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Feuerblut - Die Reise zum Frostpalast

Als Buch hier erhältlich:

Eine Flamme gegen die Dunkelheit

Phönix lernt, ihre Feuermagie zu beherrschen, und ist froh, dass ihre Freunde ihr immer beistehen. Doch sie und die anderen Jagdlinge können nicht zurück in die Loge, deren Sitz völlig zerstört ist. Als sie erfahren, dass im Frostpalast der Hexen etwas Böses lauert, das ganz Embra vernichten könnte, machen sie sich auf den Weg dorthin, um ihrer Pflicht nachzukommen: das Land vor allen Angreifern zu beschützen. Doch sie ahnen nicht, dass sie einem üblen Verrat aufgesessen sind und jemand noch viel Mächtigeres als Morgren seine schrecklichen Kreaturen nach ihnen ausgesendet hat.


Band 2 der packenden Fantasy-Action inmitten einer eisigen Welt und mit einer unvergesslichen Heldin


»Aisling Fowler beschwört die perfekte Balance von Abenteuer, atemloser Action und schaurigem Staunen herauf und zeigt das alles in emotional packenden Szenen. Elegant aufgebaut und unendlich spannend, führt FEUERBLUT Leserinnen und Leser in eine reich ausgestaltete magische neue Welt.« SPIEGEL-Bestsellerautor Jonathan Stroud

»In einem düsteren und atmosphärischen Setting erschafft Aisling Fowler in ihrem Debüt mit unglaublicher Sprachgewalt die berührende Geschichte eines jungen Mädchens, in dem Schuld- und Rachegefühle toben.« Kinderspielmagazin über "Feuerblut - der Schwur der Jagdlinge (Band 1)



  • Erscheinungstag: 24.01.2023
  • Aus der Serie: Feuerblut
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802167

Leseprobe

Für meine großartige Agentin Claire,
deren Vertrauen und Unterstützung
diese Serie erst möglich gemacht haben

1. KAPITEL

Phönix’ Beine schmerzten, als sie immer höher kletterte, die steilen, grob in die Klippe gehauenen Stufen hinauf. Trotz der Anstrengung war ihr leicht ums Herz. Zum ersten Mal seit Tagen hatten die Wolken einen leuchtend blauen Himmel über Kliff enthüllt. In diesem Dorf des Gebirgsclans lebten die Jäger zurzeit. Endlich hatte es aufgehört zu regnen, und das Wetter war perfekt geeignet für eine Jagd.

»Wir schaffen es nie bis nach oben!«, stöhnte Fünf, der mit Sieben und Sechs hinter ihr herkletterte.

»Machen wir noch mal P…pause«, schlug Sieben keuchend vor.

»Ja«, sagte Sechs, der genauso außer Atem war wie seine Schwester.

Fünf atmete erleichtert aus. »Geniale Idee, Sieben.«

Phönix warf einen Blick über die Schulter. Die drei hatten bereits angehalten und lehnten sich aneinander, die Haare trotz der kalten Luft schweißnass. Eigentlich hatten sie eben schon eine Pause eingelegt. In diesem Tempo würden sie es wirklich nicht bis nach oben schaffen. Aber Phönix verkniff sich den Einwand und nickte nur.

»Na gut, machen wir einen kurzen Halt.« Es war tatsächlich ganz schön, mal nach Luft schnappen zu können.

Ihr Eichhörnchen Winnie zuckte auf ihrer Schulter fröhlich mit dem Schwanz, sein kastanienbraunes Fell glänzte in der Sonne. Die leuchtenden Augen hatte er auf etwas hoch über ihren Köpfen gerichtet, und Phönix legte den Kopf in den Nacken, um es auch zu sehen. Die Klippe erstreckte sich weit in die Höhe, und am Felsen wanden sich Stufen im Zickzack hinauf. Ihr Ziel lag ganz oben an der Spitze, wo eine rot gestrichene Plattform über den Abgrund hinausragte. Dort, wo die Gleiter des Gebirgsclans starteten und landeten, hatte sich offenbar ein Kantenwurm breitgemacht.

Phönix stöhnte leise; von hier sah es aus, als sei die Plattform noch kilometerweit entfernt. »Du hast es gut«, murmelte sie Winnie zu. »Ich wünschte, mich würde auch jemand tragen!« Er quiekte fröhlich und wirkte hochzufrieden.

Sie warf einen Blick nach unten und bereute es sofort. Wolken zogen unter ihnen vorbei und verdeckten die Sicht auf das Tal. Sogar Kliff, die farbenfrohe Siedlung des Gebirgsclans, lag komplett darunter verborgen. Verzagt wandte sie eilig den Blick ab, um sich wieder auf den roten Fleck über ihr zu konzentrieren.

»Es ist schon viel näher gerückt«, sagte sie zu den anderen.

Fünf schnaubte. »Du bist eine solche Lügnerin, Zwölf!« Das dunkle Haar hing ihm in sein gerötetes Gesicht.

»Ich heiße jetzt Phönix«, erinnerte sie ihn grinsend. »Und wir sind bestimmt näher dran! Los, kommt!«

Seufzend setzten sich die drei Freunde hinter ihr wieder in Bewegung und drückten sich beim Klettern an die Klippe. Der Gebirgsclan hielt nichts von Sicherungsseilen, und der tiefe Abgrund machte sie alle nervös.

»Habt ihr denn noch neue Ideen für eure Jägernamen?«, fragte Sieben mit einem Blick auf Fünf und Sechs.

Fünf strahlte augenblicklich. »Das trifft sich gut, dass du fragst. Ich habe gerade eine Liste gemacht.« Er unterbrach sich und sah Sechs vielsagend an. »Ja, noch eine Liste.«

»Mir ist auch noch was eingefallen«, entgegnete Sechs fröhlich. »Ich glaube, ›Papagei‹ würde perfekt zu dir passen.«

Phönix lachte. »Was? Diese redseligen bunten Vögel?«

Sechs nickte grinsend.

»Oder vielleicht ›P…pfau‹?«, schlug Sieben unschuldig vor.

»Ihr seid gemein«, gab Fünf naserümpfend zurück. »Nein, ich dachte eher an so was wie …« Er legte eine Kunstpause ein. »… Nachtfalke.«

Sieben begegnete Phönix’ Blick, und beide sahen schnell wieder weg, um nicht in Gelächter auszubrechen.

Sechs schüttelte den Kopf und gab sich große Mühe, das Zucken seiner Mundwinkel unter Kontrolle zu bringen. »Schrecklich.«

»Wirklich?« Fünf zuckte mit den Schultern, als alle eifrig nickten. »Na gut, und wie wäre es mit Klingenschwinger?«

»Nein!«

»Grimfänger?«

»Auf keinen Fall!« Sechs verdrehte die Augen. »Als ob du je einen Grim gefangen hättest!«

Phönix erschauderte unwillkürlich bei der Erwähnung dieses dunklen Wesens. Erst vor drei Monaten hatte ein Grim in der Jägerloge ihre Mentorin Silber getötet.

Auch auf Siebens Gesicht legte sich ein Schatten, und Phönix fragte sich, ob die Freundin sich an ihre Entführung an jenem Tag erinnerte. Oder an den Kampf, der darauf gefolgt war und bei dem Phönix mit ihrer neu entdeckten Macht einer Elementhexe versehentlich die Loge zerstört hatte …

Sie verscheuchte den Gedanken und versuchte sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. »Ich glaube, jetzt bist du dran, Sechs. Bei dir fällt mir irgendwie immer wieder ›Ziege‹ ein.«

»Was?« Sechs’ Entsetzen war furchtbar komisch.

»Du hast einen wirklich sicheren Tritt.« Phönix bemühte sich, neutral zu schauen.

»Das stimmt!« Sieben grinste. »Das war schon immer so!«

Fünf nickte ernsthaft. »Sehr gut, Phönix. ›Ziege‹ kommt auf jeden Fall infrage.«

»Dann nimm du ihn doch, wenn dir der Name so gut gefällt«, schnaubte Sechs.

