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Partem. Wie die Liebe so kalt

Als Buch hier erhältlich:

Wenn ein kaltes Herz plötzlich entbrennt ...

Liebe kann jeden verwunden, doch niemanden so sehr wie Jael. Sein Auftrag ist es, anderen die Gefühle zu stehlen, und dafür muss er eiskalt sein. Als Jael auf Xenia trifft, schlägt sein Herz zum ersten Mal seit langem schneller. Dabei ist Xenia eigentlich ein ganz normales Mädchen – mal davon abgesehen, dass sie Geräusche hört, sobald sie jemanden berührt. Nur bei Jael herrscht Stille in ihrem Kopf. Die beiden sind füreinander bestimmt, doch können sie sich den Fängen derjenigen entziehen, die es auf Xenias Herz abgesehen haben? Und wird Jael für Xenia seine eigentliche Mission verraten?

Mädchen von nebenan trifft auf eine Gruppe eiskalter Gefühlsdiebe: In der PARTEM-Dilogie verbinden sich Fantasy, Spannung und Romantik zu einer einzigartigen Geschichte!


  • Erscheinungstag: 25.05.2021
  • Aus der Serie: Partem
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 480
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850427

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Einen Hinweis dazu findet ihr hier
.
Achtung: Dieser Hinweis enthält einen Spoiler für die Handlung.

»Deine Nähe ist,

glaube mir,

der einzige Traum, den ich träume.«

aus: Das Schloß, von Franz Kafka

PROLOG

Blut! Es rann ihm den Hals hinunter. Das Messer saß fest an seiner Kehle. Und bei jedem Atemzug, den er seinem Körper abrang, bohrte sich die Klinge tiefer in seine Haut.

Es war aus. Für ihn war es aus. Aber … auch für die anderen?

Er ließ den sich windenden Körper unter seinen Knien los, hob ergeben die Hände.

»So ist es brav.« Die Worte zischten über seinen Nacken. Eine Frau?

Grob riss sie seinen Kopf nach hinten. Zwang ihn aufzustehen und stieß ihn vor sich her, aus der Dunkelheit heraus, näher an das Wasserbecken.

Hin zu ihr.

Sie hockte am Rand des Brunnens. Vor ihr spuckte das Becken kein Wasser. Es spuckte Blut. Rote Fontänen tauchten die unterirdische Kathedrale in teuflisches Licht. Neben ihr lag der Beutel mit den Phiolen. Eine davon glitzerte zwischen ihren Fingern auf. Sie hielt sie wurfbereit.

»Aufhören. Sofort!« Die Hand an seinem Kopf krallte sich tief in seine Haare. »Sonst schlitze ich deinem Freund hier die Kehle auf.«

Ruckartig drehte sie sich um. Ihre Augen schreckgeweitet. Die Phiole rutschte ihr aus den Fingern. Sie rollte über den Boden, ihm entgegen.

»Nicht. Mach … weiter!« Nur mühsam pressten sich die Worte aus seiner Kehle. Gefolgt von einem gurgelnden Stöhnen. Der Druck des Messers hatte sich erhöht. Das Blut! Es rann nicht mehr nur zaghaft. Es floss.

Aber sie durfte nicht aufhören. Nicht jetzt!

Was war sein Leben gegen das Leben der anderen? Gegen das Leben aller?

Sie waren so kurz vor dem Ziel.

Überall auf dem Boden verstreut, zu den Füßen seiner Freunde lagen sie: Leichen. Sich auflösende Körper.

Doch … sie zögerte. Kam sogar auf ihn zu? Ihre Hände zu Fäusten geballt.

»Lass. Ihn. Los!« Jedes Wort peitschte sie seiner Angreiferin entgegen. Ihr Blick dabei war kalt, bis ihre Augen seine fanden.

Sie waren es gewesen, ihre Augen. Vom ersten Moment an hatte er sich in ihnen verloren. Um sie dahinter zu sehen.

Und sich zu finden.

Ich liebe dich! formten seine Lippen. Sprechen konnte er nicht mehr. Doch sie hatte ihn verstanden. Tränen glitzerten in ihren Augen auf und ließen sie leuchten.

»Ich … Ich liebe dich auch!«

Er versuchte zu lächeln. Das waren die Worte, mit denen er sich von dieser Welt verabschieden wollte. Ihre Liebe und ihr bedingungsloses Vertrauen hatten ihn zurückgeholt, ihn das Leben wieder spüren lassen. Wenn er jetzt gehen musste, dann für sie.

Für sie. Für seine Familie. Für sie alle, die hier kämpften.

»Noch einen Schritt, du Miststück, und ich schneide seine Kehle durch!«

War es die erneute Warnung? Sein Aufstöhnen? Sie blieb stehen. Er sah ihr leichtes Kopfschütteln, das Beben ihrer zusammengepressten Lippen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Im Gleichklang mit seinen. Ihre Blicke umarmten sich, klammerten sich aneinander fest. Wie gern würde er sie berühren, ein letztes Mal noch. Bittend streckte er seine Hand nach ihr aus.

Doch sie reckte plötzlich ihr Kinn, straffte die Schultern, bevor sie sich von ihm abwandte.

»Tu es!« Ihr Befehl galt dem Altarraum, der Gestalt, die sich dort aus dem Schatten löste. »Wenn du meine Freundin bist, meine Schwester, dann … tu es. Jetzt!«

Entsetzen brach in ihm aus, zerfraß seinen Brustkorb.

Sie selbst opferte sich? Sie wollte sterben, um den Partem zu vernichten?

