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Das Herz der Kämpferin

Als Buch hier erhältlich:

Sie ist zur Kämpferin erzogen worden, und als Tochter des Clan-Führers würde die siebzehnjährige Eelyn jederzeit ihr Leben für ihre Familie und ihre Freunde geben. Während einer Schlacht gegen die verfeindeten Riki traut sie ihren Augen nicht. Denn Eelyn sieht ihren tot geglaubten Bruder - wie er an der Seite eines kühnen Riki kämpft. Weder ein Pfeil im Arm noch ein Schwerthieb könnte Eelyn so schwer treffen wie der Verrat ihres Bruders. Sie selbst würde sich niemals mit dem Feind verbünden. Auch nicht, wenn sie sich verliebt. Und selbst dann nicht, wenn es den Untergang der Clans bedeutet. Oder?

»Rau, wunderschön und treffsicher. ›Das Herz der Kämpferin‹ erzählt sowohl düster und herzzerreißend von Krieg als auch umsichtig und gedankenvoll von Identität, Familie und Glaube - eine Geschichte, die so wild ist wie ihre Hauptfigur und genauso ein echtes und sanftes Herz hat.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Traci Chee

»Mit ›Das Herz der Kämpferin‹ hat Adrienne Young faszinierenden, vielschichtigen Figuren in einer krass schönen Welt Leben eingehaucht. Alles ist üppig und atmosphärisch. Das Eis schmilzt auf der Haut, während gleichzeitig das Adrenalin ins Herz schießt. Eine packende und anschaulich erzählte Geschichte.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Renée Ahdieh

»Wild, lebendig und gewaltig schön.« New-York-Times-Bestsellerautorin Stephanie Garber

»In ihrem Debütroman überzeugt Adrienne Young vom ersten Satz an durch ihren Schreibstil, der eine Atmosphäre erzeugt, von der man sich nicht losreißen kann.«
Rezensöhnchen


  • Erscheinungstag: 01.10.2018
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678063

Leseprobe

Für Joel,
der nie versucht hat,
mein wildes Herz zu zähmen.

1. KAPITEL

»Sie kommen.«

Ich schaute hinab zur Reihe der Aska, die sich aneinandergekauert hinter den schlammigen Hügel duckten. Nebel hing wie ein Schleier über dem Feld, aber wir konnten sie hören. Die Klingen der Schwerter und Äxte, die an den Brustpanzern schleiften. Schnelle Schritte im schmatzenden Lehm. Im gleichen Rhythmus schlug mein Herz, ich holte tief Luft, hielt einen Moment inne und atmete erst dann wieder aus.

Der raue Pfiff meines Vaters drang von der anderen Seite unserer Front an mein Ohr, und ich suchte die dreckverschmierten Gesichter ab, bis ich das auf mich gerichtete Paar strahlend blauer Augen fand. Der von grauen Strähnen durchzogene Bart hing ihm geflochten bis auf die Brust. Mit seiner riesigen Faust umklammerte er eine Streitaxt. Er deutete mit dem Kinn auf mich, und ich erwiderte den Pfiff – das war unsere Art, einander zur Vorsicht zu mahnen. Zu versuchen, nicht zu sterben.

Mýra legte mir den langen Zopf über die Schulter und deutete mit einem Kopfnicken aufs Schlachtfeld. »Gemeinsam?«

»Immer.« Ich blickte hinter uns, wo die Gefährten unseres Clans standen. Schulter an Schulter in einem Meer aus rotem Leder und Bronze warteten sie alle auf den Schlachtruf. Mýra und ich hatten uns den Platz an vorderster Front erkämpft.

»Pass auf deine linke Seite auf.« Ihre pechschwarz umrandeten Augen blickten zu der Stelle, wo die gebrochenen Rippen hinter meinem Brustpanzer lagen.

»Denen geht’s gut.« Gekränkt sah ich sie an. »Aber falls du dir Sorgen machst, kämpf mit jemand anderem zusammen.«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf, bevor sie aufstand, um meine Rüstung ein letztes Mal zu überprüfen. Ich versuchte, nicht zu zucken, als sie die Riemen festzurrte, die ich absichtlich etwas lockerer gelassen hatte. Sie tat so, als bemerke sie es nicht, doch ich registrierte ihren Blick.

»Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen.« Ich fuhr mit der Hand über die rechte Seite meines Kopfs, wo das Haar unter dem Zopf bis auf die Haut kurz geschoren war.

Dann zog ich ihre Hand zu mir, um, ohne nachzudenken, die Riemen des Schilds um ihren Arm festzuzurren. Wir waren seit fünf Jahren Kampfgefährtinnen, und ich kannte jedes Stück ihrer Rüstung so genau wie sie jeden schlecht verheilten Knochen in meinem Körper.

»Ich mache mir keine Sorgen«, meinte sie grinsend, »aber ich verwette mein Mittagessen darauf, dass ich heute mehr Riki töten werde als du.« Damit warf sie mir meine Axt zu.

Ich zog mit der Rechten das Schwert hervor und fing die Axt mit der Linken. »Vegr yfir fjor.«

Sie hob den Arm mit dem Schild hoch über ihren Kopf, um ihn zu dehnen, bevor sie für mich wiederholte: »Vegr yfir fjor.«

Ehre vor Leben.

Der erste Pfiff durchschnitt rechts von uns die Luft und rief uns auf, sofort bereitzustehen. Ich schloss die Augen und spürte den festen Grund unter meinen Füßen. Die Kampfgeräusche rauschten auf uns zu und vermischten sich zu einem einzigen Laut, während die kehligen Gebete meiner Clangefährten um uns wie Rauch von einem Lagerfeuer aufstiegen. Ich sprach leise die Worte, mit denen ich Sigr um Schutz bat. Um Hilfe beim Bezwingen seiner Feinde.

»Los!«

Ich holte aus und schwang meine Axt, bevor ich sie tief in den Boden stieß und mich dann daran hoch und über den Hügel schwang. Meine Füße berührten die Erde, und ich rannte auf die Nebelwand zu, die über dem Schlachtfeld schwebte, wobei meine Stiefel Löcher in den weichen Untergrund bohrten. Aus dem Augenwinkel behielt ich Mýra im Blick, während der Nebel uns verschluckte und sich eisige Wassertropfen auf uns legten, bis in der verschwommenen Ferne dunkle Gestalten auftauchten.

Die Riki.

Die Feinde unseres Gottes stürmten als Schwarm aus Pelz und Eisen auf uns zu. Haare flatterten im Wind. Die Sonne glitzerte auf Klingen. Als ich sie sah, erhöhte ich mein Tempo, packte das Schwert fester und rannte den anderen ein Stück voraus.

Gleichzeitig ließ ich das Knurren in mir aufsteigen, aus der Tiefe, die in der Schlacht zum Leben erwacht. Schreiend fasste ich einen kleinen Mann mit fuchsfarbenen Fellen um die Schultern vorn in ihrer Linie ins Auge. Ich pfiff Mýra zu und lehnte mich gegen den Wind, während ich direkt auf ihn zusteuerte. Während wir immer näher kamen, wich ich zur Seite aus und zählte die Schritte, plante meinen Weg bis zu dem Geräusch, das ertönen würde, wenn schwere Körper aufeinanderprallten.

Ich bremste abrupt, als ich meinen Gegner erreicht hatte, und bleckte die Zähne. Mit geducktem Körper holte ich mit dem Schwert aus und schwang es auf seine Kehle zu.