Die vier Freunde stritten immer noch, als sie ihren Weg nach oben fortsetzten. Eine Stunde später wurden die Stufen auf einmal flacher, und sie erreichten das Plateau. Die Luft war dünn, doch der Blick war atemberaubend. Weit unter ihnen erstreckte sich bis zum Horizont ein milchiges Wolkenmeer, aus dessen wogenden Tiefen Berggipfel um Berggipfel herausragte. Sie waren alle von glitzerndem Schnee bedeckt.

»Dem Frost sei Dank!« Stöhnend ging Fünf in die Hocke.

»Allerdings.« Sechs wirkte plötzlich entschlossen. »Sollen wir noch mal durchgehen, was wir über den Kantenwurm wissen?« Er hielt Fünf die Hand hin und zog ihn hoch.

»Der Älteste Raureif meinte, dass er vor drei Tagen beinahe einen der Gleiter erwischt hätte«, sagte Phönix.

Die Gleiter waren gleich nach dem Oberhaupt die angesehensten Mitglieder des Gebirgsclans. Mit handgemachten Flügeln nutzten sie die Thermik zum Gleiten und konnten dadurch oft schon frühzeitig vor sich nähernden Gefahren warnen.

»Raureif glaubt, dass der Kantenwurm wahrscheinlich immer noch dort auf der Plattform lauert.« Fünf schauderte. »Aber ich hoffe, er war den vielen Regen leid und ist weitergezogen.«

»Fünf!«, rief Sechs. »Das ist aber nicht die Einstellung eines Jägers, erst recht nicht auf unserer ersten richtigen Jagd!«

»Sogar ich hoffe, dass er noch d…da ist«, sagte Sieben strahlend.

»Du musst ihm ja auch nicht entgegentreten«, murmelte Fünf.

»Aber ich werde so viel lernen.« Sie lächelte unschuldig. »Aus euren Fehlern.«

»He!«

»Wir werden keine Fehler machen«, sagte Phönix mit fester Stimme, während sie die Gruppe zu den roten Planken führte, die über den furchterregenden Abgrund hinausragten.

Leicht zurückgesetzt stand eine A-förmige Hütte: Es war der Flügelschuppen. Das Dach hatte die Form zweier nach unten weisender Flügel, deren blendend leuchtendes Weiß sich vor dem blauen Himmel abhob. Vom Eingang aus führten Stufen direkt zur Gleitplattform. Allein der Anblick der roten Planken verursachte Phönix Gänsehaut. Der Gedanke daran, sie zu betreten, bis zum Rand zu gehen, sich ein paar mit Federn bedeckte Holzstücke umzuschnallen und dann abzuspringen und auf das Beste zu hoffen … Sie schüttelte sich und schob die Angst, die sie plötzlich überkam, beiseite.

»Keine Fehler«, murmelte sie erneut, um sich selbst zu beruhigen. Winnie quiekte zustimmend und zuckte fröhlich mit dem Schwanz.

»Nach dem, was in Magische Tierwelt steht, sind Kantenwürmer doch bloß für den Gebirgsclan ein Problem, oder?«, fragte Sechs.

Phönix nickte.

Fünf seufzte. »Na, los. Wir wissen sowieso alle, dass du das Buch auswendig kennst.«

Phönix grinste und blätterte in Gedanken zum Eintrag über Kantenwürmer in Magische Tierwelt.

»Kantenwürmer sind eine lästige Plage der Bergwelt«, zitierte sie. »Sie lauern am oberen Ende von Steilhängen und nehmen das Aussehen ihrer Umgebung an. Indem sie sich flach auf den Boden legen und über die wahre Kante einer Klippe hinausragen, können sie den Eindruck erwecken, der Abgrund sei bis zu zwei Meter weiter entfernt, als er in Wirklichkeit ist. Wer das Pech hat, auf einen Kantenwurm zu treten, stürzt in den Tod, woraufhin das unangenehme Wesen hinabsteigt, um die Überreste seines Opfers zu verschlingen.«

»Echt widerlich«, sagte Fünf.

Phönix beachtete ihn nicht. »Werden sie angegriffen, nehmen Kantenwürmer ihre wahre vielbeinige Gestalt ein. Ihre kräftigen Kiefer sind in der Lage, Knochen zu zermalmen, und ihr peitschenartiger Schwanz ist mit giftigen Stacheln besetzt. Der Kontakt mit ihnen sollte um jeden Preis vermieden werden: Das Gift hat eine lähmende Wirkung

»Und die Werte?«, hakte Sechs nach, während er den Köcher mit seinen Pfeilen überprüfte.

Phönix grinste. »Aggressionspotenzial: vier von zehn. Bedrohungsausmaß: sechs von zehn. Schwierigkeitsgrad der Bekämpfung: vier von zehn.«

»Pff.« Fünf schnaubte. »Schwierigkeitsgrad vier von zehn? Da haben wir schon mit viel Schlimmerem zu tun gehabt. Das kriegen wir problemlos hin.« Er warf Sieben einen Seitenblick zu. »Oder …?«

Phönix sah ihn stirnrunzelnd an. Seit sie herausgefunden hatten, dass Sieben eine Seherin war, waren sie immer wieder versucht, sie zu fragen, was die Zukunft bringen würde. Aber sie wussten auch, wie unwohl sich die Freundin dabei fühlte.

Sieben schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe nichts g…gesehen, Fünf. Tut mir leid.«

Er zuckte mit den Achseln und versuchte, unbesorgt zu wirken. »Na, dann los«, sagte er und zog sein Schwert. »Erteilen wir Sieben eine einwandfreie Lektion, wie man mit einem Kantenwurm fertigwird.«

Neben ihm spannte Sechs seinen Bogen, und Phönix nahm ihre Äxte vom Rücken.

Dann warf sie Winnie einen Blick zu. »Warum bleibst du nicht bei Sieben?« Die Krallen des kleinen Eichhörnchens bohrten sich in ihre Schulter, und es runzelte die Stirn. Winnie würde bleiben, wo er war. »Wie du meinst.« Zu den anderen sagte sie: »Los geht’s.«

»Viel Glück!«, rief ihnen Sieben nach. »Nicht, d…dass ihr es nötig hättet«, fügte sie schnell hinzu.

Phönix holte tief Luft und betrat die Plattform.

2. KAPITEL

»Ich wünschte, sie hätten die Plattform nicht ausgerechnet rot gestrichen«, murmelte Sechs.

»Ja, ganz schön grell, nicht wahr?« Fünf verzog das Gesicht.

»So können die Gleiter sie aus der Luft besser erkennen«, erklärte Phönix.

Blutrotes Holz, so glatt geschliffen wie Schiefer, erstreckte sich vor ihnen in ein unendliches Meer aus Blau hinaus.

Als das Holz unter ihr unangenehm knarzte, zog sich Phönix’ Magen zusammen. Sie konzentrierte sich auf die Äxte in ihren Händen, deren vertrautes Gewicht ihr ein Gefühl von Sicherheit gab.

Neben ihr stieß Fünf einen leisen Pfiff aus. »Der Gedanke, dass zwischen uns und dem Abgrund nur diese Planken sind, ist nicht gerade beruhigend. Wie hoch sind wir laut Oberhaupt Schwinge hier oben?«

»Darüber denken wir besser nicht nach«, antwortete Sechs, der auf Phönix’ anderer Seite stand und vorsichtig einen Schritt vortrat.

Das Ende der Plattform war etwa drei Meter entfernt.

Phönix suchte die Planken nach irgendwelchen Abweichungen in Farbe oder Struktur ab. Fünf stach mit seinem Schwert alle paar Zentimeter vor sich ins Holz. Sechs tat dasselbe mit einem Pfeil.

»Noch nichts«, flüsterte Fünf und stieß mit der Schwertspitze in eine weitere Planke. Er hatte jetzt nichts Belustigtes mehr an sich. Seine Gesichtszüge waren bis aufs Äußerste gespannt.

Zwei Meter fünfzig von der Kante entfernt.

Phönix rückte behutsam vor, ihr Sichtfeld ausgefüllt von einem nahtlosen Rot. Winnie saß starr und still auf ihrer Schulter, den Blick ebenfalls auf das gestrichene Holz gerichtet.

Zwei Meter zehn.

Sechs’ Pfeil drang beinahe lautlos in die Holzmaserung ein.

