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Cosima und der Diamantenraub

Als Buch hier erhältlich:

Eine Mädchengang auf raffinierter Mission

London, 1899. Cosima lebt schon ihr ganzes Leben lang im Heim für beklagenswerte Mädchen. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Pearl, Mary und Diya macht Cos das Beste aus ihrem tristen Alltag und begeht regelmäßig raffinierte waghalsige Kuchendiebstähle aus der Küche. Doch dann wartet ein viel größerer Coup auf sie. Denn der berühmte Entdecker Lord Francis Fitzroy, der gerade eine Ausstellung von sagenumwobenen Raubgütern plant, will die Mädchen der Heimleitung abkaufen und hat offenbar fiese Pläne für die Mädchen. Werden Cosima und ihre Freundinnen es schaffen, den Sterndiamanten aus der Ausstellung zu klauen und damit ihre Freiheit sichern?

Dieses originelle Kinderbuch-Debüt vereint Spannung, Humor und Herz

Sensible Repräsentation von Kindern mit Behinderungen und chronischen Krankheiten


  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Aus der Serie: Cosima Unfortunate
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 288
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802624

Leseprobe

Für meine Eltern Jackie und Tim,
die immer an mich geglaubt haben.

Für meinen Ehemann Connor, der mir bei allem zur Seite steht.

Und für jedes Kind mit Behinderung, das sich nicht gesehen fühlt –
deine Geschichte zählt!

DER LONDONER ANZEIGER, 13. Nov.

DER LONDONER ANZEIGER
13. November 1899 Preis: 2 Pennys

MISS INKOGNITA SCHLÄGT WIEDER ZU –
LÜGEN EINES FABRIKDIREKTORS AUFGEDECKT

Londons tapferstes und geheimnisvollstes Reporterfräulein hat wieder einmal bewiesen, dass sich mit genug Zielstrebigkeit und Tatendrang alles erreichen lässt. In einem wagemutigen Unterfangen hat die junge Miss Inkognita das schäbige Tun der Streichholzfabrikanten aufgedeckt und bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für Frauen und Kinder erkämpft.
Die ganze Geschichte lesen Sie nur hier, nächste Woche im
Anzeiger.

Lord Francis Fitzroy, weltberühmter Entdecker,
präsentiert voller Stolz: 

DIE EMPIRE-AUSSTELLUNG

im Palast der Schätze auf der Exhibition Road

Bestaunen Sie Wunder aus dem gesamten Britischen Weltreich.
EXOTISCHE TIERE, bisher ungesehen an unseren Ufern, URALTE FOSSILIEN von Wesen längst vergangener Zeiten, GLITZERNDE JUWELEN aus den großartigen britischen Kolonien und SURRENDE ERFINDUNGEN, die Zuschauer in Erstaunen versetzen. 

Eröffnung am Freitag, den 20. November

Besondere Augenweide und HERZSTÜCK DER AUSSTELLUNG,
ein weltweites Symbol britischer Größe und Stärke:

DAS DIADEM MIT DEM STERNDIAMANTEN

Eintritt: 1 Schilling; von 10:00 bis 21:00 Uhr

Tunichtguten, Fremdlingen und Invaliden wird dringend von einem Besuch abgeraten. Lesen Sie alles Weitere auf Seite 2 der heutigen Ausgabe.

TAGUNG DES INSTITUTS – AUF DER SUCHE NACH EINEM HEILMITTEL FÜR DIE KÖRPERLICH UND SEELISCH BEHINDERTEN

Unter der Schirmherrschaft des Instituts fand am gestrigen Tag ein offizielles Treffen statt. Geladen waren alle am Umgang mit Behinderten Interessierten.
Die Teilnehmenden einigten sich auf eine nächste Zusammenkunft am kommenden Sonnabend im Palast der Schätze.

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KAPITEL EINS

Im Heim für beklagenswerte Mädchen drückte Cosima das Gesicht gegen das mit Eisblumen überzogene Erdgeschossfenster. Ihr Atem beschlug die Scheibe. Beinahe hätte sie die dunkle Gestalt übersehen, die zielstrebig auf die Haustür zuhielt. Gedämpfte Geräusche drangen durch die hauchdünnen Wände, und es machte wuuusch, als Miss Makel den geheimnisvollen Gast aus dem Schneesturm ins Haus holte. Die wohlhabenden Damen, die sie zum Tee eingeladen hatte, konnten es nicht sein – die wurden erst in ein paar Stunden erwartet.

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Schwere Schritte donnerten auf das Klassenzimmer zu.

»Da kommt Mr. Makel«, zischte Cosima den anderen zu. »Versteckt alles!«

So schnell sie konnte, richtete sie sich auf. Dabei veranstalteten ihre Gelenke ein schmerzhaftes Knack-Konzert. Die Nervosität im Klassenzimmer war beinahe greifbar, als Karten von Wänden gerissen und Schmuggelwaren hastig unter losen Dielenbrettern versteckt wurden. Diya stopfte ihre halb fertige Erfindung in den Schrank.

Cosima humpelte über den knarrenden Boden und stützte sich dabei auf ihren Gehstock. Es war ein alter Besenstiel, den Diya ganz hinten in einem Schrank voller Spinnweben gefunden hatte. Mit einem Plumps ließ sie sich auf einen der Stühle an den kleinen Tischen fallen. Im selben Moment ging das Guckloch in der Tür auf.

Ein neugieriges Auge schielte hindurch und funkelte die Mädchen an. Cosima verhielt sich möglichst unauffällig, während Miss Makels Bruder, der ebenso fürchterliche Mr. Makel, den Blick durch den Raum schweifen ließ und im Flüsterton durchzählte, ob auch alle dort waren, wo sie hingehörten.

