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Ballet School – Die große Entscheidung

Als Buch hier erhältlich:

Herzschmerz und Intrigen: das große Finale der »Ballet School«-Trilogie von Bestsellerautorin Gina Mayer

Mitten im Schuljahr kommt plötzlich ein neuer Schüler in Aprils Klasse an der Royal Ballet School - Younes. April findet ihn faszinierend – aber ihre Gefühle für den begabten und geheimnisvollen Raoul sind ebenfalls noch stark. Das wird April schmerzlich bewusst, als sie herausfindet, dass Raoul ein Angebot aus New York bekommen hat. Als Mr de Waal, der gefürchtete Lehrer für Klassisches Ballett, ihrem Freund Wylie das Leben regelrecht zur Hölle macht, gerät Wylies Zukunft an der Ballettschule mehr und mehr in Gefahr. Was wird aus seinem Traum - und was aus Aprils?

Für alle, die die Magie der Ballett-Welt lieben


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Aus der Serie: Ballet School
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 192
  • Altersempfehlung: 11
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802495

Leseprobe

1

Wylie und ich rasen die Treppe zum zweiten Stock hoch. Als wir oben angekommen sind, keuchen wir beide, als ob wir bereits eine Stunde Balletttraining hinter uns hätten. Dabei hat der Unterricht noch gar nicht angefangen. Also, hoffentlich jedenfalls.

»Sind wir im kleinen Saal oder im Eckstudio?«, stoße ich atemlos hervor.

»Eckstudio, glaub ich«, sagt Wylie. »Mist, die Tür ist zu. Die sind alle schon drin.« Er hastet an mir vorbei zum Ende des Ganges.

Wir haben beim Frühstück total die Zeit vergessen. Daran ist Wylie schuld, der zum Essen unbedingt nach draußen gehen wollte. Obwohl es erst Ende März ist und eigentlich noch viel zu kalt, um im Freien zu frühstücken.

Weil wir als Einzige draußen saßen – kein anderer war so bescheuert wie wir –, haben wir nicht mitbekommen, wie die Mensa immer leerer wurde. Als Wylie auf die Uhr schaute, war es kurz vor acht. Und um acht beginnt der Unterricht.

Jetzt haben wir drei Minuten Verspätung. In meiner früheren Schule wäre das kein Problem gewesen, da kamen sogar die Lehrer zu spät zur ersten Stunde. Aber in der Royal Ballet School ist Unpünktlichkeit ein absolutes No-Go. Die Tage sind hier so vollgestopft mit Tanzstunden, Theorie, Kraftsport und den normalen Fächern, wer das alles schaffen will, muss superdiszipliniert und organisiert sein.

Zu allem Überfluss haben wir heute in der ersten Stunde auch noch eine neue Lehrerin. Mrs Cholewa wird unsere Klasse künftig in Pas de deux unterrichten. Früher war sie Erste Solistin in der Semperoper in Dresden. Vor ein paar Jahren hat sie einige Monate lang in der Royal Opera in London getanzt – Sasha und Yue haben sie damals sogar gesehen.

Mrs Cholewa ist schon länger an der Schule, aber für uns ist sie neu, und obwohl Wylie und ich genau wissen, dass der erste Eindruck der entscheidende ist, kommen wir zu spät zu ihrem Unterricht.

Wylie öffnet behutsam die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Vielleicht können wir uns irgendwie unbemerkt in den Raum schleichen.

Doch nun sehe ich, dass Wylie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen bleibt.

Über seine Schulter werfe ich einen Blick in den lichtdurchfluteten Saal mit den hohen Fenstern. Keine Mrs Cholewa, keine Klasse.

»Was wollt ihr denn hier?«, fragt eine schneidende Stimme.

