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Immerwelt - Der Anfang

»Vollkommen einzigartig und absolut fesselnd - ich konnte es nicht aus der Hand legen! Was für eine wunderbar krasse Welt.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Sarah J. Maas

»Immerwelt - der Anfang ist eine Non-Stop-Fahrt voller Nervenkitzel, bei der einem das Herz stehen bleibt … und wiederbelebt wird. Dieses Buch bekommt den besten Platz in meinem Leseregal!«
SPIEGEL-Bestsellerautorin P.C. Cast

Tenley ist eine ganz normale Siebzehnjährige, rebellisch und eigensinnig. Nur dass ihre Eltern darauf bestehen, dass sie sich - wie alle anderen - zu einer der beiden verfeindeten Seiten bekennt: Entweder gehört man zu Myriad, dem dunklen Reich der Schicksalsgläubigen, oder zu Troika, dem hellen Reich der Erkenntnis. Vertreter beider Reiche versuchen mit allen Mitteln, Tenley für sich zu gewinnen. Aber sie versteht nicht, warum ausgerechnet sie so wichtig sein soll. Außerdem bemüht sich aus beiden Häusern ein Junge um sie. Einer der beiden lässt Tenleys Herz höherschlagen. Doch was, wenn sie sich für das Reich des anderen entscheidet?


  • Erscheinungstag: 02.05.2018
  • Aus der Serie: Immerwelt
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 480
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677721

Leseprobe

WIDMUNG

Gott und Gottes Sohn gewidmet
für die Inspiration (Lukas 10:2, Markus 3:24)
und die grenzenlose Liebe (Johannes 3:16)

Für Penny Edwards,
weil du eine große Liebe meines Lebens bist.

Für Wendy Higgins,
dafür, dass du mir als Testleserin großartiges Feedback gegeben hast.

Für Katie McGarry
und die perfekte E-Mail zum perfekten Zeitpunkt.

Roxanne St. Claire,
meine Schwester, meine Freundin, meine Liebe,
danke für deine Ermutigung und Unterstützung.

Für Jill Monroe,
die beste beste Freundin, die ein Mädchen haben kann, danke für alles. Du machst mein Leben besser.
(P. S.: Ich habe deinen Namen absichtlich in der Mitte versteckt, damit du danach suchen musst, denn ich bin die komischste beste Freundin, haha.)

Für Kresley Cole, P. C. und Kristin Cast und Sarah Maas, weil ihr die lustigsten Menschen der Welt seid.

Für Mike und Vicki Tolbert, Shane Tolbert, Shonna Hurt und Michelle Quine, weil ihr es mit mir aushaltet.
Ich bin ein wahres Geschenk des Himmels für euch. Okay. Ihr seid ein wahres Geschenk des Himmels für mich.

Für Max, Riley und Victoria,
weil es euch gibt. Ich liebe euch für immer und ewig.

Für Deirde Knight,
meine Agentin, die genauso fest an diese Serie glaubt wie ich.

Für Lauren Smulski und ihr unglaubliches Feedback.

Für Natashya Wilson,
meine Lektorin, die in einem Stückchen Kohle den Diamanten erkannt hat. Deine Hilfe war unendlich wertvoll und deine Begeisterung für das Buch/die Serie ein wahres Geschenk. Du hast mir so unzählige Male geholfen, dass ich allein darüber ein ganzes Buch schreiben könnte. Zwar hast du schon immer hart für mich gearbeitet und schon immer die unglaublichsten Ideen gehabt, doch diesmal hast du dich selbst übertroffen.
Vielen Dank!

Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit, es war das Jahrhundert der Weisheit, es war das Jahrhundert des Unsinns, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche der Ungläubigkeit, es war eine Periode des Lichts, es war eine Periode der Düsternis, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung.

Charles Dickens, Geschichte zweier Städte

TROIKA

Von: A_P_5/23.43.2

An: L_N_3/19.1.1

Betreff: Tenley Lockwood


Maaaaaann! Eine Vorwarnung wäre nett gewesen. In meinen Augen ist das nichts anderes als ein Zuchthaus!

Falls Sie meinen Lebenslauf nicht gelesen haben, Nanne, informiere ich Sie gerne über das Wichtigste. Ich bin ein gut ausgebildeter und hoch dekorierter Agent. Sieg ist mein zweiter Vorname. Was ich nicht bin: ein Babysitter. Auf Tenley Lockwood aufzupassen wäre reine Talentverschwendung meinerseits.

OH, UND HABE ICH VERGESSEN ZU ERWÄHNEN, DASS SIE SICH IN EINEM ZUCHTHAUS BEFINDET??

Mit allem nötigen Respekt, lieber würde ich meine inneren Organe mit einem Kleiderbügel rauspulen als hierzubleiben. Ich beantrage offiziell meine Versetzung.

Licht bringt Klarheit!
Archer Prince

TROIKA

Von: L_N_3/19.1.1

An: A_P_5/23.43.2

Betreff: Offiziell abgelehnt


Mr. Prince,

sagen Sie nicht Mann zu mir. Ich bin Ihr Vorgesetzter. Sie werden mich künftig nur noch mit meinem korrekten Rang ansprechen: General. Oder mit einem selbstverständlich immer angemessenen Sir.

Sie wurden aus zwei sehr wichtigen Gründen für diese Mission ausgewählt. Sie sind jung und (offensichtlich) unreif. Das können Sie ruhig persönlich nehmen. Unsere älteren Agenten hatten Schwierigkeiten mit Miss Lockwood, aber Sie sollten eigentlich perfekt zu ihr passen.

Deswegen werden Sie weiterhin als »Babysitter« auf Miss Lockwood achtgeben, oder ich pule Ihnen Ihre Organe höchstpersönlich heraus.

Zudem erwarte ich tägliche Berichte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, es ist überlebenswichtig, sie davon zu überzeugen, den Bund mit unserer Sphäre zu schließen.

Licht bringt Klarheit!
General Levi Nanne

TROIKA

Von: A_P_5/23.43.2

An: L_N_3/19.1.1

Betreff: Sie nerven (& ich bin TOTAL reif)


Sehr geehrter Sir,

als Agent unterstehe ich Ihnen zwar, aber gehören Sie nicht selbst zu den »älteren« Herren, die bei dem Mädchen versagt haben? Wollte ich nur mal erwähnen. (Und Sie schon mal auf den Tag vorbereiten, an dem ich Erfolg habe, den ich Ihnen dann unter die Nase reiben werde.)

Wie auch immer. Ich als braver kleiner Roboter, Sir, tue selbstverständlich, worum Sie mich bitten, Sir. Es ist allerdings so, Sir. Sollte ich noch eine Sekunde länger von außen zusehen/zuhören müssen, verätze ich mir die Hornhaut und ramme mir einen Stift in die Ohren.

Ich möchte meine Hülle haben, und ich möchte IN das Zuchthaus gehen, Sir.

Außerdem hier mein Bericht, wie von Ihnen gefordert. Ich meine natürlich, um den Sie mich so höflich gebeten haben, Sir. Im Kurs »Kreatives Schreiben« der Anstalt sollte unser Schätzchen ein Gedicht verfassen, in dem es seine Gefühle über das Leben ausdrückt. Ich lege eine Kopie für Ihre Durchsicht bei. Ich bitte Sie, nach dem Lesen NICHT von einer Brücke zu springen, Sir.

Das Grab ist das Ende

Was ich nie akzeptieren werde

Ich wurde von den Ketten, die mich fesselten, befreit.

Ich weiß

»Der Tod kann uns nicht besiegen«

Ist eine Lüge, denn die einzige Wahrheit lautet:

»Das Leben ist hoffnungslos«

Muss schon sagen, dass Fräulein Schwarzseher meiner Ansicht nach nicht nach Troika passt. Ich weiß, ich weiß. Wir lieben auch die nicht Liebenswerten. Wir kämpfen für die Schwachen. Sie brauchen mich also nicht zu belehren. Sagen Sie mir einfach, was sie so »unentbehrlich« macht.

Ihr untertänigster Diener

Archer

TROIKA

Von: L_N_3/19.1.1

An: A_P_5/23.43.2

Betreff: Gedicht, unter anderem


Ich habe bei ihr nicht versagt, Kleiner, sondern den Weg für Sie geebnet. Das ist ein Unterschied. Sie wollen Erfolg haben? Dann merken Sie sich das.

Rechnen Sie um acht Uhr mit einer Hülle, rechnen Sie aber nicht mit Ihrer eigenen. Ich habe eine aus dem AllPop-Bestand ausgewählt. Und bevor Sie jetzt auf Ihre typische Art und Weise antworten: Allgemeiner-Populations-Bestand? Soll das vielleicht ein Witz sein (effektvoll dramatische Pause), Sir? – Die Mühe können Sie sich sparen. Ich werde Ihnen nicht schicken, was Sie wollen, sondern was Sie brauchen. Danken dürfen Sie mir später.

Und was das Gedicht betrifft. Miss Lockwood weiß, dass eine Münze immer zwei Seiten hat. Warum wissen Sie das nicht? Tun Sie sich selbst einen Gefallen, und lesen Sie das Gedicht noch einmal. Dieses Mal beginnen Sie am Ende und arbeiten sich nach oben.

Und, Mr. Prince, aus der Tatsache, dass Sie nicht verstehen, was das Besondere an diesem Mädchen ist, kann ich nur einen Schluss ziehen: Ihr Hirn müsste dringend mit einem Presslufthammer bearbeitet werden. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und achten Sie auf die Perlen, die ich vor Sie hinwerfe. Licht. Strömer. Verlust … und damit Dunkelheit.

Oh, und eins noch: Sie Trottel. Und das sollten Sie wieder persönlich nehmen.

TROIKA

Von: A_P_5/23.43.2

An: L_N_3/19.1.1

Betreff: Vier Dinge


1.) Sir, Mann. Ich möchte nicht auf Ihren offensichtlichen Mangel an Intelligenz hinweisen, aber Tenley Lockwood kann kein Strömer sein. Aufgrund Ihres fortgeschrittenen Alters haben Sie offenbar vergessen, dass Strömer von troikanischen Eltern großgezogen werden. Sie sind die Treuesten unter uns. Von Beginn bis zum Ende.

2.) Und okay, okay. Ich habe das Gedicht von unten nach oben gelesen, somit verstehe ich Ihre Zwei-Seiten-Theorie. Was aber nicht bedeutet, dass das Gedicht gut ist. Es reimt sich nicht.

3.) Die Hülle ist angekommen, und ganz ehrlich, ich hasse Sie. Ich bin pure männliche Aggression, erwarten Sie im Ernst, dass ich als Tussi durchgehe? Als ob irgendjemand bescheuert genug wäre, so eine Farce zu glauben.