Ein Meter achtzig.

Phönix versuchte ihren Blick davon abzuhalten, immer wieder nach vorne zum Abgrund zu schweifen, zum endlosen Blau, das sie erwartete, wenn sie einen Fehler machten.

Ein Meter fünfzig.

Eine Schweißperle erschien auf Fünfs Stirn. »Wir müssen jetzt ganz nah dran sein«, flüsterte er und streckte erneut das Schwert aus.

»Da!« Mit plötzlicher Gewissheit fiel Phönix eine winzige Veränderung des Musters im Holz auf, eine Abweichung, die so gering war, dass man sie nur bemerkte, wenn man ganz genau hinsah. Sie streckte die Hand aus und packte Fünf am Handgelenk, bevor die Spitze seines Schwerts den Boden berührte.

»Hier?«, flüsterte Sechs. »Ja, jetzt sehe ich’s auch!«

Sie traten alle gleichzeitig einen Schritt zurück. Die Kante der Plattform schien noch etwa einen Meter fünfzig entfernt zu sein. In Wirklichkeit befand sie sich nur wenige Zentimeter vor ihnen. Ein Schritt weiter, und sie wären in den Tod gestürzt.

Die Stille um sie herum war absolut; sogar der Wind schien den Atem anzuhalten. Dann, mit einer urplötzlichen Bewegung, sprang Fünf vor. Er versenkte sein Schwert tief in das Wesen zu ihren Füßen und sprang wieder zurück, als ein wütender Schrei die Stille zerriss.

Seite an Seite wichen Fünf, Sechs und Phönix zurück, während sich eine Welle der Veränderung von der Wunde her ausbreitete, die Fünf geschlagen hatte. Die roten Planken kräuselten sich, zitterten und ruckten, während sich ihre Farbe und Struktur verwandelte. Kurz darauf wurde ein grobes, schuppiges Wesen sichtbar. Seine gelben Augen musterten sie bedrohlich, während sich seine gedrungene, langbeinige Gestalt anspannte und zum Angriff bereit machte.

»Passt auf!«, rief Fünf, als der peitschenartige Schwanz auf sie zuschwang. Phönix duckte sich und spürte den Luftzug über ihrem Kopf. Genau in diesem Moment beschloss Winnie vernünftigerweise, in ihrem Fell zu verschwinden.

Der Kantenwurm rückte vor, das Maul mit den fauligen Zähnen weit aufgerissen. Sein Atem stank so fürchterlich, dass Fünf würgen musste. »Bäh.«

Die kurze Unaufmerksamkeit war alles, was das Wesen brauchte. Sein Schwanz peitschte erneut blitzschnell vor und hätte Fünf aufgespießt, wenn Phönix sich nicht mit einem Satz vor ihn gestellt und den Schwanz mit ihrer Axt von mehreren Giftstacheln befreit hätte. Brüllend wandte sich das Wesen ab, während dunkelgrünes Blut aus seiner Wunde sickerte.

Ihr Sprung hatte sie weiter nach vorne geführt als beabsichtigt. Plötzlich stand Phönix direkt an der Kante der Plattform und das Wesen zwischen ihr, Fünf und Sechs.

»Keinen Schritt weiter!«, rief Sechs und erbleichte.

Phönix biss die Zähne zusammen, um sich eine schnippische Antwort zu verkneifen, und zwang sich, sich auf das Wesen vor ihr zu konzentrieren. Der ärgerliche Funke schien jedoch ihr Inneres zu entfachen, und mit wachsendem Entsetzen bemerkte sie, wie sich die Hitze ihrer Macht rührte.

Nein, nein, nein.

Sie umfasste ihre Äxte fester und holte tief Luft, um sich zu beruhigen, aber es war zu spät. Schon durchströmten sie warme Schwaden, sie kräuselten sich und breiteten sich aus. Phönix spürte, wie sich das Feuer zusammenbraute, mit jedem Herzschlag stärker pulsierte und hervorströmen wollte.

Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können.

Das Wesen sah zwischen den drei Jägern hin und her, um abzuschätzen, wer das leichteste Opfer war.

Phönix versuchte, die tiefen, langsamen Atemzüge zu machen, die ihr halfen, das Feuer einzudämmen. Wenn so etwas geschah, schloss sie normalerweise die Augen und setzte sich ein paar Minuten an einen ruhigen Ort. Das konnte sie hier nicht, und das Feuer schien das zu wissen. Immer kräftiger stieg es in ihr auf, bis ihre Hände unangenehm kribbelten und ihr der Schweiß auf der Stirn stand.

»Komm schon, Wurmi«, stieß Fünf zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er sich mit Sechs zurückzog und versuchte, das Wesen von Phönix wegzulocken, damit sie mehr Platz hatte. »Du willst doch eigentlich uns.«

Einen Augenblick schien es, als würde es funktionieren. Das Wesen trat einen Schritt auf die Jungen zu, aber dann fuhr es unvermittelt wieder zu Phönix herum, und seine vielen Gliedmaßen verschwammen, als sein verstümmelter Schwanz erneut ausholte und versuchte, ihr die Beine wegzuschlagen.

Phönix reagierte langsam. Ihre Aufmerksamkeit war gespalten zwischen dem Wesen und dem Feuer, das aus ihr hervorschießen wollte. Mit einem energischen Handstreich gelang es ihr gerade so, dem Kantenwurm den Rest des Schwanzes abzuhacken. Sie trat nach dem Wesen, das sich blitzschnell auf sie stürzte, aber sie zielte daneben, und der Kantenwurm prallte mit voller Wucht gegen ihre Knie.

»NEIN!« Siebens Schrei klang weit entfernt.

Beinahe in Zeitlupe spürte Phönix, wie sie das Gleichgewicht verlor und mit den Armen rudernd rückwärtsstolperte. Der Himmel füllte ihr gesamtes Blickfeld aus, als sie zusammen mit dem Kantenwurm über den Rand der Plattform stürzte.

3. KAPITEL

»Phönix!«, schrie Sechs.

Mit aller Macht drehte sich Phönix in der Luft und ließ ihre Axt durch den Schwanzansatz des Wesens hindurch in das Holz ganz am Rand der Plattform hinabsausen. Dann fiel sie halb hinunter und ihre Füße suchten nach Halt, während ihr Körper über einem scheinbar bodenlosen Abgrund hing und die Wolken unter ihr hinwegtrieben. Nur ihre Axt hielt sie jetzt noch.

Das Feuer in ihrem Inneren versiegte, als eine Welle eisigen Entsetzens darüber hinwegschwemmte. Ihr Herz raste, Schweiß brannte ihr in den Augen, und sie umklammerte den Schaft mit ganzer Kraft. Der Kantenwurm neben ihr trat wild um sich, und Phönix spürte, wie die Axtklinge sich mit einem schrecklich splitternden Geräusch aus dem Brett, das sie hielt, zu lösen begann.

Grellweiße Panik leerte ihren Verstand. Aus den Augenwinkeln sah sie die Zähne des Kantenwurms aufblitzen, als er nach ihr schnappte. Instinktiv schlug sie mit der Axt in der freien Hand auf ihn ein. Er schrie erneut auf und wand sich noch stärker, versuchte verzweifelt, sich von der Klinge zu befreien, die ihn festhielt. Phönix merkte, wie die sich unter ihrem gemeinsamen Gewicht noch etwas stärker lockerte. Mit einem Schrei zog sie sich höher. Alle Muskeln in ihrem Arm brannten, als sie gegen den tödlichen Sog der Schwerkraft ankämpfte. Etwas packte ihren anderen Arm und zog sie schwungvoll hoch. Dann lag sie bäuchlings auf sonnengewärmten roten Planken, die Geräusche, wie Fünf und Sechs den Kantenwurm zur Strecke brachten, laut im Ohr.

Sie atmete ganz langsam tief ein und versuchte, das Hämmern ihres Herzens und das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen.

»Phönix, ist alles in Ordnung mit d…dir?« Als Phönix sich aufrichtete, sah sie Siebens erschrockenes Gesicht unter den zerzausten roten Haaren vor sich.