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Cosima musterte ihre Freundinnen. Sie alle trugen identische Uniformen, krümmten sich über die Tische und starrten mürrisch auf die alten Taue, die sie aufdröseln sollten.

»Nummer eins, zurück an die Arbeit!«, blaffte Mr. Makel Cosima an. »Miss Makel will, dass jede von euch bis heute Abend drei Pfund Tauwerk gezupft hat.«

Wütend schnappte Cosima sich das dicke Seil, das in einem Haufen vor ihr auf dem Tisch lag, und fing an, die Fasern auseinanderzuziehen.

Ich heiße nicht Nummer eins, dachte sie trotzig.

Sie schielte auf die schiefe Eins, die auf ihre Uniform gestickt war. Jedes neue Kind erhielt bei der Ankunft im Heim für beklagenswerte Mädchen sofort eine Nummer. Die meisten Kinder wurden ihren Familien erst entrissen, wenn sie schon älter waren und ihre Behinderungen nicht mehr ignoriert werden konnten. Nur Cosima war schon als kleines Baby ins Heim gebracht worden und deshalb die Nummer eins.

Diese Tatsache lag ihr beinahe so schwer im Magen wie der ungenießbare Haferschleim, den die Makels ihnen hier jeden Tag vorsetzten. Doch als sie tief durchatmete, wurde ihr sofort etwas leichter ums Herz. Eines Tages würde sie das Geheimnis ihrer Vergangenheit lüften. Ganz sicher.

Als Mr. Makel endlich die Klappe des Gucklochs zuschlug, ließ Cosima sofort das Tau fallen.

Sie stand auf und lehnte sich etwas wackelig auf ihren Stock. »Bis zum Nachmittagstee mit den Damen dauert es noch Stunden, der Bäcker hat die Lieferung schon abgegeben, und Miss Makel ist gerade von dem unerwarteten Besuch abgelenkt«, flüsterte Cosima, sobald Mr. Makels Schritte im Flur verklungen waren. »Wenn es einen Moment gibt, in dem sie die Küchentür nicht mit Argusaugen überwacht, dann jetzt. Den müssen wir nutzen!«

Ein paar der Mädchen murmelten zustimmend, doch andere starrten weiter eisern auf ihre Seile.

Cosima seufzte. Sie hatten aufgegeben. Konnte sie ihnen das vorwerfen? Doch ein Mund voller Kuchen hatte eine heilsame Wirkung, daran glaubte Cosima ganz fest. Und sie war wild entschlossen, sie alle aufzumuntern. Also drehte sie sich zu den drei Mädchen um, die ihr am nächsten waren: ihren besten Freundinnen.

»Für diese Aktion brauche ich meine Expertinnentruppe. Was denkst du, Mary?«

Das hagere blonde Mädchen am Tisch neben Cosima rang die Hände und wippte mit den Knien auf und ab. Auf ihrer Schürze prangte eine gestickte Fünfzehn. Sie ließ das Seil fallen, das sie gerade auftrennte, und schnappte sich ihr treues Holzklemmbrett. Gedankenversunken drehte sie es in den Händen.

»Weiß nicht. Sie sperrt uns ohne Abendessen weg, wenn … Ich meine, falls sie uns erwischt.« Beim Sprechen stiegen Mary kleine Atemwölkchen aus dem Mund, und ihre Zähne klapperten. Seit ein paar Tagen war es bitterkalt – die Makels wollten das gute Feuerholz nicht für sie verschwenden.

»Aber mein Plan kann gar nicht schiefgehen!«, protestierte Cosima und schob die Unterlippe vor. Immer zweifelten ihre Freundinnen an ihren – ziemlich fantastischen – Ideen.

Ein bestürztes Schnauben ertönte. »Ich wette, das kann er doch!« Diya unterbrach ihre Arbeit am Seil und stieß sich von ihrem Tisch ab. Die Räder ihres Rollstuhls quietschten laut. Diya hatte braune Haut und seidig glänzende Haare, um die Taille trug sie einen überladenen Werkzeuggürtel, und auf ihrer Wange schimmerte ein verschmierter Ölfleck. Als Kleinkind hatte sie Polio gehabt, eine schwere Krankheit, die ihre Beine gelähmt hatte. Auf ihrem zerknitterten Kleid prangte die Nummer zehn. Jetzt sah sie Cosima mit hochgezogener Augenbraue an.

Cosima seufzte. Beinahe konnte sie die komplexen Berechnungen sehen, die in Diyas gigantischem Gehirn abliefen und unweigerlich dazu führen würden, dass Diya ihren Plan als lückenhaft abtat.

»Wenn wir uns deine früheren Streiche anschauen«, führte Diya aus und drehte ihren Lieblingsschraubenschlüssel zwischen den Fingern, »dann liegt die Erfolgswahrscheinlichkeit dieses speziellen Coups bei null Komma drei Prozent. Weißt du noch, wie wir uns mitten in der Nacht in Miss Makels Schlafzimmer geschlichen haben, weil du dachtest, sie sei ein blutsaugender Dämon, der sich nur gut tarnen kann?«

Cosima verschränkte die Arme. »Ich hatte gute Gründe für diese Theorie!«

Am Tisch neben Diya unterdrückte Pearl ein seltenes Kichern. Behutsam zeichnete sie sich einen großen Schillerfalter aufs Handgelenk. Er gesellte sich zu den Libellen, Motten und Bienen aus Tinte, mit denen sie ihre Arme bereits verziert hatte. Auch auf ihrer Uniform hatte sie herumgekritzelt, sodass die gestickte Zahl – die Dreizehn – kaum noch zu erkennen war. Pearl war, genau wie Cosima, ein medizinisches Mysterium. Ärzte bezeichneten ihr Verhalten als auffällig, doch Cosima fand, dieser Begriff wurde Pearls Großartigkeit nicht gerecht. Pearl war am liebsten allein, sprach nicht gern mit neuen Menschen und lächelte äußerst selten. Was jedes Grinsen, das Cosima ihr entlocken konnte, nur umso wertvoller machte.