Er hob seinen Schild gerade noch rechtzeitig und warf sich nach links, von wo aus er mich mit seiner Klinge traf. Schwarze Flecken explodierten vor meinen Augen, und meine Lunge pfiff hinter den verletzten Rippen. Es verschlug mir den Atem. Stolpernd versuchte ich, auf den Beinen zu bleiben, bevor ich doch stürzte. Aber ich ignorierte den an meiner Flanke aufblühenden Schmerz und holte mit der Axt aus. Sein Schwert traf die Klinge über seinem Kopf, stieß sie zurück, doch das genügte mir schon.

Seine Flanke war völlig offen.

Ich stieß mein Schwert hinein und traf den Saum seiner Panzerweste. Sein Kopf flog zurück, der Mund zum Schrei geöffnet, als Mýras Schwert in einer geschmeidigen Bewegung zu seinem Hals fuhr und Muskeln wie Sehnen durchtrennte. Ich riss meine Klinge heraus, und heißes Blut regnete auf mein Gesicht. Mýra stieß den Mann mit dem Absatz ihres Stiefels noch beiseite, da tauchte hinter ihr im Nebel schon ein weiterer Schatten auf.

»Runter!«, schrie ich und ließ meine Axt fliegen.

Sie duckte sich zu Boden, und die Klinge grub sich in die Brust eines Riki, der sogleich auf die Knie fiel. Sein riesiger Körper begrub sie im Dreck. Das aus seinem Mund sprudelnde Blut färbte ihre blasse Haut leuchtend rot.

Ich rannte zu ihr, griff mit den Fingern von der anderen Seite in seine Panzerweste und zerrte ihn mit dem Gewicht meines Körpers von ihr herunter. Sobald sie befreit war, sprang sie auf die Füße, griff wieder nach ihrem Schwert und blickte um sich. Ich zerrte meine Streitaxt mit Mühe aus den Knochen seiner Brust.

Der Nebel begann sich im warmen Schein der Morgensonne zu lichten. Vom Hügel bis hinunter zum Fluss war das Gelände voller kämpfender Clangefährten, die alle zum Wasser hinabdrängten. Ein Stück weiter weg auf dem Schlachtfeld stieß mein Vater sein Schwert erst nach hinten in den Bauch eines Riki, dann nach vorn ins Gesicht eines anderen. In seinen Augen stand Kampfeslust, und aus seiner Brust drang donnerndes Kriegsgeschrei.

»Komm mit!«, rief ich Mýra hinter mir zu, während ich über gefallene Körper sprang und Richtung Flussufer rannte, wo heftiger gekämpft wurde.

Ich traf einen Riki in der Kniekehle und brachte ihn so im Vorbeilaufen zu Fall. Bei einem zweiten machte ich es genauso, hinterließ sie aber ansonsten jemand anderem.

»Eelyn!« Mýra rief meinen Namen, gerade als ich gegen einen anderen Körper stieß und kräftige Arme mich so fest umklammerten, dass mir das Schwert aus den Fingern glitt. Grunzend versuchte ich, mich freizustrampeln, doch er war zu stark. Ich biss in seinen Arm, bis ich Blut schmeckte und seine Hände mich zu Boden stießen. Der harte Aufprall ließ mich nach Luft ringen, während ich mich auf den Rücken rollte und nach meiner Axt griff. Doch das Schwert des Riki sauste bereits auf mich nieder. Ich rollte weiter und tastete nach dem Messer an meinem Gürtel. Ich fand es und stand wieder auf den Füßen ihm gegenüber. Unser Atem schwebte in weißen Wolken zwischen uns.

Hinter mir kämpfte Mýra im Nebel. »Eelyn!«

Er stürzte sich mit gezücktem Schwert auf mich, und ich fiel wieder nach hinten. Der Hieb zerschnitt meinen Ärmel und den kräftigen Muskel darunter. Da schleuderte ich mein Messer, und er duckte seinen Kopf zur Seite. Ich verpasste ihn knapp, streifte nur sein Ohr. Er starrte mich aus feurigen Augen an.

Rückwärts krabbelnd versuchte ich, mich wieder aufzurichten, während er sein Schwert aufhob. Mein Blick fiel auf das vergossene Aska-Blut auf seiner Brust und seinen Armen, als er auf mich zumarschierte. Mein Schwert und meine Axt lagen hinter ihm auf dem Boden.

»Mýra!«, schrie ich, doch sie war jetzt ganz außer Sichtweite.

Ich blickte mich um und spürte etwas in mir aufflammen, was ich während einer Schlacht nur selten verspürte – lähmende Angst. Es war keine Waffe in Reichweite, und dass ich ihn mit bloßen Händen erledigen könnte, war ausgeschlossen. Mit zusammengebissenen Zähnen kam er immer näher und stapfte dabei wie ein Bär durchs hohe Gras.

Ich dachte an meinen Vater. An seine von Erde verdreckten Hände. An seine tiefe, dröhnende Stimme. Und an mein Zuhause. An das in der Dunkelheit flackernde Feuer. An den Morgenfrost auf der Lichtung.

Ich stand nur da, presste die Finger in die brennende Wunde an meinem Arm und sprach leise Sigrs Namen, bat ihn, mich aufzunehmen. Mich willkommen zu heißen. Meinen Vater zu beschützen. »Vegr yfir fjor«, flüsterte ich.

Mein Feind verlangsamte seine Schritte, schien auf die Bewegung meiner Lippen zu achten.

Der Pelz unter seiner Panzerweste wehte in der feuchten Brise gegen sein kantiges Kinn. Blinzelnd presste er die Lippen zu einem geraden Strich zusammen, als er die letzten Schritte auf mich zuging und ich nicht floh. Ich würde mich nicht durch eine Klinge im Rücken zur Strecke bringen lassen.

Der Stahl funkelte, als er das Schwert über seinen Kopf hob, bereit, es niederzustoßen. Ich schloss die Augen. Ich atmete. Trotzdem sah ich den grauen Himmel, der sich im Fjord spiegelte. Die Weide blühte am Berghang. Der Wind wehte durch mein Haar. Ich lauschte den Geräuschen meiner wütenden Clangefährten. Der Schlacht in einiger Entfernung.

»Fiske!« Eine tiefe, erstickte Stimme drang durch den Nebel, fand zu mir, und ich riss die Augen auf.

Der Riki vor mir erstarrte. Sein Blick ging zur Seite, von wo die Stimme kam.

Schnell.

»Nein!« Eine zerzauste wilde, blonde Mähne prallte gegen ihn, sodass ihm das Schwert aus der Hand geschlagen wurde. »Fiske, nicht.« Er packte den Mann an seiner Panzerweste und hielt ihn fest. »Nicht.«

Ich begriff nicht, das Blut in meinen Adern stockte, mein Herz blieb stehen.

»Was machst du da?« Der Riki riss sich los, hob sein Schwert vom Boden auf und wollte sich an ihm vorbei erneut auf mich stürzen.

Der andere wirbelte herum, warf die Arme um den Riki und riss ihn zurück.

Da sah ich es – sein Gesicht.

Und ich erstarrte. Ich wurde zum Eis auf dem Fluss. Zum Schnee am Berghang.

»Iri.« Es war nur der Geist eines Wortes, das ich hauchte.

Sie hörten auf zu kämpfen, starrten mich beide mit weit aufgerissenen Augen an, und es drang noch tiefer in mein Bewusstsein. Was ich da sah. Wen ich sah.

»Iri?« Mit zitternden Händen umklammerte ich meine Panzerweste, und Tränen traten mir in die Augen. Der Sturm in meinem Inneren war das glühende Zentrum des uns umgebenden Chaos.

