mutter neu zu beziehen und ihre Medikamente für die nächste Woche zusammenzustellen? „Ich hab ein paar Dinge zu erledigen. Wieso?“

Sie stieß einen abfälligen Laut aus, bevor ihr wieder einfiel, dass sie versuchte, das nette Mädchen von nebenan zu geben. „Wir machen ein Lagerfeuer im Wald – quasi wie eine Schulparty, nur dass es nicht … na ja, du weißt schon … von der Schule aus ist.“ Sie kicherte und strich sich eine der blonden Locken hinters Ohr. „Jedenfalls wollte ich fragen, ob du mitkommen willst. Ich dachte, das ist vielleicht ’ne nette Art, alle kennenzulernen.“ Über die Schulter warf sie einen Blick zu einem langen Tisch, an dem offensichtlich die Sportler saßen, und grinste. „Zufällig weiß ich, dass einige von denen dich ziemlich dringend treffen wollen.“

War es das, worum es hier ging? Wollte sie mich verkuppeln, damit Dylan die Finger von mir ließ? „Ich geh nicht mit Jungs aus.“

Ava klappte die Kinnlade herunter. „Im Ernst?“

„Im Ernst.“

„Warum nicht?“

Ich zuckte mit den Schultern und blickte hinüber zu James. Der schien fest entschlossen zu sein, Ava nicht anzusehen, während er kunstvoll ein Tipi aus Pommes baute. Von ihm hatte ich keine Hilfe zu erwarten.

„Hör zu“, sagte Ava und gab die Schauspielerei auf. „Es ist bloß eine Party. Wenn dich erst mal alle kennengelernt haben, hören sie auch auf, dich anzustarren. Ist doch keine Staatsaffäre. Nur eine Stunde oder so, und du hast deine Ruhe. Ich helf dir sogar mit dem Make-up, deiner Frisur und dem ganzen Kram – du kannst dir eins von meinen Kleidern ausleihen, wenn du reinpasst.“

War ihr überhaupt klar, dass sie mich gerade beleidigt hatte? Ich versuchte abzulehnen, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Bitte“, sagte sie aufrichtig. „Zwing mich nicht, zu betteln. Ich weiß, dass das wahrscheinlich nicht an das rankommt, was du aus New York gewohnt bist, aber es wird toll! Versprochen.“

Kritisch sah ich sie an, während sie mir einen hilflosen, bittenden Blick zuwarf. Mit einem Nein würde sie sich nicht zufriedengeben. „Okay, meinetwegen.“ Ich gab mich geschlagen. „Ich bleibe eine Stunde. Aber ich brauche weder dein Make-up noch deine Kleider, und danach lässt du mich in Ruhe, okay?“

Ihr Lächeln war zurück, und diesmal wirkte es sogar echt. „Abgemacht. Ich bin um sieben bei dir.“

Nachdem ich ihr meine Adresse auf eine Serviette gekritzelt hatte, schlenderte Ava zurück zu ihrem Tisch. Mit ihrem sündhaften Hüftschwung zog sie dabei die Blicke wirklich jedes Typen im Raum auf sich. Wütend starrte ich James an, der immer noch hochkonzentriert seine dämliche Hütte baute. „Du bist ja ’ne tolle Hilfe.“

„Sah aus, als hättest du’s im Griff.“

„Ja, super. Danke, dass du mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hast.“ Ich griff über den Tisch und nahm mir Pommes von seinem Teller. Dabei achtete ich darauf, die Stützen seines Bauwerks zu erwischen. Prompt stürzte es ein, aber James schien es nicht zu kümmern. Stattdessen warf er sich ebenfalls Pommes in den Mund und kaute nachdenklich.

„Tja“, murmelte er, nachdem er geschluckt hatte. „Sieht aus, als hättest du jetzt offiziell ein Date mit dem Teufel.“

Ich stöhnte.

Als ich nach der letzten Stunde zu meinem Auto ging, holte James mich ein. Aus den Kopfhörern um seinen Hals dröhnte Musik, aber wenigstens hielt er die Klappe. Ich war immer noch sauer, weil er mir nicht geholfen hatte. Deshalb wartete ich, bis wir am Wagen waren, bevor ich ihn zur Kenntnis nahm.

„Hab ich was verloren?“, fragte ich, da mir nichts Besseres einfiel, um mich noch klarer auszudrücken. Ich wollte nicht mit ihm reden.

„Was? Nein, natürlich nicht. Wenn’s so wäre, würd ich’s dir zurückgeben.“ Seine Verwirrung irritierte mich. Verstand er mich wirklich nicht?

Den Schlüssel bereits im Schloss, wartete ich ab und fragte mich, wie lange das wohl noch dauern würde. War es nur am Anfang so, oder musste ich diese Aufmerksamkeit ertragen, bis mein Status als spannendes neues Spielzeug verblasst war? Den gesamten Tag lang war ich angestarrt worden, aber außer James, Dylan und Ava hatte mich niemand angesprochen. Das überraschte mich nicht. Hier kannten sich alle von Kindesbeinen an. Die Cliquen hatten sie wahrscheinlich schon seit der Vorschule gebildet. Für mich war hier kein Platz, das war mir klar. Und es war vollkommen in Ordnung für mich.

„Ich geh nicht mit Jungs aus.“

Die Worte waren mir rausgerutscht. Doch jetzt, nachdem ich es gesagt hatte, musste ich weitermachen.

„Das hab ich nicht mal zu Hause in New York gemacht. Ich … ich tu’s einfach nicht. Das ist nichts Persönliches. Ich will mich hier nicht rausreden. Aber ich mein das ernst – ich geh nicht mit Jungs aus.“

Statt enttäuscht oder gar niedergeschmettert zu Boden zu blicken, starrte James mich aus großen blauen Augen ausdruckslos an. Während die Sekunden verstrichen, spürte ich, dass meine Wangen warm wurden. Offensichtlich war ein Date mit mir das Letzte gewesen, was er im Sinn gehabt hatte.