4.) Myriad hat Killian geschickt. Ich habe gesehen, wie er in den Schatten herumschleicht und das Mädchen beobachtet. Habe ich Ihre Erlaubnis, ihn abzuschlachten?

TROIKA

Von: L_N_3/19.1.1

An: A_P_5/23.43.2

Betreff: Genehmigung ert… verweigert!
(Geben Sie es zu: Ihr Kleinmädchen-Herz hat kurz höhergeschlagen)


Sie kennen unsere Gesetze genauso gut wie ich. Und was ist der Kern unserer zweitwichtigsten Verordnung? Auf persönliche Fehden muss zum Wohle des Volkes verzichtet werden. Sie sind einer von uns.

Erledigen Sie Ihren Job. Alles andere ist unwichtig.

MYRIAD

Von: K_F_5/23.53.6

An: P_B_4/65.1.18

Betreff: Mein neuer Auftrag


Scharf und verrückt, genau so, wie ich Mädchen mag. Betrachten Sie den Fall Tenley Lockwood als erledigt.

Macht bedeutet Recht!
Killian Flynn

MYRIAD

Von: P_B_4/65.1.18

An: K_F_5/23.53.6

Betreff: Etwas mehr Respekt


Sie werden über das Mädchen entweder mit Achtung sprechen oder überhaupt nicht.

Ich stehe bereits kurz davor, Sie von diesem Auftrag abzuziehen, Mr. Flynn. Ich weiß nicht, wieso ich mich von den Generälen habe überreden lassen, dass Ihnen gelingen wird, was niemandem vorher gelungen ist. Sie sind zu jung, und Ihre Methoden waren immer schon unangemessen. Diesmal läuft es anders! Überzeugen Sie das Mädchen, den Bund mit uns zu schließen, doch behalten Sie dabei die Hose an. Und versagen Sie nicht. Wir brauchen sie.

Macht bedeutet Recht!
Madame Pearl Bennett

MYRIAD

Von: K_F_5/23.53.6

An: P_B_4/65.1.18

Betreff: Versagen? Nicht in diesem Leben <—Verstehen Sie den Scherz?


Bisher waren Ihnen meine Methoden egal, wichtig war nur das Ergebnis. Was hat sich geändert? Wieso ist dieses Mädchen so wichtig? Wenn Sie Insiderinformationen haben, dann seien Sie so gut, sie dem Rest der Klasse mitzuteilen.

Und nur, damit Sie es wissen, wir brauchen überhaupt niemanden. Nie waren wir stärker, wir sind doppelt so viele wie die Troikaner. Außerdem ist dieses Mädchen im Grunde genommen ein »Es«. Wenn sie stirbt, ist sie nur ein weiteres Zahnrad in unserem Getriebe. Aber zerbrechen Sie sich nicht Ihr hübsches Köpfchen. Ich werde sie anwerben – auf meine Weise. Wie ich es immer tue.

Aus anderer Quelle verlautet, Troika hat Archer geschickt. Ich werde ihm die Gliedmaßen abschnippeln und ihn damit zu Zweittode prügeln.

MYRIAD

Von: P_B_4/65.1.18

An: K_F_5/23.53.6

Betreff: NEIN!


Beherrschen Sie sich, bis Sie das Mädchen für uns gewonnen haben. Danach werde ich Archer höchstpersönlich mit meinen hochhackigsten High Heels festnageln. Anschließend können sie ihm die Haut abziehen und sich einen Mantel daraus machen, falls Sie es wünschen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Mischen Sie sich nicht ein. Noch nicht!

Und das Mädchen ist viel mehr als ein »Es« und ein »Zahnrad«. So wie jeder andere! Doch dieses Mädchen … eines Tages wird sie Ihre Chefin sein. Sie wird sowohl meine als auch Ihre Chefin sein. An Ihrer Stelle würde ich mir gut überlegen, wie ich sie behandle.

MYRIAD

Von: K_F_5/23.53.6

An: P_B_4/65.1.18

Betreff: Sorry, aber Sie sind NICHT ich


Was sind Sie? Niedlich. Es tut mir außerordentlich leid, aber: Ihre Erlaubnis interessiert mich nicht. Meine letzte Nachricht habe ich Ihnen lediglich zur KENNTNISNAHME geschickt.

Außerdem wissen Sie besser als irgendjemand sonst, dass ich meine Chefs behandle wie jeden anderen auch. Wenn Ihnen das nicht passt, Madame, können Sie mich gern wieder abziehen. Ich habe nichts zu verlieren. Sie hingegen vermutlich jede Menge.

MYRIAD

Von: P_B_4/65.1.18

An: K_F_5/23.53.6

Betreff: Nichts zu verlieren?


Und wie wäre es damit, etwas zu gewinnen? Verpflichten Sie das Mädchen, und ich gebe Ihnen, was Sie immer schon wollten. Den Namen Ihrer Mutter und wo Sie sie finden können.

Though the End be Nigh (TEN)

Obwohl das Ende nahe ist

Man sagt, Geschichte wird von Überlebenden geschrieben,

doch weiß ich, dass das nicht immer wahr ist.

Mein Name ist Tenley Lockwood, und sehr bald werde ich tot sein.

Dies ist meine Geschichte – aber mein Ende ist erst der Anfang.

1. KAPITEL

»Lieber ungezeichnet als ein Sklave der troikanischen Gesetze.«

Myriad

In Prynne, der Anstalt, in der jedes Glück stirbt, bin ich nun seit dreihundertachtundsiebzig Tagen eingesperrt (oder seit neuntausendzweiundsiebzig Stunden). Das weiß ich genau, obwohl ich hier nie die Sonne auf- oder untergehen sehe. Aber ich markiere meine Wände mit Blut, sobald die Lichter im Brave-Mädchen-die-böse-wurden-Flügel der Anstalt ausgeschaltet werden.

Im Gebäude gibt es keine Fenster. Zumindest habe ich keine gefunden. Und ich durfte bisher nie hinausgehen. Keiner von uns darf das. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, in welchem Land wir uns befinden oder ob wir vielleicht tief unter der Erde leben. Bevor wir mit dem Flugzeug, dem Auto, dem Schiff oder sonst wie hergebracht wurden, hat man uns starke Beruhigungsmittel verabreicht. Wo immer wir sind, außerhalb dieser Wände muss es eiskalt sein, denn jeden Tag, jede Stunde und Sekunde wird geheizt.

Ich habe gehört, wie sowohl Freunde als auch Feinde beim Personal nachgefragt haben, sie bekamen jedoch ständig dasselbe zu hören: Antworten muss man sich verdienen.

Nein danke. Für mich ist der Preis – nämlich Kooperation – entschieden zu hoch.

Ich erhebe mich von meinem Bett und schleppe mich in die äußerste Ecke meiner Zelle. Jeder Schritt tut weh. Mein Rücken hasst mich dafür, doch die Muskeln sind zu wund, um zu streiken. Letzte Nacht wurde ich einfach so gezüchtigt.

Ich bleibe vor meinem ganzen Stolz stehen, meinem Kalender. Ein neuer Tag bedeutet eine neue Markierung.

Da ich keine Kreide, keinen Kuli oder Stift habe, ratsche ich mit der Spitze des Zeigefingers über einen rauen Stein, der aus dem Boden ragt, und ritze damit meine Haut auf, um etwas Blut zu gewinnen.

Ich hasse den Schmerz, doch um ehrlich zu sein, gefällt mir die Narbe, die zurückbleibt. Denn meine Narben kann ich zählen.

Zählen ist eine Leidenschaft von mir und Zahlenkunde meine Lieblingssucht. Vielleicht weil jeder Atemzug ein weiteres Ticken der Uhr ist, die uns dem Tod ein Stückchen näher bringt … und einem neuen Anfang. Vielleicht weil mein Name Tenley ist – Ten für meine Freunde.

Ten, also zehn, repräsentiert Vollständigkeit.

Wir haben zehn Finger und zehn Zehen. Mit zehn beginnt gewöhnlich ein Countdown.

Ich wurde am zehnten Tag des zehnten Monats um zehn Uhr zehn geboren. Und, okay. Na schön. Vielleicht bin ich so von Zahlen besessen, weil sie immer eine Geschichte erzählen und im Gegensatz zu den Menschen nie lügen.

Hier meine Geschichte kurz zusammengefasst:

Siebzehn – die Anzahl der Jahre, die ich existiere. In meinem Fall kann man eigentlich nicht wirklich leben sagen.

Eins – die Anzahl der Jungen, mit denen ich zusammen war.

Zwei – die Anzahl der Freunde, die ich seit meiner Einkerkerung gewonnen und verloren habe.

Zwei – die Anzahl der Leben, die ich lebe. Die Anzahl der Leben, die wir alle leben.

Unser Erstleben, dann unser Ewigleben.

Zwei – die Anzahl der Wahlmöglichkeiten, die ich für meine ewige Zukunft habe.

1. zu tun, was meine Eltern verlangen, oder 2. zu leiden.

Ich habe mich fürs Leiden entschieden.

Mit dem Blut male ich ein weiteres Zeichen auf die Steine und gehe zufrieden zum »Badezimmer«. Es gibt keine Türen, die einem auch nur ein Mindestmaß an Privatsphäre ermöglichen, lediglich eine offene Duschkabine neben einer Toilette. Zu unserer eigenen Sicherheit, wie uns gesagt wurde. Zur Belustigung der anderen, wie ich vermute. Alle Zellen werden rund um die Uhr überwacht, was bedeutet, dass zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt den Mitarbeitern erlaubt ist, sich die Live-Aufnahmen anzusehen. Sie werden sogar dazu ermuntert.

Dr. Vans, der Leiter der Anstalt, verhöhnt uns gern mit dem Satz: Ich sehe und weiß alles.

Ein Großteil der Lehrer beschimpft uns: Zeitverschwender!

Die Aufpasser werten uns ab: Haben wir ein bisschen an Gewicht zugelegt, kann das sein?

Die meisten Wärter grinsen uns anzüglich an. Sie kommen aus der ganzen Welt, und obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen, sagt ihr Gesichtsausdruck immer das Gleiche: Du bettelst geradezu darum, und eines Tages gebe ich es dir.

Das sind nur ein paar der Annehmlichkeiten, die einem im Chez Prynne geboten werden.

Nicht jeder hier ist furchtbar, das muss ich zugeben, eine Handvoll Leute versucht sogar die anderen davon abzuhalten, zu weit zu gehen. Doch das Personal wird dafür bezahlt, uns den Aufenthalt zur Hölle zu machen und dafür zu sorgen, dass wir mehr als alles auf der Welt hier rauswollen. Und wir kommen erst raus, wenn wir tun, was unsere Eltern von uns verlangen.