»Nein.« Erst war es nur ein Röcheln, doch sobald das Messer seine Kehle freiließ, gellte sein verzweifelter Schrei durch die Halle. »Nein!«

XENIA

Das Schlimmste an Umarmungen war, dass man sich dabei die Ohren nicht zuhalten konnte. Doch ihre Mutter schien genau auf diese Art Abschied zu bestehen. Sie zog sie zu sich.

GLASSCHERBENREGEN!

Sofort versteckte Xenia ihre Hände noch tiefer in den Ärmeln ihrer Jacke. Ein Automatismus, Stoff dämpfte die Geräusche. Heute nicht. Ihre Mutter hörte sich immer so an, als würde jemand Glas zerschmeißen. Nur klang es jetzt gerade nach einer ganzen Fensterfront.

War sie immer noch sauer?

»Über dein Verhalten, Nia, sprechen wir später. Du kannst jetzt gehen. Den Rest schaffe ich allein. Hoffentlich.«

»Sicher.« Der Scherbenregen erstarb, als Xenia sich aus der Umarmung löste. Stumm verfolgte sie dann den Abgang ihrer Mutter. Noch zitterten ihre hohen Absätze, doch sobald sie den Gerichtssaal betrat, würde man ihr nichts mehr anmerken. Wie immer.

Andere Mütter begleiteten ihre Kinder zum Kindergarten. Zum Zahnarzt. Sonst wohin, wenn sie Angst hatten. Bei ihnen war es umgekehrt. Sie begleitete ihre Mutter zu ihren Gerichtsterminen. Seit Monaten. Ohne Dank zu erhalten. Wie immer.

Xenia schnappte sich ihren Rucksack und wollte einfach nur noch raus.

Genieselt hatte es vorhin schon, jetzt fegte der Wind den Regen von allen Seiten heran und wirbelte ihn in Böen über die Straße. Blödes Timing! Aber noch blöder wäre es, hier zu warten. Außerdem kam die Tram gerade. Xenia zog sich ihre Kapuze tief in die Stirn und rannte los. Im Zickzack um Pfützen herum, zwischen wartenden Autos hindurch, quer über die Kreuzung. Jemand hielt ihr die Tür auf. Sie bedankte sich und quetschte sich in den Gang.

Die Bahn war voll. Zu viele Menschen für zu wenig Platz. Wo waren ihre Kopfhörer? Im Rucksack. Mist. Der Kleine vor ihr klang wie ein aufheulender Motor, als sie seinen Arm streifte. Die ins Handy quatschende Frau wie ein Kinderlachen. Ein Mann ließ summend ein Kinderlied ertönen.

Sie brauchte ihre Musik! Laute Musik gegen den Lärm. Nur klemmte ihr Rucksack zwischen den fremden Körpern. Geduckt und die Arme fest an sich gepresst schlängelte sie sich durch die Menschenmenge. Weiter hinten wurde es heller. Doch freie Plätze? Fehlanzeige. Entnervt wischte sie sich den Regen vom Gesicht und holte ihr Handy raus. Fünf Anrufe von Liva? Xenia wählte den Rückruf.

»Xen! Endlich! Bist du jetzt erst draußen?«

»Ja. Wir mussten warten.«

»Und? War deine Mum gut drauf?«

»Na ja. Wie vor jedem Prozess. Völlig nervös, und dann klappt es ja doch irgendwie.«

»Sag ich ja. Du solltest den Begleitservice für sie echt mal einstellen.«

»Nach heute auf jeden Fall!« Ein Platz am Fenster wurde frei. Xenia stieg über ausgestreckte Füße und ließ sich fallen. Wenigstens sitzen!

»Wieso? Was ist passiert?« Liva klang besorgt, zumindest für ihre Verhältnisse.

»Es gab Stress. Dabei hab ich nur gefragt, ob ich diese blöden Locken von meinem Vater hab.«

»Oh. Das Tabuthema.« Liva seufzte. »Aber, deine tollen Locken! Also ich würde die ja sofort übernehmen. Obwohl … bei Regen sind die schon scheiße, oder?«

»Danke. Jetzt fühl ich mich gleich viel besser.« Sie grinste. Wer Liva als Freundin hatte, brauchte keine Feinde. »Und bei dir? Schon aufgeregt? Er kommt ja gleich, oder?«

»Yes! In zwanzig Minuten, und ich hab echt ein Problem. Soll ich das weiße Top anziehen oder das rote?«

»Top?« Xenia schüttelte sich. »Bei dem Wetter?«

»Wieso? Bei mir sind es …« Sie hörte Liva durchs Zimmer laufen. »26 Grad. Ich hab meine Heizung auf voll rot gestellt. Dazu noch aufgeräumt und mein Bett neu bezogen.«

»Neue Bettwäsche? Du hast echt nen Knall! Ich mein, was machst du denn, wenn der Typ total scheiße ist?«

»Ist er aber nicht. Ich hab ja schon mit ihm telefoniert. Und auf Insta gestalkt! Der ist wirklich süß. Hat blonde …«

Liva und die Jungs! Xenia lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und hörte sich ihre ausführliche Beschreibung an: Neben seinen unglaublich blauen Augen und dem süßen Lächeln schien er auch noch extrem nett zu sein. Witzig. Total locker und überhaupt nicht arrogant. Dafür interessiert. Verständnisvoll. Mochte neben Mathe vor allem Sport. Und: War ein absoluter Fantasy-Junkie. Xenia verkniff sich ein Seufzen und schloss kurz die Augen. Klang total nach Mr. Perfect. Völliger Quatsch eigentlich. Solche Typen gab es zu selten. »Liva, du weißt aber schon, dass er nur dein Nachhilfelehrer werden soll, oder?«