»Oder …« Diya nahm sich kaum Zeit, Luft zu holen. »… als du dachtest, es sei eine gute Idee, wegzulaufen und Piratinnen zu werden. Miss Makel hat uns erwischt, noch bevor wir es durch die Haustür geschafft haben. Und wir hatten nicht mal ein Schiff!«

»Von dem Plan bin ich immer noch überzeugt«, murmelte Cosima.

»Und vom Wahrsager-Debakel will ich gar nicht erst anfangen!«

»Konzentrieren wir uns lieber auf den aktuellen Plan«, meinte Cosima hastig. »Pearl, wie läuft es mit deinen Fälschungen?«

Beim Klang ihres Namens sprang Pearl vom Tisch auf und steckte sich den Pinsel hinters Ohr. »Erstaunlich gut, wenn man bedenkt, dass ich das letzte Mal vor drei Jahren, vier Monaten, zwei Wochen, vier Tagen und ungefähr zwölf Stunden Kuchen gegessen habe.« Als sie die Tischplatte aufstemmte, kam ein ganzer Berg an feinstem Gebäck zum Vorschein.

Cosima entfuhr ein kurzes »Oh!«. Beim Anblick der Kirschtörtchen zog sich ihr Magen knurrend zusammen. Die Makels gaben ihnen kaum genug Haferschleim, um einen ganzen Tag zu überstehen, und diese Leckereien sahen einfach zum Anbeißen aus. Die Glasur funkelte im staubigen Dämmerlicht des Klassenzimmers, als Cosima einen Finger ausstreckte, um in das Törtchen zu piken. Es fühlte sich rau und fest an, wie ... Seil. Denn daraus bestand es ja auch. Diese falschen Kuchen waren das Schlüsselelement in Cosimas Plan, und Pearl hatte ihre Idee (wie immer) brillant umgesetzt.

»Ich glaube, das könnten deine besten Fälschungen bisher sein. Diese vornehmen Damen werden den Unterschied erst merken, wenn sie reinbeißen.«

Pearls Mundwinkel zuckten, und sofort wurde Cosima ganz warm ums Herz, wie am ersten sonnigen Frühlingstag nach einem harten Winter.

Pearl war eine wahrhaftige Künstlerin. Aus den riesigen Taurollen, die Mr. Makel auf dem Boden im Klassenzimmer stapelte, konnte sie die beeindruckendsten Kunstwerke erschaffen, und das nur mit etwas Farbe und einem Pinsel. Cosimas Aufgabe war es, alle benötigten Materialien zu beschaffen: Pearls Malutensilien, Kleinigkeiten für Diyas Erfindungen und jegliche andere Schmuggelware, die ihre Freundinnen brauchten. Darum hatte sie sich extra mit dem Sohn des Kaufmanns angefreundet. Sie sagte ihm, wann Miss Makel nicht zu Hause war und er seine Ware ohne das übliche Gezeter der Heimleiterin abliefern konnte, und dafür brachte er ihr Gegenstände aus der Außenwelt mit. Inzwischen war Cosima auch eine Meisterin darin, Sachen zu stibitzen, an denen die Makels das Interesse verloren hatten. Für die Mädchen ließen sie sich nämlich prima umfunktionieren. Mithilfe der Farbe hatte Pearl nun zum Beispiel die schnöden braunen Seile in ein farbenfrohes Wunderwerk verwandelt.

Cosima drehte sich zu Mary um. »Hast du die möglichen Schwachpunkte herausgearbeitet?«

Mary zuckte nervös zusammen. Laut Miss Makel hatte sie eine »ausgeprägte, kaum erträgliche hysterische Neurose«, doch in Cosimas Augen war sie eine aufmerksame Freundin, die sich bloß darum sorgte, auch ja alles richtig zu machen. Deshalb plante Mary bei allem, was die Mädchen taten, so gern für jede mögliche (und manchmal unmögliche) Situation vor.

Jetzt holte Mary aus ihrer großen abgegriffenen Umhängetasche ein altes Papier, dessen Ränder sich schon wellten, strich es glatt und legte es auf ihr von Diya gefertigtes Klemmbrett. Auf diesem Papier hatte sie alle erdenklichen Probleme aufgelistet, die ihnen auf ihrem Ausflug in die Küche begegnen könnten.

»Unsere Haupthürde wird Mr. Makel sein. In letzter Zeit dreht er seine Runde durch die Flure noch öfter als sonst.« Mary zitterte beim Sprechen.

Cosima stieß einen Pfiff aus und deutete auf den Punkt FALLS BEIM KUCHENRAUB EIN TORNADO AUSBRICHT. »Meinst du wirklich, das könnte passieren, Mary?«

Mary zog eine Augenbraue hoch. »Man kann nie vorsichtig genug sein. Wir müssen uns auf jede Möglichkeit vorbereiten.«

Cosima klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Du hast uns sogar auf die unmöglichen Möglichkeiten vorbereitet. Mit diesem Plan können wir gar nicht scheitern.«

Mary grinste selbstbewusst und packte das Klemmbrett und Pearls Kuchenfälschungen in ihre Tasche, die sie sich dann über die Schulter warf.

Cosima schlich auf Diya zu, die sie noch immer mit hochgezogenen Brauen und verschränkten Armen ansah. Cosima musste jetzt einfach alles geben, um sie von ihrem Plan zu überzeugen. »Wie läuft’s mit deiner neuesten Erfindung?«

Diyas Augen leuchteten auf wie Edisons Glühbirnen. Sie rollte ein Stück vor und zog eine brandneue Vorrichtung unter ihrem Tisch hervor. Als stünde sie auf einer großen Bühne, präsentierte sie den anderen mit einer schwungvollen Geste ihre Erfindung.

Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine normale, wenn auch recht kurze Holzleiter – klein genug, um sie sich unter den Arm zu klemmen. Doch als Cosima genauer hinsah, entdeckte sie an der vorletzten Sprosse einen Griff. Jetzt sah sie auch, was Diya alles verarbeitet hatte: Ketten (von einem gescheiterten Zweirad-Unternehmen, in das die Makels investiert hatten), alte Blasebälge (mit denen man Menschen früher das Atmen erleichtert hatte) und eine Handkurbel (aussortiert von Miss Makel, nachdem ihr Grammofon kaputtgegangen war).

Stolz stellte Diya die Leiter senkrecht auf den Boden, und Pearl half ihr, sie zu halten. Dann drehte Diya an der Kurbel. Mit jeder Drehung wurde die Leiter länger und kam den spinnennetzbedeckten Deckenbalken immer näher. Selbst die Mädchen, die Cosima bisher ignoriert und sich weiter mit ihren Seilen beschäftigt hatten, hielten inne und bestaunten Diyas Erfindung.

Begeistert klatschte Cosima in die Hände. »Genial! Genau das brauchen wir jetzt.«

Ehrgeiz flackerte in Diyas braunen Augen auf, und ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. »Ich schätze, es wäre schon toll, die Kurbeltastische Leiter in Aktion zu sehen. Um zu testen, ob sie auch richtig funktioniert.« Doch dann zögerte sie plötzlich und sah Cosima mit zusammengekniffenen Augen an. »Aber kannst du versprechen, dass Miss Makel uns nicht erwischt? Ich möchte nicht riskieren, dass Mas Besuch schon wieder gestrichen wird.«

Die Makels verboten zur Strafe gern die Familienbesuche, und als Diya das jetzt erwähnte, passierten drei Dinge gleichzeitig:

Marys Gesicht nahm eine gräuliche Farbe an, die Cosima an den morgendlichen Haferschleim erinnerte. Im letzten Brief ihres Großvaters hatte sie erfahren, dass man im Arbeitshaus fand, er sei zum Arbeiten noch fit genug. Eine ganze Woche lang hatte sie sich schreckliche Sorgen um seine Gesundheit gemacht.

Pearl umarmte sich selbst und verwischte dabei die Tintentiere auf ihren hellen Armen zu dunklen Wirbeln. Cosima wusste, wie dringend sie sehen wollte, ob ihre kleine Schwester seit dem letzten Besuch noch mehr gewachsen war.

Diya schluckte ihren Kummer hinunter. Ihr Vater war auf hoher See, und sie hatte seit Monaten nichts von ihm gehört.

Cosima überlief ein trauriger Schauer. Ein Raunen ging durchs Klassenzimmer, und die anderen Mädchen mieden ihren Blick. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte Cosima keine Familie. Seit sie denken konnte, war sie in diesem Heim, und niemand hatte sie jemals besucht. Sie hatte mitbekommen, wie ältere Mädchen ab einem bestimmten Alter weggeschickt worden waren, um sich entweder kaputtzuarbeiten oder in Heimen für Erwachsene weiterzuleben. Cosima blieben nur noch ein oder zwei Jahre, um die Wahrheit über ihre Vergangenheit herauszufinden und sich ein echtes Zuhause zu suchen. Ganz hinten in ihrem Kopf schlummerte die verschwommene Erinnerung an ein Lächeln, allerdings konnte Cosima es nicht zuordnen. Noch nicht. Doch in jeder Flucht aus dem Klassenzimmer oder dem Schlafsaal sah sie die Chance, neue Informationsschnipsel zu finden, die sie vielleicht zu ihren Verwandten führen könnten.

Diya Nayak.

Mary Turner.

Pearl Wilson.

Cosima … Beklagenswert.

Alle anderen gehörten zu einer Familie, auch wenn sie im Moment von ihr getrennt waren. Nur Cosima nicht. Bei den seltenen Anlässen, zu denen die Behörden dem Heim einen Besuch abstatteten, wurde die nachnamenlose Cosima immer als »Cosima Beklagenswert« angesprochen – was sich anfühlte wie eine Ohrfeige.

Schnell schüttelte Cosima ihre Trauer ab und konzentrierte sich wieder auf den Plan. Und sobald sie das tat, verflog ihre Hoffnungslosigkeit augenblicklich.

»Es wird funktionieren, das verspreche ich. Und wir bringen Kuchen für alle mit.« Freude huschte über die hungerverzerrten Gesichter der Mädchen. Manche nickten Cosima dankbar zu, ein paar hochgezogene Schultern entspannten sich, und aufgeregtes Gemurmel erhob sich im Klassenzimmer.

Die Mädchen umringten Cosima.

»Passt auf, hier ist der Plan …«

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KAPITEL ZWEI

Diya trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Armlehne ihres Rollstuhls, während Cosima konzentriert durchs Schlüsselloch spähte. Sie wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und rüttelte weiter an dem alten Nagel im Schlitz, mit dem sie darin herumstocherte. Schlösserknacken war nicht gerade ihre Stärke. Inzwischen hatte sich das aufgeregte Gemurmel der Mädchen in Seufzen verwandelt.