Meine Freundin Marlowe hat den Schmuck ihrer Mutter gegen Lebensmittel eingetauscht, deswegen sollte hier ihre »Kleptomanie« behandelt werden. Mein Freund Clay, ein Drogensüchtiger, sollte clean werden.

Die Anstalt hat allerdings in beiden Fällen versagt. Vor einigen Monaten hat Marlowe sich umgebracht, und Clay … Ich weiß nicht, was aus ihm wurde. Er hat seine Flucht geplant, seitdem habe ich nie wieder von ihm gehört.

Ich vermisse beide. Jeden. Einzelnen. Tag.

Ich flehte Clay an, nicht auszubrechen. Ich habe selbst einmal versucht zu fliehen und hatte dabei sogar Hilfe. Ich war mit einem Jungen zusammen, James, ein in der Hierarchie hochstehender Wärter. Er hat die Kameras abgestellt, bestimmte Türen nicht verriegelt und dafür gesorgt, dass einige Kollegen während ihres Dienstes schliefen. Trotzdem hat es nicht geklappt.

Für den Versuch wurde James eine Kugel in den Kopf gejagt. Wobei ich zusah.

Heiße Tränen rollen über meine Wangen, als ich mich vorsichtig aus dem Overall schäle. Jede Bewegung zündet einen neuen Schmerz. Als ich schließlich nackt bin, stelle ich mich unter den lauwarmen dünnen Wasserstrahl. Jegliches Schamgefühl ist mir schon lange aus dem Leib geprügelt worden – im wahrsten Sinne des Wortes –, trotzdem wasche ich mich so schnell ich kann. Uns wird nur eine kleine Ration Wasser pro Tag zugestanden, und wenn wir keins mehr haben, dann haben wir eben keins mehr. Dumm gelaufen. Was wir nie bekommen: Rasierer. Ich enthaare meine Beine und Achselhöhlen mit Fäden aus alten Uniformen. Ich fühle mich sowieso schon wie ein Tier, kein Grund, wie eins auszusehen.

Nicht dass ein gepflegtes Äußeres wichtig wäre. Obwohl wir mit dem anderen Geschlecht während der Essenszeiten Kontakt haben, würde ich mir lieber das Herz mit einem rostigen Löffel aus der Brust kratzen, als mich noch einmal zu verlieben. Ja, es ist ein schrecklich schönes Gefühl, doch das Risiko ist schrecklicher. Denn wenn alles zusammenbricht – und das wird es –, zerspringe ich in eine Million Teile und muss mich dann neu zusammensetzen. Wieder einmal.

Ich hätte James’ Annäherungsversuchen widerstehen müssen, aber ich war an einem Tiefpunkt angelangt und sehnte mich verzweifelt nach etwas Zuneigung. Er riskierte jedes Mal seinen Job, wenn er die Kameras deaktivierte, um heimlich in meine Zelle zu kommen. Er schlich sich so oft herein, dass die Erinnerung an ihn hier noch immer lebendig ist. Jede Nacht, wenn ich in mein schmales Bett steige, muss ich daran denken, wie er mir nach und nach meine Hemmungen nahm. Wie er meine Wunden säuberte, wenn ich verletzt war. Wie er mich in den Armen hielt, mir Trost spendete und mich küsste. Er wollte mehr. Ich nicht. Nicht hier. Nicht vor einem potenziellen Publikum.

Vergiss die Vergangenheit. Konzentrier dich auf die Gegenwart. Richtig.

Ich stelle das Wasser aus und trockne mich so gut wie möglich mit dem Handtuch ab. Dann schlüpfe ich in einen sauberen pissgelben Overall – allerdings nur bis zur Hüfte, meine Arme verweigern ihren Dienst, meine Schultermuskeln geben auf.

Was soll ich jetzt tun? So kann ich meine Zelle nicht verlassen.

Plötzlich gleitet die Tür leise ratternd auf. Mein Blut gefriert zu Eis, als zwei Wärter ein wild um sich schlagendes Mädchen in meine Zelle bringen.

Vor Schreck habe ich auf einmal die Kraft, die Arme zu heben und meine Brüste zu bedecken.

Nein, ich bin nicht schamhaft, aber ich habe keine Lust, mich demütigen zu lassen.

Die Wärter stoßen das Mädchen in meine Richtung. Was mir als Erstes an ihr auffällt? Sie hat ungleich geschnittenes pinkfarbenes Haar.

»Neue Mitbewohnerin«, sagt einer der Wärter zu mir. Als ihm aufgeht, dass ich nur halb angezogen bin, grinst er. »Nun, nun. Was haben wir denn hier?«

Sein russischer Akzent ist so stark wie immer und der Grund, weshalb ich ihn Genosse Volldepp nenne. Obwohl meine Wangen brennen, bemühe ich mich um einen selbstsicheren Ton. »Was wir hier haben, ist ein minderjähriges Mädchen, das nach seiner Entlassung dafür sorgen wird, dass du im Gefängnis verrottest.«

Er grinst nur noch breiter, während er einen Schritt auf mich zumacht. Das pinkhaarige Mädchen tritt ihm in den Bauch, was mich überrascht.

Er holt zum Schlag aus. »Suka!«

Schlampe auf Russisch. Ein Wort, mit dem ich auch öfter bedacht werde.

Lächelnd krümmt sie einen Finger, das weltweite Zeichen für: Komm doch her.

Der andere Wärter packt Genosse Volldepp am Arm und zieht ihn hinaus in den Gang. Beide Männer starren mich düster an, während die Tür zugleitet.

Das Mädchen winkt mir zu und wirkt beinahe … fröhlich. Ich blinzle verwirrt. Sie ist glücklich statt ängstlich? Wirklich?

»Hallo«, sagt sie mit einem leichten britischen Akzent. »Ich bin Bow, deine neue beste Freundin.«

Sie ist verrückt. Alles klar. »Ich brauche keine neuen Freunde.« Ich hatte gehofft, allein zu bleiben. Ich schlafe nicht gern im Beisein anderer Leute, außerdem muss ich immer wieder mal ein Nickerchen halten, um zu funktionieren. Meine letzte Zellengenossin sagte, dass ich mich ständig herumwerfe und schreie, vor allem nach den Folterungen, oder dass ich ein Zahlenlied singe, das mir meine Tante als Kind beigebracht hat.

Ten tears fall, and I call… nine hundred trees, but only one is for me. Eight …

Oh nein. Ich werde mich jetzt nicht in irgendwelchen Erinnerungen verlieren.

»Hier.« Bow kommt mit langen und kräftigen Schritten auf mich zu.

Aus der Nähe kann ich erkennen, dass ihre Augen die Farbe von frisch polierten Pennys haben. Sie sind merkwürdig und faszinierend, unfassbar intensiv.

»Lass mich dir helfen.«

Aus reiner Gewohnheit weiche ich zurück, als sie die Hand nach mir ausstreckt. Aber … Zero! Das ist mein Lieblingsschimpfwort mit vier Buchstaben. Ich werde es ohne ihre Hilfe nicht schaffen, mich anzuziehen.

Sie imitiert mich, indem sie ebenfalls ihre Brüste bedeckt, und grinst. »Möpse sind was Tolles, oder? Wahre Wundertüten. Ich kapiere nicht, worüber ihr Mädchen euch ständig beschwert.«

»Du meinst wir Mädchen

Sie lässt die Hände von ihren Wundertüten sinken. »Komm schon, es ist doch nichts dabei, mich ein bisschen an meinen eigenen Vorzügen zu erfreuen. Ernsthaft. Ich bin so was von scharf, ich würde es am liebsten mit mir selbst treiben.«

Scharf? Fraglich. Bizarr, narzisstisch und pervers? Zweifellos. Wahrscheinlich wird sie mich im Schlaf ermorden. Mit anderen Worten, ich hab mit ihr das große Los gezogen. Juchu.

»Ich würde lieber nicht über deine Vorzüge sprechen, danke.« Zögerlich drehe ich ihr den Rücken zu, etwas, das ich selten tue. Ein Tiefpunkt, ein Moment bodenloser Verzweiflung. Doch wenn sie versuchen sollte, mich anzufallen oder zu packen – egal was – werde ich dafür sorgen, dass sie es bereut.

Sie atmet scharf ein, vermutlich, weil sie die zahlreichen Striemen betrachtet, die ich zu bieten habe.

»Heute noch«, fahre ich sie an, wütend darüber, dass sie mich so schwach erlebt.

Vorsichtig schiebt sie meine Hände in die Ärmel.

»Ich hoffe, du bist gut aufs Ewigleben vorbereitet. Noch so eine Züchtigung könnte dich umbringen.«

Unwahrscheinlich. Dr. Vans hat diese Foltersache wirklich drauf. Er weiß genau, wann er zu weit geht. »Vertrau mir. Sterben ist nicht das Schlimmste, was mir passieren kann.«

»Natürlich nicht. Wer nicht die richtigen Entscheidungen für die Unendlichkeit getroffen hat, sollte am besten zu existieren aufhören.«

In der Unendlichkeit – auch bekannt als das Ewigleben – liegen die beiden mächtigen Sphären Myriad und Troika. Dort soll das »wahre« Leben erst beginnen.

Über die Jahre hat sich die Welt in zwei Lager geteilt. Die Menschen, die Myriad unterstützen, und die Menschen, die Troika unterstützen. Niemand unterstützt jemals beide. Wie auch? Die Sphären sind fundamental gegensätzlich – in jeder Hinsicht!

Myriad prahlt mit Autonomie … Seligkeit … Luxus. Für Myriader ist ein Erstleben nur das Sprungbrett ins Ewigleben, alles geschieht aus einem bestimmten Grund und, wenn wir den Zweittod erleben – also in Ewigleben sterben –, kehrt ihrer Ansicht nach unsere Seele auf die Erde zurück, das Land der Ernte, um mit einer anderen – brandneuen – Seele zu verschmelzen.

Um einen Menschen für sich zu gewinnen, sind sie bereit, über die Konditionen des Bündnisses zu verhandeln.

Troika hingegen ist für seine Struktur bekannt … unaufhörliches Studieren … absolute Konformität. Für Troikaner ist das Erstleben genauso wichtig wie das Ewigleben, Schicksal existiert nicht, und nach unserem Zweittod kommen wir in die Stille, ohne jemals wieder einem Menschen oder einer Seele zu begegnen.

Troikaner weigern sich, über Bündniskonditionen zu verhandeln, sie bieten ausnahmslos jedem Menschen dieselben Vergünstigungen an. Es gelten auch für alle dieselben Gesetze. Was richtig ist, ist richtig, und was falsch ist, ist falsch. Alle sind gleichgestellt.