»Ja klar. Fragt sich nur, wofür …«

Xenia biss sich auf die Lippen, ihr rutschte aber trotzdem ein Lachen raus. »Und alles sogar schön bezahlt von deinen Eltern, ne?«

»Eben! Und nach Hause geliefert.«

Während Liva weiterquatschte, blickte Xenia aus dem Fenster. Sie verfolgte die Regentropfen an der Scheibe und zog einige mit den Fingern nach. Ganz schön krumme Wege, nie vorhersehbar. »Liva, ich sehe die Unterführung schon. Du bist gleich weg.«

»Alles klar. Muss mich eh noch schminken. Ich meld mich.«

Xenia steckte ihr Handy weg. Vielleicht sollte sie sich in der Schule auch ein wenig hängen lassen? Für so einen irren Nachhilfelehrer? Gut aussehend, witzig, verständnisvoll … Sie musste lächeln, als in der Scheibe neben ihr tatsächlich ein Traumgesicht auftauchte. Mit zerzausten blonden Wuschelhaaren. Haare, in die man reingreifen wollte. Darunter lugten blitzende Augen hervor. Ein markanter Kiefer und Lippen … der Hammer! Fein, mit einem unglaublich schönen Bogen. Xenia atmete tief durch. Toller Typ – nur leider nicht echt.

Sie verdrehte angenervt die Augen, schielte Richtung Nase und streckte dem Traumgesicht die Zunge raus. Doch plötzlich stockte sie, schaute noch mal genauer hin. Grinste der Typ sie gerade an?

Scheiße! Scheiben!

Hitze stieg in ihr auf. Scheiben spiegeln. Der Typ war echt? Sofort ließ sie den Blick nach unten fallen. Schwarze Docs, an ausgestreckten Beinen. Direkt neben ihren Füßen. Sie wackelten, schlugen auffordernd aneinander. Vorsichtig drehte Xenia den Kopf. Jeans, weißes Shirt. Eine schwarze Lederjacke. Ihre Augen glitten weiter an ihm hoch. Über seinen Hals, sein Kinn – zu seinen Lippen. Sie waren leicht geöffnet. Hatten süße Kringel an den Mundwinkeln. Er grinste tatsächlich, und ihr Gesicht fing plötzlich an zu glühen. Einfach weggucken? Im Sitz versinken? Wahrscheinlich das Beste. Stattdessen aber zitterte sich ihr Blick hoch – in seine Augen. Sie leuchteten hell! Xenia schluckte. Und jetzt? Auch lächeln? Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten, dabei glitt ihr Fuß weg und prallte gegen seinen. Sofort verkrampften sich ihre Finger. Doch …

STILLE.

Nichts als Stille schlug ihr entgegen. Eine, die das Außen vollkommen verschluckte. Irritiert sah sie nach unten. Ihre Beine berührten sich. Doch nichts. Der Typ war eine Kathedrale. Kein Geräusch. Keine Stimmen. Nur diese tiefe, friedvolle Stille. Die sich viel zu schnell auflöste, als er zurückzuckte. Xenia schluckte ihre Überraschung, wollte entschuldigend lächelnd, irgendwas sagen, doch seine Lippen verzogen sich plötzlich zu einem schmalen Strich. Kalter Zorn blitzte in seinen Augen auf. Eisiges Grau. Augenblicklich zog Xenia ihre Füße ein.

»Es … es tut mir leid«, presste sie hervor.

Eine Antwort erhielt sie nicht. Stattdessen heftete sich sein Blick an ihre Kehle. Wenn Blicke töten könnten …

Dieser konnte es.

Angst kroch ihr zwischen die Schulterblätter. Xenia verschwand tiefer in ihrem Sitz und versuchte, seinen kalten Augen zu entkommen. Ihre Blicke flogen umher. Aber wohin?

Sie sah Kinder quengeln, genervte Eltern, müde Gesichter. Normalität. Nur starrte er immer noch, das spürte sie. Kriegte denn hier keiner was mit?

Die Bahn wurde langsamer, und der Typ sprang so plötzlich auf, dass jetzt alle erschrocken zusammenfuhren. Er quetschte sich durch die Menge und verschwand Richtung Tür.

Was für ein Idiot war das denn? Sie sah ihn draußen auf dem Bahnsteig verschwinden und wischte sich mit dem Pulli übers Gesicht. Er und eine Kathedrale?! Viel wahrscheinlicher war es wohl, sie hatte sein Geräusch irgendwie überhört. Das Schleifen von Messern? Oder Brechen von Knochen?

Er war weg. Zum Glück.

Nur blieb das Zittern ihrer Hände, die ganze Fahrt über.

JAEL

Die Bahn war brechend voll. Er teilte die Menge vor sich. Am Fenster war ein letzter Platz frei, den er sofort mit seinen Blicken reservierte. Knie schoben sich zur Seite, man ließ ihn durch. Jael setzte sich und streckte die Beine aus.

Die Wegbeschreibung auf dem kleinen Zettel in seinen Händen war ausführlich, trotzdem hätte er gern sein Handy gehabt. Zur Orientierung. Zum Musikhören. Die Gespräche um ihn herum nervten. Müde ließ er den Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Neue Wohnung, neue Chance. Diesmal würde er es nicht vermasseln. Mit neunzehn blieb ihm nur noch dieses eine Jahr. Ansonsten …

Er drehte den Zettel in den Händen. Seine Finger fanden eine Ecke. Rollten sie ein. Und wieder aus.