„Ich find dich hübsch.“

Ich blinzelte. Vielleicht hatte ich mich doch nicht geirrt.

„Aber du bist auf einer Skala von eins bis zehn mindestens eine Acht – und ich eine Vier. Wir dürfen gar nicht miteinander ausgehen. Das würde gegen alle Regeln der Gesellschaft verstoßen.“

Mit kritischem Blick versuchte ich herauszufinden, ob er das ernst meinte. Er sah nicht aus, als würde er Witze machen. Außerdem starrte er mich wieder so an – als würde er tatsächlich auf eine Antwort warten.

„Eine Acht?“, platzte ich heraus. Etwas anderes fiel mir nicht ein.

„Vielleicht sogar eine Neun, wenn du dich schminkst. Aber ich mag Achten. Achten lassen sich ihr Aussehen nicht zu Kopf steigen. Anders als Neunen. Und eine Zehn hat keine Ahnung, wie sie es jemals anstellen sollte, was anderes als eine Zehn zu sein – wie Ava.“

Er meinte es ernst. Ich drehte den Schlüssel im Türschloss und wünschte, ich hätte ein Handy. Dann hätte ich so tun können, als würde mich jemand anrufen. „Äh, ja … Danke.“

„Keine Ursache.“ Für einen Moment hielt er inne. „Kate? Kann ich dich was fragen?“

Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich davon abzuhalten, ihn darauf hinzuweisen, dass er das gerade getan hatte. „Klar, schieß los!“

„Was hat deine Mutter?“

Ich erstarrte und bekam ein beklommenes Gefühl in der Magengegend. Für einige Augenblicke sagte ich gar nichts, doch James schien auf eine Antwort zu warten.

Meine Mutter und ihre Krankheit waren das Letzte, worüber ich reden wollte. Es fühlte sich falsch an, damit hausieren zu gehen. Als würde ich sie überall herumreichen. Und selbstsüchtig, wie ich war, wollte ich sie ganz für mich haben in diesen letzten Tagen, Wochen, Monaten – wie lange auch immer uns blieb. Ich wollte, dass diese Zeit nur ihr und mir gehörte. Sie war keine Freakshow, niemand, den alle anstarren konnten, oder ein saftiges Stück Klatsch, über das sie sich die Mäuler zerreißen durften. Ich würde ihnen das nicht erlauben. Niemals würde ich zulassen, dass das Andenken meiner Mutter beschmutzt wurde.

James lehnte sich an mein Auto, und ich sah Mitgefühl in seinen Augen aufflackern. Ich hasste es, bemitleidet zu werden. „Wie lange hat sie noch?“

Ich schluckte. Dafür, dass er null Sozialkompetenz besaß, war ich für ihn wie ein verdammtes offenes Buch. Vielleicht war es aber auch einfach so offensichtlich. „Die Ärzte haben ihr noch sechs Monate gegeben, als ich in die Highschool gekommen bin.“ Mittlerweile umklammerte ich meinen Schlüsselbund so fest, dass mir das Metall in die Haut schnitt. Der Schmerz war eine willkommene Ablenkung, aber er reichte nicht aus, um das Gefühl, als würde mir jemand die Luft abdrücken, zu vertreiben. „Sie hält schon ziemlich lange durch.“

„Und jetzt ist sie bereit.“

Wie betäubt nickte ich. Mir zitterten die Hände.

„Und du?“

Die Luft um uns herum schien für September ungewöhnlich schwer zu sein. Als ich den Blick wieder auf James richtete – während ich mir den Kopf zerbrach, um eine Antwort zu finden, die ihn zum Gehen bewegen würde, bevor ich in Tränen ausbrach –, fiel mir auf, dass schon fast alle anderen Autos weg waren.

James griff um mich herum und öffnete die Tür. „Bist du so weit in Ordnung, dass du nach Hause fahren kannst?“

War ich das? „Ja.“

Er wartete, während ich einstieg, und schloss dann sanft die Tür. Während ich den Motor startete, kurbelte ich die Scheibe herunter. „Soll ich dich mitnehmen?“

Er lächelte und neigte leicht den Kopf zur Seite, so als hätte ich etwas Bemerkenswertes gesagt. „Seit Beginn der Highschool bin ich jeden einzelnen Tag nach Hause gelaufen. Durch Regen, Schnee, Hagel, was auch immer. Du bist die Erste, die mir anbietet, mich nach Hause zu fahren.“

Ich wurde rot. „Ist doch kein Ding. Das Angebot steht, wenn du willst.“

Einen Moment lang starrte James mich an, als versuche er, irgendeine Entscheidung über mich zu treffen. „Nein, kein Problem. Ich laufe. Aber danke.“

Ich war nicht sicher, ob ich erleichtert sein oder mich schuldig fühlen sollte, weil ich erleichtert sein wollte. „Dann bis morgen!“

Er nickte, und ich legte den Rückwärtsgang ein. Gerade wollte ich den Fuß von der Bremse nehmen, da stand James wieder neben dem Fenster.

„Hey, Kate? Vielleicht hält sie noch ein bisschen länger durch.“

Ich erwiderte nichts. Denn ich war nicht sicher, ob ich mich dann noch hätte zusammenreißen können. Als ich zurücksetzte, blickte James mir nach. Während ich auf die Straße bog, sah ich ihn im Augenwinkel über den Parkplatz gehen. Er trug wieder seine monströsen Kopfhörer.