»Ich denke schon«, log Phönix. Sie konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Ihre Macht hatte sich im ungünstigsten Moment gezeigt, hatte Phönix abgelenkt und sie beinahe das Leben gekostet.

Vor Erleichterung lachte Sieben auf. »Fünf hat dich g…gerade rechtzeitig hochgezogen. Denn sonst …« Sie musste den Satz nicht beenden.

»Beim frierenden Frost.« Fünfs Knie landeten in Phönix’ Blickfeld, als er sich keuchend auf die Bretter fallen ließ. »Das war knapp.«

Auch Sechs sank neben ihnen zu Boden. »Einen Augenblick dachte ich, du wärst abgestürzt, Phönix. Ich …« Seine Stimme zitterte.

»Das dachte ich auch«, räumte Phönix ein. Es war deutlich zu hören, wie aufgewühlt sie war. Winnie steckte den Kopf aus ihrem Bärenfell und sah mit weit aufgerissenen Augen von einem zum anderen.

»Ach, Winnie.« Phönix seufzte und kraulte ihm die Wange. »Ich wünschte wirklich, du wärst bei Sieben geblieben.« Der Blick, mit dem er sie bedachte, schien ihr zuzustimmen.

»Magische Tierwelt lag ganz offensichtlich falsch.« Fünf wischte mürrisch das Blut von seinem Schwert. »Das war deutlich schwieriger als vier von zehn!«

»Den Eindruck hatte ich auch«, sagte Sechs stirnrunzelnd. Er warf Phönix einen verstohlenen Blick zu. »Bist du sicher, dass du dir die Einstufung richtig gemerkt hast?«

»Das ist der Dank dafür, dass ich ein ganzes Buch auswendig kann?«, zischte Phönix.

»Jep«, antwortete Fünf grinsend. »Und wenn wir wieder unten in Kliff sind, lese ich den Eintrag selbst nach.«

»Warum warten?« Mit einer missmutigen Kopfbewegung deutete Phönix auf ihre Tasche, die neben dem Flügelschuppen lag. »Es ist da drin.«

Sechs und Sieben starrten sie an.

»Du hattest es dabei, aber … hast nicht nachgesehen?«, fragte Sechs.

»Wie gesagt, ich kann es auswendig!«, sagte Phönix, während Fünf das schwere Buch aus der Tasche zog. Mit einem Knall ließ er es auf die Holzplanken fallen, dann setzte er sich wieder neben die anderen und blätterte bis zum Eintrag über Kantenwürmer, ohne den finsteren Blick zu beachten, den Phönix ihm zuwarf.

»Aggressionspotenzial: vier von zehn«, las er. »Bedrohungsausmaß: sechs von zehn. Schwierigkeitsgrad der Bekämpfung …« Fünf bekam große Augen. »… sechs von zehn!«

»Was?« Sechs beugte sich über Fünfs Schulter.

»Du hast gesagt, es wären vier von zehn!«, beklagte sich Fünf.

»Unmöglich!« Phönix nahm ihm das Buch ab und studierte die Seite. »Es kann nicht sein, dass ich mich bei so etwas ver…« Als ihr Blick auf die entsprechende Zeile fiel, brach sie ab. »Oh.«

Winnie sah anklagend zu ihr auf.

Phönix klappte das Buch schnell zu. »Na ja. Ist ja eigentlich nichts passiert.« Sie hatte einen heiteren Tonfall aufsetzen wollen, aber ihre Stimme klang sogar in ihren eigenen Ohren angespannt.

»Nichts passiert …« Fünf starrte sie entgeistert an. »Hast du gesehen, was gerade geschehen ist? Wenn ich nicht da gewesen wäre, um dich zu retten …«

»NICHTSNUTZIGE NIETEN

Der wütende Schrei ließ sie alle aufspringen, als Ältester Raureif mit schwarzen, zornigen Augen über die Planken auf sie zugestapft kam. »Hättet ihr es diesem winzigen Kantenwurm nicht noch leichter machen können?«

4. KAPITEL

Auf halbem Weg zurück nach Kliff war Phönix und ihren Freunden mehr als klar geworden, für wie unzulänglich Ältester Raureif ihr Werk hielt – keine Einzelheit ihrer Jagd war ungerügt geblieben; von ihrer Strategie bis hin zu ihrer Handhaltung im Kampf war alles beurteilt und für mangelhaft befunden worden.

»Noch nie habe ich eine kläglichere Leistung gesehen«, knurrte Raureif abschließend.

Phönix ging direkt hinter ihm, und ihr Kiefer schmerzte von der Anstrengung, sich die Widerworte zu verkneifen. Niemand hatte bisher je ihre Fertigkeiten im Umgang mit der Axt kritisiert, und sein Urteil missfiel ihr sehr. Darüber hinaus murmelte Fünf immer noch leise »Vier von zehn« vor sich hin, außerdem waren sie inzwischen bis zu der Wolkenschicht abgestiegen, die offenbar dauernd um Kliff herumwaberte, sodass sie ein leichter Nieselregen stetig durchnässte. Als Phönix das Wasser in den Nacken rann, fühlte sie sich hundeelend. Sie vermisste den klaren kalten Frost des Hochgebirges, in dem die Jägerloge lag. Oder besser gesagt gelegen hatte – bevor sie sie versehentlich zerstört hatte.

Durch den Nebel blitzten immer mal wieder die farbenfrohen Dächer des Dorfes vor ihnen auf. Die Bewohner von Kliff führten ihr Leben in der Senkrechten. Wild durcheinandergewürfelte Steinhäuser balancierten gefährlich auf Stützen, die direkt aus der Steilwand ragten. Wenn man Glück hatte, führten schmale Stufen zwischen ihnen hin und her. Wenn nicht, gab es nur furchterregende Seilbrücken und Strickleitern.

Als das Grüppchen bei den höchstgelegenen Häusern Kliffs ankam, teilte sich die breite Treppe in viele kleine schmalere, die sich netzförmig über die gesamte Klippe erstreckten, um alle Teile des Dorfes zugänglich zu machen. Raureif trennte sich mit einem letzten strengen Blick von ihnen und ging zu dem Haus, das man ihm überlassen hatte. Seine Miene war finster, und Phönix hatte plötzlich den Eindruck, dass an seiner schlechten Laune nicht nur der Kantenwurm schuld war.

»Irgendwelche Neuigkeiten von diesen Jägern, die zu den Clans g…geschickt worden sind?«, rief Sieben ihm nach. Offenbar hatte sie denselben Gedanken gehabt.

Raureif blieb stehen und drehte sich mürrisch zu ihr um. »Nichts Nützliches.« Er ballte die Fäuste. »Keiner von denen hat diese vermaledeite Verräterin Sieg zu Gesicht bekommen oder diesen Koboldmagier …« Stirnrunzelnd versuchte er sich an den Namen zu erinnern.

»Morgren«, sagte Phönix und schnitt eine Grimasse.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte ihr Element, das Feuer, ihn über den Kampfplatz der Loge geschleudert. Sie war nicht mal sicher, ob er überlebt hatte. Und für Sieg hegte sie sogar noch finsterere Gefühle. Die ehemalige Waffenmeisterin der Jägerloge hatte sie alle verraten. Sie hatte Kobolden Zutritt zur Loge verschafft und hätte sie alle mit dem größten Vergnügen getötet, wenn Phönix’ bis dahin unentdeckte Macht es nicht verhindert hätte. Aber Siegs Verrat reichte sogar noch weiter: Sie war für den Angriff auf Phönix’ Zuhause vor zwei Jahren verantwortlich, einen Angriff, bei dem das ganze Dorf dahingemetzelt worden war.

»Ach, ja.« Raureif, der nichts von Phönix’ rasenden Gedanken ahnte, nickte. »Morgren. Auch von ihm oder diesem Krock wissen wir nichts.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich.

Bei der Erwähnung des Krock konnte Phönix ein Schaudern nicht unterdrücken: dieses gesichtslose Ungeheuer mit Umhang, das vor drei Monaten in ihre Gedanken und Erinnerungen eingedrungen war. Der Krock verfolgte sie noch stärker als Morgren und Sieg bis in ihre Träume hinein und schien an jedem dunklen Ort zu lauern.