Die Bahn wurde langsamer. Der Mann vor ihm stand auf und ein Mädchen setzte sich. Jael musterte sie. Süß eigentlich. Ganz anders, als die, die er sonst so hatte. Keine langen Haare – glänzend geglättet – kein aufwendiges Make-up. Die Kleine hatte kurze dunkle Haare, die der Regen in kräftige Locken verwandelt hatte. Aber das Auffälligste an ihr waren ihre Augen. Unglaublich groß. Braun? Oder blau? Er konnte es nicht erkennen, sie telefonierte und schaute dabei aus dem Fenster. Ein schiefes Lächeln spiegelte sich in der Scheibe. Es ging um Bettwäsche und ’nen Typen. Jael spitzte die Ohren.

»… du weißt aber schon, dass das nur dein Nachhilfelehrer werden soll, oder?«

Ohne sie aus den Augen zu lassen, steckte Jael den Zettel ein.

»Und alles sogar schön bezahlt von deinen Eltern, ne?« Sie lachte. Biss sich dabei auf die Lippe. Eine Locke fiel ihr in die Stirn, als sie ihren Kopf anlehnte. Verträumt blickte sie aus dem Fenster, war länger still.

Ihr Finger glitt über die Scheibe, sie zeichnete die Wege der Regentropfen nach. Dann beendete sie das Gespräch und steckte das Handy weg. Warum schaute sie nicht mal nach vorne? Er schloss mit sich eine Wette ab: Sie waren braun – ihre Augen. Und bis zum Aussteigen würde er es wissen. Noch blickte sie zur Seite. Die Unterführung verdunkelte das Draußen und zeichnete ihr Gesicht jetzt ganz deutlich an die Scheibe. Sie sah ihn auch. Musste sie doch, oder? Ihr Kopf ruhte noch immer an der Wand, aber ihre Augen glitten über sein gespiegeltes Gesicht. Und an ihrem Blick konnte er erkennen, dass ihr gefiel, was sie sah. Keine Seltenheit, die meisten Mädels reagierten so auf ihn, nur versuchten die, es zu verstecken. Sie hier nicht, sie musterte ihn völlig offen. Biss sich wieder auf die Lippe. Rollte dann aber plötzlich mit den Augen und schielte so entsetzlich, dass er grinsen musste.

Ruckartig setzte sie sich auf. Hatte sie erst jetzt kapiert, dass er sie sah? Hektisch schaute sie weg, blickte dann aber doch langsam an ihm hoch.

Eine leichte Röte trat auf ihre Wangen. Gott, war die süß. Jetzt noch ein Stück höher mit ihren Augen, und er wüsste es!

Braun. Ihre Augen waren goldbraun. Und Jael versank in ihnen. Wärme breitete sich in seiner Brust aus. Sein Puls beschleunigte sich. Wie war das möglich?

Er holte Luft, atmete tief gegen das Strömen an. Eine Hand schützend auf sein Herz gelegt, das viel schneller schlug als sonst. Etwas ging in ihm vor, das nie passierte. Nie passieren durfte!

Er sollte wegschauen. Das war die Anweisung. Aber er schaffte es nicht. Flüssiges Gold. Warmes Hellbraun. Es drang durch. Zu ihm. Und umschlang sein Herz.

Atmen! Schau weg!

Doch er konnte sich aus der Tiefe ihrer Augen nicht lösen.

Sie war es dann, die auf Abstand ging und sich in ihren Sitz zurücklehnte. Dabei berührten sich ihre Füße. Hitze! Aus Wärme wurde Hitze. Plötzlich loderte sie auf und versengte seine Haut. Jael zuckte zurück. Zu spät. Flammen brannten sich hoch. Breiteten sich aus. Ein glühendes Netz umschloss seinen Körper. In seinen Ohren begann es zu rauschen. Er hörte Schreie. Tosendes Wasser. Brechendes Holz. Jael schrie stumm dagegen an. Krampfte. Und weckte in sich die Kälte. Sie zischte durch seinen Körper. Vereiste sein Herz und überzog ihn von außen. Er war im Kampfmodus. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sie waren bereit, ihr an die Kehle zu gehen. Sich auf ihren pochenden Puls zu legen und zuzudrücken.

Er musste hier raus! Raus, bevor er angriff.

Hektisch sprang er auf und quetschte sich durch die Menschenmenge in den nächsten Wagen. Die Bahn wurde langsamer. Als sie hielt und sich die Türen öffneten, floh er nach draußen. Wartende stieß er zur Seite, lief einfach weiter. Egal wohin. Hauptsache gehen. Bewegung gegen das Pochen in seinem Hals. Ein Immunit. Die Kleine war eine Immunitin. Irrtum ausgeschlossen. Er war zwar noch nie einem begegnet, aber nur ein Immunit konnte bei ihm solche heftigen Reaktionen auslösen.

Und das durch so eine flüchtige Berührung?

Man hatte ihn gewarnt. Wie oft?

Metall rieb auf Metall. Die nächste Bahn fuhr ein. Türen öffneten sich, spuckten Leute aus. Jael drehte sich um, tigerte weiter – wahllos durch die Menge. Er hätte nicht vor ihr flüchten dürfen! Immuniten waren selten. Noch seltener im passenden Alter. Verdammt! Das Schicksal hatte die Karten neu gemischt, ihm den höchsten Trumpf zugespielt, und er? Hatte die Kontrolle verloren. Dunkelheit stieg in ihm auf und floss wie ätzendes Gift durch seine Adern. Er war ein Electos. Er war der Meister des Entleerens. Und hatte sich von der Kleinen aus der Bahn werfen lassen?