Wylie öffnet den Mund, aber es kommt kein Laut heraus. Und jetzt erst bemerke ich Mr de Waal, unseren Lehrer für Klassisches Ballett, der neben der Musikanlage steht. Die Peitsche, wie er in der Schule auch genannt wird. Mr de Waal ist nämlich superstreng. Er hat ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und scharfe Falten neben dem Mund. Sein Körperbau ist athletisch, man sieht Mr de Waal an, dass er sein Leben lang getanzt hat.

»Ist Mrs Cholewa nicht hier?«, frage ich an Wylies Stelle. Eine bescheuerte Frage, die Antwort ist ja wohl offensichtlich.

»Die sind in den gelben Saal umgezogen.« Mr de Waal wirft einen Blick auf seine Uhr. »Wenn ihr pünktlich gewesen wärt, hättet ihr es mitbekommen.«

»Alles klar«, sage ich und greife an Wylie vorbei zur Türklinke, um die Tür so schnell wie möglich wieder zuzuziehen. Mr de Waal ist mit Abstand der unangenehmste Lehrer in der Junior School, ich hab echt keine Lust auf eine Moralpredigt. Aber leider ist die Peitsche schneller.

»Wo ich dich gerade sehe, Ryan«, sagt er. »Du kommst heute Nachmittag um vier ins kleine Studio im ersten Stock.« Aus irgendeinem Grund nennt Mr de Waal Wylie immer beim Nachnamen. »Der Kollege Enzo ist ebenfalls dabei, dem hab ich schon Bescheid gegeben.«

»Was?«, fragt Wylie. Sein Wangen glühen auf einmal so rot wie seine Haare, und seine Stimme klingt knarzig, als wäre sie eingerostet. »Wieso?«

»Sondertraining. Eure Darbietung gestern war unter aller Kanone. Da müssen wir noch mal ran.«

In der letzten Ballettstunde hat Mr de Waal ununterbrochen auf Wylie und Enzo rumgehackt, weil sie eine Sprungsequenz nicht sauber ausgeführt haben. Seine abfälligen Bemerkungen waren allerdings alles andere als hilfreich. Am Ende waren beide so fertig, dass sie komplett versagten. Wylie hatte Tränen in den Augen, als er den Übungssaal endlich verlassen durfte. Das ist der Peitsche bestimmt nicht entgangen.

Wylie ist ein super Tänzer, er bewegt sich kraftvoll, sicher und ausdrucksstark, alle Lehrer sind mit ihm zufrieden. Nur Mr de Waal hatte ihn von Anfang an auf dem Kieker. Er kritisiert Wylie nicht nur – er macht sich über ihn lustig und führt ihn vor der ganzen Klasse vor.

An Wylies Stelle wäre ich schon hundertmal ausgerastet und hätte der Peitsche so richtig die Meinung gesagt. Wenn er mich danach rausgeschmissen hätte – egal. Aber das macht Wylie nicht, er ist viel zu nett, um laut zu werden.

Stattdessen sackt er in sich zusammen, wenn Mr de Waal auf ihm rumtrampelt. Das ist das Schlimmste, was man tun kann. Die Peitsche hasst ängstliche und unsichere Menschen und piesackt sie nur noch mehr, wenn sie sich nicht wehren.

Meine Freundin Shasa und ich haben alles Mögliche versucht, um Wylie aufzubauen. Wir haben es sogar schon mit Rollenspielen versucht. Solange eine von uns die Peitsche spielt, klappt das super. Wylie steht aufrecht und selbstbewusst vor uns und sagt uns mit klarer, lauter Stimme die Meinung.

Aber sobald er dann den richtigen Mr de Waal vor sich hat, fällt er in sich zusammen wie ein undichter Fußball.

»Um vier … äh … da kann ich leider nicht«, stammelt Wylie. »Wir haben da Kunst.«

»Ich hab das schon geklärt«, sagt die Peitsche. »Ihr seid freigestellt. Aber jetzt macht mal, dass ihr in den Unterricht kommt, ihr verpasst ja die halbe Stunde.«

Mrs Cholewa hat ein schmales, fast durchsichtig wirkendes Gesicht. Ihre Augen sind hellblau, die Wimpern weiß, und die hellblonden Haare hat sie zu einem schweren Dutt gebunden. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt, sie leuchten richtig auf ihrer blassen Haut. Das sieht echt krass aus.