»Aber die vermaledeiten Hexen melden sich nicht, und von den Clans weiß niemand, wer dieser angebliche ›Meister‹ sein soll«, fuhr Raureif fort, ohne Phönix’ Unbehagen zu bemerken. »Verdammt nutzlos, alle miteinander! Eine ganze Koboldarmee verschwindet einfach so mir nichts, dir nichts in Embra!« Er rang die Hände, aber Phönix wusste, dass er trotz seines Gepolters besorgt war. »Und …« Raureif fand langsam Geschmack an dem Thema, »die Oberhäupter können uns nicht nur nicht helfen, jetzt kommen sie auch noch her und verlangen, ich soll meine Jäger gleichmäßig auf alle Clans verteilen! Lächerlich!«

»Die Jägerloge soll doch unparteiisch sein«, sagte Fünf. »Und danach sieht es natürlich gar nicht aus, wenn wir alle hier in Kliff leben.«

Raureif lief rot an. »Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber was, verdammt noch mal, hätte ich denn tun sollen? Meine Jäger im Winter in Zelten unterbringen? Der Gebirgsclan ist nun mal der Clan, der uns am nächsten ist …«

Fünf hob die Augenbrauen.

»Geografisch gesehen!«, dröhnte Raureif, als er seinen Blick bemerkte. »Es ist alles andere als ideal.« Der Älteste blies die Backen auf und schüttelte den Kopf, dann wandte er sich ab, um ins Dorf hinunterzugehen. »Ich habe jetzt ein Treffen mit Oberhaupt Sonnentau vom Sumpfclan. ’ne ziemliche Schreckschraube ist das.«

»Viel Glück«, sagte Phönix und versuchte aufmunternd zu klingen.

»Glück?«, grunzte Raureif. »Das brauche ich nicht. Bin schließlich der geborene Diplomat.«

Zum Glück hörte er ihr schnaubendes Gelächter nicht, als er davoneilte und der Regen sich wie ein Vorhang hinter ihm schloss.

»Sollen wir nach dem Abendessen Hund einen Besuch abstatten?«, fragte Sechs.

Phönix grinste. »Gute Idee.« Die Aussicht darauf, den Logenwächter wiederzusehen, heiterte sie auf.

Der einzige Weg nach Kliff hinauf war in einem Korb, der heraufgezogen wurde. Weder der Korb noch die Leute, die die Seile bedienten, waren kräftig genug, um Hund hochzuziehen, deshalb war er gezwungen, am Fuß der großen Klippe zu bleiben und die Fangfüßer – die stämmigen zotteligen Reittiere der Jäger – zu bewachen. Diese Situation behagte niemandem, aber den Freunden blieb nur die Möglichkeit, ihn dort unten zu besuchen, was sie täglich taten.

Später, als die Sonne sank, folgten Sechs, Sieben und Fünf Phönix auf Treppen, die sich über, unter und um die Häuser herumwanden, durchs Dorf. Es kam Phönix immer noch seltsam vor, beim Blick nach oben die Unterseite eines Hauses über ihrem Kopf schweben zu sehen, vor allem so schöne: die Streben und Böden waren von indigoblauer Farbe bedeckt, auf die in Gold die Lieblingssternbilder der dort wohnenden Familie gemalt waren. Den Himmel verehrte der Gebirgsclan über alles. Und das wurde nirgendwo deutlicher als bei der Gestaltung ihrer Häuser.

Unterhalb von Kliff fiel die Klippe steil ab, und kahler Fels sowie immer schmaler werdende Stufen führten bis zu dem Korb hinunter, der sie in die Finsternis am Fuß der Steilwand bringen würde.

»Dieser Abschnitt ist furchtbar«, zischte Fünf im schwächer werdenden Licht. »Wäre etwas zum Festhalten wirklich zu viel verlangt?«

Der Pfad war jetzt nicht mal mehr einen Meter breit, und jenseits der Kante lauerte der Abgrund.

»Du kannst dich an mir festhalten, wenn du willst«, flüsterte Sechs.

»Oh … äh … hm … danke«, sagte Fünf. Phönix konnte geradezu hören, wie er rot wurde.

Im Frostigen Forst hatte Eichenhammer, einer der bösartigen Herzbäume des Waldes, Fünf gezwungen, seine Gefühle für Sechs offenzulegen. Die beiden Jungen waren weiterhin die dicksten Freunde, aber Phönix war sicher, dass sich Fünf manchmal mehr wünschte. Sie hatte schon versucht, ihn darauf anzusprechen, war aber bei beiden Gelegenheiten sanft abgeblitzt.

Weiter oben leuchtete in der zunehmenden Dunkelheit ein orangefarbener Lichtpunkt auf.

»Dem Frost sei Dank, sie zünden die Fackeln an«, sagte Fünf.

Auf der Korbplattform hielten ein Mann und eine Frau die Stellung. Ihre beeindruckend breiten Schultern zeichneten sich unter ihren Fellen ab.

»Willkommen hier schon fast ganz unten, kleine Jäger!« Die Frau grinste, und ihre Zähne blitzten im Schein der Fackeln. Sie hatte Adlerfedern und glänzenden Quarz in ihre Haare geflochten.

»Es gibt nicht viele außerhalb unseres Clans, die diese Treppe so nah an der Dunkelheit mögen«, fügte der Mann, der bemerkt hatte, wie bleich Fünf war und wie Phönix sorgfältig versuchte, den Blick von der Kante abzuwenden, schmunzelnd hinzu.

Mitten in der Plattform befand sich eine große runde Öffnung. Zwei Seile, die an einem Flaschenzug befestigt waren, führten hindurch in die Finsternis darunter. Irgendwo unter ihnen hing ein riesiger Korb, und die beiden Mitglieder des Gebirgsclans kurbelten jetzt an einem großen Rad, um ihn hochzuziehen.

»Springt rein«, sagte der Mann kurz darauf und hielt den Korb für sie fest. »Läutet unten an der Glocke, wenn wir euch wieder hochholen sollen.«

Fünf stieg als Letzter ein, und gleich darauf senkte sich der Korb ruckartig, rauschte gelegentlich ein Stück runter, hielt dann wieder inne und bewegte sich langsamer vorwärts. Alle klammerten sich mit weißen Fingerknöcheln an den Rand, die Gesichter angsterfüllt.

»D…das ist der Abschnitt, d…den ich furchtbar finde.« Sieben kniff die Augen fest zu, als der Korb erneut einen Ruck machte.

Sechs schluckte. »Ganz deiner Meinung …«

Winnie war der Einzige, der fröhlich aussah. Wie um es ihnen zu zeigen, sprang er leichtfüßig über die Schultern von allen vier, bevor er wieder auf Phönix landete.

»Gib nicht so an«, murmelte sie. Winnies geträllerte Antwort klang sehr nach Eichhörnchengelächter.

Die Lichter des Dorfes waren jetzt so weit über ihnen, dass Phönix den Eindruck hatte, zu einer Siedlung im Himmel hinaufzublicken. Was ja in gewisser Weise auf Kliff auch zutraf.

Ein paar furchterregende Minuten später kletterten sie dankbar aus dem Korb auf den holprigen Felsenboden.

Sechs grinste. »Na, dann gehen wir mal unseren Wächter suchen!«

5. KAPITEL

»H…hund?«, rief Sieben.

Die vier standen im Lichtschein neben dem Korb und spähten hoffnungsvoll in die Schatten um sie herum. Der Mond war nur eine schmale Sichel und linste durch die Wolken, die sich teilweise aufgelöst hatten und über Kliff hinaufgestiegen waren, wo sie jetzt die Sterne verhüllten.

Die Dunkelheit waberte und wallte um sie herum. Dann hörten sie Schritte knirschen.

Winnie hüpfte aufgeregt auf Phönix’ Schulter, als eine Gestalt im Dämmerlicht sichtbar wurde und stetig näher kam, bis in ihr der Wächter zu erkennen war. Im schwachen Licht wirkte sein rötlicher Stein beinahe schwarz, und er schien noch größer zu sein als sonst.