Auf halbem Weg nach Hause musste ich rechts ranfahren und mich ausweinen.

Mom verbrachte die Hälfte der Nacht würgend über einem Eimer und ich damit, ihr die Haare zurückzuhalten. Als der Morgen kam und Schwester Sofia erschien, hatte meine Mutter gerade noch genug Kraft, um bei der Schule anzurufen und mich vom Unterricht abzumelden. Dann verschliefen wir beide erschöpft den Tag.

Kurz nach vier, nach einer weiteren Runde grauenhafter Albträume, wachte ich mit hämmerndem Herzen und zitternd wieder auf. Ich konnte immer noch spüren, wie das Wasser meine Lungen füllte, während ich verzweifelt darum kämpfte, Atem zu holen. Noch immer konnte ich die dunklen Schlieren aus Blut sehen, die mich umgaben, während die Strömung mich nach unten zog und ich immer tiefer sank, je stärker ich kämpfte. Ich brauchte mehrere Minuten, um mich einigermaßen zu beruhigen. Als mein Atem wieder halbwegs regelmäßig ging, tupfte ich mir etwas Concealer unter die Augen, um die dunklen Ringe zu verbergen. Dass meine Mutter sich auch noch um mich Sorgen machte, war das Allerletzte, was ich wollte.

Als ich ging, um nach ihr zu sehen, begegnete ich Sofia, die auf einem Stuhl vor der Schlafzimmertür meiner Mom saß. Sie summte leise vor sich hin und strickte an etwas Braunrotem, das vielleicht mal ein Pullover werden sollte. So fröhlich, wie sie aussah, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass auf der anderen Seite der Tür meine Mutter im Sterben lag.

„Ist sie wach?“, fragte ich, und Sofia schüttelte den Kopf. „Haben Sie ihr das Schmerzmittel an den Tropf angeschlossen?“

„Natürlich, Liebes“, antwortete sie freundlich, und ich ließ die angespannten Schultern sinken. „Gehst du zu der Party heute Abend?“

„Woher wissen Sie davon?“

„Deine Mutter hat es mir erzählt“, antwortete sie. „Ist das dein Outfit für nachher?“

Ich blickte auf meinen Schlafanzug. „Ich geh nicht hin.“ Das wäre eine Stunde mit meiner Mutter, die ich für immer verloren hätte, und viele blieben uns nicht mehr.

Sofia schnalzte missbilligend mit der Zunge, woraufhin ich ihr einen rebellischen Blick zuwarf. „Würden Sie nicht dasselbe tun, wenn es Ihre Mutter wäre? Ich will den Abend lieber mit ihr verbringen.“

„Aber ist das auch das, was sie sich für dich wünscht?“, entgegnete Sofia und ließ ihr Strickzeug sinken. „Dass du dein Leben auf Eis legst, während du darauf wartest, dass sie stirbt? Glaubst du, das würde sie glücklich machen?“

Ich wandte den Blick ab. „Sie ist krank.“

„Sie war schon gestern krank, und sie wird auch morgen krank sein“, erwiderte Sofia sanft. Ich spürte ihre warme Hand in meiner, doch ich entzog mich ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie würde wollen, dass du einen Abend für dich hast.“

„Das wissen Sie nicht“, konterte ich in unsicherem Tonfall, der die erdrückenden Gefühle widerspiegelte, die sich weigerten, Ruhe zu geben. „Sie kennen sie nicht. Also hören Sie auf, so zu tun, als wäre es anders.“

Sofia erhob sich und legte ihr Strickzeug vorsichtig auf den Stuhl. „Ich weiß, dass du alles bist, wovon sie spricht.“ Sie sah mich an, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, das für mich unerträglich war.

Sofort senkte ich den Blick und starrte auf den Teppich.

„Sie wünscht sich nichts mehr, als zu wissen, dass es dir ohne sie gut gehen wird. Dass du glücklich sein wirst. Meinst du nicht, es ist ein oder zwei Stunden deiner Zeit wert, ihr ein bisschen Frieden und Zuversicht zu geben?“

Ich knirschte mit den Zähnen. „Natürlich, aber …“

„Kein Aber.“ Sofia straffte die Schultern, und obwohl sie genauso groß war wie ich, schien sie mich plötzlich zu überragen. „Sie will, dass du glücklich bist, und so viel kannst du ihr zugestehen, indem du heute Abend ausgehst und ein paar Freunde findest. Ich bleibe hier und kümmere mich darum, dass sie versorgt ist. Ein Nein lasse ich nicht gelten.“

Ich schwieg und starrte Sofia an, mein Gesicht war heiß vor Zorn und Frustration. Und sie starrte zurück, gab keinen Millimeter nach, bis ich schließlich den Blick abwenden musste. Sie wusste nicht, wie kostbar jede Minute mit meiner Mutter für mich war, und ich konnte es ihr offenbar nicht verständlich machen. Aber sie hatte recht. Wenn es meine Mom glücklich machte, würde ich zur Party gehen.

„Meinetwegen.“ Mit dem Ärmel wischte ich mir über die Augen. „Aber wenn ihr was passiert, während ich weg bin …“

„Das wird es nicht“, beruhigte mich Sofia. „Ich versprech’s. Vielleicht merkt sie nicht mal, dass du fort bist. Und wenn du zurückkommst, wirst du ordentlich was zu erzählen haben, oder?“

Wenn es nach Ava ging, dann auf jeden Fall, da war ich sicher.