Der Mann mit dem Schwert sah mich an, musterte mein Gesicht und hatte sichtlich Mühe zu begreifen. Doch ich hatte nur Augen für Iri. Für den Schwung seines Kinns. Sein Haar – das wie Stroh in der fahlen Sonne leuchtete. Das an seinem Hals verschmierte Blut. Hände wie die meines Vaters.

»Was soll das, Iri?« Der Riki umklammerte sein Schwert, an dessen Klinge immer noch mein Blut klebte.

Ich konnte ihn kaum hören, konnte kaum denken. Alles wurde von der Flut dieses Anblicks fortgerissen.

Iri kam langsam auf mich zu und sah mich dabei unverwandt an. Mein Atem stockte, als er die Hände an mein Gesicht legte und sich so nah zu mir beugte, dass ich seinen Atem an meiner Stirn fühlte.

»Lauf, Eelyn.«

Er ließ mich gehen, und meine Lungen tobten, flehten nach Luft. Ich drehte mich um und hielt in dem Nebel nach Mýra Ausschau. Ich wollte meinen Vater rufen, doch ich konnte nicht atmen.

Er war verschwunden, vom Nebel verschluckt, und der Riki mit ihm.

Als wären sie Geister.

Als wären sie nie da gewesen.

Und das konnten sie doch auch nicht gewesen sein. Denn das war Iri, den ich zuletzt vor fünf Jahren gesehen hatte. Damals lag er tot im Schnee.

2. KAPITEL

Ich brach durch den Nebel und rannte, so schnell meine Füße mich trugen, zum Fluss. Mýra folgte mir, ihr Schwert schwingend, auf den Fersen. Mein Blick war auf die Bäume gerichtet, dorthin, wo Iri verschwunden war. Meine Augen sprangen von Schatten zu Schatten und hielten nach flachsblonden Strähnen im Dunkel des Waldes Ausschau.

Eine Frau sprang aus dem Schutz der Bäume hervor, doch ihr Schrei erstarb, als Mýra von der Seite ein Messer in sie stieß. Sie zog es durch die Kehle und ließ den Körper sogleich fallen, um mit mir im Rennen Schritt zu halten.

Da ertönte der Pfiff zum Rückzug für die Riki, und die noch im Kampf umschlungenen Körper lösten sich voneinander. Zurück blieb die von Toten rot gefärbte grüne Wiese. Ich lief zwischen den sich zurückziehenden Riki hindurch, blieb aber bei jedem blonden Mann stehen, um ihm ins Gesicht zu blicken.

»Was tust du da?« Mýra riss mich zurück, und Verwirrung stand in ihr scharf gezeichnetes Gesicht geschrieben.

Die Letzten verschwanden zwischen den Bäumen hinter ihr. Ich drehte mich um und suchte nach der blauen Wolltunika, die mein Vater unter seiner Rüstung trug. »Aghi!«

Die Köpfe vieler Aska auf dem Schlachtfeld wandten sich zu mir.

Mýra bekam meinen Arm zu fassen und presste den Handballen auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. »Eelyn.« Sie zog mich an sich. »Was ist denn? Was ist los?«

Während der Nebel sich wie eine aufsteigende Wolke vom Boden löste, erspähte ich in einiger Entfernung das Gesicht meines Vaters.

»Aghi!« Mit rauer Stimme rief ich seinen Namen.

Er hob das Kinn bei dem erstickten Laut und ließ den Blick über die mit Körpern übersäte Fläche streifen. Als er mich entdeckte, verwandelte sich sein sorgenvoller Ausdruck in Furcht. Er ließ seinen Schild fallen und rannte zu mir.

Ich sank auf die Knie, mein Verstand schien zu schwimmen, mir war schwindelig. Er ließ sich neben mir fallen, strich mit den Händen über meinen Körper, fuhr mit den Fingern über die von Blut und Schweiß getränkte Haut. Sorgsam betrachtete er mich von oben bis unten, und Kummer stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Ich packte ihn bei seinem Brustpanzer und zwang ihn so, mir in die Augen zu sehen. »Da war Iri.« Den Worten folgte ein Schluchzen.

Ich sah ihn immer noch vor mir. Seine hellen Augen. Die Finger, die mein Gesicht berührten.

Der Blick meines Vaters ging zu Mýra, bevor er mit dem zuvor angehaltenen Atem seufzend seine Angst ausstieß. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich an. »Was ist geschehen?« Dann fiel sein Blick auf das Blut, das immer noch aus meinem Arm sickerte. Er ließ mich los und zückte sein Messer, um damit ein Stück von der Tunika eines toten Riki, der neben uns lag, abzuschneiden.

»Ich habe ihn gesehen. Ich habe Iri gesehen.«

Er band den Stofffetzen um meinen Arm und zog ihn fest. »Was redest du da?«

Ich stieß weinend seine Hände weg. »Hör mich an! Iri war hier! Ich habe ihn gesehen!«

Seine Hände ruhten endlich, sein Blick zeugte von Verwirrung.

»Ich habe mit einem Mann gekämpft. Er wollte mich gerade …« Ich erschauerte, weil ich mich daran erinnerte, wie nah ich dem Tode gekommen war – näher als je zuvor. »Iri erschien aus dem Nebel und hat mich gerettet. Er gehörte zu den Riki.« Ich stand auf, ergriff seine Hand und zog ihn in Richtung der Bäume. »Wir müssen ihn finden!«

Doch mein Vater blieb wie angewurzelt stehen. Er richtete das Gesicht gen Himmel und blinzelte ins Sonnenlicht.

»Hörst du nicht? Iri lebt!«, schrie ich und presste mit der anderen Hand meinen verletzten Arm an mich, um den gewaltig pochenden Schmerz der Wunde zu dämpfen.

Er richtete seinen Blick wieder auf mich, voller Tränen, die wie kleine weiße Flammen aussahen, in den Augenwinkeln. »Sigr. Er hat Iris Seele geschickt, um dich zu retten, Eelyn.«

»Was? Nein.«

»Iri hat es nach Sólbjǫrg geschafft.« Seine Worte waren furchterregend zärtlich und verrieten eine Seite meines Vaters, die er sonst nie zeigte. Er trat auf mich zu und sah mir lächelnd in die Augen. »Sigr hat dich auserwählt, Eelyn.«

Mýra stand hinter ihm und riss unter ihren zerzausten rotbraunen Zöpfen die grünen Augen weit auf.

»Aber …«, würgte ich hervor. »Ich habe ihn gesehen

»Das hast du.« Eine einzelne Träne rollte über die raue Wange meines Vaters und verschwand in seinem Bart. Er zog mich an sich, nahm mich fest in seine Arme, und ich schloss die Augen. Der Schmerz in meinem Arm war inzwischen so stark, dass ich meine Hand kaum noch spürte.

Ich blinzelte und versuchte zu verstehen. Ich hatte ihn gesehen. Er war da gewesen.

»Wir werden heute Abend ein Opfer bringen.« Er ließ mich los und presste dann die Hände noch mal an mein Gesicht. »Ich glaube, ich habe dich noch nie so nach mir schreien gehört. Du hast mir Angst gemacht, Sváss.« Ein Lachen drang tief aus seiner Brust.

»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich … ich dachte nur …«

Er wartete, bis ich ihm wieder in die Augen sah. »Seine Seele hat ihren Frieden gefunden. Dein Bruder hat dir heute das Leben gerettet. Freu dich.« Er schlug mit der Hand so fest gegen meinen gesunden Arm, dass ich fast umkippte.