Sie nickt nur kurz, als Wylie und ich den Raum betreten und unsere Entschuldigung herausstammeln.

»Setzt euch hin«, sagt sie. »Und seid beim nächsten Mal pünktlich.«

Wir verdrücken uns zum Rest der Klasse, der vor der Lehrerin auf dem Boden hockt. Mrs Cholewa steht in sehr aufrechter Haltung vor der Spiegelwand.

»Also, weiter im Text«, greift sie ihren Faden wieder auf. »Das Thema Romantik wird in den nächsten Monaten im Mittelpunkt stehen. Bis zum Schuljahresende werde ich mit euch einen Pas de deux aus einem großen Ballett einstudieren. Ja?«

In der ersten Reihe hat sich Heidi gemeldet.

»Im letzten Jahr durfte ein Paar aus der ersten Stufe bei der Abschluss-Gala tanzen. Ist das dieses Jahr wieder so?«

Die Abschluss-Gala ist ein gemeinsamer Ballettabend der Junior und Senior School, der jedes Jahr im Sommer im Royal Opera House stattfindet. Obwohl es erst April ist, kriegt man bereits jetzt keine Tickets mehr für die Veranstaltung – die Gala ist immer schon Monate vorher ausverkauft. Und es kommen beileibe nicht nur die stolzen Eltern und Angehörigen der Schüler, um zuzuschauen, sondern alle möglichen wichtigen Leute aus der Tanzszene. Bei der Gala einen Pas-de-deux zu tanzen, wäre ein Traum für jeden von uns.

»Ja«, sagt Mrs Cholewa knapp. »Es wird dazu eine Audition geben, an der auch die Parallelklasse teilnimmt. Aber darüber informiere ich euch noch.«

»Na super. Noch mehr Stress«, murmelt Dimitri, der neben mir sitzt.

Die letzten Monate des Schuljahres haben es ohnehin schon in sich. Denn zum Schuljahresende wird in der Royal Ballet School ausgesiebt. In jedem Jahrgang müssen ein oder zwei, manchmal auch drei Leute gehen, die die hohen Anforderungen der Schule nicht erfüllen. Das ist bitter, weil wir ja alle erst vor Kurzem die Aufnahmeprüfung bestanden haben.

Ich hoffe so sehr, dass ich es ins nächste Schuljahr schaffe. Für mich ist es eine besondere Herausforderung – meine Klassenkameraden haben mit vier oder fünf Jahren mit dem Ballettunterricht begonnen, ich dagegen tanze erst seit zweieinhalb Jahren. Und einige in der Schule sind überzeugt, dass ich es nicht wegen meines Talents auf die Royal Ballet Academy geschafft habe, sondern allein wegen meiner Mutter.

»So.« Mrs Cholewa richtet sich noch ein bisschen gerader auf. »Jetzt fangen wir aber mal mit dem Training an. Wir beginnen mit einem Warm-up.«

Während wir aufstehen, gleiten ihre hellblauen Augen über unsere Gruppe. Ihre roten Lippen bewegen sich lautlos, während sie zählt.

»Elf«, sagt sie dann. »Ah, ihr seid also die Klasse mit der ungeraden Schülerzahl.«

Keiner wendet den Kopf zu mir, ich habe trotzdem das Gefühl, dass mich alle im Raum anstarren.

In den anderen Klassen ist das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen ausgeglichen, nur bei uns gibt es ein Mädchen zu viel. Das bin ich.