3. KAPITEL

Der Fluss

Meine letzte Hoffnung war, dass Ava vergessen würde, mich abzuholen. Aber als ich mich um fünf nach sieben widerwillig auf die Veranda schleppte, erblickte ich in der Auffahrt einen bulligen Range Rover, neben dem mein Auto wie ein Spielzeug aussah. Meine Mutter hatte noch immer geschlafen, als ich ein paar Minuten zuvor versucht hatte, nach ihr zu sehen. Statt mich zu ihr zu lassen, um sie zu wecken und mich zu verabschieden, hatte Sofia mich nach draußen gescheucht. Mittlerweile war ich ziemlich gereizt.

„Kate!“, rief Ava vergnügt, als ich die Beifahrertür öffnete. Meine miese Laune schien sie überhaupt nicht zu bemerken. „Ich bin so froh, dass du mitkommst. Du hast doch nichts Ansteckendes, oder?“

Mühsam riss ich mich zusammen, kletterte hinein und schnallte mich an. „Ich bin nicht krank.“

„Nicht schlecht“, plapperte Ava weiter. „Du hast echt Glück, dass deine Mutter dich schwänzen lässt.“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und sagte nichts. Glück war nicht ganz der passende Ausdruck.

„Das wird dir echt gefallen heute Abend“, fuhr sie fort, während sie aus der Auffahrt zurücksetzte, ohne den Rückspiegel auch nur eines Blickes zu würdigen. „Alle sind dabei, du wirst Massen von Leuten kennenlernen.“

„Kommt James auch?“ Unwillkürlich verspannte ich mich, als Ava den Fuß aufs Gaspedal drückte und der Range Rover einen Satz nach vorn machte, bei dem mein Magen nicht ganz mitkam.

Einen Sekundenbruchteil lang sah Ava so aus, als sei sie schon von dem bloßen Gedanken angewidert. Fast hätte ich meine Frage zurückgenommen, aber der Ausdruck verschwand so schnell von ihrem Gesicht, wie er aufgetaucht war. „James ist nicht eingeladen.“

„Oh.“ Ich ließ das Thema fallen. Ich hatte sowieso nicht erwartet, dass James kommen würde – er und Ava bewegten sich schließlich nicht gerade in denselben Kreisen. „Und Dylan?“

„Natürlich.“ Ihr fröhlicher Tonfall klang so falsch, wie ihre Nägel aussahen, und als ich im schwachen Licht der Innenbeleuchtung zu ihr hinübersah, hätte ich schwören können, dass in ihren Augen etwas Unangenehmes aufgeblitzt war. Zorn vielleicht oder Eifersucht.

„Ich will nichts von ihm“, stellte ich klar, für den Fall, dass sie es immer noch nicht begriffen hatte. „Ich hab’s ernst gemeint, als ich gesagt hab, dass ich mit Dates nichts am Hut hab.“

„Ich weiß.“ Aber die Art, wie sie sich weigerte, mir ins Gesicht zu sehen, sprach Bände, und ich seufzte. Eigentlich hätte es mir egal sein sollen, aber in New York hatte ich so viele Jungs gesehen, die ihre Freundinnen ausgenutzt hatten, während sie in Wahrheit längst nach einer anderen Ausschau hielten. Das ging nie gut aus. Egal, wie sehr Ava mich hassen mochte – das hatte sie nicht verdient.

„Warum bist du überhaupt mit ihm zusammen?“

Einen Moment lang sah sie überrascht aus. „Weil er Dylan ist“, sagte sie, als wäre die Antwort offensichtlich. „Er ist süß, hat was im Kopf und ist Kapitän der Footballmannschaft. Warum sollte ich nicht mit ihm zusammen sein wollen?“

„Oh, keine Ahnung“, gab ich zurück. „Vielleicht weil er ein Schwein ist, das bloß mit dir zusammen ist, weil du umwerfend aussiehst und mit ziemlicher Sicherheit Cheerleader bist?“

Pikiert reckte sie das Kinn. „Ich bin sogar der Captain. Und der Captain des Schwimmteams.“

„Ganz genau.“

Ava wirbelte das Lenkrad herum, und die Reifen quietschten auf dem Asphalt, als der Wagen eine scharfe Kurve beschrieb. Vor meinem inneren Auge blitzte das Bild einer Kuh mitten auf der Straße auf, und ich kniff die Augen zusammen und betete stumm.

„Wir sind schon ewig zusammen“, setzte Ava nach. „Ich werde ihn ganz sicher nicht abschießen, bloß weil so ein Mädchen, das sich für was Besseres hält, daherkommt und mir sagt, ich wäre dumm, mit ihm zusammen zu sein.“

„Ich halte mich nicht für was Besseres“, erwiderte ich gepresst. „Ich bin einfach nur nicht hierhergezogen, um Freunde zu finden.“

Sie schwieg, während wir durch die Dunkelheit fuhren. Zuerst dachte ich, sie würde gar nichts mehr sagen. Und als sie es eine Minute später doch tat, sprach sie so leise und klang so kleinlaut, dass ich mich anstrengen musste, sie zu verstehen.

„Daddy hat gesagt, deine Mom ist ziemlich krank.“

„Tja, Daddy hat recht.“

„Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Mom machen sollte.“

„Ja“, murmelte ich. „Ich auch nicht.“

Als sie das nächste Mal abbog, hatte ich nicht mehr das Gefühl, wir würden gleich aus der Kurve fliegen. „Kate?“

„Mhm?“

„Ich liebe Dylan. Wirklich. Selbst wenn er nur mit mir zusammen ist, weil ich Cheerleader bin.“

„Vielleicht ist er das ja gar nicht“, bemerkte ich und lehnte meinen Kopf ans Fenster. „Vielleicht ist er anders.“

Sie seufzte. „Vielleicht.“

Ava parkte ihr spritfressendes Monstrum an einer dunklen Straße auf dem Seitenstreifen. Über uns ragten Bäume empor, und der Mond zeichnete ihre Schatten auf den Boden. Trotzdem hätte ich im Leben nicht sagen können, wo wir waren. Nicht ein anderes Auto war in Sicht, geschweige denn ein Haus.