Wenn eine Sphäre sagt, der Himmel ist wolkenlos, behauptet die andere sofort, dass sich ein Sturm zusammenbraut.

Seit Jahrhunderten bekriegen sie einander mit dem einzigen Ziel, den jeweils anderen zu vernichten. Deswegen kämpfen sie so hart darum, Seelen für sich zu gewinnen. Und deswegen ist es so wichtig, sich für die richtige Seite zu entscheiden. Denn eines Tages muss eine der Sphären verlieren.

Hier auf der Erde leben die Unterstützer von Myriad und Troika nicht getrennt … nicht direkt zumindest. Sie versuchen, miteinander auszukommen, allerdings liegt unter der unperfekten Harmonie immer sirrende Spannung.

Manchmal brechen Aufstände aus, dann ist die Regierung gezwungen, das Kriegsrecht auszurufen, um Massenunruhen zu verhindern.

Wenige Menschen wissen so wie ich nicht, auf welche Seite sie sich schlagen sollen. Wir sehen die Vorteile von beiden Glaubensrichtungen. Und die Nachteile auch.

Uns nennt man die Ungezeichneten.

Für uns gibt es angeblich eine dritte spirituelle Sphäre, einen Ort, an dem wir nach dem ersten Tod landen. Meine Eltern erzählten mir immer Horrorgeschichten darüber, Geschichten, die man in dunklen Nächten flüstert. Die Viele-Enden-Sphäre, wo Albträume wahr werden.

Ich habe mich oft gefragt … Ist die Viele-Enden-Sphäre ein erfundener Ort, um Kindern Angst einzujagen?

»Hast du welche?«, fragt Bow, während sie den Reißverschluss meines Overalls hochzieht. »Ich meine, hast du Pläne für die Unendlichkeit?«

»Ich rede mit dir nicht über Ewigleben.«

Sie verzieht enttäuscht das Gesicht. »Warum nicht?«

»Ich bin noch weitere dreihundertzweiundfünfzig Tage hier.«

3 + 5 + 2 = 10

»Und?«

Und Bow wird früher oder später gehen. Ich kenne diesen Typ. Extrem optimistisch, bis irgendwas schiefläuft. Nach der ersten Züchtigung wird sie klein beigeben und tun, was immer ihre Eltern von ihr verlangen, garantiert.

»Vergiss das nächste Leben. Was ist mit diesem? Erzähl mir, wieso du hier bist.« Mit dem Kinn deute ich auf unsere illustre Zelle.

»Mein Beschützer hat mich geschickt.« Sie geht zu dem zweiten Einzelbett und setzt sich ohne einen Hauch weiblicher Anmut. »Er sagte, ich solle Licht spenden.«

Uah. Was höre ich da? Absolute Konformität. »Dann hast du bei Troika unterschrieben.« Kein Zweifel.

Sie nickt mit Stolz. »Habe ich.«

Wir werden dermaßen Probleme bekommen. »Was bedeutet Licht genau?« Welche Theorien will sie mir wohl aufdrängen?

»Licht ist all das, was nötig ist, um jemandem bei seinem Weg aus der Dunkelheit zu helfen.«

Dunkelheit. »Womit Myriad gemeint ist.«

Sie ignoriert meinen trockenen Ton. »Womit ein Problem gemeint ist, jede Art von Problem.«

Nun, davon habe ich genug – obwohl ich mir einrede, dass diese Situation eine Art Düngemittel ist – irgendetwas Gutes muss einfach daraus entstehen.

»Warum bist du hier?«, fragt sie.

»Ich weigere mich, mit Myriad ein Bündnis einzugehen.« Bündnis – was nichts anderes bedeutet, als mit Blut den Bund zu unterzeichnen.

Manchmal werde ich verwöhnt, damit ich per Unterschrift meine gesamten Rechte abtrete. Ist das nicht schön? Genau das bekommst du in Myriad. Meistens werde ich gefoltert. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was du in Viele Enden erleiden wirst. Nicht zu wissen, was mich erwartet, ist das Schlimmste.

»Prynne soll doch angeblich unabhängig von den beiden Sphären sein«, sagt sie stirnrunzelnd.

»Das ist auch so.« Wie sonst könnte Dr. Vans den einen Jugendlichen davon überzeugen, bei Myriad zu unterzeichnen, und den anderen bei Troika? Was er tut. Ständig.

Sie sieht mich an, etwas überrascht und sehr hoffnungsvoll. »Möchtest du lieber das Bündnis mit Troika eingehen?«

»Nicht im Geringsten.« Als sie die Schultern sinken lässt, füge ich hinzu: »Ich sage es dir ja nur ungern, aber dein Beschützer ist scheiße. Er – sie? – hat dich in die Hölle geschickt. Vollkommen umsonst! Niemand hier will dein Licht haben.« Vertraue niemandem. Hinterfrage alles.

»Vielleicht nicht, mein Angebot steht trotzdem. Gestern, heute und morgen spielen unsere Taten eine Rolle.«

Da gebe ich ihr recht. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Die zerstörerischsten und die besten Taten beginnen mit einem einzigen Gedanken. Und letztlich kann eine einzige Tat darüber entscheiden, welchen Verlauf unser Leben nimmt. Und unser Tod.

Ich werde meine Wahl selbst treffen. Ich allein. Und diese Wahl wird keine andere unendliche Zukunft beeinflussen außer meiner eigenen.

Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch ich schüttle den Kopf. Thema beendet.

Sie springt auf, läuft durch den Raum, mustert jeden Winkel und bleibt schließlich vor meinem Kalender stehen. »Im Ernst? Du schreibst mit einem Fingerstift? Kein Wunder, dass alle dich Irre nennen. Du hast den größten Knall von allen.«

Sie ist gerade erst angekommen. Woher weiß sie, wie man mich nennt? »Man nennt mich Irre, weil ich Eier in der Hose habe. Und weil ich meine Feinde über den Boden schmiere wie Erdnussbutter.«

Sie denkt einen Moment nach, runzelt dann die Stirn. »Wenn deine weiblichen Eier so dick sind, warum nennt man dich dann nicht Haarige Kirschen? Oder Pelzige Knödel?« Sie tippt sich ans Kinn. »Nun, tja. Weil keiner dieser Namen dein explosives Temperament beschreibt. Oh! Ich weiß. Ich nenne dich Samenbank! Das deckt die Eier und das Explosive ab.«

Ich schnaube und lache gleichzeitig. Sie ist mutig, dafür bekommt sie auf jeden Fall mal ein Sternchen. An einem solchen Ort erlebt man so etwas selten genug. Sollte sie mich jedoch auch nur ansatzweise bedrohen, werde ich sie ohne Zögern fertigmachen. Überleben steht an erster Stelle, und dann kommt lange nichts.

»Wenn jemand Samenbank zu mir sagt, explodiere ich, und du bekommst es ab«, sage ich. »Und bis dahin nenne ich dich Axt. Weil man dir damit offenbar die Haare geschnitten hat.«

Sie bauscht die zottigen Spitzen ihrer sogenannten Frisur. »Das habe ich mit einem Küchenmesser gemacht, besten Dank. Ich finde, der Schnitt unterstreicht meine Schönheit.«

Ihre positive Einstellung ist wirklich bewundernswert.

Plötzlich meldet sich meine innere Uhr, die Unterhaltung wird umgehend zweitrangig. »Frühstück!«

Sie seufzt. »Essen. Toll.«

»Unsere Zelle öffnet sich in drei Sekunden … zwei … eins.«

Die Schiebetüren gleiten auseinander.

»Wir haben dreißig Sekunden Zeit, um den Raum zu verlassen«, erkläre ich ihr. »Wenn die Tür zugeht, während wir noch hier drin sind, gibt’s kein Frühstück.« Das Essen hier ist zwar Kacke, nichts als Schleim, aber dieser Schleim hat zumindest genug Vitamine, um uns einigermaßen gesund zu halten. Und ganz ehrlich, alles ist besser als zu verhungern.

»Wir sind also wie Hunde in einem Zwinger, die nur zu bestimmten Zeiten rausdürfen, damit wir nicht irgendwo hinkacken oder an den Möbeln kauen. Klasse.«

Zusammen flitzen wir in den Flur. Unsere Blockgefährtinnen tun dasselbe. Insgesamt sind wir zwölf.

Zwölf: Die Anzahl der Monate pro Jahr, die Anzahl der Geschworenen und die der Stunden auf einem Ziffernblatt.

Einen Moment lang mustern wir uns gegenseitig. Ob heute eine von uns ihrer Wut freien Lauf lässt?

Nachdem niemand eine obszöne oder gewalttätige Geste macht – hey, heute könnte ein guter Tag werden – eilen wir zum Ausgang am Ende des Flurs.

Jane, eine der älteren Insassinnen, murmelt etwas und hört auf, mit der Stirn gegen die Wand zu schlagen. Die Haut an ihrem Haaransatz ist aufgerissen, Blut tropft über ihre Wange. Alle anderen gehen weiter, mit gesenktem Kopf, die Arme um den Oberkörper geschlungen, wie um die lebenswichtigen Organe zu schützen – oder um zu verhindern, dass sich eine Lawine aus Schmerz und Leid löst.

Zielstrebig marschiere ich neben Bow her und stelle fest, dass von ihr ein Geruch nach Wildblumen und Zitronenbonbons ausgeht. Das gefällt mir, es wird sich allerdings schnell ändern. Unser Wasser riecht nach Chemikalien, und die Seife, die sie uns geben, nach Schmiere.

Ein schriller Pfiff zerschneidet die Luft. Ich fahre zusammen.

»Na, na«, ertönt eine Stimme hinter mir. »Ich habe gerade eine wie ich dachte todsichere Wette verloren.«

»Wie Becky«, sagt eine andere.

Darauf folgt Gekicher.

Um die erste Sprecherin zu identifizieren, brauche ich nicht über die Schulter zu blicken. Sloan »Hass mich nicht wegen meiner Schönheit, sondern weil ich vorhabe, dich zu töten«-Aubuchon. Sie ist Dr. Vans Lieblingsinsassin, obwohl sie bereits bestimmt ein Dutzend Mal versucht hat, ihn umzubringen.

Nach allem zu urteilen, was ich den guten Doc sagen gehört habe, ist sie entweder hier, weil sie (a) ihr Temperament nicht unter Kontrolle hat oder sie sich (b) weigert, den alten Langweiler zu heiraten, der das Anwesen ihrer Großeltern retten könnte. Ich tendiere zu A. Arrangierte Ehen gibt es zwar noch, aber nicht sonderlich oft.