Filternd glitt sein Blick über die Menge. Er brauchte ein Opfer. Jetzt! Irgendwas gegen das Gift. Er suchte, sortierte. Und fand. Ein Pärchen. Eng umschlungen stand es da, er mit Tränen in den Augen, sie mit einem tröstenden Lächeln. Ein roter Koffer neben ihren Füßen. Sie fuhr und er blieb.

Nett, wie sie ihm noch ihr Tuch schenkte, sich dann umdrehte und in der Bahn verschwand. Jael dehnte seinen Rücken, fingerte die Wegbeschreibung aus der Hosentasche und schlenderte auf ihn zu. Dummstellen funktionierte immer. Dazu ein hilfesuchender Blick. Es wirkte. »Ne. Hier sind Sie falsch, zu früh ausgestiegen. Am besten, Sie nehmen die nächste Bahn und fahren drei Stationen weiter.«

»Zu früh ausgestiegen … Alles klar.« Jael sah auf die Anzeigentafel, dann mit einem mitfühlenden Lächeln auf das Tuch in den Händen des Mannes. Seine Finger schienen es zu umarmen. »Und bei Ihnen? Jemand zu früh eingestiegen?«

»Viel zu früh.« Traurigkeit huschte wie ein Schatten über sein Gesicht.

Um Menschen zu entleeren, musste er sie dazu bringen, ihm von ihrer Liebe zu erzählen. Jael hakte nach, und der Mann begann augenblicklich zu reden. Fernbeziehung. Mit einer Stewardess. Unzählige Wochenenddienste, die so viel zerstörten. Der Text wurde immer länger und länger. Jael nickte verständnisvoll, nutzte dabei die Zeit, den Körper des Mannes nach Beute abzusuchen. Die Uhr am Handgelenk? Ein herausfordernder Verschluss. Aber … der Knopf am Ärmel! Er drängte sich fast auf, hing nur noch fadenscheinig am Stoff.

Jael griff zu, zog den Mann dabei ein wenig zur Seite, aus der Menge heraus, und ließ den Knopf in seiner Hosentasche verschwinden. Zum Abschied dann aufmunternde Worte, dazu ein fester Handschlag. Körperkontakt! Zum Entleeren brauchte er ihn, und sofort spürte er das Fließen in seinen Fingern. Den Moment, in dem die romantische Liebe den Mann verließ und bei ihm einzog. Vorübergehend. Der Blick des Mannes wurde stumpf. Leer. Er hatte ihn entleert.

Jael zog seine Hand zurück.

Es war ein Kinderspiel für ihn gewesen, fast zu leicht. Und doch spürte er bereits die Müdigkeit, die nach seinem Körper griff. Die Schwäche kam. Er musste weg. Ein paar Meter entfernt stand eine Bank. Erschöpft ließ er sich fallen. Wie zum Gebet verschränkten sich seine Hände, in ihnen verborgen der Knopf. Jael schloss die Augen, und mit einem tiefen Atemzug hauchte er ihm die Liebe ein. Die romantische Liebe des Mannes. Dann sackte er nach vorn. Mit der Müdigkeit kam der Schmerz. Jedes Mal. Liebe in sich aufzunehmen, selbst für kurze Zeit nur, quälte sein Herz. Drückte gegen die Mauern, hinter denen es schlug. Jael sammelte all seine Kraft zusammen und atmete in jeden Krampf hinein. Gleichgültig lächelnd, für alle Umherstehenden.

Nur langsam fand er Ruhe. In ihr wieder seine Kraft.

Den Knopf schmiss er auf den Boden und zerdrückte ihn unter seinem Schuh, zusammen mit der romantischen Liebe des Mannes. Eine sinnlose Vergeudung. Entleerung auf Stufe 6. Es hätte ihn vorangebracht, nur konnte er die Beute nicht nutzen. Seitens des Partems hatte es noch kein offizielles Startsignal gegeben, und Regelbrüche konnten das Aus bedeuten. Ein Fehler? Sicher. Doch das Gift war weg. Puls und Herzschlag, beides wieder auf ein Minimum reduziert. Und der Mann? Könnte ihm dankbar sein, schließlich hatte er ihm Leid erspart. Liebe schwächte. Liebe zerstörte.

Liebe! Nur fünf Buchstaben, doch sie waren der Zugangscode zur Hölle.

Jael gab sich einen Ruck und stand auf. Im Schaukasten, ein Stück weiter, hing ein Stadtplan. Er trat dicht an ihn heran und konzentrierte sich auf das Netz an Straßen. Drei Stationen musste er jetzt laufen. Ihretwegen!

In der Scheibe spiegelte sich sein Gesicht. So hatte sie ihn gesehen.

Goldbraune Augen …

Er riss sich von dem Anblick los. Wenn sie hier wohnte, würde er sie finden. Sich schnappen. Nutzen. Und opfern!

Doch ab jetzt: Kontrolle. Nach rechts. Er drehte sich um und verließ den Bahnsteig. Das Rot der Ampel interessierte ihn nicht. Farben. Signale. Warnungen. Tiere witterten Gefahr. Der Mensch hatte diesen Instinkt verloren.

Jael ging die Straße entlang. Wind verfing sich in seinen Haaren, und er verkroch sich tief in seine Lederjacke. Es war erst drei Uhr. Noch hatte er Zeit. Die anderen würden nicht vor sieben in der Wohnung sein.