Ich wischte mir mit der Hand über die feuchten Wangen und wandte mich von den Gesichtern der anderen ab, die mich beobachteten. Nur ganz selten weinte ich vor den Angehörigen meines Clans. Ich fühlte mich dadurch klein, schwach, wie das Gras des frühen Winters unter unseren Stiefeln.

Nachdem ich die Tränen runtergeschluckt und meine Miene wieder unter Kontrolle gebracht hatte, nickte mein Vater wohlwollend. Das hatte er mich gelehrt – stark zu sein. Mich zu stählen. Er wandte sich wieder dem Schlachtfeld zu, kehrte an die Arbeit zurück, und ich folgte ihm zusammen mit Mýra, während ich versuchte, meine durch das Schluchzen noch stockende Atmung zu beruhigen. Die in meinem Kopf wogenden Wellen zu besänftigen. Wir marschierten zu unserem Lager und sammelten unterwegs die Waffen gefallener Aska-Krieger ein. Ich beobachtete meinen Vater aus dem Augenwinkel, und Iris Gesicht ging mir dabei nicht aus dem Kopf.

Am Rand eines kleinen Tümpels blieb ich stehen und betrachtete mein Spiegelbild. Auf Gesicht und Hals hatte ich Schmutzflecken, in den langen goldblonden, geflochtenen Zöpfen klebte getrocknetes Blut. Meine Augen waren so eisblau wie die von Iri. Ich holte tief Luft, schaute zu den zarten weißen Wolken hinauf, die über den Himmel trieben, und versuchte, nicht schon wieder zu weinen.

»Hier«, rief Mýra mir zu, die gerade über einer Aska-Frau kauerte. Sie lag mit offenen Augen auf der Seite und hatte die Arme ausgebreitet, als strecke sie sie nach uns aus.

Sorgsam löste ich ihren Gürtel und die Schwertscheide und legte sie zu den anderen, bevor ich mich an ihrer Panzerweste zu schaffen machte. »Kanntest du sie?«

»Ein wenig.« Mýra schloss mit den Fingerspitzen die Augen der Frau. Sie strich ihr noch behutsam das Haar aus dem Gesicht, bevor sie leise zu sprechen begann: »Aska, du bist am Ende deiner Reise angelangt.«

Im nächsten Atemzug fiel ich in die rituellen Worte ein, die wir auswendig kannten. »Wir bitten Sigr, deine Seele in Sólbjǫrg willkommen zu heißen, wo die lange Reihe der Angehörigen unseres Volkes den dunklen Pfad mit Fackeln erhellt.«

Ich verstummte und ließ Mýra als Erste sprechen: »Richte meinem Vater und meiner Schwester meine Liebe aus. Bitte sie, über mich zu wachen. Sag ihnen, meine Seele wird dir folgen.«

Ich schloss die Augen und sagte den mir so vertrauten Wunsch: »Richte meiner Mutter und meinem Bruder meine Liebe aus. Bitte sie, über mich zu wachen. Sag ihnen, meine Seele wird dir folgen.«

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, bevor ich die Augen wieder aufschlug und noch einmal in das friedliche Gesicht der Frau blickte. Über Iris Körper hatte ich diese Worte nicht sprechen können, nicht wie damals, als meine Mutter gestorben war, aber Sigr hatte ihn trotzdem aufgenommen.

»Hast du so etwas jemals gesehen?«, flüsterte ich. »Etwas, das nicht wirklich ist?«

Mýra blinzelte. »Es war wirklich. Iris Seele ist wirklich.«

»Aber er war älter – schon ein Mann. Er hat mit mir gesprochen. Er hat mich berührt, Mýra.«

Sie stand auf und warf sich einen Armvoll Äxte über die Schulter. »Ich war an jenem Tag dabei, Eelyn. Iri ist gestorben. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Das war wirklich.« Es war dieselbe Schlacht, in der auch Mýras Schwester fiel. Vor jenem Tag waren wir schon befreundet gewesen, aber wir hatten einander bis dahin nicht so dringend gebraucht.

Ich erinnerte mich so deutlich … sein Bild, wie eine Spiegelung im Eis. Iris lebloser Körper in dem Graben. Er lag auf dem makellos weißen Schnee, Blut sickerte aus ihm heraus und bildete eine Lache. Ich konnte immer noch sein um den Kopf ausgebreitetes blondes Haar sehen und die leeren, weit aufgerissenen Augen, die ins Nichts starrten.

»Ich weiß.«

Mýra streckte die Hand aus und drückte meine Schulter. »Dann weißt du auch, dass es nicht Iri war – nicht aus Fleisch und Blut.«

Ich nickte und schluckte schwer. Jeden Tag betete ich für Iris Seele. Wenn Sigr ihn geschickt hatte, um mich zu beschützen, dann war er tatsächlich in Sólbjǫrg – dem Jenseits unseres Volkes. »Ich wusste, dass er es schaffen würde.« Mühsam atmete ich gegen den Kloß in meinem Hals an.

»Das wussten wir alle.« Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ich blickte ein letztes Mal auf die Frau hinab, die zwischen uns lag. Wir würden sie hier so zurücklassen, wie sie gestorben war – ehrenhaft. Wie wir es mit all unseren gefallenen Kriegerinnen und Kriegern taten.

So, wie wir Iri zurückgelassen hatten.

»Sah er noch so gut aus wie früher?« Mýra grinste mich an und suchte meinen Blick.

»Er war wunderschön«, flüsterte ich.

3. KAPITEL

Ich biss auf den dicken Lederriemen meiner Schwertscheide, während die Heilerin den Schnitt in meinem Arm nähte. Der war tiefer, als ich zugeben wollte.

Was auch immer Kalda dachte, ihre Miene verriet es nicht. »Ich kann immer noch kämpfen«, sagte ich. Das war keine Frage. Und sie hatte mich schon oft genug nach Schlachten behandelt, um das zu wissen.

Mýra seufzte neben mir, obwohl es so aussah, als amüsiere sie sich auch ein wenig. Ich funkelte sie an, bevor sie etwas sagen konnte.

»Das ist deine Entscheidung.« Kalda blickte mich unter ihren dunklen Wimpern hervor an.

Es war nicht das erste Mal, dass sie mich zusammenflickte, und würde nicht das letzte Mal sein. Aber nur einmal, als ich mir zwei Rippen gebrochen hatte, erklärte sie mir, ich sei kampfunfähig. Ich hatte fünf Jahre gewartet, um Iri in meiner zweiten Saison als Kriegerin zu rächen, und dann saß ich einen Monat lang im Lager, putzte Waffen und kochte vor Wut, während mein Vater und Mýra ohne mich in die Schlacht zogen.

»Es wird nicht heilen, wenn du deine Streitaxt benutzt.« Kalda ließ die Nadeln in eine Schale neben ihr fallen und wischte sich die Hände an ihrer blutbefleckten Schürze ab.

Ich starrte sie an. »Aber ich muss meine Axt benutzen.«

»Nimm einen Schild in die Hand«, meinte Mýra finster und deutete auf meinen Arm.

»Ich benutze keinen Schild«, erwiderte ich schnippisch. »Ich kämpfe mit einem Schwert in der Rechten und einer Axt in der Linken, wie du weißt.« Die Art zu ändern, wie ich kämpfte, würde mich nur töten.

Kalda seufzte. »Dann musst du eben wiederkommen, damit ich es noch mal zunähe, wenn du es wieder aufreißt.«

»Schön.« Ich stand auf und zog den Ärmel über meinen geschwollenen Arm hinunter, wobei ich versuchte, mir den Schmerz nicht ansehen zu lassen.