»Hey Leute, Tenley hat ihre neue Mitbewohnerin nicht sofort umgebracht«, fährt sie fort.

Ihr Südstaaten-Näseln ist einfach hinreißend trotz der höhnischen Worte.

»Will sagen, die Neue wurde nicht aufgefressen – zumindest nicht im wörtlichen Sinne.«

Reizend.

Einige Mädchen buhen, andere klatschen.

Bow dreht sich um und lächelt Sloan an. »Was ist dein Problem? Ein paar fehlende IQ-Punkte?«

Beinahe hätte ich geseufzt, weil ich genau weiß, was als Nächstes passiert.

Eine vulkanartige Sloan wird sich auf Bow stürzen und sie am Kragen ihres Overalls packen.

Ja. Richtig geraten.

Ich bleibe unschlüssig stehen. Ich habe dieses Theater inzwischen oft mitverfolgt – elfmal, um präzise zu sein – und habe jedes Mal anders reagiert. Habe mich blind und taub gestellt, habe aber auch schon Schläge ausgeteilt und Unflätigkeiten gebrüllt.

Sloan und ich haben vollkommen unterschiedliche Lebensphilosophien. Während ich nur austeile, wenn ich provoziert werde (normalerweise), attackiert sie Neulinge bei der erstbesten Gelegenheit, um mögliche Herausforderungen gleich im Keim zu ersticken.

Das Leben ist scheiße. Wir haben uns angepasst.

»Du meine Güte.« Sloan lässt Bows Kragen los, um die Hände in die Hüften zu stemmen.

Groß, blond und schön wie ein Fotomodel ist sie das Mädchen, das jeder sein will. Bis sie den Mund aufmacht und ihre äußerliche Schönheit es nicht mit ihrer innerlichen Boshaftigkeit aufnehmen kann.

»Du scheinst nicht zu kapieren, dass ich in diesem Scheißladen das Sagen habe. Blick zum Boden und Klappe halten … oder du hast bald keine Zähne und Augen mehr.«

Bow wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Hey, wie nennt man eine Blondine mit halbem Hirn? Talentiert!«

Werde ich gerade wirklich in ihren Streit hineingezogen? »Hast du vergessen, dass du blond bist?« Und zudem Troikanerin! Die müssen doch verzeihen und weitermachen.

»Also.« Bow tippt sich ans Kinn. »Meinst du, ich sollte ihr mal ins Ohr blasen für einen Datentransfer?«

»Das war’s! Verabschiede dich von deinen Zähnen.« Sloan stößt Bow so heftig, dass die nach hinten stolpert.

Reflexartig schlage ich ihren Arm weg. »Hände weg.« Schätze mal, dass ich mich heute einmischen werde. Was vermutlich mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Wie wir anderen muss Bow lernen, sich selbst zu verteidigen. Es gibt keine andere Möglichkeit zu überleben.

Sloan blickt uns aus zusammengekniffenen Augen an. »Was willst du denn tun, Irre? Hm?«

»Willst du das wirklich wissen?«, frage ich sanft. Die Oberverrückte zwischen ganz vielen Verrückten zu sein hat seine Vorteile. Niemand kann je voraussagen, was ich als Nächstes tun werde. »Denn was ich sage, tue ich auch. Da gibt es kein Zurück.«

Wir sind schon übereinander hergefallen, Sloan und ich, und das hat ziemlich unschön geendet. Von wegen Kratzen und Haareziehen wie sonst bei Auseinandersetzungen zwischen Frauen, nein, wir haben uns geprügelt und uns getreten wie Tiere.

Und beide unsere Narben davongetragen.

Ich habe keine Angst vor Schmerzen. Nicht mehr.

Es überrascht mich, als meine Mitbewohnerin sagt: »Mann, das ist ja lustig. Sloan die Jammertante ist gerade mal ’ne Zwei und spricht mit einer Zehn.«

Eine weitere Runde Buhrufe und Jubel.

Sloan hat mich jetzt vollkommen vergessen und entblößt knurrend die Zähne. »Vielleicht werde ich dir doch nicht Zähne und Augen rausreißen … noch nicht. Weil du sehen sollst, was ich dir antue, bevor du um Gnade winselst, die ich dir nicht gewähren werde.«

»Genug!« Eine harsche Stimme dröhnt aus den Deckenlautsprechern. »Ihr kennt die Regeln, Mädchen. Kein Herumtrödeln in den Gängen. Geht in den Speisesaal oder zum Auspeitschpfahl. Eure Entscheidung.«

Ich blicke Sloan an, die Bow anstarrt, die wiederum Sloan angrinst.

Sloan zeigt erneut ihre Zähne und sagt zu mir: »Du weißt schon, dass dein Freund nicht der Einzige war, der die Kameras abschalten konnte, oder? Wenn ich du wäre, würde ich ab sofort mit offenen Augen schlafen.« Damit macht sie auf dem Absatz kehrt und rauscht ab.

Oder versucht es zumindest.

Ich packe sie am Arm, schaue ihr voll ins Gesicht und halte meine Stimme leise: »Solltest du in meine Zelle schleichen, dann filetiere ich dich wie einen Fisch. Und niemand wird sich für deine Schreie interessieren. Das weißt du schon, oder?«

Du schreist, ich schreie, wir alle schreien. Interessiert niemanden. So lautet die inoffizielle Hymne dieser Einrichtung.

Sloan reißt sich los und stapft davon.

Ich werfe Bow ein humorloses Lächeln zu. »Willkommen in Prynne.«

2. KAPITEL

»Sei getröstet. Unsere Gesetze bleiben gleich, gestern, heute und bis in alle Ewigkeit.«

Troika

Bow lacht, was ich nicht verstehe. Mein Temperament ist praktisch wie ein Bär, den man mit einem Stock gepikt hat. Ich mag Drohungen nicht. Und vor allem warte ich nicht gerne, bevor ich auf sie reagiere. Trotzdem, sie scheint sich zu amüsieren.

»Komm schon«, murre ich und zerre sie trotz meiner körperlichen Beschwerden den Flur entlang.

Es gibt viele Türen, jede einzelne davon ist kotzgrün gestrichen. Die Wände sind grau wie Krankenhaustabletts und die Böden kackbraun. Das ist eine Tatsache. Letzte Woche hat ein Wärter einem Neuankömmling angedroht, ihn zu kastrieren, woraufhin alles außer Kontrolle geriet … auch sein Darm.

»Danke für die Hilfe.« Bow stößt mich mit der Schulter an und murmelt eine Entschuldigung, als ich zusammenzucke. »Natürlich hätte ich sie problemlos fertigmachen können, aber du hast dich vor mich gestellt.«

»Brauchst mir nicht zu danken. Halte einfach die Augen offen und deine Beleidigungen auf einem Minimum. Ich möchte ungern deine Überreste vom Boden aufwischen.«

Sie grinst schief. »Ich habe sie nicht gern so angemacht. Sloan hat es echt schwer. Ihre Boshaftigkeit hat wohl meine innere Zicke getriggert, und ich wusste nicht mal, dass ich eine innere Zicke habe! Aber ja, stimmt. Ich hätte anders mit der Situation umgehen müssen.«

»Woher willst du wissen, wie schwer sie es hat?«

»Ähm, ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt. Ich meine, wer hat es nicht schwer, richtig?«

Richtig. Wir alle kommen mit einer Menge Gepäck hier an.

Wir gehen am Gemeinschaftsraum vorbei, in dem der Unterricht stattfindet. Nicht einmal hier kann man der Highschool entkommen. Es gibt bequeme Ledersessel und drei Stuhlkreise – was sinnvoll ist. (1) Gedanken, (2) Worte und (3) Taten, die Summe der menschlichen Fähigkeiten.

Um die Ecke und hinter einer breiten Doppeltür befindet sich der Speisesaal. Ein farbloser, zweckdienlicher Raum mit jeder Menge am Boden festgeschraubter Tische und Bänke. Die männlichen Insassen haben schon Platz genommen und essen von ihren Tabletts.

Es gibt zwanzig Aufpasser – zehn männliche, zehn weibliche – einen »good guy« für jeden zehnten »bad guy«. Außerhalb dieser Mauern ist jeweils ein Agent von Troika und einer von Myriad für hundert Menschen zuständig, doch hier drinnen findet man keinen einzigen.

»Rechnest du?«, fragt Bow. »Du siehst aus, als würdest du rechnen. Okay, hier ist eine Gleichung, die dir bestimmt gefällt. Es existieren grob geschätzt zwei Milliarden Menschen auf der Welt und zwanzig Millionen Agenten. Die Chance, dass ich ausgerechnet in deine Zelle komme, ist damit gleich null.«

»Willst du andeuten, dass das Leben ein Nullsummenspiel ist? Du hast gewonnen, ich verloren.«

Sie schnaubt. »Du hast praktisch den Jackpot gewonnen, und das weißt du auch.«

»Oder dein Beschützer hat ein Extrasümmchen hingelegt, um dich mit einer Ungezeichneten zusammenzubringen, die zudem noch ein Myriad-Elternhaus hat.« Was natürlich in meinem Fall kontraproduktiv für Dr. Vans wäre. Doch wann hat der Mann jemals einem Extra-Bonus widerstehen können?

»Na sieh mal einer an. Du bist hübsch und klug.«

»Und hungrig«, murre ich.

Während wir in der Schlange anstehen, entspinnen sich vielfältige Gespräche um uns herum.

»… zu dumm. Ich war schneller.«

»… hast du sie versteckt? Sag schon!«

»… ich will keinen Myriad-Abschaum in meiner Nähe.«

Wie viele dieser Kids sind für Myriad? Wie viele sind für Troika? Wie viele sind Ungezeichnete?

Bow hat ganz klar die Regeln nicht kapiert. Über Ewigleben zu sprechen ist verboten. Nun, zumindest untereinander. Damit will Dr. Vans einen Aufstand innerhalb dieser Wände vermeiden, vermute ich.

Ich bin immer davon ausgegangen, dass Sloan eine Ungezeichnete ist, weil sie unzählige Male sagte: »Lieber bin ich Königin in der Viele-Enden-Sphäre als Drohne in einer der anderen beiden Sphären.«

Okay, nicht unzählige Male. Dreiundzwanzigmal.

»Wir werden viel Zeit zusammen verbringen«, sagt Bow zu mir. »Komm, wir sollten uns besser kennenlernen.«

»Nein danke.«

Sie lässt nicht locker. »Wie wurdest du über die Sphären aufgeklärt?«

»Das Übliche.« Da öffentliche Schulen neutral sein müssen – nur Privatschulen tendieren zur einen oder anderen Seite –, erzählen die Eltern, die natürlich voreingenommen sind, ihren Kindern entsprechende Geschichten. Außerdem bieten verschiedene Einrichtungen virtuelle Touren an, die aber immer parteiisch sind – je nachdem, wer die Einrichtung führt.