Der Regen ließ nach, und vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die tief hängenden Wolken. Reflektierende Pfützen. Er blinzelte, bog dann ab und wechselte die Seite. Wenig später fand er die richtige Straße. Hohe Bäume, gepflegte Vorgärten, Altbauten mit Stuckfassaden. Jael kniff die Augen zusammen. Nett. Aber nichts gegen die moderne Wohnung in Spanien: kein Marmor, keine hellen Fensterfronten, keine Poolpartys!

Hausnummer 17 lag in zweiter Reihe, ein kleiner Weg führte zum Eingang. Er bog ab. Stoppte aber abrupt. Die Tür stand offen – einen Spaltbreit. Sofort scannte er die Umgebung. Nichts Auffälliges, und doch witterte er Gefahr. Denn es war niemand in der Nähe. Niemand, der das Haus im Auge hatte. Freier Zugang für jeden, der wollte? Niemals!

Sofort schaltete Jael in den Alarmmodus um: Gespannte Muskeln, konzentrierter Blick, scharfes Gehör. Jedes Detail war wichtig. Er war nicht bewaffnet. Er hatte nur seinen Körper.

Geräuschlos schob er den Keil mit dem Fuß zur Seite, schloss die Tür von innen und schlich ins Treppenhaus. Licht drang durch das Türfenster am Hinterausgang, ansonsten verschluckte das dunkle Holz der Treppe jegliches Hell. Links lag die Wohnung der Putzfrau. Das wusste er. Die Tür war geschlossen. Er horchte nach oben. Nichts. Kein Geräusch, keine Stimmen. So sollte es sein. Im Schatten der Wand schlich er hinauf in den dritten Stock. Sein Blick flog zur Wohnungstür. Auch diese stand offen. Konzentriert sog er Luft ein – geräuschlos. Pumpte seine Lunge voll. Dann drückte er die Tür vorsichtig weiter auf.

Vor ihm entblößte sich der Flur. Helle, weiße Wände. Der Geruch von frischer Farbe stand noch in der Luft. Rechts musste die Küche sein, dann das Esszimmer, er aber ging nach links in Richtung Wohnzimmer. Ein leichter Wind wehte ihm entgegen. Standen auch Fenster offen? Die Tür zum Balkon? Er hob seine Hände und bog langsam um die Ecke.

Ein junges Mädchen in Schürze – mit einem Handy in der Hand. Es stand auf dem Balkon, den Rücken ihm zugewandt, und sah in den Himmel. Harmlos wirkte es auf den ersten Blick, aber Jael wusste zu gut, dass der zweite oft bedeutsamer war. Die Rebellen hatten viele Gesichter. Und selten gezückte Messer. Doch vorerst ließ er seine Arme sinken und lockerte die Schultern. Dann räusperte er sich. Das Mädchen fuhr zusammen, schrie auf.

»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Sein charmantes Lächeln zeigte Wirkung. Die Fremde beruhigte sich und kam sogar vorsichtig auf ihn zu.

»Ich bin Jael.« Er ergriff freundlich ihre kleine Hand. »Und wohne ab heute hier.«

Sie lächelte zaghaft, sprach mit starkem Akzent und stellte sich als Hausmädchen vor. Mit zitternden Fingern zeigte sie über die Dächer, hob dann ihr Handy. Sie hatte Fotos gemacht. Auch von der Wohnung?

Jael griff hinter sie und schloss die Balkontür.

»Unten stand die Haustür offen. Die Wohnungstür auch.« Er drehte sich zu ihr und musterte sie. Jedes Detail war jetzt wichtig, jede noch so kleine Regung ihres Körpers.

»Oh!« Sie errötete. »Es war viel Müll hier. Von Einkäufen. Ich habe vergessen.«

Er nickte, auch wenn diese Erklärung nichts entschuldigte. Während er sich auf die Couch in der Mitte des Wohnzimmers setzte, ließ er sie nicht aus den Augen. Harmlos, unsicher. Spielte sie ihm was vor? Er wäre nicht so weit gekommen, der Partem würde ihm nicht so vertrauen, wenn er sich davon täuschen ließe. Ihre Finger zupften an der Schürze. Jael lächelte und lehnte sich lässig nach hinten. Im Nacken überkreuzte Hände, seinen Kopf entspannt angelehnt. Er wusste genau, wie diese Haltung seinen Körper zur Geltung brachte, Stärke ausdrückte. Sah das Flattern in ihren Augen. Das Mädchen wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger.

»Gibt es schon Kaffee?«

Sie nickte eifrig und floh in die Küche.

Ihre Abwesenheit nutzte er, um sich umzuschauen. Der Raum über ihm öffnete sich meterhoch. Kirchenähnlich. Ein riesiger Kronleuchter zeichnete mit seinen vielen Kristallen Muster an die hellen Wände und an die Galerie weiter oben. Er sah dem bunten Spiel der Glassteine zu, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Was war jetzt sein Auftrag?

Offene Türen. Handy. Fotos. Ein Verstoß nach dem anderen! War sie wirklich nur das Ergebnis schlampiger Vorbereitung durch Zeitnot? Oder tatsächlich von den Rebellen entsandt? Ein eingeschleustes Hausmädchen. Ausreichend, um ihre ganze Mission zu gefährden.