»Phönix«, sagte Hund mit tiefer, rauer Stimme. Er stupste überraschend sanft ihre Schulter an, bevor er sich den anderen zuwandte. »Sechs, Fünf und Sieben.« Aus seiner Stimme war das Lächeln herauszuhören. »Ich freue mich, euch zu sehen.«

Winnie fiepte empört auf Phönix’ Schulter, und Hund lachte. »Und dich, kleiner Winnie«, fügte er hinzu. »Dich habe ich nicht vergessen.«

Besänftigt rieb Winnie seine Nase an Hunds Schnauze, während sein Schweif ein glückliches Muster in die Luft malte.

»Hab mir fast gedacht, dass wir uns hier unten treffen würden«, ertönte eine vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Kurz darauf tauchte Raureif auf dem losen Geröll auf.

»Raureif hat mir von eurem Kampf gegen den Kantenwurm erzählt.« Hund begann mit dem Schwanz zu wedeln. »Offenbar habt ihr euch gut geschlagen. Ich hatte natürlich auch nichts anderes von euch erwartet.«

»Uns … gut geschlagen?« Fünf warf Raureif einen überraschten Blick zu. Aber dann fasste er sich schnell und nickte begeistert. »Sehr gut sogar. Du hättest uns sehen sollen, Hund! Wir waren alle großartig, aber ich ganz besonders. Ich habe Phönix das Leben gerettet! Hat Raureif das auch erwähnt?«

Phönix stieß ihn fest mit dem Ellbogen in die Seite. »Stimmt gar nicht.«

»Genug«, fuhr Raureif sie an. »Ihr habt diesem Kantenwurm den Garaus gemacht und selbst überlebt. Das war eine annehmbare Leistung.«

»Das ist nicht …« Fünf hielt abrupt inne, als er Raureifs wütenden Blick bemerkte.

»Bist du nur hier runtergekommen, um Hund von uns zu erzählen?«, fragte Sechs.

»Ich spreche mit dem Wächter, wann es mir beliebt«, sagte Raureif barsch. »Und ohne dass ich euch Rechenschaft darüber ablegen müsste.«

Sechs zuckte zusammen. »Natürlich, aber …?«

Raureif seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er wirkte plötzlich erschöpft. »Ich warte noch immer auf einen Falken von Kiefers Mannschaft. Habe seine Leute zum Flussclan geschickt, damit die bei sich in der Gegend Ausschau nach den Kobolden halten. Er ist spät dran.« Der Älteste schnaufte. »Und es sieht ihm gar nicht ähnlich, sich zu verspäten.«

Fünf zögerte. »Es gibt noch nichts …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Egal.«

»Spuck’s aus, Junge«, sagte Raureif ungeduldig.

»Die Hexen …« Fünf zuckte mit den Schultern. »Wir haben immer noch nichts von ihnen gehört. Glaubst du …«

»Die Hexen!«, brüllte Raureif plötzlich erbost. »Das ist noch so ein verdammter Stachel in meinem Fleisch. Ich habe ihnen geschrieben, was in der Jägerloge vorgefallen ist und dass Phönix und Sieben beide über gewisse magische Fähigkeiten verfügen. Da sollte man doch meinen, dass sie …« Er rang die Hände. »… zumindest mit einem gewissen Interesse reagieren.«

»Oder mit Rat«, ergänzte Sechs.

»Oder Entsetzen«, sagte Phönix. »Offenbar gehöre ich ja zu den bösen Hexen.«

»Ein böses Omen!«, meldete sich Fünf grinsend zu Wort. »Das wusste ich gleich, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

Der Schlag, den sie ihm auf den Arm versetzte, war alles andere als sanft.

»Zumindest sollte man meinen, dass sie irgendwie reagieren!«

»Eine Elementhexe, eine Seherin und die Rückkehr der Koboldmagie.« Fünf seufzte. »Wenn das nicht reicht, damit sie reagieren, dann weiß ich auch nicht.«

Raureif nickte widerwillig. »Da hast du vollkommen recht, Fünf.«

Irgendwo weit über ihnen loderte eine Flamme auf. Kurz darauf hörten sie ein Knistern.

Raureif legte den Kopf in den Nacken, um die Ursache der herabregnenden Funken zu finden. »Was beim …?«

»Ein Leuchtfeuer«, sagte Hund mit dringlicher Stimme. »Kliffs Alarmsignal. Zurück in den Korb. Schnell. Bevor sie ihn hochziehen.«

Phönix erkannte augenblicklich, dass er recht hatte. Der Korb hob sich bereits vom Boden. Winnie fiepte erschrocken.

Über ihnen loderte ein weiteres Lichtsignal auf, während sie zum Korb eilten. Phönix erstarrte, als am Himmel hoch über Kliff etwas auftauchte und das Leuchtfeuer einen riesigen vogelartigen Schatten auf die hohen Wolken warf.

»Was bei Embra …?«, keuchte Fünf mit offen stehendem Mund.

Eine weitere helle Flamme flackerte auf, und diesmal konnte Phönix den Umriss genauer erkennen. Es war wirklich ein Vogel: riesig und so hell wie Perlen in der Dunkelheit.

Raureif bekam weiße Fingerknöchel, während er nach oben starrte.

Der große Vogel über ihnen legte seine Flügel an und begab sich in einen fast senkrechten Sturzflug entlang der Steilwand direkt auf sie zu.

»Verdammt, das glaube ich jetzt nicht«, flüsterte der Älteste.

»Was denn?«, fragte Fünf, der mit weit aufgerissenen Augen nach seinem Schwert griff. »Was ist das?«

Es war Hund, der antwortete. »Ein Eisadler«, sagte er staunend. »Da kommt eine Hexe.«

6. KAPITEL

Raureif war wie erstarrt. Es war das erste Mal, dass Phönix ihn so unsicher erlebte.

Der riesige Vogel, der im Mondlicht geradezu überirdisch weiß strahlte, brach seinen Sturzflug im letzten Moment ab, um sanft in der Nähe zu landen. Eine Frau glitt von seinem Rücken und kam aufrecht auf sie zu. Sie war groß, was durch die auf dem Kopf aufgetürmten Haare noch verstärkt wurde. Ihr Gesicht war kantig, die ausgeprägten Wangenknochen traten unter der braunen Haut deutlich hervor. Von ihren Schultern fiel ein langer Umhang, der aus denselben schneeweißen Federn bestand wie ihr Vogel.

»Sei gegrüßt, Raureif«, sagte sie mit sanfter Stimme. Aus der Nähe betrachtet war ihr Haar von silbernen Strähnen durchzogen, und zarte Fältchen umrandeten ihre Augen.

»Nara?« Raureif musterte stirnrunzelnd ihr Gesicht. »Bist du das?« Seine Überraschung war nicht zu übersehen.

Die Frau lächelte erleichtert. »Ich war mir nicht sicher, ob du mich wiedererkennen würdest.«

Fünf stieß Phönix an. Die kennen sich?, sagte er lautlos.

Phönix zuckte mit den Achseln. Winnies Augen waren weit aufgerissen, und sein Blick huschte von einem Gesicht zum anderen, um von seinem Platz auf Phönix’ Schulter aus alles in sich aufzunehmen.

»Selbstverständlich erkenne ich dich wieder«, sagte Raureif, der sein übliches Gepolter teilweise wieder aufgenommen hatte, barsch. »Es ist zwar schon über vierzig Jahre her, und ich bin möglicherweise älter geworden, aber meine grauen Zellen funktionieren immer noch einwandfrei.« Mit grimmigem Blick tippte er sich an die Stirn.

Die Frau nickte amüsiert und ließ den Blick über die Gruppe schweifen, bevor er interessiert auf Hund liegen blieb. »Wir haben deinen Brief erhalten«, wandte sie sich dann wieder an den Ältesten, und ihre Miene wurde ernst.

Raureifs struppige Augenbrauen schossen nach oben. »Den, den ich vor drei Monaten abgeschickt habe? Und ihr habt euch entschieden zu antworten. Das ist ja wirklich ganz reizend.«

Die Hexe zog ihren hübsch gefiederten Umhang enger um sich. »Wir sollten uns unterhalten«, sagte sie leise. »Es ist viel geschehen. Das Schweigen Eisgards hatte seine Gründe.«

»Schweigen?« Raureif schnaubte. »Ich würde eher sagen, ihr seid völlig von der Bildfläche ver…« Er brach abrupt ab.