Meine Tante Lina ist die verrückte Zwillingsschwester meines Vaters, die, wie mir gesagt wurde, unter einer Polyfusen Funktionsstörung leidet, was bedeutet, dass eine ältere Seele (angeblich) mit ihrer verschmolz und mächtig genug ist, immer wieder die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen. Wenn sie sich nicht wie eine kichernde Zehnjährige aufführt, die in der Vergangenheitsform spricht, arbeitet sie für Ein Blick dahinter, ein von Myriad geführter Tourenveranstalter. Ich habe von der Nacht geküsste Schlösser inmitten überquellender Orchideengärten gesehen. Pulsierende Stadtbilder mit Wolkenkratzern aus Stein und Metall, durchzogen von Nachtclubs und Wellness-Oasen, alles verbunden durch geschmeidige silberne Brücken und durch Tunnel, beleuchtet von schmiedeeisernen, drachenförmigen Lampen. Herrlich weiße Sandstrände und von Mondlicht beschienene rubinrote, saphirblaue und smaragdgrüne Korallen.

Hightech-Flair mit altmodischem Charme durchmischt.

Da gibt es für jeden etwas, sagt Tante Lina an ihren vernünftigen Tagen gern. An ihren verrückten Tagen? Das Licht blutete in die Dunkelheit, und die Dunkelheit starb … Ich wollte nicht sterben.

Troikas Version von Myriad wiederum ist wirklich beängstigend. Durchdringende Dunkelheit. Eine so vollständige Dunkelheit, dass sie wie Motoröl über deine Haut kriecht. Felder voller toter Bäume mit knorrigen Ästen, aus der Rinde tropft Blut. Die Vögel, die das fehlende Tageslicht überlebt haben, kreischen, statt zu singen. Die Stadt ist überfüllt, die Leute leben zusammengepfercht wie Essiggurken im Glas, und die Strände sehen aus wie übergroße Katzenklos.

Myriads Version von Troika ist nicht besser. Apokalyptisches, von einer unbarmherzigen Sonne verbranntes Ödland.

Als Kind habe ich erbittert versucht, Troika aus dem Weg zu gehen – bis ich die Beschreibung meines troikanischen Agenten hörte: Sonnenschein sprenkelt kunstvolle Gartenanlagen, es gibt Wildblumen und Regenbögen. Eine blühende Metropole, fantastisch und futuristisch, mit prunkvollen Anwesen und Gebäuden aus Chrom und Glas in verschiedenen Formen und Größen.

»Du solltest nicht über die Sphären sprechen«, sage ich schließlich. »Dafür wirst du bestraft.«

Bow stößt den Atem aus. »Schön. Dann rede ich über etwas anderes. Etwas Faszinierendes. Wie das Essen hier. Es sieht genauso aus wie das, was hinterher wieder rauskommt.«

Da hat sie recht. »Wenn du was anderes essen möchtest, ist das Ungeziefer in unserer Zelle immer eine Alternative. Nebenbei bemerkt, Spinnen schmecken wie Krabben und Kakerlaken wie fettes Hühnchen.«

»Okay, jetzt möchte ich mich am liebsten übergeben und dich gleichzeitig in den Arm nehmen.« Sie denkt einen Moment nach, stößt dann verträumt einen Seufzer aus. »Vielleicht habe ich ja eine Nachspeise hereingeschmuggelt.«

»Viel Glück damit.« Das haben schon andere versucht. Und versagt. »Man wird dich erwischen und …«

»… bestrafen. Ja, ja, ich weiß.«

Wir bekommen beide ein Tablett. Während wir uns einen Tisch suchen, werfen einige Jungen Bow prüfende Blicke zu. Gekicher.

Ich versteife mich, aber Bow zwinkert ihnen zu, als wir uns rechts neben ihnen an einen freien Tisch setzen.

»Der Wärter hat gesagt, sie heißt Bow«, meint einer von ihnen und versucht nicht mal, leise zu sprechen.

»Das passt gut – im Gegensatz zu ihrer Uniform. Fettarsch-Bow«, murmelt ein anderer, woraufhin seine Freunde in Gelächter ausbrechen.

Bow ignoriert sie und rührt unbeeindruckt in ihrem Schleim. Sie ist klein und kräftig, sieht ein bisschen gewöhnlich aus, aber sie ist immerhin ein Mensch mit Gefühlen.

Also fahre ich die anderen an: »Anstand ist wichtiger als Größe, Dreck.« Dreck ist die abwertende Bezeichnung für jemanden, den keine der Sphären haben will.

Er wirft mir ein Küsschen zu. »Warum setzt du dich nicht auf meinen Schoß, Irre? Dann kann ich dir meine Größe zeigen.«

Anzüglichkeiten stehen in Prynne immer auf der Tagesordnung, und normalerweise gehe ich darüber hinweg. Heute umklammere ich jedoch meinen Löffel fester. Wir bekommen keine Gabeln oder Messer. Niemals. Was allerdings egal ist. Ich kann auch mit einem Löffel sehr, sehr Schlimmes anstellen.

Ich starre ihn böse an. »Besitzt du gern eine Zunge?«

Er streckt seine heraus und wackelt damit.

Ich möchte mich nicht mit ihm schlagen – mir tut alles weh –, werde es aber tun. Wenn ich verliere, verliere ich eben, zumindest hinterlasse ich einen Eindruck.

Bow tätschelt meine Hand. »Vergiss ihn, Samenbank. Er kapiert noch nicht, dass unser Äußeres nur eine Hülle für jeden von uns ist. Meine innerliche Schönheit hingegen wird nie verblühen.«

Die Jungen kehren zu ihrem Gespräch zurück, flüstern einander zu und tun so, als wäre das, was fast geschehen wäre, fast nicht geschehen.

»Außerdem«, fügt Bow hinzu, »ist er nicht mal annähernd mein Typ.«

»Und dein Typ ist?«

Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Weiblich.«

Ah. Kapiert.

Wir versinken in Schweigen. Während ich esse, achte ich auf die Leute um uns, immer in Alarmbereitschaft. Man muss ständig so stark wie möglich sein. Bow stochert nur auf ihrem Teller herum. Bald wird der Hunger sie besiegen, und sie wird für diesen Schleim dankbar sein.

Gerade, als wir aufstehen, versucht einer der Jungen seinem Freund etwas von dessen Essen wegzuschnappen.

»Rühr mein Essen an, und du bist tot.« Das Knurren seines Freundes ist pure Drohung.

»Hier. Du kannst meins haben«, sagt Bow.

Der Junge stiert sie an. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Kuh.«

Vertraue niemandem. Hinterfrage alles.

Sie zuckt ungerührt mit den Schultern. »Dein Pech.«

Ich weiß nicht so recht, in welche Schublade ich sie stecken soll. Zu gut, um wahr zu sein? Das einzig Wahre? Ein Vorbild? Oder das Gegenteil?

Als wir den Speisesaal verlassen, werde ich in den Gemeinschaftsraum zu meiner morgendlichen Mentaltherapie geschickt – man muss den Tag richtig beginnen, höhne ich innerlich –, während Bow für die Körpertherapie in die Turnhalle geschickt wird.

Sloan schiebt ein anderes Mädchen aus dem Weg, um sich neben mich zu setzen. »Du solltest deine Mitbewohnerin an die kurze Leine nehmen.«

Sie will also so tun, als ob wir uns vorhin nicht gegenseitig bedroht hätten. Schön.

»Ich bin nicht ihre Aufpasserin«, antworte ich. Ihre Taten, ihre Konsequenzen.

»Sei nicht dumm«, zischt Sloan. »An diesem Ort sollte deine Mitbewohnerin deine beste Freundin sein. Sie ist es schließlich, die sich um deinen Rücken kümmern muss, wenn er Striemen hat.« Mit einem Grinsen drückt sie meine Schulter, worauf ich zischend ausatme. »Wie jetzt.«

Ich schlage ihren Arm weg, was den Schmerz noch verschlimmert. »Ich brauche deinen Rat nicht.« Vertraue niemandem

»Anscheinend doch. Wie man hört, wird Vans heute Nacht nicht hier sein. Zwei Wärter wollen sich dafür rächen, dass du ihren Freund erwürgt hast.«

Ich versteife mich. Das ist vier Monate her, und die Erinnerung verfolgt mich nach wie vor. Der fragliche Wärter war in meine Zelle geschlichen. Er meinte, ich sollte mir sein Wohlwollen verdienen. Ich meinte das nicht.

Er wurde in einem Leichensack rausgetragen.

Es war nicht schön, ihn zu töten, obwohl es Notwehr war, doch die Gewissensbisse halten sich in Grenzen. Ich bin zu oft geschlagen worden, oder vielleicht habe ich zu viele Morde gesehen. Kids, die andere Kids umbringen. Wärter, die Kids umbringen. Vans, der James umbringt. Man stumpft schnell ab. Hier überlebt nur der Stärkere.

Wie es scheint, sind Myriad und ich uns in einer Hinsicht einig. Macht bedeutet Recht.

»Danke für die Vorwarnung.« Mir dreht sich der Magen um. Ich bin noch nicht bereit für einen weiteren Kampf. Keinen Kampf eines solchen Ausmaßes. Ich bin einfach nicht kräftig genug.

Spielt keine Rolle. Ich muss einen Weg finden.

Sie sieht mich finster an. »Das habe ich nicht für dich getan. Aber je besser du dich vorbereitest, umso wahrscheinlicher wirst du noch zwei von Vans Leuten töten.«

Blutrünstiges Mädchen. Wie immer. »Und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wieder dreißig Tage in die Grube wandere und du dich dann ohne meine Einmischung an Bow ranmachen kannst, ja?« Die Grube ist ein kaltes Loch im Keller, wo es Wasser aus einem rostigen Hahn gibt und das einzige Möbelstück ein Eimer ist.

»Hey. Ich finde, der Preis ist nicht zu hoch.«

»Du hast gut reden. Du warst noch nie da unten.«

»Nicht, dass ich es nicht versucht hätte!«

Das stimmt allerdings. Ich habe mich oft gefragt, aus welchem Grund sie für Vans etwas Besonderes ist. Ob sie mit ihm ins Bett geht?

Es gibt Gerüchte über Mädchen, die sich Privilegien mit ihrem Körper erkaufen. Ich habe auch von Mädchen gehört, die noch härter bestraft werden, weil sie sich weigern. Allein die Vorstellung macht mich fuchsteufelswild.