Der Aska, der hinter uns gewartet hatte, setzte sich auf den Schemel, und Kalda begann, den Riss in seiner Wange zu versorgen. »Ich habe gehört, dass Sigr dich heute ausgezeichnet hat.« Er war ein Freund meines Vaters. Wie eigentlich alle.

»Das hat er«, bestätigte Mýra und grinste hinterhältig. Sie liebte es, mich verlegen zu sehen.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Er streckte eine Faust aus und klopfte damit gegen meine unversehrte Schulter, während ich es mit seiner Schulter ebenso machte.

Dann verließen wir das übel riechende Zelt und schlenderten durch das Lager, während die untergehende Sonne den Himmel in warmes Licht tauchte und mein Magen vom Duft des über den Feuern gekochten Abendessens zu knurren begann.

»Ich sehe dich morgen früh.« Mýra drückte meine Hand, bevor sie sich abwandte.

»Vielleicht«, sagte ich und sah ihr nach, wie sie auf ihr Zelt zuging. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob die Riki nicht schon vor Sonnenaufgang zurück sein würden.

Mein Vater stand mit vor der Brust verschränkten Armen da und starrte ins Feuer. Hände und Gesicht hatte er sich gewaschen, aber ansonsten war er noch voller Blut- und Dreckspritzer.

»Wurdest du versorgt?« Er zog die buschigen Brauen in die Höhe.

Ich nickte und hob das Schwertfutteral über den Kopf. Er schnallte mir die Axtscheide vom Rücken und nahm meinen Arm in seine Hände, um ihn zu untersuchen.

»Das geht schon«, sagte ich. Er machte sich nicht oft Sorgen um mich, aber wenn er es tat, konnte ich es ihm ansehen.

Er strich mir die widerspenstigen Strähnen aus dem Gesicht. Ich war eine Aska-Kriegerin, aber immer noch auch seine Tochter. »Du ähnelst deiner Mutter mit jedem Tag mehr. Bist du bereit?«

Ich lächelte ihn erschöpft an. Wenn mein Vater glaubte, Sigr habe mir Iris Seele geschickt, konnte ich es auch glauben. Jeder andere mögliche Gedanke machte mir zu viel Angst. »Bereit.«

Wir durchquerten das Lager Seite an Seite. Ich spürte die Blicke aller auf mir, doch mein Vater schenkte niemandem Beachtung, was meine Anspannung verringerte. Das Versammlungszelt, das wir auch für unsere Riten nutzten, befand sich am Ende des Lagerplatzes. Weißer Rauch stieg aus seiner Mitte in den Abendhimmel. Espen stand wie eine riesige Statue im Eingang, der Tala neben ihm. Der Anführer unseres Clans war unser großartigster Kämpfer und der älteste Aska-Anführer seit drei Generationen. Er reckte das Kinn und kraulte seinen langen Bart.

»Aghi«, rief er meinem Vater zu.

Der holte drei Münzen aus seiner Weste und gab sie mir. Dann schritt er auf die beiden zu und packte Espen zur Begrüßung an der Schulter. Espen tat das Gleiche, bevor er das Wort ergriff. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber hinter der Schulter meines Vaters traf sein Blick meinen. Plötzlich fühlte ich mich unsicher.

»Eelyn.«

Ich zuckte zusammen. Hemming wartete schon am Tor zum Gehege.

Ich legte die Münzen in seine ausgestreckte Hand, und sogleich ließ er sie in die schwere Lederbörse fallen, die an seinem Gürtel hing.

Er lächelte mich an. Ihm fehlte ein Schneidezahn, nachdem ein Pferd ihn vor zwei Wintern getreten hatte. »Ich habe gehört, was geschehen ist.« Er kletterte über den Zaun des Geheges und packte eine hellgraue Ziege bei den Hörnern. »Ist die hier gut?«

Ich ging in die Hocke, um das Tier genau zu betrachten. »Dreh sie um.« Hemming tat genau das, doch ich schüttelte den Kopf. »Was ist mit ihm?« Ich zeigte auf einen großen weißen Bock in der Ecke.

»Der kostet vier Penningr.« Hemming hatte Mühe, die graue Ziege festzuhalten.

Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter, und als ich hochschaute, stand mein Vater neben mir. »Was ist los?«

Hemming ließ das Tier frei und richtete sich unter dem Blick meines Vaters gerade auf. »Der kostet vier Penningr.«

»Ist er der Beste?«

»Ja, Aghi.« Hemming nickte. »Der Beste.«

»Dann eben vier Penningr.« Er holte eine weitere Münze hervor und warf sie Hemming zu.

Ich stieg in das Gehege, um dem Jungen zu helfen, den Bock zum Tor zu bringen. Mein Vater fasste ein Horn und ich das andere, als wir ihn zum Altar in der Mitte des Versammlungszelts führten. Das Feuer brannte schon heftig. Die lodernden Flammen wärmten mich durch meine Rüstung hindurch.

»Darf ich mich euch anschließen?«, ertönte Espens Stimme hinter uns.

Mein Vater drehte sich um und machte große Augen, bevor er nickte.

Der Tala folgte ihm und betrachtete mich. »Du hast Sigr Ehre gemacht, indem du seine Feinde vernichtet hast, Eelyn. Dafür hat er dich ausgezeichnet.«

Ich nickte nervös und biss mir auf die Unterlippe. Noch nie zuvor hatte der Tala mich direkt angesprochen. Als Kind hatte ich mich vor ihm gefürchtet und mich bei Opferungen und anderen Zeremonien im Ritualhaus immer hinter Iri versteckt. Die Vorstellung von einem Menschen, der den Willen der Götter aussprach, gefiel mir nicht. Ich hatte Angst davor, was er in mir, in meiner Zukunft sehen könnte.

Espen trat an meine Seite, und gemeinsam führten wir das Tier zu der großen Mulde vor dem prasselnden Feuer. Mein Vater holte das kleine hölzerne Abbild meiner Mutter aus seiner Weste und reichte es mir. Ich nahm das von Iri aus meiner und stellte sie nebeneinander auf den Stein vor uns. Bei Opferungen musste ich immer an meine Mutter denken. Sie pflegte immer die Geschichte vom Riki-Gott Thora zu erzählen, der in Gestalt von Feuer und Flammen aus dem Berg brach und bis zum Fjord herunterkam. Sigr hatte sich aus dem Meer erhoben, um sein Volk zu beschützen. Und so zogen wir alle fünf Jahre in den Kampf, um seine Ehre zu verteidigen, getrieben von der Blutfehde zwischen uns.

Ich erinnerte mich nicht mehr an viel, was meine Mutter betraf, doch die Nacht, in der sie starb, war mir noch klar im Gedächtnis. Ich erinnerte mich an die stumme Flut der Herja, die mitten in der Nacht in unser Dorf geströmt war. Ihre Schwerter hatten im Mondlicht geblitzt, und ihre Gesichter hatten zwischen den dicken Pelzen, die sie um die Schultern trugen, totenbleich geleuchtet. Ich wusste noch, wie meine Mutter ausgesehen hatte, als sie am Ufer lag und ihr Blick brach. Mein Vater war von ihrem Blut bedeckt gewesen.