Sie kam zurück, und sofort umspielte wieder ein Lächeln seine Lippen. »Darf ich mal dein Handy haben? Ich würde mich gern orientieren. Ich kenn mich hier in der Gegend nicht aus.«

Das Mädchen nickte, kam auf ihn zu und stellte die Tasse auf dem Glastisch ab. Ihre Finger zitterten noch immer, als sie das Telefon entsperrte. Sie brauchte mehrere Versuche. Dann rief sie den Stadtplan auf. Hatte sie sich hier bereits ins WLAN eingewählt? Der Code war sicher bei den Unterlagen, die für ihn und die anderen in den Zimmern auslagen. Aber dann hätte sie …

Sie überreichte ihm ihr Handy. Jael berührte ihre Hand – länger als nötig. Dabei streichelte er sie mit seinem Blick. Ihre Wangen fingen wieder an zu glühen. Sie schaute auf den Boden, auf ihre Füße. Er ließ ihre Hand los und bat noch um ein Glas Wasser. Sobald sie außer Sichtweite war, widmete er sich ihrem Handy. Mit zusammengekniffenen Augen sah er auf das Display, als Erstes nach oben zur Symbol-Leiste. Sie war wirklich im WLAN-Netz.

In ihrem Foto-Ordner fand er dann, wonach er eigentlich suchte: Fotos von allen Räumen. Weitwinkel- und Detailaufnahmen.

Als sie aus der Küche zurückkehrte, genügte ein gezielter Schlag. Sie hatte keine Zeit mehr zu schreien. Geräuschlos fiel sie in sich zusammen. Jael legte sie auf die Couch. Dann schüttelte er kurz seine Hand aus, betrat sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Es war kleiner als das letzte. Hell, aber ziemlich nüchtern eingerichtet: ein großes Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank. Keine Bilder. Der einzige Farbtupfer war der grüne Teppich auf dem Boden und die schweren, ebenfalls grünen Vorhänge am Fenster. Wozu Farbe?

Er schüttelte den Kopf und drehte sich zur Tür. Das eingefasste Glasfenster dort auf Augenhöhe war für Nicht-Eingeweihte nur ein Ornament. Eine Blume. Er aber kannte den Mechanismus dahinter. Über einen Schalter an der Wand aktivierte er ihn. Fast lautlos schob sich die Abdeckscheibe auf der anderen Seite zurück, und vor ihm flammte die Blume des Lebens auf. Rot leuchtete sie. Jael lächelte. Ein Zeichen seines baldigen Erfolges? Er stellte sich direkt vor die Blume und spürte die Wärme, die seine Linsen scannte.

»Ich schwöre Treue, Loyalität und bedingungslosen Gehorsam.« Er sprach die Formel, und das Licht verblasste. Er war jetzt eingelesen, seine Ankunft damit dokumentiert. Mit einem Druck auf den Schalter schob sich die Abdeckscheibe wieder zu. Diesmal auch von innen.

Jael setzte sich an den Schreibtisch und griff nach dem kleinen schwarzen Aktenkoffer, der auf dem Boden stand. Die Riegel schnappten unter seinen Händen auf, den Inhalt quittierte er mit einem zufriedenen Lächeln: Laptop, Handy, Dokumente.

Die Nummer, die er jetzt brauchte, war eingespeichert. Er wurde sofort durchgestellt, und mit kurzen Worten schilderte er den Vorfall mit dem Mädchen.

Ein paar Minuten später kam der Auftrag.

Erbarmungslos eindeutig.

CHRYSTAL

Sie stellte sich vor das Waschbecken in der Damentoilette. Das Neonlicht über ihr flackerte summend, warf zuckende Schatten. Egal. Chrystal beugte sich weit nach vorn und kontrollierte im Spiegel ihr Aussehen. Sie sah gut aus. Zu gut. Für angeblich acht Stunden Flugzeit und sechs Stunden Zeitverschiebung. Das musste sie ändern und griff nach ihrer Handtasche. Mit schwarzem Kajal umrandete sie ihre Augen und verwischte dann die Linien mit einem kleinen Schwämmchen zu überzeugenden grauen Schatten. Hinter ihr ging die Klospülung. Eine junge Frau kam aus der Kabine. Sie trug einen Koffer. Chrystal seufzte. Bücher, Pinsel, Vorlagen. Sie hatte nichts mitnehmen dürfen. Die Regel galt für alle.

Die Frau wusch sich neben ihr die Hände. Chrystal spürte ihre Blicke, ließ sich aber nichts anmerken. Sie war es gewohnt, dass andere sie musterten. Nach der Überraschung kam immer das Erstaunen – dann das Nachdenken.

Wird die Frau was sagen? Chrystal beugte sich näher an den Spiegel und zog sich ihre Lippen nach – mit dem Abdeckstift. In Cremefarben wirkten sie gleich wesentlich blasser.

»Entschuldigung, aber das muss ich jetzt einfach fragen.« Die Frau musterte sie im Spiegel. »Tragen Sie Kontaktklinsen? Oder haben Sie tatsächlich so blaue Augen?«

»Die Farbe ist echt.« Chrystal lächelte die Frau an und ließ das Kristallblau ihrer Augen dadurch noch intensiver strahlen. Meeresleuchten! So hatte es ihr Vater immer genannt. Er hatte das gleiche Blau. Gehabt.

Die Frau verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal zu starren. Chrystal band sich ihre langen schwarzen Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammen und packte ihre Sachen.

Das Spiel konnte beginnen.

Die Uhr in der Ankunftshalle zeigte kurz vor fünf – Zeit, die Jungs zu suchen: Akrom, Geno und Rafael.