Ab und zu hat mir ein Wärter ein Angebot gemacht. Ich sagte jedes Mal direkt Nein. Ich hatte bisher keinen Sex, und mein erstes Mal wird verdammt noch mal kein scheiß Geschäftsdeal sein. In meinem alten Leben haben viele meiner Freundinnen eine schnelle Nummer geschoben, und ich habe bald herausgefunden, dass die meisten danach enttäuscht waren, nur ganz wenige seufzten verträumt.

Der Verlust meiner Jungfräulichkeit ist eine Erinnerung, die ich in mein Zweitleben mitnehmen werde, und ich werde verdammt noch mal eine von denen sein, die verträumt seufzen.

»Treibst du’s mit dem Chef?«, frage ich sie.

Sloan wird rot. Verlegenheit? Scham? Beides?

Sie springt auf und schnauzt: »Ach, fahr doch zur Hölle, Irre!«

»Und dieses luxuriöse Etablissement verlassen? Nö.«

Sie stolziert davon und sucht sich einen anderen Platz.

Ich bleibe die ganze Zeit äußerst wachsam … während der Therapie, des Unterrichts … des Mittagessens … und schließlich während des Abendessens. Niemand greift mich an, aber die Wärter sind alle ein wenig zu nett. Sie lächeln jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeikomme. Sie fragen, ob sie mir irgendwie helfen können.

In dieser Nacht, nachdem Bow und ich in die Zelle geschlossen und die Lichter gelöscht wurden, hänge ich ein Tuch über die Kamera – nur für den Fall – und suche meine Waffen zusammen, die ich aus Löffeln und Zahnbürsten hergestellt und hinter einem Stein in der Wand versteckt habe.

Niemand sagt, dass ich das Tuch entfernen soll, was ein Zeichen für sich ist. Die Wärter wollen keinen Beweis für das, was geschehen wird, denn danach können sie mir die Schuld für alles in die Schuhe schieben und sogar behaupten, dass ich mich selbst verletzt hätte, um ihnen zu schaden. Wobei sie natürlich sowieso keinen Ärger dafür bekommen, wenn sie einem wehtun.

»Was ist los?«, fragt Bow.

Ich erkläre ihr die Situation. Sie wedelt mit einer Hand durch die Luft, unbesorgt.

»Die Waffen brauchst du nicht«, sagt sie. »Ich kümmere mich darum. Du kannst dich einfach zurücklehnen und die Show genießen.«

Von wegen.

Ich beziehe seitlich der Tür meinen Wachposten. Seufzend stellt Bow sich neben mich.

Eine Stunde nach der anderen vergeht, doch ich bleibe an meinem Platz. Ich habe das früher schon getan, während der Tumulte, die in unserem Garten stattfanden.

Mein Dad ist Senator im Haus von Myriad und dafür zuständig, dass von Myriad eingebrachte Gesetzesentwürfe durchgehen und die von Troika nicht.

Manchmal, wenn ein zentraler Streitpunkt aufkam – wie der Wunsch von Myriad, die menschliche Regierung abzulösen –, versammelten sich troikanische Demonstranten in unserem Garten, warfen faules Gemüse an unsere Türen und Fenster und schrien Obszönitäten. Ich musste warten, bis es vorbei war.

Der Stress ist das größte Problem. Meine Glieder zittern. Mein Magen zieht sich zusammen. Schweiß läuft mir über den Rücken. Aber zumindest gebe ich nicht auf.

Ich werde mich nie wieder aufgeben.

»Bist du sicher, dass sie heute Nacht kommen?«, fragt Bow so gleichgültig wie immer.

»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Sloan hat vielleicht gelogen. Ihre Form von Rache, schätze ich. Wobei es nicht zu ihr passt, uns einfach nur nervös zu machen. Sie kämpft selbst auch lieber mit scharfen Waffen.

Und dann gleitet die Tür auf. Mein Körper spannt sich, zum Angriff bereit. Vier Männer mit schwarzen Masken marschieren in den Raum.

Sie wissen, wo wir uns verstecken. Die beiden ersten Männer schwingen herum und verpassen uns jeweils einen brutalen Schlag.

Ich bin langsamer als sonst und kann mich nicht rechtzeitig ducken. Ich bekomme einen Fausthieb auf die Brust, mein Herzschlag setzt einen Moment aus … dann noch einen … bevor es viel zu schnell weiterschlägt. Bow gelingt es auszuweichen, sie packt den Typen am Arm, benutzt ihren Ellbogen als Ramme und bricht ihm den Unterarm. Während er vor Schmerzen aufheult, tritt sie dem anderen in den Bauch. Er krümmt sich.

Ich reagiere, indem ich ihm das Knie gegen die Nase knalle. Als er zu Boden geht, stürzt sich ein anderer Typ auf mich. Beim Aufprall auf dem Fußboden durchflutet mich Schmerz. Ich bekomme kaum Luft, meine Lunge flattert, ich sehe Sternchen.

Steh auf! Ich muss gewinnen.

Es gelingt mir nicht. In der Zwischenzeit höre ich das Rascheln von Kleidern, das Knirschen von brechenden Knochen … ein weiteres schmerzvolles Aufheulen. Ein Schleifgeräusch. Das Schnauben eines Mädchens.

Ein Schatten fällt über mich. Ich hebe abwehrend eine Hand …

»Schon okay«, sagt Bow. »Ich bin’s bloß.«

Erleichtert strecke ich mich auf dem kalten, harten Boden aus.

Vielleicht kann ich ihr zumindest etwas vertrauen?

Nein, nein. Ich muss dem Wunsch widerstehen. Egal, was Sloan gesagt hat – egal, was Bow getan hat –, aus einer Freundschaft entsteht nie etwas Gutes. Wir sind zu unterschiedlich. Da Bow ja Troika unterstützt, wird sie sich noch früh genug gegen mich stellen.

»Ich schätze, wir sind quitt«, stoße ich hervor. Ich habe sie gegen Sloan verteidigt, sie mich gegen die Wärter. Klar bin ich besser dabei weggekommen, aber das ist nicht mein Problem.

»Wow. Du bist echt ’ne harte Nuss. Und das meine ich nicht als Kompliment.«

»Früher war ich nett«, erkläre ich. Meine Art der Entschuldigung, schätze ich. »Ich war sogar schüchtern.«

Ich vermisse das Mädchen, das ich einmal war, wirklich nicht; sie ist eine vollkommen Fremde für mich. Sie war ängstlich und schwach.

Mit einer Kraft, die mich verblüfft, hebt Bow mich hoch und trägt mich zu meinem Bett. Dann beugt sie sich vorsichtig vor und sagt: »Was du jetzt brauchst, ist …«

»Sag jetzt bloß nicht Licht.«

»Schön. Eine Ablenkung von deinen Problemen. Sollen wir ein bisschen miteinander rummachen?«, fragt sie mit neckendem Unterton in der Stimme. »Wäre aus reinem Mitleid, mehr nicht. Du bist zwar weiblich, aber trotzdem nicht mein Typ. Viel zu vorlaut. Oh! Ich weiß! Ich könnte dir zeigen, wie du besseren Nutzen ziehen kannst aus …«

»Halt die Klappe.« Ich versuche, nicht zu lachen. Lachen macht den Schmerz nur schlimmer.

»Ist das ein sanftes Nein?«

»Ein hartes Nein. Ich habe momentan eine Beziehung.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Du hast einen Freund?«

»Nein.« Ich vermisse dich so, James. »Ich bin mit mir selbst zusammen.«

Bow grunzt. »Willst du meinen Rat hören? Mach mit dir Schluss. Du tust dir nicht gut.«

»Hey!«

»Nun, es stimmt aber. Momentan geht bei dir alles den Bach runter.«

Die nächsten Tage verlaufen überraschend gut. Nun, so gut, wie sie an einem abscheulichen Ort wie Prynne sein können.

Die vier Wärter sind weg. Dr. Vans behauptet, sie wären einfach verschwunden, doch das kann nicht stimmen. Er bestraft seine Männer nie. Ich denke, die Scheißkerle erholen sich in der Krankenstation. Ich verstehe bloß nicht, warum Bow und ich nicht bestraft werden.

Ich meine, wir bekommen drei Mal am Tag zu essen, werden nicht ein einziges Mal aus dem Unterricht herausgeholt, und Sloan hat uns nicht attackiert.

Es sind die kleinen Dinge, die zählen.

Mein größtes Problem? Die meisten von Bows Gesprächen beginnen mit: »Wenn du dich Troika anschließt, wirst du …«

– Die wahre Bedeutung von Freude entdecken.

– Zum ersten Mal in deinem Leben Frieden verspüren.

– Zugang zu den besten Ratgebern der Welt haben.

– Freunde finden, die immer für dich einstehen.

Such dir was aus. Such dir alles aus. Komm schon. Aber, Pech für sie, Myriad macht dieselben Versprechungen.

Ich drücke meinen neuesten Blutfleck auf den Kalender und richte mich dann ohne Probleme auf. Mein Rücken wird immer besser, ich kann mich fast wieder normal bewegen.

»Verrat mir eines.« Bow schnürt ihre Stiefel zu.

Es überrascht mich, dass sie bei klarem Verstand ist. Die ganze Nacht lang hat sie die Wand bedroht: Geh weg. Ich werde dich umbringen. Ach ja? Tja, zumindest kann ich dir sehr wehtun.

»Hast du dich vor Kurzem eventuell mit einem neuen MA getroffen? Einem Jungen? Vielleicht irgendwie … gut aussehend.« Sie würgt, als hätte sie etwas Ekelhaftes gegessen. »Vielleicht hat er dich insgeheim mal zur Seite genommen.«

MA – Myriad-Agent. »Nein. Wieso?«

Sie hebt gespielt zwanglos eine Schulter. »Ich weiß, wie Myriad arbeitet. Wenn ein Teenager-Mädchen sich ihnen nicht anschließt, schicken sie einen Jungen, von dem sie denken, dass er dem Mädchen gefällt. Einer, der sie auf Touren bringen soll.«

»Mein Motor ist im Leerlauf, schon vergessen? Vielleicht für immer.« Nach James … Nein. Einfach nein.

»Hey. Sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Meine Eltern würden niemals zulassen, dass …

Quatsch, wem will ich hier was vormachen? Natürlich würden sie es zulassen.