Ich saß nur da und hielt den noch warmen Leichnam meiner Mutter, während die Aska die Herja ins winterkalte Meer verfolgten, wo sie wie Dämonen in dem dunklen Wasser verschwanden. Wir hatten auch zuvor schon Überfälle erlebt, doch einen solchen noch nie. Sie waren nicht gekommen, um zu rauben, nur, um zu töten. Wen sie verschleppten, opferten sie ihrem Gott. Und keiner wusste, wo sie herkamen und ob sie überhaupt Menschen waren. Espen hatte einen ihrer getöteten Kämpfer in einen Baum am Eingang unseres Dorfes gehängt. Seine Knochen waren noch immer dort und klapperten im Wind. Seit damals hatten wir die Herja nicht wiedergesehen. Welcher Gott auch immer sie geschickt hatte, mochte ihren Zorn inzwischen vielleicht besänftigt haben. Trotzdem gefror uns schon bei ihrer Erwähnung noch immer das Blut in den Adern.

Iri und ich hatten während des Opfers geweint, das mein Vater am nächsten Morgen dargebracht hatte, um Sigr dafür zu danken, dass die Leben seiner Kinder verschont geblieben waren. Nur wenige Jahre später hatte er erneut geopfert – nachdem Iri gestorben war.

»Zück dein Messer, Eelyn«, befahl mein Vater und packte beide Hörner des Bocks.

Verwundert starrte ich ihn an. Bislang hatte ich immer nur hinter ihm gestanden, während mein Vater ein Opfer darbrachte.

»Das ist dein Opfer, Sváss. Zück dein Messer.«

Der Tala neben ihm nickte.

Also zog ich das Messer aus meinem Gürtel und sah, wie sich der Feuerschein in den Buchstaben meines Namens spiegelte, die in die glatte Klinge, direkt über dem Griff, eingraviert waren. Dieses Messer hatte mein Vater mir vor meiner ersten Kampfsaison vor fünf Jahren geschenkt. Seit damals hatte es mehr Leben beendet, als ich noch zählen könnte.

Ich kauerte mich neben den Bock, umfing seinen Leib mit meinen Armen und suchte mit den Fingern nach der pulsierenden Schlagader an seinem Hals. Dann setzte ich mein Messer an und holte tief Luft, bevor ich rezitierte: »Wir ehren dich, Sigr, mit diesem unbefleckten Opfer.« Das waren die Worte, die ich schon mein ganzes Leben lang aus dem Mund meines Vaters und seiner Clangenossen gehört hatte. »Wir danken dir für deine Fürsorge und deine Gnade. Wir bitten dich, folge uns, beschütze uns, bis zu dem Tag, wenn wir zur letzten Ruhe Sólbjǫrg erreichen.«

Ich zog die Klinge rasch über das weiche Fleisch des Bocks und hielt ihn mit dem anderen Arm fest, während er zappelte. Die Stiche an meinem Arm zogen, und der Schmerz strahlte bis in die Hand aus. Sein warmes Blut quoll über meine Hände in die Mulde, und ich presste das Gesicht in sein weißes Fell, bis er sich nicht mehr rührte.

Schweigend lauschten wir dem plätschernden Blut, und ich richtete den Blick auf die Abbilder meiner Mutter und meines Bruders auf dem Stein. Im warmen Schein leuchteten sie, während gleichzeitig Schatten über ihre geschnitzten Gesichter huschten.

Die Abwesenheit meiner Mutter hatte ich schon in dem Augenblick gespürt, als sie aufhörte zu atmen. Als habe mit dem letzten Atemzug auch ihre Seele den Körper verlassen. Bei Iri war es nie so gewesen. Ich spürte seine Gegenwart nach wie vor. Und vielleicht würde das immer so bleiben.

4. KAPITEL

Wir wachten mitten in der Nacht vom Warnpfiff auf. Vor unserem Zelt stampften die Pferde nervös, und mein Vater war schon auf den Beinen, noch bevor ich auch nur die Augen aufgeschlagen hatte.

»Auf, Eelyn.« Er war nur ein Schatten in der Dunkelheit. »Du hattest recht.«

Ich erhob mich, griff nach dem Schwert neben meiner Liege und versuchte, den brennend scharfen, geradezu wütenden Schmerz in meinem Arm wegzuatmen. Dann mühte ich mich mit meinen Stiefeln ab und zog mir die Panzerweste an, die mein Vater für mich schloss. Er zog mir auch den Riemen mit dem Schwertfutteral über Kopf und Brust, danach meine Axtscheide. Zum Zeichen, dass ich fertig sei, klopfte er mir schließlich auf den Rücken. Ich nahm das Abbild meiner Mutter von dem Platz neben seiner Liege und presste es an meine Lippen, bevor ich es ihm gab. Er verwahrte es in seiner Weste, während ich das von Iri einsteckte.

Dann glitten wir hinaus in die Dunkelheit und hinunter zum Ufer des Flusses, der eine Seite unseres Lagers begrenzte. Der sternenlose Himmel verschmolz mit dem hinter den Feuern pechschwarzen Umhang, der sich über das Land gelegt zu haben schien. Ich konnte sie dort draußen spüren.

Die Riki.

Donner grollte über uns, und der Wind roch eindeutig nach Sturm. Mein Vater drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. »Vegr yfir fjor.« Dann schob er mich ans andere Ende der Reihe, wo ich Mýra finden würde.

Mýra zog mich an sich, nahm die Axt aus dem Futteral auf meinem Rücken und reichte sie mir. Ich zog den Verband um meinen Arm noch mal fest und bemühte mich, das Taubheitsgefühl aus der Hand zu schütteln. Diesmal sagte sie es nicht, aber ich wusste, was sie dachte, weil ich das Gleiche dachte. Meine linke Seite war jetzt fast nutzlos. Ich hatte auch schon früher in der Dunkelheit mit meinem Clan gekämpft, aber noch nie so schwer verletzt. Der Gedanke verursachte mir Unbehagen.

»Bleib dicht bei mir.« Sie wartete, bis ich zustimmend nickte, bevor sie bis zur vordersten Front vorausging.

Der Kampf brach los, noch bevor wir an Ort und Stelle waren. Links von uns, nah am Wasser, begann das Geschrei, während es bei uns noch still war. Ich sprach meine Gebete und suchte mit den Augen unsere Umgebung auf verdächtige Bewegungen ab, als es anfing zu regnen. Neben mir hatte Mýra die Augen geschlossen und murmelte die uralten Worte.

Der nächste Pfiff klang wie der leise Ruf eines Vogels, und wir marschierten los, wobei wir uns leise als eine Einheit durch die Dunkelheit bewegten. Ich legte eine Hand auf den Rücken des Aska vor mir und spürte die warme Hand des Kriegers hinter mir. Im Gleichschritt zertraten unsere Stiefel die dünne Eisschicht auf dem Gras. Links war schon der Fluss zu hören, rechts lag der Wald still da, als dazwischen plötzlich vertraute Schlachtgeräusche zu hören waren.

Geräuschlos wie Fische tauchten vor uns die Riki auf.

Wir gingen vorwärts, bis ich sie hören konnte und Mýra mich mit dem Ellbogen anstieß, um mir zu verstehen zu geben, dass auch sie sie wahrgenommen hatte. Ich schnalzte mit der Zunge, und die Clangenossen um mich herum wiederholten das Geräusch, um die Nachricht so unter uns zu verbreiten. Sie waren nah. Mýra hob ihren Schild an, und ich drückte mich enger an sie. Wir beschleunigten unsere Schritte. Unter der Weste schlug mein Herz unregelmäßig und ließ meine schmerzenden Rippen zucken.