Ich wurde zusätzlich in die Klasse aufgenommen, als Extrawurst sozusagen. Im Pas-de-deux-Unterricht ist das sehr ungünstig, weil immer ein Mädchen übrig bleibt, das keinen Partner hat. Und es schreit geradezu danach, dass am Ende eine Schülerin gehen muss.

Jetzt erst bemerke ich, dass Wylie als Einziger sitzen geblieben ist. Er hat das Kinn auf die angezogenen Knie gelegt und ist mit seinen Gedanken ganz woanders – und ich weiß auch, wo.

»Wylie«, zische ich ihm zu. »Warm-up.«

Er fährt nach oben, als ob ich ihn getreten hätte.

»Alles okay?«, flüstere ich ihm zu.

Er antwortet nicht. Ist auch nicht nötig.

Nichts ist okay. Wylie muss heute Nachmittag zum Sondertraining zu Mr de Waal. Wenn man ihm stattdessen eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt anbieten würde, würde er vor Freude jubeln.

2

Am Mittag wird es wirklich warm. Diesmal gehen viele mit ihren Tabletts ins Freie, Shasa, Wylie und ich haben Mühe, draußen noch Plätze zu finden.

Die Junior School der Royal Ballet Academy ist in der White Lodge untergebracht, einem historischen Gebäude, das mitten im Richmond Park liegt. Vor ein paar Wochen lag hier noch Schnee, aber jetzt sind die letzten Reste endgültig weggeschmolzen. Einige Bäume blühen bereits, die anderen tragen wulstige Knospen, und die Rasenflächen leuchten grün. In den Beeten recken sogar schon ein paar goldgelbe Narzissen die Köpfe ans Licht.

»Das riecht so gut.« Shasa schnuppert begierig. »Als ob man den ganzen Park frisch gewaschen hätte.«

»Morgen soll es noch wärmer werden«, sage ich.

Wylie sagt nichts. Er starrt düster vor sich hin.

»Komm schon, Wylie.« Ich versetze ihm einen leichten Knuff in die Seite. »Kopf hoch.«

Er schnaubt leise und verächtlich.

»Immerhin bist du nachher nicht allein«, sagt Shasa, die schon von dem Sondertraining gehört hat. »Enzo ist doch auch dabei.«

Wylie nickt trübsinnig. »Aber den macht Mr de Waal nicht so fertig«, murmelt er trübsinnig. »Er will vor allem mich loswerden.«

»So ein Quatsch.« Shasa schüttelt entschieden den Kopf. »Wir haben doch eh schon zu wenig Jungs.«

»Das ist der Peitsche egal«, sagt Wylie.

»Mr de Waal entscheidet doch nicht allein, wer auf der Schule bleibt und wer nicht«, sage ich.

»Hi«, sagt Shasa, und jetzt merke ich, dass Raoul neben unserem Tisch steht.

Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Wahrscheinlich bin ich knallrot.

Raoul Veloso ist zwei Klassen über uns, und obwohl er gerade mal sechzehn ist, arbeitet er bereits als professioneller Tänzer. Auch jetzt probt er gerade für eine neue Aufführung im Royal Opera House, deshalb bekommen wir ihn in der Schule so gut wie nicht mehr zu Gesicht.

Und das ist schade, vor allem für Wylie und mich – wir sind nämlich beide in Raoul verliebt. Leider hat Raoul mir gegenüber mehr als deutlich gemacht, dass er keine Beziehung will. Mit mir nicht – und zwischen ihm und Wylie läuft ebenfalls nichts, da bin ich mir sicher. Auch wenn Wylie und ich das Thema Raoul sorgsam vermeiden.