»Jetzt bin ich ja da, um alles zu erklären«, sagte Nara mit ruhiger Würde. »Und um mich mit dir über den Inhalt deines Briefs zu unterhalten. Du hast gesagt, du hättest eine Feuerhexe unter deinen Jägern?«

Phönix erstarrte.

Über ihren Köpfen in Kliff loderten Fackeln auf. Schritte huschten über die schmalen Pfade. Die Frau von der Korbkurbel rief Raureif etwas zu, und er brüllte zurück, dass alles in Ordnung sei.

»Vielleicht bleiben wir besser erst mal hier unten«, sagte er zu Nara. »Hier sind wir ungestört.« Er zögerte kurz, dann schien er einen Entschluss zu fassen. »Das ist Phönix.« Er wies mit dem Kopf in ihre Richtung. »Und ja, ich würde sagen, sie ist auf jeden Fall eine Feuerhexe, obwohl wir das natürlich aus offensichtlichen Gründen für uns behalten haben.«

»Natürlich«, entgegnete Nara sanft. »Der alte Aberglaube bezüglich der Elementhexen ist noch immer spürbar.« Der Blick, mit dem sie Phönix bedachte, war so durchdringend, dass Winnie zurück unter ihr Fell huschte. Phönix spürte, wie ihre Freunde von beiden Seiten schützend näher rückten.

»Wenn es um Phönix geht, bleibt ihr besser da«, knurrte Raureif und führte die Gruppe zu einem Kreis aus großen Steinen, auf die sie sich setzen konnten.

»Ja, das wäre gut.« Nara folgte ihm.

Phönix und Sechs wechselten einen Blick. Die Hexe wirkte nervös. Auch Raureif bemerkte es.

Nara holte tief Luft und lächelte verzagt in die Runde. »Du hast uns geschrieben und uns um Hilfe gebeten«, hob sie an. »Ich bin jedoch gekommen, um meinerseits euch um Hilfe zu bitten.«

Was immer Raureif erwartet hatte, damit hatte er nicht gerechnet. Phönix konnte geradezu sehen, wie die Fragen und der Protest aus ihm hervordrängten, aber er nickte bloß. »Fahr fort.«

»Morgren«, sagte Nara. »Der Koboldmagier, von dem du geschrieben hast.«

Schweigen senkte sich über die versammelte Gruppe, und Hund entfuhr ein Knurren. Fünf sah Phönix verwirrt an.

»Was ist mit ihm?« Raureif ballte die Fäuste.

»Er hat Eisgard einen Besuch abgestattet.«

Phönix schlang die Arme um sich. Morgren hatte die Schlacht in der Jägerloge also wirklich überlebt. Winnie tauchte wieder aus ihrem Fell auf, knurrte leise und schmiegte sich schützend an ihren Hals.

»Schändliche Schneckenbohrer!« Raureif sprang auf. »Ist er noch dort? Hat er seine Armee mitgebracht?«

Nara schüttelte den Kopf, anscheinend unbeeindruckt vom Ausbruch des Ältesten. »Vor drei Wochen ist er wie aus dem Nichts auf dem Eis vor dem Frostpalast aufgetaucht. Durch irgendeine Art magisches Portal, nehme ich an. Er blieb nur ein paar Minuten, dann verschwand er wieder, aber wenn es nicht noch weitere Koboldmagier gibt, war es bestimmt Morgren.« Sie holte tief Luft. »Er … hat etwas getan. Und dadurch ist Eisgard jetzt in großer Gefahr. Und möglicherweise sogar ganz Embra.«

»Was soll das heißen, ›er hat etwas getan‹?« Fünf runzelte die Stirn.

»Embra ist in Gefahr?«, fragte Hund gleichzeitig.

Nara nickte schnell. »Damit ihr das versteht, muss ich euch erklären, was vor vierzig Jahren geschehen ist.« Ihr Blick begegnete dem Raureifs. »Warum wir von der Bildfläche verschwunden sind.«

Trotz ihres Entsetzens wurde Phönix unweigerlich neugierig. Die Hexen waren in ganz Embra schon fast vergessen. Sie selbst hatte sich schon oft gefragt, ob es sie wirklich gab. Aber jetzt saß eine Hexe direkt vor ihr – so lebendig wie Winnie auf ihrer Schulter –, und ihr Umhang aus Eisadlerfedern glitzerte im Mondschein. Phönix sah ihre Freunde an, die genauso erstaunt und ungläubig wirkten wie sie selbst.

»Na, dann los«, sagte Raureif.

Mit gequälter Miene holte Nara tief Luft.

7. KAPITEL

»Du weißt, dass Eisgard am Ende des Dunklen Krieges die Koboldmagie gebannt hat«, sagte Nara vorsichtig. »Dass wir sie Hunderte von Jahren sicher und geheim verwahrt haben.«

Raureif nickte.

»Nun, vor vierzig Jahren bat eine unserer Hexen die Oberhexe um Erlaubnis, diese Magie zu studieren, zu versuchen … damit zu arbeiten.«

»Warum bekomme ich plötzlich ein ungutes Gefühl?«, knurrte Raureif.

»Wir werden nie erfahren, was genau passiert ist …«, fuhr Nara unbeirrt fort. »Sie studierte die Portalmagie der Kobolde. Aber als sie sich an ihrem ersten Zauberspruch versuchte, tauchte der Schattensaum in Eisgard auf.«

»Der Schattensaum?«, fragte Fünf. »Was ist das?«

Nara stieß ein trauriges Lachen aus. »Um ehrlich zu sein, kann ich diese Frage auch nach all den Jahren nicht beantworten. Es ist eine Art dunkle Substanz, die eine magische Krankheit verursachte, wie wir sie noch nie gesehen hatten: Wir nannten sie die Schattenkrankheit. Keiner unserer Heilsprüche funktionierte. Ursprünglich waren wir beinahe tausend. Innerhalb weniger Wochen waren davon nur noch fünfzig junge Hexen übrig. Ich gehörte zu den ältesten Überlebenden.«

Es herrschte langes Schweigen, bevor Raureif das Wort ergriff. So erschüttert hatte Phönix ihn noch nie gesehen. »Du warst die älteste Überlebende? Aber du warst damals doch höchstens … ich weiß nicht, sechzehn?«

Das Schweigen wurde bedrückend und düster, als sie die Bedeutung von Naras Worten erfassten. Winnie zitterte auf Phönix’ Schulter und machte sich ganz klein.

»Beim frierenden Frost …« Raureifs Flüstern verklang.

Die vier Freunde starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an.

Raureif schlug sich mit der Hand aufs Knie. »Warum habt ihr uns nicht benachrichtigt? Um Hilfe gebeten! Wir hätten euch geholfen! Die Bannmagier hätten euch geholfen!«

»Wir hatten große Angst, die Krankheit über die Frostige Ebene nach Embra hineinzutragen«, sagte Nara. »Vor ihrem Tod verfügte unsere Oberhexe, dass wir keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen sollten, bevor wir den Schattensaum nicht zerstört hätten und wüssten, wie wir die Krankheit behandeln konnten. Sie fürchtete, dass selbst ein Brief katastrophale Auswirkungen haben könnte.«

Das Gewicht der entsetzlichen Worte Naras war körperlich spürbar.