»Cos!« Marys Blick huschte aufgeregt zwischen der tickenden Uhr an der Klassenzimmerwand und ihrem Klemmbrett hin und her. »Nur noch zwei Minuten bis zu Mr. Makels nächster Runde. Wenn wir uns nicht beeilen, muss ich unseren Notfallplan FALLS WIR BEI DER FLUCHT AUS DEM KLASSENZIMMER ERWISCHT WERDEN einleiten.«

»Wir sollten aufgeben.« Diya seufzte. »Das dauert doch jetzt schon ewig, und wir haben es noch nicht mal aus dem Zimmer geschafft.«

Doch Cosima versuchte weiterhin verbissen, das Schloss zu öffnen. Dann endlich machte es klick, und mit einem Knarzen schwang die Tür auf. Der Flur dahinter lag mitten im Erdgeschoss und erstreckte sich von der Eingangshalle bis zum Klassenzimmer der Mädchen, von wo aus er nach rechts abbog und zum Privatbereich der Makels führte. Er war vollgestopft mit dem seltsamsten Gerümpel: Cremes, die ewige Jugend versprachen, Kristallkugeln und anderer unnützer Kram, der verlassen herumstand und in den Tiefen des Hauses Staub ansetzte. Ständig investierten die Makels in Produkte, von denen sie sich schnellen Reichtum erhofften. Wurde diese Hoffnung wieder mal enttäuscht, landeten all diese Dinge achtlos im Flur, was ihn zu einer wahren Schatzkammer für Diya machte, die Teile daraus in ihrem Erfindespind weiterverarbeitete, einem alten Schrank ganz hinten im Schlafsaal, den sie zum Lagerbereich umfunktioniert hatte.

Dank des Schneesturms wirkte das Heim für beklagenswerte Mädchen noch unheimlicher als sonst. Er tauchte es in Dunkelheit und ließ einen erbarmungslosen Wind durch die Ritzen in den hauchdünnen Wänden pfeifen. Obwohl Cosima sich riesige Mühe gab, leise zu sein, dröhnte ihr Gehstock bei jedem Schritt wie ein Donnerschlag in ihren Ohren.

Sie schlich aus dem Klassenzimmer und mied dabei ein paar morsche Bodendielen. Je weiter sie kam, desto wagemutiger fühlte sie sich. Und die Aussicht, den Makels eins auszuwischen und ein paar Köstlichkeiten zu stehlen, bei deren Vorstellung ihr das Wasser im Mund zusammenlief, war ein toller Ansporn. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen, was nicht grau, kalt und matschig war?

Auf halbem Weg durch den Flur zerrte Mary plötzlich fest an Cosimas Ärmel. Ihre Oberlippe zitterte. »Mr. Makel kommt in einer Minute.«

Ticktack.

Diya schaute drein, als hätte sie geahnt, dass das passieren würde.

Ticktack.

Pearl zuckte allein beim Gedanken an die Hiebe von Miss Makel zusammen, die ihnen blühten, wenn ihre Flucht entdeckt würde.

Ticktack.

Cosima entfuhr ein Wort, das sie in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn Erwachsene es gehört hätten. Doch ihnen lief die Zeit davon, also versuchte sie ruhig zu atmen. Und das Klassenzimmer war schon zu weit weg, um jetzt noch umzukehren. Leider war Cosima mit ihrem schwachen Knie langsamer als die anderen. Sie würde es niemals schaffen.

»Denkt nach«, flüsterte sie hastig. Hoffentlich hörte niemand die Panik in ihrer Stimme. »Was können wir tun?«

»Pscht.« Mary war ein paar Schritte hinter Cosima und umklammerte mit zitternden Händen ihr Klemmbrett. »Auf meiner Liste steht unter ›FALLS WIR IM FLUR ERWISCHT WERDEN‹, dass wir uns da verstecken können.« Mit dem Kopf deutete sie nach links, zu einer unscheinbaren Besenkammer.

Cosima ignorierte den stechenden Schmerz in ihren Knöcheln. Sie nickte, steuerte auf die Tür zu und stemmte sie für die anderen auf. Mary eilte als Erste hinein. Auf der Suche nach Pearl drehte sie sich um.

Doch Pearl war schnell wie der Wind den Flur zurückgerannt – zur verschlossenen Klassenzimmertür.

Sie schnappte sich ihren Pinsel und fischte ein kleines Töpfchen aus der vollgestopften Schürze, in der sie all ihre wichtigsten Malutensilien aufbewahrte. Mit den Zähnen zog sie den Deckel vom Töpfchen und verteilte dann mit dem Pinsel eine klebrige Substanz auf den Rändern rund um das Guckloch.

Verwirrt sah Cosima zu. »Was machst du da?«

»Die Klappe vom Guckloch zukleben«, antwortete Pearl nüchtern und steckte sich den Pinsel wieder hinters Ohr. Dann zog sie eine schmierige Masse aus der Schürze und stopfte sie in das Türschloss, sodass nicht mal mehr Licht hindurchkam. »Und das Schloss blockieren. Damit Mr. Makel nicht bemerkt, dass wir fehlen.«

Cosima nickte gerade, als das Geräusch ertönte, das sie am meisten fürchtete: Schritte, die in der Ferne von den Wänden hallten und mit jeder Sekunde näher und näher kamen.

Stampf, stampf, stampf, stampf.

Wieder konnte sie einen Fluch nicht unterdrücken. Sie mussten sich verstecken, und zwar schnell.

»Ähm, wir haben noch ein Problem«, verkündete Diya kleinlaut.

Cosima wirbelte zu Mary herum, die verzweifelt (und vergeblich) versuchte, Diyas Rollstuhl in die Besenkammer zu quetschen, die sowieso schon aus allen Nähten platzte. Mit einem lauten Bums rumste der Stuhl gegen den Türrahmen, und die Räder quietschten.

Sie machten viel zu viel Lärm. Selbst wenn man so unaufmerksam war wie Mr. Makel, waren die Geräusche des Rollstuhls nicht zu überhören. Da kam Cosima eine Idee. »Pearl«, zischte sie hastig. »Sag den anderen, sie sollen singen.«

Pearl nickte, flitzte noch mal zurück und raunte den Kameradinnen durch die verschlossene Tür etwas zu.