»Alles klar bei euch?«, fragt Raoul und stellt sein Tablett auf den Tisch. Er hat ein markantes Gesicht, hohe Wangenknochen und kräftige Augenbrauen, die seinem Blick etwas Düsteres verleihen. Auf seiner linken Wange prangt eine zackige Narbe, deren Herkunft Raoul verschweigt. Wie so vieles andere auch. »Kann ich mich zu euch an den Tisch quetschen?«

»Klar«, sagt Shasa. »Gut, dass du hier bist. Du musst Wylie aufbauen. Der muss nachher zum Sondertraining bei der Peitsche.«

Raoul schiebt eine Gabel Kartoffeln mit Brokkoli in den Mund und sieht Wylie kauend an. »Sondertraining?«, fragt er mit vollem Mund. »Wieso das denn?«

»Reine Schikane«, sage ich, bevor Wylie etwas erwidern kann. »Typisch de Waal eben.«

Während Raoul kaut und schluckt, sieht er mich nachdenklich an, worauf mein Gesicht noch ein bisschen röter wird. Für ihn ist das vermutlich ganz normal, er kennt mich nur mit knallroten Wangen.

»Das geht so nicht mehr weiter«, sagt er. Einen Moment lang glaube ich, dass er über meine Verliebtheit spricht, aber er meint Wylie. »Du darfst dich von dem Typen nicht so fertigmachen lassen.«

Ich muss wieder daran denken, dass Mr de Waal Raouls gesetzlicher Vormund ist. Nachdem Raoul an der Ballet School angefangen hat, verlangten seine Eltern plötzlich von ihm, zu ihnen nach Spanien zurückzukommen. Er wollte aber unbedingt in London bleiben und ging schließlich sogar vor Gericht, um ihnen das Sorgerecht zu entziehen. Ausgerechnet Mr de Waal unterstützte ihn in dieser Zeit, und nachdem Raoul den Prozess gewonnen hatte, bekam der Lehrer das Sorgerecht für Raoul zugestanden.

Das alles weiß ich aber nicht von Raoul persönlich, sondern über zwei Ecken: von Shasa, die es wiederum von Wylie gehört hat. Ich bin mir sehr sicher, dass Raoul nicht über die Sache reden will, deshalb hab ich es bisher nicht gewagt, ihn darauf anzusprechen.

Wylie starrt unglücklich auf sein Essen, das er noch nicht angerührt hat. »Was soll ich denn machen? Ich komm einfach nicht gegen ihn an.«

Raoul schiebt ein Stück Kartoffel in den Mund. »Zum Mobben gehören immer zwei«, sagt er. »Einer, der mobbt. Und einer, der sich mobben lässt.«

Wylie seufzt tief, es klingt fast wie ein Schluchzen. Ich würde ihm am liebsten den Arm um die Schulter legen, aber das würde alles nur noch schlimmer machen.

»Hör auf, Mr de Waals Spiel mitzuspielen, Wylie.« Raoul verfrachtet ein Stück Brokkoli und Kartoffeln auf seinen Löffel. Er isst ziemlich schnell, offenbar hat er mächtig Hunger. Oder einfach keine Zeit zum Essen. »Du bist ein super Tänzer. Und das sag ich nicht, weil ich dich trösten will, sondern weil es so ist. Aber das reicht nicht. Du musst dir bei Mr de Waal Respekt verschaffen. Und zwar ein für alle Mal.«

»Und wie soll ich das anstellen?« Nun hebt Wylie den Kopf. Seine Augen glänzen verdächtig. »Soll ich ihm eine reinhauen, oder was?«

Raoul lacht kurz auf. Dann wird er wieder ernst. »Konzentrier dich auf dein Training. Gib dein Bestes. Und sag dir immer und immer wieder, dass Mr de Waal scheißegal ist. Das ist er nämlich.«

»Nicht, wenn er mich hier rausschmeißt«, erwidert Wylie düster.

»Kapierst du das denn nicht?« Raouls Teller ist fast schon leer. »Er kann dich nicht rausschmeißen, dafür bist du zu gut. Das schafft er nur, wenn er dich bricht. Aber du lässt dich nicht brechen, okay?«

Er beugt sich zu Wylie und legt ihm die Hand auf die Schulter, und ich weiß genau, wie Wylie sich fühlt. Dass sein Herz jetzt in seiner Brust auf und ab hüpft wie ein Jo-Jo.