Gurgelndes Geheul neben uns kündigte an, dass die Riki jetzt auch unser Ende der Kampflinie erreicht hatten. Sobald ich eine Bewegung vor uns bemerkte, holte ich mit dem Schwert aus und traf auf die harte Oberfläche eines Schilds. Die Gestalt stieß Mýra zu Boden, doch da machte ich schon den nächsten Satz nach vorn, holte mit dem Schwert nach oben und zur Seite aus, bevor ich es niedersausen ließ. Diesmal hörte ich Knochen unter meiner Klinge knirschen. Ich trat nach dem Klumpen, riss mein Schwert heraus, und wir drängten weiter vorwärts. Der Regen wurde stärker. Gleichzeitig gaben die Wolken gerade so viel vom Mond frei, dass etwas Licht auf uns herabfiel.

Ich konnte nicht anders: Meine Augen streiften sogleich durch die Reihen der Riki auf dem Feld. Suchend.

Blitze zuckten über den Nachthimmel und die sich wie Insekten bewegenden zahllosen Kämpfer. Sie schienen über den Boden zu krabbeln, während alles immer wieder kurzzeitig weiß erleuchtet wurde. Der Donner schien um uns herum zu explodieren und ließ den Erdboden erzittern.

Mýra erwischte mit ihrem Dolch einen Mann am Oberschenkel und stieß ihn dann mit ihrem Schild um. Ich stürzte mich sogleich mit meiner Axt auf ihn und knurrte gegen den brennenden Schmerz in meinem Arm an. Mýra fing mich auf, als ich fiel, zog mich hoch und stieß mich vorwärts. Mit aller Kraft umklammerte ich den Stiel meiner Axt, während wir über seine Leiche sprangen und die Silhouette einer schreienden Frau sich mir von links näherte. Ich holte erneut aus und traf sie an der Seite. Sie ging zu Boden und fiel platschend in den Schlamm. Stolpernd versuchte ich, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Eelyn!«, rief Mýra nach mir, die schon in ein neues Gefecht verwickelt war, während ich noch nach meiner Axt suchte.

Ich fuhr mit den Fingern durch das Gras, bis ich den Stiel zu fassen bekam. »Hier bin ich!«, schrie ich und rannte in Richtung ihrer Stimme.

Wieder fuhr ein Blitz über den Himmel. Ich meinte, dazu ein Heulen und Zischen zu hören. Schließlich fand ich sie über einem weiteren toten Körper.

Wir hielten auf die Bäume zu, und mein Blick glitt über die Gestalten vor mir. Eine nach der anderen fällten wir sie, ahnten gegenseitig die Bewegungen des anderen, bis unser Weg frei war. Mýra legte sich mehr ins Zeug, um meine Schwäche wegen des Arms und der Rippen auszugleichen. Ich biss die Zähne zusammen, umklammerte mein Schwert nur noch fester und versuchte, mit den anderen mitzuhalten.

Und dann sah ich sie. Aus dem Augenwinkel – eine helle Flamme, die sich zwischen den Bäumen bewegte.

Ich blieb abrupt stehen, schlitterte noch ein Stückchen durch den Schlamm, und das Herz schlug mir bis zum Hals. »Iri.«

Ich rannte los, folgte ihm mit den Augen und wich Riki-Kämpfern aus, während ich auf den Waldsaum zulief. Er schwang seine Axt, schlug sie in einen Aska, riss sie wieder heraus und schlug einen anderen damit nieder. Neben ihm schwang ein Riki sein Schwert und fällte links und rechts von sich meine Clangefährten. Es war der Riki, der mir fast das Leben genommen hätte.

Immer leiser hörte ich Mýra hinter mir meinen Namen rufen. Doch ich folgte ihnen, während sie sich tiefer in den Wald zurückzogen.

Ich sprang über die Leichen auf dem Waldboden und duckte mich in den Schutz der Bäume. Schließlich schob ich mein Schwert zurück in sein Futteral und blieb so dicht wie möglich über dem Boden, während ich beim Laufen die Axt vor mir ausgestreckt hielt. Mein Magen zog sich zusammen, denn ich wusste, ich hätte stehen bleiben oder zu Mýra zurückkehren sollen.

Stattdessen folgte ich der vertrauten Gestalt tiefer in die Dunkelheit. Immer wieder zuckten Blitze durch die Nacht, und der Regen trommelte aufs Blätterdach über uns. Als eine Hand mich packte, riss ich den Arm zurück und schwang meine Axt. Die Finger umklammerten mein Handgelenk jedoch so unnachgiebig, dass ich sie schließlich fallen ließ. Ich stürzte rücklings zu Boden, da bekam die Hand meinen Stiefel zu fassen und zerrte mich in die entgegengesetzte Richtung. Vergeblich versuchte ich, nach den Bäumen zu greifen oder mich an etwas anderem festzuhalten, das an mir vorbeiglitt, während ich über den nassen Untergrund geschleift wurde und meine Rippen höllisch schmerzten.

Irgendwann packte der Schatten zu, zerrte mich auf die Beine und stieß mich gegen einen Baum.

Der Riki, der seine Klinge in meinen Arm gehauen hatte, starrte auf mich herab. Das Blau seiner Augen glitzerte wie feuriger Stahl in der Dunkelheit. Haare, die sich aus seinem Knoten gelöst hatten, umrahmten sein Gesicht. Seine breite Gestalt ragte bedrohlich über mir auf, und er krallte die Finger in meine Panzerweste, um mich festzuhalten.

»Hör auf, uns zu folgen.« Seine Stimme übertönte das Prasseln des Regens.

Ich tastete nach dem Messer in meinem Gürtel. »Wo ist er?«

Er gab mir einen Stoß, bevor er mich laufen ließ und mit großen Schritten zwischen den Bäumen verschwinden wollte.

Ich rannte ihm nach.

Plötzlich wandte er sich um und hob den Stiel seiner Axt, mit dem er mich an der Schulter traf. »Geh zurück. Jetzt«, knurrte er.

»Wo ist Iri?«, schrie ich.

Er stieß mich wieder zurück, sodass ich gegen einen anderen Baum prallte. Die Rinde kratzte an meiner Weste, während ich am Stamm entlang zu Boden rutschte.

Kaum war ich wieder auf den Beinen, folgte ich ihm erneut. »Wo ist er?« Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

Als er sich wieder umdrehte, riss er meinen verletzten Arm hoch und bohrte den Daumen in die frische Wunde, die er mir am Vortag zugefügt hatte. Schreiend fiel ich auf die Knie und spürte, wie die Fäden der Naht meine Haut durchrissen. Lichtblitze zuckten vor meinen Augen, und der Magen drehte sich mir um, als befände ich mich auf Wasser.

Er stand über mir, das Gesicht im Dunkeln verborgen. »Du wirst noch dafür sorgen, dass man uns tötet. Halte dich von Iri fern.«

Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, da drückte er noch fester zu, bis alles vor meinen Augen verschwamm. Ich würde gleich das Bewusstsein verlieren. Seine Stimme hallte noch in meinem Kopf wider, als ich in weiter Ferne den Pfiff der Aska zum Rückzug hörte.

»Fiske.« Iris Stimme kam von irgendwo hinter uns – eine Stimme, die ich durch und durch kannte.

Er stand, eine Axt in jeder Hand, hinter uns. »Lass uns verschwinden.« Er deutete mit dem Kopf auf den Waldsaum und mied meinen Blick.

»Warte!« Taumelnd kam ich auf die Beine, aber er lief bereits fort. »Iri!«

»Geh zurück, Eelyn, bevor dich jemand sieht.« Wie schwer ihm diese Worte fielen, war hinter der Härte seines Gesichtsausdrucks kaum zu erkennen.

Sein Gesicht.

Vor Staunen sprachlos, betrachtete ich ihn. Er war so blond wie ich und unsere Mutter, sah aber ansonsten aus wie unser Vater. Seine Augen und die breiten Schultern waren genau die gleichen. Er war kein Junge mehr, aber er war es. Das war mein Bruder.