„Wo sind wir?“, fragte ich, als sie in den Wald vorausging.

„Das Lagerfeuer ist da weiter hinten“, erklärte Ava, während sie geschickt den tief hängenden Ästen auswich. Ich hatte nicht so viel Glück dabei. „Ist ganz in der Nähe.“

Leise fluchte ich vor mich hin, während ich ihr folgte. Meine Hoffnung, schnell wieder verschwinden zu können, war dahin. Ich würde hier festsitzen, bis Ava wieder fuhr – außer ich ließe mich von einem meiner zahlreichen Verehrer mitnehmen.

Beim Gedanken daran verzog ich das Gesicht. Da würde ich lieber laufen.

„Es ist gleich auf der anderen Seite der Hecke“, sagte Ava, und ich blieb stehen. Hecke?

„Meinst du die Hecke um dieses riesige Grundstück?“

„Du kennst es schon?“ Ava wandte sich zu mir um.

„Meine Mom hat mir davon erzählt.“

„Oh – na ja, das ist der Ort, wo wir unsere Partys feiern. Daddy kennt den Besitzer, und der hat absolut nichts dagegen.“

Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, verursachte mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, und ich erinnerte mich an die Silhouette, die ich im Rückspiegel zu sehen geglaubt hatte. Aber mir blieb keine große Wahl. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Sie hatte keinen Grund, mich anzulügen, oder? Davon abgesehen war der einzige Weg durch diese Hecke, von dem ich wusste, das Tor an der Straße – und von dem waren wir meilenweit entfernt.

„Wie sollen wir denn da reinkommen?“

Sie ging weiter, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. „Dahinten ist ein Bach. An der Stelle ist eine Öffnung in der Hecke, durch die man klettern kann, und die Party ist gleich auf der anderen Seite.“

Ich wurde blass, als die grauenhaften Albträume vom Ertrinken wieder hochkamen. „Ich muss aber nicht schwimmen, oder?“

„Nein, wieso?“ Sie musste etwas in meinem Ton wahrgenommen haben, denn sie blieb wieder stehen und sah mich an.

„Ich kann nicht schwimmen. Hab’s nie gelernt.“ Das war die Wahrheit, aber von meinen Albträumen wollte ich ihr nicht erzählen. Es war schon schlimm genug, dass ich sie Nacht für Nacht von Neuem durchleben musste. Wenn ich Ava das gestand, würde sie es mit Sicherheit bloß gegen mich verwenden.

Sie lachte leise, und ich hätte schwören können, dass sie auf einmal fröhlicher klang. „Ach, keine Sorge, du musst nicht schwimmen. Im Wasser liegen Steine, auf die man treten kann. So kommt man leicht auf die andere Seite.“

Jetzt konnte ich die Hecke sehen. Meine Hände waren feucht, und mein Atem ging stoßweise – und ich glaubte nicht, dass das etwas mit unserem zügigen Tempo zu tun hatte.

„Gleich da vorn.“ Sie deutete auf eine Stelle ungefähr zehn Meter vor uns. Durch die Nachtluft war das Geräusch von fließendem Wasser zu hören, und ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um Ava weiter zu folgen.

Als wir am Wasser ankamen, fiel mir die Kinnlade herunter. Das war kein Bach, sondern ein verdammter Fluss. Die Strömung sah nicht besonders stark aus, aber mit Sicherheit stark genug, um mich wegzutragen, wenn ich fiele. Und ohne nennenswertes Licht war es fast unmöglich, die Steine zu entdecken, von denen Ava gesprochen hatte. Über das Loch in der Hecke hatte sie allerdings die Wahrheit gesagt. Es war klein, als hätte der Fluss sich dort gerade so weit verengt, dass die Zweige über ihm zusammenwachsen konnten. Wir würden über Steine balancieren und uns bücken müssen, um durchzukommen, aber es war machbar, ohne schwimmen zu müssen.

„Mir nach“, sagte Ava mit gedämpfter Stimme. Sie hielt die Arme ausgestreckt, um die Balance zu halten, und trat in den Fluss. Suchend tastete sie umher, bis sie einen großen, flachen Stein fand. „Hier fängt der Weg an – alles in Ordnung mit dir?“

„Mir geht’s gut“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mit höchster Sorgfalt setzte ich meine Füße exakt dorthin, wo Ava hingetreten war, und hielt wie sie die Arme ausgestreckt. Aber mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, gleich würde ich in das dunkle Wasser zu meinen Füßen fallen. Sie duckte sich unter der Hecke hindurch, und ich konnte nicht mehr sehen, wo sie entlangging. Mir wurde übel, als Panik mich erfasste, und ich legte eine zitternde Hand an die Zweige der Hecke. Dann bückte ich mich und tastete mich Schritt für Schritt weiter.

Wie durch ein Wunder schaffte ich es trocken auf die andere Seite. Von da an gab es keine Steine mehr, und ich musste springen, um wieder auf festen Boden zu gelangen, aber ich schaffte es – und war in Sicherheit. Erleichtert seufzte ich. Wenn Ava dachte, sie würde mich noch mal durch dieses Loch kriegen, war sie verrückt.

Als ich aufsah, fiel mein Blick als Erstes auf Ava, wie sie den Reißverschluss an ihrem Rock öffnete. Das Top lag schon am Boden. Darunter trug sie einen Bikini, die Farben waren in der Dunkelheit nicht auszumachen.