»Okay?«, wiederholt Raoul leise, und Wylie nickt.

Raoul schiebt ein letztes Stück Kartoffel in den Mund, dann wischt er sich mit der Serviette den Mund ab und schmeißt sie auf den leeren Teller. »Ich muss los«, erklärt er, während er aufsteht. »Hab gleich eine Besprechung mit Caspar.«

»Ist er schon in London?«, frage ich überrascht. »Ich dachte, er kommt erst nächste Woche.«

Caspar Moriarty unterrichtet Contemporary Dance in der Junior School, ihm verdanke ich, dass ich überhaupt an der Schule angenommen wurde. Obwohl ich die Aufnahmeprüfung vermasselt habe, hat er durchgesetzt, dass ich noch eine Chance bekommen habe.

Caspar ist der absolute Lieblingslehrer von Shasa, Wylie und mir. Er ist ein Wahnsinns-Choreograf, seine ungewöhnlichen Inszenierungen werden in der ganzen Welt gefeiert. Leider ist er deswegen auch ständig unterwegs. Er unterrichtet uns nicht im Rahmen des Stundenplans, seine Stunden werden gebündelt, sodass wir immer mal wieder – aber viel zu selten – mehrere ganze Tage in Folge bei ihm haben.

Aber für den Rest des Schuljahres wird sich das ändern. Caspar hat nämlich eine Produktion hier in London, deshalb haben wir künftig zweimal in der Woche Unterricht bei ihm.

»Was besprichst du denn mit ihm?«, fragt Shasa neugierig.

Raoul zuckt mit den Schultern. Als er sein Tablett nimmt, verschmilzt sein Blick einen winzigen Moment lang mit meinem. In meiner Brust explodiert etwas. Es tut weh und fühlt sich trotzdem gut an.

Abends skype ich mit meinen Freundinnen Mimi und Amanda aus Mulchester. Beide haben früher auch getanzt, aber inzwischen damit aufgehört, obwohl zumindest Mimi richtig gut war. Freundinnen sind wir trotzdem geblieben, auch wenn wir uns nur noch am Wochenende sehen. Wir quatschen ziemlich lang, und als ich schlafen gehe, stelle ich mit schlechtem Gewissen fest, dass ich Wylie total vergessen habe.

Auf meine Whatsapp, wie das Sondertraining gelaufen ist, antwortet er nicht. Dabei zeigen mir die blauen Häkchen, dass er sie gelesen hat.

Beim Frühstück am nächsten Morgen sehe ich ihn nicht in der Mensa. Danach haben wir Mädchen Spitzentanz. Ich treffe Wylie erst in Englisch, das wir bei unserer Klassenlehrerin Mrs Doright haben.

»Und? Wie war’s denn jetzt gestern?«, erkundige ich mich, während Mrs Doright die Tests zurückgibt, die wir in der letzten Stunde geschrieben haben.

Wylie bekommt sein Heft zurück und schlägt es auf, um seine Note zu sehen. »Eine Zwei«, sagt er gleichgültig und macht das Heft wieder zu.

»Wie ist es gelaufen?«, frage ich erneut. Dabei weiß ich die Antwort schon. Nicht gut.

Sonst würde Wylie mir jetzt nicht so ausweichen. Er streicht mit beiden Händen über den Umschlag seines Englischhefts, als müsste er ihn glätten.

»Wylie«, zische ich ärgerlich.