Schon ein paar Sekunden später schallte lautes und schiefes Trällern aus dem Klassenzimmer.

»Das ist die einzige Möglichkeit, auf die ich nicht vorbereitet war«, krächzte Mary.

Während Pearl von der zugeklebten Klassenzimmertür auf sie zustürmte, zog Cosima die Brauen zusammen. Eine Lösung musste her, und zwar sofort.

Sie trat näher an die Besenkammer und sah, wo die Räder von Diyas Rollstuhl im Türrahmen feststeckten. Was sollte sie tun?

Die Idee traf sie wie ein Blitzschlag.

»Mary«, flüsterte Cosima, »schaff so viel Platz in der Kammer, wie du kannst, und sei dabei so leise wie möglich.«

Mary nickte und räumte sofort zerbrochene Besen, Putzmittel und Eimer in die äußersten Ecken der Kammer. Zum Glück übertönten die Mädchen, die sich im Klassenzimmer die Seele aus dem Leib sangen, den Radau.

Als Nächstes wandte Cosima sich an Pearl. »Hast du irgendwas Schmieriges in deiner Schürze?« Pearl nickte und zauberte eine kleine Ampulle mit transparentem Inhalt hervor. »Prima. Schmier damit die Stellen ein, wo der Stuhl klemmt.«

Pearl kniete sich hin und verteilte die Substanz auf beiden Rädern.

»Ahh«, machte Diya atemlos. »Mit dem Fett flutscht der Stuhl besser. Ganz schön pfiffig!«

Als Pearl fertig war, packten sie gemeinsam die Griffe von Diyas Rollstuhl und drückten ihn nach vorne. Cosima biss die Zähne zusammen und schob, so fest sie konnte. Hoffentlich renkte sie sich dabei nichts aus. Doch so sehr sie es auch versuchten, der Rollstuhl blieb stur stecken.

»Halt!«, rief Diya plötzlich und runzelte die Stirn.

Diesen Blick kannte Cosima. Im ratternden Hirn ihrer Freundin entstand eine neue Idee. Während Diya nachdachte, wurden die Schritte immer lauter und ertönten jetzt im gleichen Takt, in dem Cosimas panisches Herz schlug. Sie mussten sich wirklich beeilen.

»Damit dein Plan funktioniert, brauchen wir mehr Kraft …« Diya schnalzte mit der Zunge. »Ah, ich weiß – ihr müsst Anlauf nehmen!«

Sorge machte sich in Cosima breit. Normalerweise rannte sie nicht – dabei wurde der Schmerz in ihren Gelenken viel schlimmer, und die Gefahr wuchs, sich etwas auszukugeln. Trotzdem schluckte sie jetzt ihre Angst hinunter und lief mit Pearl zur anderen Flurseite.

Cosima holte tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und nickte Pearl zu. »Drei, zwei, eins – LOS!«

Gleichzeitig sprinteten sie vorwärts und rammten die Schultern gegen Diyas Stuhl.

Plopp! Der Stuhl schoss in die Besenkammer und stieß gegen all den Plunder, den Mary nicht zur Seite hatte räumen können. Mary selbst hüpfte kreischend aus dem Weg. Mr. Makel und seine schweißfleckige Anzugjacke kamen um die Ecke, und das Lied im Klassenzimmer schwoll noch einmal an.

»Lasst das Gejaule sein«, grummelte Mr. Makel. Sofort verstummten die Mädchen.

Pearl und Cosima schlüpften schnell hinter den anderen in die Kammer und zogen sanft die Tür hinter sich zu. Schlagartig waren sie von Dunkelheit umgeben. Einen Moment lang sah Cosima die Hand vor Augen nicht, bis eine von Diyas nützlichsten Erfindungen aufflammte. Die Flackerfunzel hatte Diya nach einem besonders grässlichen Monat erfunden, in dem Mr. Makel sich geweigert hatte, ihnen Streichhölzer für die Kerzen zu kaufen, »um Geld zu sparen«. Aus einem Glasgefäß, ein paar Drähten und einem geklauten Kohlestück hatte Diya eine Lampe gebaut, die über einen kleinen Schalter ansprang.

Cosima blinzelte, als ihre Augen sich an die Umgebung gewöhnten.

Die Schritte hielten abrupt inne.

Cosima seufzte vor Erleichterung, weil Mr. Makel sie nicht entdeckt hatte, wurde aber von seinem ärgerlichen Schnauben übertönt.

»Verflixte Klappe.«

Cosima grinste Pearl an, die – völlig zu Recht – selbstzufrieden lächelte.

Ein metallenes Klirren ertönte, als Mr. Makel seinen Schlüssel ins Schloss rammte. Sein Knurren verriet, dass auch Pearls zweite Idee funktionierte. Sie hatten ihn aus dem Klassenzimmer ausgesperrt. Erzürnt hämmerte er gegen die Tür, und Cosima hörte die gedämpften, aber erschrockenen Aufschreie der Mädchen, die sie zurückgelassen hatten. Wütend presste sie die Lippen aufeinander.

Die Makels verwandelten jeden Augenblick im Heim für beklagenswerte Mädchen in einen wahren Albtraum. Schuldgefühle krochen Cosima den Rücken hinauf – immerhin war der Kuchenraub ihre Idee gewesen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Waren ein paar Kuchenstücke es wirklich wert, dass Mr. Makel vor Wut beinahe die Tür einschlug und ihren Freundinnen Angst einjagte? Sie musste etwas tun.

Schnell drehte Cosima sich um und begutachtete die alten Wäscheleinen, Putzlappen und löchrigen Eimer, die hier in der Kammer lagen.

»Was heckst du aus?«, fragte Diya.