„Was tust du da?“

Sie ignorierte mich. Statt nachzubohren, sah ich mich erst einmal um. Wir waren auf bewaldetem Gelände, und hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich überzeugt gewesen, dass wir immer noch auf der anderen Seite der Hecke waren. Alles sah genau gleich aus.

„Tut mir leid, Kate“, sagte Ava. Sie zog einen Müllsack aus der Tasche ihres Rocks und legte ihre säuberlich gefalteten Sachen hinein.

„Es tut dir leid? Was tut dir leid?“

„Dass ich verschwinde.“ Sie warf sich den Müllsack über die Schulter und schenkte mir ein breites Lächeln. „Nimm’s nicht persönlich. Wenn Dylan nicht so auf dich stehen würde, könnten wir vielleicht sogar Freundinnen sein. Aber ich bin mir sicher, du verstehst, warum das hier sein muss.“

„Warum was sein muss?“

„Das.“ Sie trat ins Wasser und schauderte. Anscheinend war es so kalt, wie es aussah. „Sieh das als Warnung, Kate. Lass die Finger von meinem Freund. Das nächste Mal wird es viel, viel schlimmer werden.“

Und mit diesen Worten sprang sie kopfüber in den Fluss.

Zwei Dinge geschahen gleichzeitig: Erstens begriff ich, was hier los war. Sie ließ mich hier zurück, in dem vollen Bewusstsein, dass ich Angst vor dem Wasser hatte. Es gab keine Party. Sie hatte das alles geplant.

Das Zweite passierte, als Ava auf das Wasser traf. Statt ihr hinterherzusehen, wie sie wegschwamm, hörte ich ein Übelkeit erregendes Knacken, als ihr Kopf auf einen Stein aufschlug. Und dann trieb sie auch schon schlaff in der Strömung davon.

Ich zuckte zusammen. Während ich ihr noch wie paralysiert nachsah, hatte das Wasser Ava bereits mehrere Meter weitergetragen, aber sie bewegte sich nicht. Sie musste beim Aufprall bewusstlos geworden sein.

Gut.

Nein, nicht gut, widersprach der moralische Teil meines Gehirns hartnäckig. Gar nicht gut. Wenn sie tatsächlich ohnmächtig war und nicht bloß benommen, würde sie ertrinken, falls die Strömung sie nicht an Land trieb.

Innerlich stöhnte ich laut auf. Sollte sie ruhig leiden – der Fluss war nicht besonders breit. Irgendwann würde sie schon wieder zu sich kommen und ans Ufer gelangen.

Aber diese Moralapostelstimme in meinem Kopf machte mich darauf aufmerksam, dass ich, sollte Ava etwas passieren, verantwortlich wäre. Und auch wenn sie versucht hatte, mir einen grausamen Streich zu spielen, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass einem weiteren Menschen in meinem Leben etwas Furchtbares geschah. Ich hatte bis an mein Lebensende genug von Tragödien.

Mein Körper hatte sich in Bewegung gesetzt, bevor ich eine Entscheidung treffen konnte. Im Schwimmen mochte ich eine Niete sein, aber rennen konnte ich. Im Laufen streifte ich die hochhackigen Schuhe ab und hatte schon die Hälfte der Strecke bis zu Ava zurückgelegt, bevor ich überhaupt begriff, was ich da tat. Die Strömung schien stark zu sein, aber nicht so stark, wie ich anfangs gedacht hatte. Schnell hatte ich Ava eingeholt und machte schlitternd Halt am matschigen Ufer, bevor ich mich einem vollkommen anderen Problem gegenübersah – dem Wasser.

Bilder aus meinen Albträumen schossen durch meinen Kopf, aber ich schob sie beiseite. Ava trieb mit dem Gesicht nach unten in der Mitte des Flusses, ich konnte unmöglich warten, bis sie näher kam. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich ließ sie ertrinken, oder ich sprang ihr hinterher in den Fluss. Mir blieb kaum eine Wahl. Widerwillig stürmte ich in das eiskalte Wasser und kämpfte mich mit mühseligen, von der Strömung gebremsten Schritten platschend und spritzend in ihre Richtung. Mit dem Zeh blieb ich an einem Stein hängen und fiel, tauchte der Länge nach unter, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte die Strömung mich auch schon erfasst.

Panik stieg in mir auf, sobald mein Kopf unter Wasser geriet. Aber ich war bei Bewusstsein, und auch wenn ich nicht schwimmen konnte, war der Fluss wenigstens nicht tief. Anders als in diesen grauenvollen Albträumen gelang es mir, den Boden unter den Füßen zu finden und mich aufzurichten, und ich stieß durch die Oberfläche. Ich kämpfte mich vorwärts, um Ava zu erreichen, und sobald sie in Reichweite war, packte ich sie am Arm und riss sie in meine Richtung. Mein Herz schlug schmerzhaft schnell in meiner Brust, aber ich versuchte so ruhig wie möglich zu atmen. Wenn Ava aufwachte, würde ich sie umbringen. Und wenn es auf dieser Welt so etwas wie Gerechtigkeit gab, würde sie genäht werden müssen und eine Narbe in ihrem hübschen kleinen Gesicht davontragen.

Ich zog Ava ans Ufer und aus dem eisigen Wasser heraus, unvorstellbar erleichtert, wieder trockenen Boden unter den Füßen zu haben. Obwohl sie höchstens eine halbe Minute im Fluss gewesen war, wurde ihre Haut schon blau, und ich drehte sie auf die Seite, in der Hoffnung, es würde helfen, falls sie Wasser geschluckt hatte.

„Ava?“, fragte ich und ließ mich neben ihr auf die Knie sinken. Meine Zähne klapperten. „Ava – wach auf.“

Sie regte sich nicht. Ich beugte mich über sie, wartete darauf, dass sie Luft holte, aber sie tat es nicht. Ich schluckte den Kloß des Entsetzens in meinem Hals hinunter. Ich musste sie beatmen.