»Das wäre aber immer noch besser als die Alternative.« Sie steht auf, reckt die Arme über den Kopf und drückt den Rücken durch. »Wenn Myriad dich irgendwann für einen hoffnungslosen Fall hält, werden sie wahrscheinlich jemanden schicken, der dich tötet.«

Gilt genauso für Troika. Man hört, dass es Agenten gibt, die Ungezeichnete lieber vergiften, bevor sie sich der anderen Sphäre anschließen können. »Erstens habe ich nicht vor, mich irgendwem anzuschließen. Punkt. Und zweitens, falls ich hier sterbe, wird Dr. Vans zumindest keinen Bonus bekommen.«

Der Vorteil? Der gierige Dreckskerl würde sich sogar eine Kugel einfangen, um mich zu retten. Der Nachteil? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er bei meinen Folterungen einen Schritt weitergeht.

Doch egal, was man mir in der Zukunft antut, ich überstehe es. Ich muss einfach. Ich werde an meinem achtzehnten Geburtstag entlassen. Obwohl meine Eltern sich lange vor meiner Zeugung Myriad angeschlossen haben, gab es eine besondere Klausel in Bezug auf die Geburt eines Kindes.

Bei meiner Geburt wurden ihre Verträge neu verhandelt. Seitdem hängen ihre Vergünstigungen davon ab, wie ich mich entscheide. Ein Ansporn, mich »richtig« zu erziehen.

Sollte ich, bis ich das Alter der Verantwortung erreicht habe, nicht bei Myriad unterzeichnet haben, werden meine Eltern alles verlieren, was sie mehr lieben, als sie mich jemals geliebt haben. Geld und Prestige. Häuser. Autos. Boote. Ganz zu schweigen von all den Dingen, die ihnen fürs Ewigleben versprochen wurden.

Bow seufzt. »Ein neuer Tag, ein neues Frühstück. Oder eine Mahlzeit, die vorgibt, ein Frühstück zu sein.«

Ein bedrohliches Gefühl steigt in mir hoch, ein Schatten, den ich nicht abschütteln kann, legt sich über mich. Etwas Schlimmes steht bevor. Es steht immer etwas Schlimmes bevor. Aber da inzwischen sechs ereignislose Tage vergangen sind, wird das Schlimme bald geschehen.

Mit resignierter Stimme sagt sie: »Unsere Zellentür öffnet sich in …«

»… drei, zwei, eins«, beende ich ihren Satz.

Die Türen gleiten auf, und wir stürzen in den Gang.

Sloan zeigt mir den Stinkefinger. Natürlich freut sie sich, dass es vier Wärter weniger gibt, aber sie ist ganz offensichtlich über irgendetwas sauer und teilt aus.

Ich betrachte sie eindringlich und entdecke fingergroße Blutergüsse an ihrem Hals. Jemand hat versucht, sie zu erdrosseln. Kenne ich, habe ich alles schon erlebt.

Wenn ich auch nur einen Hauch von Mitleid zeige, wird sie mir einen gegen den Kehlkopf verpassen. Ich werfe ihr ein Küsschen zu.

»Komm jetzt«, sage ich zu Bow.

Wir steuern auf den Speisesaal zu, wo ich aus reiner Gewohnheit die Anwesenden zähle. Mein Blick landet auf einem Jungen, den ich nie zuvor gesehen habe, und, oh, wow. ER IST UMWERFEND. Nicht, dass ich auf hübsche Gesichter stehe. Hinter einem hübschen Gesicht kann sich ein Monster verbergen. Aber er ist praktisch ein lebendig gewordener Werbespot des Jungen, von dem jedes Mädchen auf der ganzen Welt träumt.

Er hat dunkles Haar, das ihm in die ernst blickenden Augen fällt. Die Farbe erkenne ich nicht, doch wie bei Bow spüre ich die Intensität – denn er sieht mich unverwandt an. Seine Nase ist gerade, vorbildlich, seine Lippen sind weich und rosa. Er hat ein festes Kinn und den Anflug eines Dreitagebarts.

Er lehnt sich zurück, legt seine tätowierten, muskulösen Arme über die Stuhllehne und lächelt. Dabei entblößt er träge seine perfekten weißen Zähne.

In solchen Momenten vermisse ich Clay mehr als sonst. Er hatte – hat! – so eine gute Menschenkenntnis. Er muss nur einen Blick auf einen Neuzugang oder einen Wärter werfen und weiß, ob derjenige ein Herz aus Gold hat oder eins, das verrunzelt ist wie eine alte Pflaume. Wir nannten ihn den Herzanalysten.

Wo bist du, Clay?

»Sohn eines Myriader-Trolls«, zischt Bow und macht einen Schritt vor, womit sie beinahe aus der Schlange tritt. »Wie kann er es wagen, sein hässliches Gesicht zu zeigen!«

Ich packe sie hart am Handgelenk, um sie zurückzuhalten.

»Keine Sorge.« Sie schnauft. »Ich werde die Regeln nicht brechen und ihn umbringen. Er wird einfach nur meine Fäuste kennenlernen – und zwar wiederholt!«

Da sie nicht aufhört, an meiner Hand zu zerren, baue ich mich vor ihr auf und zwinge sie, mich anzusehen. »Beruhige dich. Sofort. Oder du wirst noch schreien und um dich treten und aus dem Saal geschafft.«

Sie versucht, den Jungen über meine Schulter hinweg böse anzustarren.

»Mein TA sagte mal, zu hassen ist, als würde man einen Kelch Gift trinken und erwarten, so der anderen Person zu schaden«, sage ich, da gibt sie endlich nach. »Du tust nicht ihm weh, sondern nur dir selbst.«

»Aber … aber … ich bin im Recht«, jammert sie.

»So wie alle anderen auch, könnte ich wetten.« Ich starre sie neugierig geworden an. »Woher kennst du ihn? Was hat er dir getan?«

Sie wird steif und dreht sich weg. »Wir haben uns ein-, zweimal getroffen. Er ist das pure Myriad-Böse, glaub mir.«

»So schlimm kann er nicht sein. Ich bin mir sicher …«

Sie wirbelt zu mir herum, packt mich am Hemd und umklammert das Revers, ihre kupferbraunen Augen flehen mich an zu verstehen. »Er ist schlimmer als böse. Halt dich von ihm fern. Okay? Einverstanden?«

Ich riskiere einen weiteren Blick auf das »pure Myriad-Böse«. Er hat jetzt Bow ins Auge gefasst, betrachtet sie von Kopf bis Fuß wie ein Raubtier seine nächste Mahlzeit. Er lächelt wieder, träger als zuvor und viel teuflischer, und fährt sich mit der Zunge über die Zähne, als könnte er sie bereits schmecken … und will mehr haben.

Ich bekomme kaum noch Luft.

»Bewegt euch«, fordert das Mädchen hinter Bow uns auf und versetzt ihr einen Stoß.

Ich werfe dem Mädchen einen wilden Blick zu, der es locker mit dem von Sloan aufnehmen kann, und erst als sie auf ihre Füße starrt, gehe ich einen Schritt weiter und nehme das Tablett von einem Ekelpaket mit fettigem Haar und sogar noch fettigerem Schnurrbart entgegen. Ich bin ziemlich sicher, dass Dr. Vans absichtlich den letzten Abschaum der Welt anheuert, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen.

Bow nimmt ebenfalls ihr Tablett und bugsiert mich durch den Speisesaal an einen Tisch möglichst weit vom neuen Typen entfernt. Ich lasse ihr das nur aus einem Grund durchgehen: wegen meiner dummen Neugier. Auf dem Weg kommen wir an Sloan vorbei, die sich die Gelegenheit nicht entgehen lässt und versucht, Bow ein Bein zu stellen. Bow ist wirklich ein Freak. Sie hüpft einfach drüber, klemmt Sloans Knöchel zwischen ihren Beinen ein und reißt das Mädchen vom Stuhl.

Sloan geht zu Boden und knallt dabei mit einem Ellbogen gegen ihr Tablett. Das Essen tropft auf ihren Kopf, und sie kreischt, während alle anderen im Speisesaal still werden. Schließlich kichert jemand, und das ist der Startschuss. Plötzlich explodiert der Raum vor wieherndem Gelächter.

Bow grinst nicht trotz ihres Triumphs; sie runzelt die Stirn. Wünscht sie sich mal wieder, anders mit der Situation umgegangen zu sein?

»Tut mir leid«, ruft sie über die Schulter.

Sie ist mir echt ein Rätsel. Klugheit gepaart mit einem feinen Sinn dafür, wie man sich verteidigt. Zugleich hat sie ein tief verwurzeltes Bedürfnis, mit anderen gut auszukommen.

Als wir einen Tisch gefunden haben, sieht sie mich durchdringend an. »Hör zu. Die Dinge stehen jetzt anders. Dinge, die du nicht verstehst. Du musst mir vertrauen, und du musst von nun an ständig in meiner Nähe bleiben. Egal, was passiert. Okay? In Ordnung? Ich sorge für deine Sicherheit. Wenn du mich lässt.«

»Du kannst nicht für meine Sicherheit sorgen.« Das kann niemand. »Dafür ist es hier viel zu gefährlich.«

»Mann, ich habe dir doch bereits das Gegenteil bewiesen, und du glaubst mir noch immer nicht?«

»Außerdem«, fahre ich fort, als hätte sie nichts gesagt, »will ich nicht, dass du es auch nur versuchst. Das meine ich ernst. Du bringst dich bloß selbst in Schwierigkeiten.«

»Ten …«

»Nein. Keine Diskussion.« Vielleicht bin ich unsicher, was meine Zukunft betrifft, aber bezüglich meiner Gegenwart bin ich mir völlig sicher. Niemals werde ich mein Wohlergehen in fremde Hände legen. Früher einmal habe ich meinen Eltern vertraut. Die haben mich hierhergeschickt. Ich habe James vertraut. Seit er tot ist, spüre ich einen schrecklichen Verlust. Ich habe Marlowe vertraut, die auf Troikas Seite stand, sich jedoch erhängt hat, um der Anstalt zu entkommen und in die Sphäre einzutreten. Und damit hat sie Clay verlassen, der sie liebte.

Ich weiß nicht, ob sie jetzt tatsächlich in Troika oder in Viele Enden ist – falls Viele Enden überhaupt existiert. Selbstmord ist ausdrücklich von beiden Sphären verboten, er kann ein bestehendes Bündnis komplett hinfällig machen.

Ich habe auch Clay vertraut. Bis zu Marlowes Tod blieb er clean und trocken. Danach drehte er durch und tat alles Mögliche, um einer Krankenschwester »Glücksdrogen« abzukaufen.

Sein Hirn von den Drogen weggebrannt, bat er mich, mit ihm zu fliehen. Er sagte, er hätte die Wärter dafür bezahlt, dasselbe zu tun, was James getan hat. Ich hatte bereits James verloren und konnte den Gedanken nicht ertragen, noch jemanden zu verlieren, deswegen bat ich ihn, mir Zeit zu geben, bis ich einen besseren Plan habe.

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