»Wovor fürchtet Mr. Makel sich auf dieser Welt am meisten?« In Cosimas Kopf formte sich ein Plan.

»Vorm Baden«, flüsterte Pearl und hielt sich die Nase zu.

»Vor Spinnen und Insekten«, sagten die anderen im Chor.

Schon beim bloßen Anblick von kleinen Krabbeltierchen kreischte Mr. Makel regelmäßig laut auf.

Cosima trat einen Schritt vor und hob einen mit Spinnweben bedeckten Putzlappen auf. »Pearl, daraus kannst du doch bestimmt eine Spinne zaubern, oder?«

Sofort ergriff Pearl den Lappen und fing an, ihn zu zerreißen.

Dann schnappte Cosima sich ein Wäscheleinenknäuel. »Irgendwie müssen wir Pearls Spinne in Mr. Makels Nähe bekommen, ohne die Kammer zu verlassen.«

»Ich kümmere mich drum!« Diya stellte die Flackerfunzel auf den Boden und zog eine Pinzette aus ihrem Werkzeuggürtel. Dann nahm sie Cosima die Wäscheleine ab und machte sich an die Arbeit.

Cosima drehte sich zu Mary um. »Berechnest du für mich die Flugbahn?«

Mary nickte zitternd. »Da darf kein Fehler passieren. Sowohl Gewicht als auch Schwung müssen stimmen.«

»Voilà!« Die Spinne, die Pearl Cosima reichte, war so riesig, dass sie selbst fast Gänsehaut bekam.

Zusammen halfen sie Diya, die Wäscheleine zu entwirren, während Mary ein grobes Schaubild skizzierte. Zum Schluss banden sie die Spinne an das eine Ende der jetzt knotenfreien Leine.

»Bereit?«, fragte Cosima, als die falsche Spinne wie eine Marionette am Faden auf und ab hüpfte.

Mary seufzte nervös, nickte dann aber.

Cosima öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah durch den Schlitz hinaus. Inzwischen rüttelte Mr. Makel am Türgriff, und die Sohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Boden. Vorsichtig schob Cosima die Spinne in den Flur und reichte Mary das Ende der Leine. Cosima, Pearl und Diya lehnten sich zur Tür, damit ihnen das Spektakel nicht entging.

Marys Blick zuckte vom Zettel mit ihrem Schaubild zu der Spinne und weiter zu Mr. Makels ausgeprägtem Hinterkopf. Dann warf sie die angeleinte Spinne mit einer geschickten Handbewegung in die Höhe.

Cosima hielt den Atem an. Die Spinne segelte durch die Luft und landete wenige Meter hinter Mr. Makel. Enttäuschung überwältigte sie, doch das durfte sie Mary nicht zeigen. »Das war nur der erste Versuch. Ich bin sicher, beim nächsten Mal triffst du«, flüsterte sie.

Mary zog die Spinne an der Leine zurück und versuchte es erneut. Dieses Mal landete sie sogar noch weiter von Mr. Makel weg, der jetzt wieder mit seinen schwieligen Fäusten gegen den Türrahmen hämmerte. Mary sackte ein bisschen in sich zusammen.

Cosima drückte ihre freie Hand. »Du schaffst das. Wir glauben an dich.«

Mary schluckte schwer und holte die Spinne wieder zurück. Dann warf sie sie ein drittes Mal durch den Flur, und dieses Mal landete sie direkt auf Mr. Makels Schulter. Mary ruckte leicht an der Wäscheleine, damit die Spinne ihn am Hals kitzelte.

Mitten im nächsten Fausthammerschlag erstarrte er, drehte ganz langsam den Kopf und stieß einen so schrillen Schrei aus, dass Cosima die Ohren schmerzten. Dann, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, nahm er Reißaus.

Cosima fiel ein kleiner Stein vom Herzen. Sie stieß die Kammertür auf, und die vier Mädchen traten in den Flur hinaus. Sofort schlug Mary die Richtung zur Eingangshalle ein. Bei jedem Schritt – oder in Diyas Fall jeder Raddrehung – ächzte der Boden unter ihnen wie ein Geist, der das Spuken leid war. Cosima versuchte mit den anderen mitzuhalten, doch ihr Knie pochte, und Furcht fraß sich ihr durch den Magen. Sie würde sich bestimmt bald etwas auskugeln. Kurz machte sie Pause und lehnte sich auf ihren Gehstock.

Als sie Diyas besorgten Blick bemerkte, schob sie ihre Angst schnell beiseite. Diya spürte immer, wenn es ein schlechter Tag für Cosimas Gelenke war. Doch heute wollte Cosima ihren Schmerz für sich behalten. Damit ihre Freundinnen sich keine Sorgen machten. Ändern konnten sie ja sowieso nichts.

Endlich erreichten sie das Ende des Flurs und spähten gemeinsam in die Eingangshalle des Heims für beklagenswerte Mädchen. Normalerweise erwarteten sie hier bloß alte, verstaubte Möbel und schmuddelige Wände, von denen sich schon die Farbe abschälte. Aber da die wohlhabenden Damen kommen sollten, hatten die Makels eins der kräftigeren Mädchen gezwungen, die Räumlichkeiten auf Vordermann zu bringen. Allerdings wollten die Vase mit den welken Blumen und ein paar gerade gerückte Bilderrahmen den baufälligen Zustand des Hauses nicht so recht verschleiern. Aus dem Briefkasten quollen ungeöffnete Briefe und schrien einem förmlich Worte zu wie LETZTE MAHNUNG oder RECHNUNG. Ein schiefes Banner mit der gestickten Aufschrift WILLKOMMEN, VEREHRTE DAMEN war quer durch den Raum gespannt worden. Cosima unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen. Die Makels empfingen diese langweiligen reichen Damen doch nur zum Nachmittagstee im Heim, weil sich so die leeren Taschen wieder mit Geld füllen ließen. Als Cosima zu Boden sah, starrte ihr ein bleiches Gesicht mit schlammfarbenen Wuschelhaaren entgegen, so sorgfältig hatte eins der Mädchen ihn gebohnert.