Schnell rollte ich sie auf den Rücken und drückte auf ihr Zwerchfell: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …

Ich blickte auf sie hinab und wartete. Nichts.

„Wenn das ein Scherz sein soll …“ Ich versuchte es wieder. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung würde ich ihr erst geben, wenn mir keine andere Wahl blieb.

In diesem Moment bemerkte ich die klaffende Wunde an ihrem Kopf. Ich begriff nicht, wie ich sie vorher hatte übersehen können – ihr Haar war blutgetränkt. Für einen Moment hörte ich auf mit der Herzmassage, um nachzusehen, wie schlimm es war.

Es war nicht bloß ein Schnitt. Mir drehte sich der Magen um, als ich ihr Haar beiseiteschob, um die Wunde anzusehen. Die Oberseite ihres Schädels war nicht länger gerundet – sie war flach.

Ich stieß einen spitzen Schrei aus und schlug mir die Hand vor den Mund, kurz davor, mich zu übergeben. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass es nicht nur Blut und Haare waren, was ich sah. Ihre Kopfhaut lag frei und löste sich teilweise ab, und darunter glänzte ein eingeschlagener Schädel und Stückchen von – oh Gott, ich wollte nicht einmal darüber nachdenken.

Schnell legte ich meine Finger an ihren Hals, suchte vergeblich nach einem Puls. Mein Atem ging mittlerweile in raschen Stößen, und die Welt schien sich zu drehen, als ich reflexartig mit der Herzmassage weitermachte. Sie konnte nicht … Das war unmöglich. Es war ein Streich, bloß ein geschmackloser Scherz, der damit enden sollte, dass ich meinen traurigen Hintern zum Eingangstor schleppen und nach Hause laufen musste. Sie sollte doch nicht …

„Hilfe!“, schrie ich, so laut ich konnte, und heiße Tränen strömten mir übers Gesicht. „So hilf ihr doch jemand!“

4. KAPITEL

Der Fremde

Schluchzend presste ich wieder und wieder meine Hände auf Avas Zwerchfell. Sie konnte nicht tot sein. Noch vor zwei Minuten hatte sie mich angefaucht wegen … Ja, weswegen eigentlich? Es spielte keine Rolle mehr. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Augen und holte tief und bebend Luft. Nein. Unmöglich. Das geschah gerade nicht wirklich.

„Hilfe!“, schrie ich und blickte wild um mich, verzweifelt auf ein Zeichen hoffend, dass irgendjemand in der Nähe war. Doch alles, was ich zu allen Seiten sah, waren Bäume, und das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das Rauschen des Flusses. Selbst wenn auf diesem Grundstück überhaupt jemand lebte, hätte er meilenweit entfernt sein können.

Ich blickte wieder auf Ava, und ihr Gesicht verschwamm, als meine Augen sich wieder mit Tränen füllten. Was sollte ich nur tun?

Mit bebenden Schultern stolperte ich ein paar Schritte zurück und sank wieder zu Boden, saß da und starrte auf Ava. Ihre Augen standen weit offen, unbewegt, leblos. Keine Regung war zu sehen, während das Blut langsam aus ihrer Kopfwunde lief. Es war sinnlos.

Ich zog die Knie an die Brust, unfähig, meinen Blick von ihr loszureißen. Was würde jetzt geschehen? Wer würde uns finden? Ich konnte sie nicht hier zurücklassen. Ich musste hierbleiben, bis uns jemand fand. Oh Gott, meine arme Mutter – was würden die Leute sagen? Würden sie denken, ich hätte Ava umgebracht? Hatte ich das nicht auch irgendwie? Hätte ich nicht zugestimmt, mit ihr herzukommen, wäre sie niemals kopfüber in den Fluss gesprungen.

„Kann ich dir helfen?“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Neben mir stand ein Mann – ein Junge? Ich konnte es nicht sagen, denn sein Gesicht war zum Teil in der Dunkelheit verborgen. Doch was ich erkennen konnte, ließ mir den Atem stocken. Sein Haar war dunkel, und der Mantel, den er trug, war lang und schwarz und wehte leicht im kalten Wind.

Ich hatte ihn mir also doch nicht eingebildet.

„Sie ist …“ Ich konnte es nicht aussprechen.

Langsam kniete er sich neben Ava und untersuchte sie. Er musste sehen, was ich sah – den blutigen Kopf, den reglosen Körper, den unnatürlichen Winkel, in dem ihr Hals abgeknickt war. Doch statt panisch zu reagieren, sah er zu mir auf, und mich durchfuhr ein Schock. Seine Augen hatten die Farbe von Mondlicht.

Keine zwei Meter hinter mir hörte ich ein Rascheln. Erschrocken wandte ich mich um und sah eine schwarze Deutsche Dogge mit wedelndem Schwanz auf uns zukommen. Der Hund setzte sich neben den Fremden, und er kraulte ihn hinter den Ohren.

„Wie heißt du?“, fragte er ruhig.

Mit zitternden Händen strich ich mir das nasse Haar hinter die Ohren. „K-Kate.“

„Hallo, Kate.“ Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes an sich, war fast melodisch. „Ich bin Henry, und das ist Cerberus.“

Jetzt, nachdem er näher gekommen war, konnte ich sein Gesicht sehen, und irgendetwas daran wirkte seltsam. Er konnte nicht mehr als ein paar Jahre älter sein als ich, höchstens zweiundzwanzig, und selbst das war schon großzügig geschätzt. Und er war zu schön, um hier mitten in den Wäldern herumzulaufen. Er hätte auf den Titelseiten von Modemagazinen sein sollen, statt seine Zeit unbeachtet auf der Oberen Halbinsel Michigans zu vergeuden.