»Du bist es wirklich«, stieß ich mit rauer Stimme atemlos hervor. Ich schob die Axt in das Futteral auf meinem Rücken und sah ihn nur an.

»Iri«, warnte der Riki ihn.

»Geh.« Iri wandte mir erneut seinen Rücken zu. »Vergiss, dass du mich gesehen hast.«

Ich lehnte mich an den Baumstamm und kniff kurz die Augen zusammen, um gegen den Schmerz in meinem Arm anzukämpfen. Und gegen den Schmerz in meiner Brust. Denn Iri war am Leben. Und dass er lebendig war, bedeutete Schreckliches. Etwas viel Schlimmeres, als ihn zu verlieren.

»Iri?« Eine andere Stimme schallte durch den Wald, und meine Füße rutschten in dem Matsch einfach unter mir weg.

Iri blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich langsam um, und sein Blick wanderte suchend zu den uns umgebenden Bäumen.

Vor ihm trat ein hochgewachsener Mann zwischen den Bäumen hervor an eine Stelle, die vom Mondlicht erhellt wurde. »Fiske?«

Die drei sahen einander an, und die Luft um mich herum wurde eiskalt. Meine Sinne waren hellwach. Ich zückte mein Messer und blickte Richtung Fluss. Ich war zwar nicht stärker als sie, aber selbst verletzt wahrscheinlich schneller als sie alle drei.

Ich konnte es schaffen.

Iri biss die Zähne zusammen, und irgendwas schien in ihm zu arbeiten, bevor er Fiske ansah. Er nickte kaum merklich, bevor er die Augen senkte und es mir den Atem verschlug.

Fiske stürzte bereits auf mich zu.

Ich stieß mich von dem Baumstamm ab, doch er fing mich und riss mich zurück. Seine Finger legten sich um meinen Hals, und er drückte mit den Daumen auf meine Schlagader. Ich trat, versuchte, mich loszureißen, doch sein Griff war so fest, dass ich keine Luft bekam. Ich grub meine Fingernägel in seine Hände, während mein Gesichtsfeld immer kleiner wurde. Hinter ihm stierte Iri weiter zu Boden.

Fiskes Blick bohrte sich dagegen in meine Augen, und seine Hände waren wie Eisenklammern. Mein Puls wurde schwächer und mein Körper mit jedem Atemzug, der mir fehlte, schwerer. Ich blinzelte und richtete die Augen gen Himmel, wo jetzt zwischen den Baumwipfeln die Sterne glitzerten. Das Hämmern meines Herzens dröhnte mir in den Ohren. Ein Schlag. Ein weiterer.

Dann nur noch Dunkelheit.

5. KAPITEL

Vom krachenden Lärmen hölzerner Räder, die sich durch steinigen Schlamm mühten, und dem Wechsel von Licht und Schatten vor meinen geschlossenen Augenlidern kam ich zu mir. Ich versuchte, den Geruch zuzuordnen.

Winter. Harz und Holzrauch. Ich öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah klaren blauen Himmel über mir. Das Hufgetrampel von Pferden. Ein sich bewegender Wagen.

Ich warf meinen Oberkörper nach vorne, setzte mich aufrecht hin und kämpfte, um auf die Füße zu kommen. Doch dann fiel ich wieder auf den Rücken. Ich war an den Handgelenken gefesselt, und die Wunde an meinem Arm blutete frisch durch den Stoff am Ärmel. Um mich herum ritten Riki, und einige von ihnen schauten zu mir. Ich riss die Augen auf und versuchte, etwas zu erkennen.

Wir befanden uns im Ost-Tal. Bewegten uns in Richtung Gebirge. Auf Thoras Berg zu.

Vor und hinter mir marschierten Riki in großer Zahl.

Mein Herz pochte wild, mein Atem ging schnell und stieß Nebelwolken in die Kälte aus. Ich duckte mich und betrachtete den Saum des Waldes zu meiner Rechten.

Gerade als ich mich an der äußeren Kante des Wagens festkrallte, um mich auf einen verzweifelten Absprung vorzubereiten, tauchte er in meinem Blickfeld auf, und ich erstarrte. Iri ritt hinter mir auf einem silbergrauen Pferd, und angespannt bohrten sich seine Augen in meine. Mit einem unmerklichen Kopfschütteln gab er mir zu verstehen, nach vorne zu schauen. Ich wandte den Kopf und sah eine Reihe Bogenschützen, die Seite an Seite ritten. Auf ihren Rücken einsatzbereit die Bögen und auf Kniehöhe Köcher voller Pfeile, die mit gepunkteten Federn geschmückt waren.

Ich schätzte ab, wie weit es von mir bis zu den Bäumen war. Bevor ich es in Deckung geschafft haben würde, hätte ich wohl fünf oder sechs Pfeile im Rücken. Wenn mich nicht zuvor schon einer der Männer mit seinem Pferd erwischte.

Ich versuchte nachzudenken. Aus der Wunde an meinem Arm sickerte immer noch Blut, und die Schwellung in meinem Gesicht pochte. Ich leckte mir die Lippen und schmeckte getrocknetes Blut. In dem Wagen vor mir lagen zwei Männer auf dem Rücken, einem fehlte ein Bein, und das Gesicht des anderen war von blutigen Verbänden verdeckt. Ich setzte mich und zog die Knie an die Brust.

Iri beobachtete mich nach wie vor aufmerksam. Das dunkle Leder seiner Panzerweste ließ sein langes Haar wie einen eingefrorenen Wasserfall blutgetränkter Zöpfe wirken. Sein dreckverkrustetes Gesicht mit den markanten Wangenknochen und den runden blauen Augen.

Augen, die ich bereits mein ganzes Leben kannte.

Ich drückte die Handflächen gegen die Stirn und dachte daran, wie ich ihn vor fünf Jahren zuletzt gesehen hatte. In jeder Hand eine Axt, kämpfte er an meiner Seite auf einer schneebedeckten Lichtung. Schneeflocken in seinem Haar. Blut an seinen Händen. Er war mit einem jungen Riki in einen Kampf verwickelt gewesen, bevor beide über die Kante in eine tiefe Erdspalte gefallen waren. Ich konnte immer noch innerlich meinen eigenen Schrei hören, als ich Iri verschwinden sah. Auf Händen und Knien war ich damals an die Kante gekrochen, und der Boden hatte unter mir fast nachgegeben. Iri hatte auf dem Rücken gelegen, und aus einer klaffenden Wunde waren seine Eingeweide hervorgetreten. Seine Augen waren bereits leblos gewesen und hatten leer in den Himmel gestarrt. Und der Riki-Junge neben ihm war halb vom Schnee verschluckt.

Ich sah auf, und für einen weiteren stillen Atemzug fixierte mich Iris Blick, als würde auch er sich in diesem Augenblick an den gleichen Moment erinnern. Und dann trieb er sein Pferd an, durchschnitt die Gruppe von Riki zu meiner Linken und verschwand.

Vor mir über dem Tal wurde der Berg größer. Dunkles Schiefergebirge verschmolz nach und nach mit dem grünen Wald unterhalb des schneebedeckten Gipfels. Fern des Fjords. Weg von zu Hause.

Ich wusste nicht, wo die Riki lebten, aber wir mussten uns auf dem Weg zu einem ihrer Dörfer befinden. Und bis zur Schneeschmelze würde kein Weg zurück ins Tal führen. Wenn ich mich jetzt befreien könnte, würde ich es noch zurück zum Fjord schaffen.

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