In der Mitte der Eingangshalle führte eine knarzende Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses, wo die Mädchen ihre Nächte in einem spärlichen Schlafsaal verbrachten. Cosima hasste diese Stufen abgrundtief. Bei jedem Erklimmen wurden ihre Schmerzen größer. Für die Mädchen in Rollstühlen war es sogar noch schlimmer. Sie mussten sich hochtragen lassen und wurden oben unsanft wieder in ihre Stühle gesetzt. Auf der anderen Seite der Eingangshalle wartete eine verschlossene Tür. Die Küchentür. Direkt daneben, viel zu hoch, um von Kindern erreicht zu werden, gab es eine Art Durchreiche. Dort wurden zur Essenszeit Teller auf den schmalen Sims gestellt, um dann ins Esszimmer gebracht zu werden. Diese Öffnung war, das wusste Cosima sicher, ihr einziger Weg in die Küche, wenn sie Miss Makels Schlüssel nicht stehlen wollten. Und die trug sie immer um den Hals.

Neben der verschlossenen Küchentür lag Miss Makels Büro, der furchterregendste Ort im ganzen Heim. Dort vollstreckte die Heimleiterin die grausamsten Strafen: ihnen die Haare eins nach dem anderen vom Kopf zu reißen oder ein brennendes Streichholz unter die nackten Fußsohlen zu halten. Die Tür zum Büro stand einen Spalt offen. Cosima unterdrückte einen Schauer, als Stimmen aus dem Inneren herausdrangen. Eine von ihnen war schrecklich vertraut: Bei Miss Makels schriller Krächzstimme bekam Cosima direkt Kopfschmerzen. Die andere Stimme war jedoch neu, ein dröhnender Bariton. Cosima wusste sofort, dass sie jemandem von Bedeutung gehörte. Bedeutenden Menschen verbot nie jemand das Wort. Cosima dagegen bekam mindestens fünfmal am Tag zu hören, dass sie leise zu sein hatte.

»Ich habe Ihnen die Bücher mitgebracht, die Sie so gern haben wollten. Außerdem, meine liebe Miss Makel, ist die nächste Rate Ihrer Investition überfällig. Eine kleine Unannehmlichkeit, aber ich bin sicher, dass wir zu einer Einigung kommen, die uns beiden gefällt«, sagte der Mann.

Cosima grinste. Miss Makel war wunderbar abgelenkt. Mit einem Finger bedeutete sie den anderen Mädchen, dass sie mit dem Plan fortfahren konnten, und eine Mischung aus Angst und Aufregung wirbelte ihr durch den Magen.

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KAPITEL DREI

Der Plan war kinderleicht. Pearl war die Stärkste von ihnen, deshalb sollte sie die Leiter in die Eingangshalle tragen und Diya helfen, sie auszufahren. Mary war die Kleinste, also würde sie sich mit den falschen Kuchen durch die Öffnung in die Küche quetschen. Mit ein bisschen Glück würden die Fälschungen aus Seil die Erwachsenen so lange an der Nase herumführen, bis alle Beweise verspeist waren.

Mit der Leiter unter dem Arm steuerte Pearl die Durchreiche an. Die Tintenkleckse auf ihrer Haut sahen inzwischen aus wie Gewitterwolken. Diya war direkt hinter ihr. Cosima blieb im Hintergrund, behielt die Bürotür im Auge und betete im Stillen, dass sie nicht plötzlich aufflog. Gemeinsam platzierten Diya und Pearl die Leiter auf dem Boden und lehnten sie an die Wand. Die oberste Sprosse reichte Diya kaum bis zum Schoß. Cosima holte tief Luft, um sich zu beruhigen, dann drehte sie sich zu Mary und formte mit den Lippen: »Los!«

Mit Pearls Kuchenfälschungen in der Tasche und vor Aufregung bebenden Schultern schlich Mary auf die Durchreiche zu.

Die war auf einer guten Höhe – für Erwachsene. Sie konnten die Mahlzeiten problemlos entgegennehmen, während sie für Cosima und ihre Freundinnen außer Reichweite blieben. Vermutlich war das Absicht, damit auch ja niemand nur ein Fitzelchen mehr bekam als die klägliche Portion Haferschleim, die ihnen zustand.

Diya drehte an der Kurbel ihrer Erfindung, und schon wuchs die Leiter. Bei jedem Kurbelquietschen zuckte Cosima zusammen. Hoffentlich hörte Miss Makel nichts. Dann endlich war die Leiter weit genug ausgefahren und lehnte am Sims unter der Durchreiche.

Im Kopf ging Cosima die nächsten Schritte durch: Mary sollte die Sprossen hinaufklettern, sich durch die kleine Öffnung quetschen, die Kuchen finden und sie durch die Fälschungen ersetzen. Aber würde sie das auch schaffen? Ihre Oberlippe zitterte, und sie holte zaghaft Luft.

Neben Mary stand Pearl und musterte sie unsicher.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie sanft, doch Mary antwortete nicht.

Cosima wusste genau, was auf diese Anzeichen üblicherweise folgte: ein Panikbeben. Hastig verließ sie ihren Beobachtungsposten vor dem Büro und lief durch die Eingangshalle, so schnell ihre schmerzenden Beine sie trugen.

Mit festem Griff packte sie die Hände ihrer Freundin, die vor Nervosität schon ganz feucht waren. »Lass uns zusammen bis zehn zählen, Mary«, flüsterte sie. »Und denk dich an einen ruhigen Ort.«

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