Aber seine Augen fesselten meine Aufmerksamkeit. Selbst in der herrschenden Dunkelheit leuchteten sie hell, und es fiel mir verdammt schwer, mich von seinem Blick loszureißen.

„M-meine Freundin“, setzte ich mit zitternder Stimme an. „Sie ist …“

„Sie ist tot.“

Sein Ton war so sachlich und endgültig, dass sich mir der Magen umdrehte. Das bisschen Abendessen, das ich runtergekriegt hatte, verabschiedete sich wieder, als mich die grauenvolle Realität dieses Abends traf wie ein Blitz.

Schließlich, als das Würgen aufhörte, setzte ich mich wieder auf und wischte mir den Mund ab. Henry hatte Ava so hingelegt, dass sie aussah, als würde sie schlafen, und jetzt fixierte er mich mit seinem Blick, als wäre ich ein scheues Tier, das er nicht verjagen wollte. Betreten schaute ich weg.

„Sie ist also deine Freundin?“

Ich hustete schwach, während ich versuchte, das Schluchzen hinunterzuschlucken, das in mir aufzuwallen drohte. War sie das? Natürlich nicht. „J-ja“, brachte ich heraus. „Warum?“

Ich hörte Stoff rascheln und öffnete die Augen. Henry war dabei, seinen Mantel über Ava zu breiten. So, wie man Leichen bedeckt. „Ich wusste nicht, dass Freunde so miteinander umgehen, wie sie dich behandelt hat.“

„Sie … Es war bloß ein Scherz.“

„Du hast es nicht besonders lustig gefunden.“

Nein, hatte ich nicht. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

„Du hast Angst vor Wasser, und trotzdem bist du hinter ihr hergesprungen. Obwohl sie dich zurücklassen wollte.“

Überrascht starrte ich ihn an. Woher wusste er das?

„Warum?“, fragte er, und ich zuckte hilflos mit den Schultern. Was erwartete er von mir zu hören?

„Weil sie … Sie hatte nicht verdient zu …“ Sie hatte nicht verdient zu sterben.

Für einen langen Moment blieb Henry stumm und sah auf Avas verhüllte Leiche hinunter. „Was würdest du tun, um sie zurückzubekommen?“

Ich bemühte mich, zu begreifen, was er da sagte. „Zurückzubekommen?“

„Zurück in dem Zustand, in dem sie war, bevor sie ins Wasser gesprungen ist. Lebendig.“

Trotz all meiner Panik kannte ich die Antwort bereits. Was würde ich tun, um Ava zurückzubekommen? Was würde ich tun, um den Tod davon abzuhalten, endgültig seinen Würgegriff um die letzten Fetzen meines Lebens, die er noch nicht gestohlen hatte, zu schließen? Meine Mutter hatte er schon gezeichnet, wartete in den Schatten, um sie mir wegzunehmen, rückte jeden Tag näher. Sie mochte bereit sein, aufzugeben, aber ich würde niemals aufhören, um sie zu kämpfen. Und ich würde den Teufel tun, ihm direkt vor meiner Nase ein weiteres Opfer zuzugestehen. Vor allem, da es allein mein Fehler war, dass Ava überhaupt hier war. „Alles.“

„Alles?“

„Ja. Kannst du ihr helfen?“ In mir flammte eine irrationale Hoffnung auf. Vielleicht war er Arzt. Vielleicht wusste er, wie man sie wieder in Ordnung bringen konnte.

„Kate … Hast du je die Geschichte von Persephone gehört?“

Meine Mutter liebte griechische Mythologie, und als Kind hatte sie mir die Geschichten immer vorgelesen. Doch was hatte das mit all dem hier zu tun? „Was? Ich – ja, vor langer Zeit“, antwortete ich verwirrt. „Kannst du sie wieder in Ordnung bringen? Ist sie – kannst du? Bitte?“

Henry stand auf. „Ja, wenn du mir eine Sache versprichst.“

„Was immer du willst.“ Ich erhob mich ebenfalls, wagte gegen alle Vernunft, zu hoffen.

„Lies noch einmal den Mythos von Persephone, und du wirst es begreifen.“ Er trat auf mich zu und strich mit den Fingerspitzen über meine Wange. Ich zuckte zurück, doch meine Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen, wo er mich berührt hatte. Dann steckte er die Hände in die Taschen, unberührt von meiner Zurückweisung. „In zwei Wochen ist Herbst-Tagundnachtgleiche. Lies, und du wirst begreifen.“

Er trat zurück und ließ mich stehen. Verwirrt wandte ich mich in Avas Richtung und fragte: „Aber was ist mit …“

Doch als ich aufsah, war er fort. Verständnislos und mit tauben Füßen stolperte ich ein paar Schritte umher und schaute mich hektisch um. „Henry? Was ist mit …“

„Kate?“

Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ava. Ich fiel neben ihr auf die Knie, zu verängstigt, um sie zu berühren, doch ihre Augen waren offen, und sie blutete nicht mehr. Sie war am Leben.

„Ava?“, keuchte ich.

„Was ist passiert?“ Mühsam kämpfte sie sich in eine sitzende Position und wischte sich das Blut aus den Augen.

„Du – du hast dir den Kopf gestoßen und …“ Ich verstummte. Und was?

Langsam stand Ava auf und begann gleich wieder zu schwanken, doch ich stützte sie mit zitternden Händen. „Alles in Ordnung?“, fragte ich benommen, und Ava nickte. Ich legte ihr den Arm um die nackte Taille, um sie aufrecht zu halten. Henrys Mantel war fort. „Lass uns zusehen, dass du nach Hause kommst.“

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