»Es gibt nichts zu sagen.« Nun hebt er den Kopf und sieht mich an. »Es war genau wie immer. Am Anfang hab ich versucht, mich an Raouls Ratschlag zu halten. Ich hab mich auf mein Training konzentriert, auf meine Atmung und so. Und es lief auch ganz gut.«

»Und dann?«

»Gut gemacht, April.« Mrs Doright legt mein Heft vor mir auf den Tisch. Ich schau gar nicht rein. In Englisch steh ich im Schriftlichen auf einer glatten Eins, ich bekomm auf jeden Fall eine gute Note im Zeugnis. Früher war ich eine mittelmäßige Schülerin, seit ich hier ins Ballettinternat gehe, sind meine Zensuren super geworden. Und das liegt nicht daran, dass die Anforderungen in den Fächern niedriger wären als auf meiner vorherigen Schule. Ich bin einfach viel konzentrierter und aufmerksamer, seit ich hier bin. Weil ich neben den Tanzstunden so gut wie keine Zeit zum Lernen habe, pass ich im Unterricht besser auf, und das zahlt sich aus.

»Jetzt sag schon, Wylie«, flüstere ich, als die Lehrerin weitergegangen ist.

Wylies Augen glänzen schon wieder. »Mr de Waal hört nicht auf«, wispert er mir zu, so leise, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen. »Der macht einfach immer weiter. Raoul hat gesagt, dass er mich brechen will. Aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Weil ich längst gebrochen bin.«

»Bin gespannt, was Caspar mit uns vorhat«, sagt Shasa, als wir nach der Stunde auf den Pausenhof treten. »Wir sehen ihn in nächster Zeit ja richtig oft.«

»Er will ein Stück für das Tomorrow-Festival entwickeln.« Wylie greift nach hinten zu seiner rechten Fußspitze und zieht seinen Schuh nach oben, um den Oberschenkel zu dehnen. Dabei stellt er sich auf die linke Zehenspitze.

»Für das Tomorrow-Festival?«, fragt Shasa. »Aber doch bestimmt nicht mit uns.«

»Ich glaub schon. Also, wenn ich Raoul richtig verstanden habe«, sagt Wylie. »Ich soll eigentlich nicht drüber reden. Caspar will uns das selbst sagen.«

»Was ist noch mal das Tomorrow-Festival?«, frage ich. Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.

»Ein Tanzfestival für Nachwuchstänzer. Es findet jedes zweite Jahr im Herbst in London statt, und es gibt nur zeitgenössische Stücke«, sagt Shasa.

»Das passt doch«, sage ich. »Wir sind schließlich alle Nachwuchstänzer.«

»Wir sind die totalen Anfänger«, sagt Shasa. »Die Tänzer, die auf dem Tomorrow-Festival auftreten, sind Profis. Das ist ein Riesending.«

»Und was hat Raoul damit zu tun?«, frage ich Wylie.

»Keine Ahnung.« Er lässt den linken Fuß los und greift nach dem anderen. »Vielleicht tanzt er ja auch mit.«

Mein Herz beginnt sofort schneller zu schlagen. Dabei weiß ich, dass Raoul bestimmt nicht gemeinsam mit uns auftreten wird. Er ist als Tänzer schon so viel weiter.

Er ist unerreichbar. Es ist lächerlich, dass ich mich ausgerechnet in ihn verliebt habe. Aber man kann sich das ja nicht aussuchen.

3

Ihre nächste Stunde beginnt Mrs Cholewa mit einer Balance-Übung. Sie holt Enzo nach vorn, damit er sie zusammen mit ihr vorführt.

Enzo ist total nervös, als er neben sie tritt, das sieht man an seinen zusammengepressten Kiefern.

Mrs Cholewa stellt sich vor ihn, sie dreht ihm den Rücken zu, die Füße sind in der fünften Position. Dabei stehen die Füße voreinander, und die Ferse des hinteren Fußes berührt den Ballen des vorderen Fußes.

Nun geht sie erst ins Plié und hebt sich auf die halbe Spitze.

Enzo muss sie festhalten und langsam in alle vier Richtungen neigen, ohne dass sich ihre Körperhaltung dabei irgendwie verändert. Bei Mrs Cholewa wirkt das Ganze supereinfach, aber ich ahne jetzt schon, dass es das nicht ist.

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