»Irgendwann war die Krankheit überstanden«, sagte Nara leise. »Aber sie hatte zu viele von uns dahingerafft. Es war keine mehr da, die die unbefiederten Hexen unterrichten konnte; so viel unseres Wissens ging beinahe verloren.« Sie atmete schaudernd ein. »In den letzten vierzig Jahren haben wir unsere eigene Magie neu erlernt und versucht, uns wieder zu erholen. Allerdings haben wir bisher nicht herausgefunden, wie wir den Schattensaum zerstören können. Deshalb hast du nichts von uns gehört.«

»Aber was hat das mit Morgren zu tun?«, fragte Fünf, woraufhin Sechs ihm einen entsetzten Blick zuwarf. »Was denn? Sie hat doch gesagt, es gebe einen Zusammenhang.«

Nara lachte unsicher. »Das stimmt. Vierzig Jahre lang haben wir den Schattensaum in einem Okulus gefangen gehalten.«

Sechs wirkte verwirrt. »In einem … was?«

»Einer Art magischem Gefängnis.«

Das große weiße Adlerweibchen hinter ihr klapperte sanft mit dem Schnabel und legte seinen Kopf auf Naras Schulter ab. Die Hexe streckte die Hand aus und streichelte die Federn unter den durchdringenden bernsteinfarbenen Augen des Vogels, was ihr Kraft zu geben schien. »Seit Morgren bei uns war, ist der Schattensaum gewachsen.« Als Phönix Naras Blick begegnete, bemerkte sie eine große Angst in den Augen der Hexe. »Das hat er seit vierzig Jahren nicht getan.«

»Ihr macht euch Sorgen, dass die Krankheit zurückkehren könnte?«, fragte Raureif.

Naras Lachen klang überaus nervös. »Natürlich. Aber wir machen uns sogar noch größere Sorgen, dass er den gesamten Frostpalast zerstören könnte.«

Phönix starrte sie an.

»Wir haben den Okuluszauber bereits viermal erneuert«, sagte Nara mit bebender Stimme, »was undenkbar ist. Jedes Mal wird es schwieriger, den Schattensaum einzudämmen. Und er …« Sie schüttelte den Kopf. »Irgendwie saugt er Eisgard die Magie ab, selbst aus seinem Gefängnis heraus. Das sollte eigentlich auch unmöglich sein. Der Zweck eines Okulus ist es schließlich …« Angesichts ihrer verständnislosen Mienen brach sie ab und zuckte erschöpft mit den Achseln. »Es dürfte nicht passieren. Wenn es so weitergeht, bleibt Eisgard nicht mehr viel Zeit. Die gesamte Struktur des Frostpalasts wird durch Magie zusammengehalten. Ohne sie …«

»Was?« Fünf schnaubte. »Dann stürzt er ein?«

Raureif starrte Nara undurchdringlich an. »Du meinst hoffentlich nicht, was ich denke?«

Die Hexe nickte. »Du hast Eisgard schon mal gesehen, Raureif. Du weißt, was es ist. Wenn die Magie versagt, werden nicht nur die Hexen leiden. Ganz Embra wäre in Gefahr.«

Phönix’ Blick fiel auf Sieben, die genauso verwirrt aussah, wie sie sich fühlte.

Raureif schüttelte langsam den Kopf. »Und was können die Jäger deiner Meinung nach tun, Nara? Wir kämpfen gegen dunkle Bestien. Das hier ist jedoch etwas ganz anderes. Das ist reine Magie, also die Domäne der Hexen, nicht unsere.«

Nara sprach leise, aber überaus dringlich. »Um weiteren Schaden am Frostpalast zu verhindern, muss der Schattensaum zerstört werden, bevor er groß genug wird, um aus dem Okulus auszubrechen.« Sie verschränkte krampfhaft die Hände. »Wenn er aus seinem Gefängnis entkommt, könnte er sich frei auch über Eisgard hinaus bewegen, vielleicht sogar über die Bissberge hinweg bis ins Gebiet der Clans. Und wenn die Schattenkrankheit zurückkehrt, dann wäre alles, was wir in den vergangenen vierzig Jahren getan haben, wären all die Opfer, die wir gebracht haben …« Sie schloss die Augen. »Dann wäre das alles umsonst gewesen.«

Raureif erhob sich plötzlich und ging auf und ab.

Nara musterte den Ältesten. »Du musst doch erkennen, dass alles auf dem Spiel steht: nicht nur die Zukunft Eisgards, sondern auch die der Clans – die ganz Embras.«

»Natürlich erkenne ich das«, murmelte Raureif, ohne stehen zu bleiben.

Phönix schauderte, als die Hexe weitersprach. »Wir haben alles versucht, um ihn loszuwerden.« Sie hob den Blick und sah Phönix an. »Oder besser gesagt, fast alles.«

Plötzlich verstand Phönix. »Alles außer Hexenfeuer.«

»Genau.« In Naras Miene stand verzweifelte Hoffnung. »Kommst du mit mir nach Eisgard, Phönix? Hilfst du mir, den Schattensaum zu zerstören?«

»Immer langsam«, mischte sich Raureif argwöhnisch und angespannt ein. »Was genau soll sie tun?«

Phönix war dankbar für die Unterbrechnung. Ihr Herz schlug in einem holprigen Rhythmus und sie war plötzlich schweißnass. Nara wollte, dass sie ihre Macht einsetzte? In den letzten drei Monaten hatte sie verzweifelt versucht, sie zu unterdrücken.

»Morgren und seine Verbündeten haben die Jägerloge angegriffen«, sagte Nara mit fester Stimme zu Raureif. »Jetzt haben sie es auf Eisgard abgesehen. Sie hoffen, mein Zuhause einzunehmen und die Magie darin zu verwenden, um ganz Embra damit zu bedrohen. Sie werden Eisgard in eine Waffe verwandeln.« Nara hielt inne. Phönix biss sich auf die Lippe, als alle sie ansahen. »Wenn Phönix das ist, was du sagst, ist sie unsere einzige Hoffnung, den Schattensaum zu zerstören und ihren Plan zu durchkreuzen.«

8. KAPITEL

Kurz nachdem sie ihre Bitte geäußert hatte, ließ Nara sie allein, damit sie darüber nachdenken konnten. »Im Morgengrauen bin ich zurück, um eure Entscheidung zu erfahren.«

Phönix sah, wie der riesige Vogel, dessen Federn im Mondschein glänzten, aufstieg und dann über dem Steilhang verschwand.

»Was wirst du tun, Phönix?« Raureif drehte sich zu ihr um. Angesichts der überraschten Gesichter seiner Schüler zuckte er mit den Schultern. »Ihr seid jetzt Jäger«, sagte er. »Das heißt, ihr kennt selbst eure Stärken und Schwächen und trefft eure eigenen Entscheidungen. Ich zwinge meine Jäger nie, die Bitte nach einer Jagd anzunehmen …« Stirnrunzelnd brach er ab. »Auch wenn das hier streng genommen keine Jagd ist, soweit ich es sehe.«

Phönix spürte die Blicke der anderen auf sich, es gelang ihr jedoch nicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Stechende, brennende Angst stieg in ihr auf. Das spürte Winnie, der sie am Ohrläppchen leckte und sich enger an sie schmiegte. In den letzten drei Monaten hatte sie so getan, als gäbe es ihre Macht nicht, und insgeheim gehofft, sie würde verschwinden, wenn sie sie nicht nutzte. Aber offenbar galt eher das Gegenteil. Immer öfter und immer stärker stieg das Feuer in ihr auf und verlangte danach, eingesetzt zu werden. Und jedes Mal, wenn sie es unterdrückte, wuchs ihre Angst davor. Wenn sie mit Nara ging, würde sie es einsetzen müssen. Der Gedanke daran erfüllte Phönix mit Entsetzen.

Sie blickte auf und sah, dass Sieben sie mit sorgenvollem Blick beobachtete.

Fünf rückte an die Kante des Steins, auf dem er saß, stützte die Ellbogen auf die Knie und sagte: »Ich glaube, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen, oder wir gehen nicht.«

Phönix’ Gelächter überraschte sie selbst. Gleichzeitig blitzte Hoffnung in ihr auf: Er hatte »wir« gesagt.

Sechs verdrehte die Augen. »Mehr hast du nicht zu bieten?«

Fünf grinste achselzuckend.

»Das ist ernst, Fünf.« Sieben hatte nachdenklich die Stirn gerunzelt. »Naras Nachricht ändert alles.«

»Allerdings, oder?«, sagte Sechs. Alle Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen.

»Sieben hat recht«, knurrte Hund. »Wir haben nach Morgren und Sieg gesucht …«

»Und uns gefragt, was sie als Nächstes tun würden«, fuhr Phönix fort, während sie Winnie streichelte, dessen Schwanz aufgeregt zuckte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Hände auf dem Eichhörnchenfell fühlten sich feucht an.

»Genau.« Hund nickte. »Und jetzt wissen wir es.«

Raureif betrachtete sie schweigend.

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