Sie hatte ihre Fotos und Steckbriefe lange studiert, und so war es nicht schwer, die kleine Gruppe zu finden. Vor allem Akrom stach heraus. Knapp zwei Meter, muskelbepackt. Vor ihm standen Geno und Rafael, daneben ein Mann im schwarzen Anzug – der Fahrer.

Chrystal schlenderte in ihre Richtung. Sie grinste anerkennend. Die Jungs könnten Autogramme verteilen, so wie sie dastanden. Hübsch und für jeden Geschmack was dabei: Blond, dunkel und noch dunkler. Gut gebaut. Und mit der bestimmten Portion Arroganz, die einfach unwiderstehlich sexy war. Die drei würden hier einschlagen – ganz sicher. Blöd, dass sie ihre Finger nicht ausstrecken durfte. Vor allem bei Nummer vier! Jael passte genau in ihr Beuteschema. Er fehlte noch.

Chrystal genoss das aufsteigende Prickeln, doch sie riss sich zusammen. Ab jetzt durfte nach außen nichts mehr sichtbar sein. Die Jungs mussten ihr die Rolle abkaufen, die sie hier spielte. Sie in ihrer Mitte akzeptieren, als ihresgleichen. Sollte auch nur einer mitbekommen, dass man sie zu ihrer Überwachung eingeschleust hatte, war nicht nur der Einsatz hier zu Ende. Ihr Überleben stand auf dem Spiel. Daher straffte sie die Schultern, setzte einen lässigen Gesichtsausdruck auf und steuerte die Gruppe an.

Die drei begrüßten sie mit Handschlag – gewöhnungsbedürftig, aber logisch. Schließlich hatte man ihnen diese Form der Begrüßung von klein auf antrainiert. Blickkontakt war wichtig. Aber vor allem Körperkontakt. Ohne ihn konnten sie Menschen nicht entleeren. Und was war unauffälliger, als jemandem einfach freundlich die Hand entgegenzustrecken? Interessiert musterten die Jungs sie, und den Blicken nach zu urteilen, waren sie zufrieden mit dem, was sie sahen. Der Fahrer hielt sich vorschriftsgemäß zurück. Er nickte ihr nur zu und führte sie dann alle aus dem Gebäude hinaus zu einem schwarzen Jeep. Abgedunkelte Scheiben, vermutlich ein falsches Nummernschild.

»Ladies first!« Akrom öffnete ihr die Tür, und Chrystal lachte auf. »Bevor du dich hinten zusammenfalten musst, geh du mal lieber nach vorn.«

Er zog sein Basecap ab und verbeugte sich kurz. Nett. Vor allem seine Augen. Sie wirkten wach – mit blitzendem Spaß.

Chrystal nahm hinten in der Mitte Platz. So konnte sie ihre Beine ausstrecken, was nach einem langen Flug ja unglaublich guttat. Dazu gähnte sie demonstrativ und lehnte sich entspannt zurück. Die beiden Jungs an den Seiten gaben ihr viel Raum. Aus Höflichkeit? Oder war ihnen das hier dann doch zu nah?

Als der Wagen losfuhr, war es Rafael, der die Stille durchbrach. »Und du kommst aus Boston?«

Chrystal nickte. »Nicht gebürtig. Aber ich bin da aufgewachsen.«

Geno musterte sie nachdenklich. Der Schlaue. 17 Jahre. Blond. Blaue Augen. »Ist mir neu, dass wir international sind. Seit wann?«

»Rafael gebürtiger Spanier, Akrom aus der Karibik, Jael aus Norwegen. Ich aus den USA. Du findest, das passt nicht?«

Geno legte seinen Kopf schief, blieb ernst. »Wir wurden aber alle hier ausgebildet. Du nicht. Warum?«

»Amerika könnte neuer Standort werden. Die Möglichkeiten sind dort besser als hier. Vielfältiger. Ich bin sozusagen eine Testversion.« Spöttisch zog sie eine Augenbraue hoch. »Hast du ein Problem damit?«

»Nein.« Er rutschte im Sitz nach hinten. »Solange du gut bist, nicht.«

»Und da ist er mal wieder, unser kleiner Streber.« Akrom grinste und zwinkerte Chrystal über den Rückspiegel zu. »Geno stresst gerne mal, musst du wissen. Von daher: Schön, dass du da bist. Könnte hier einiges entspannen. Oder Rafi?«

»Kannst du kochen?« Rafis Frage entlockte Geno ein Grinsen.

Sie ließ ihre Mundwinkel zucken, schluckte dabei ihren Ärger hinunter und blickte kopfschüttelnd aus dem Fenster. »Willkommen in Europa, Chrystal!«

FELIX

Parkverbot! Das Schild war nicht zu übersehen. Und der Pfeil darunter eindeutig. Weitersuchen? Felix schaute auf die Uhr und stöhnte auf. Zehn Minuten. Was soll’s. Diesen Monat hatte er noch keinen Strafzettel bekommen. Er lenkte den Bulli an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. 15 Euro würde es kosten, wenn sie ihn erwischten. Aber bei dem Regen? Unwahrscheinlich!

Er stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu. Trotz Nässe und Kälte wanderte seine Hand über den blauen Lack und legte sich auf das abgewetzte Band-Logo. Er schloss die Augen. Lebt lang und in Frieden, Jungs!

Mit hochgezogenem Kragen spurtete er dann zum Eingang des Kulturzentrums. Aus dem Trainingsraum am Ende des Flures drang dumpfer Hip-Hop-Beat. Vorsichtig öffnete er die Tür und schlich sich hinein. Fiene entdeckte er sofort: hochroter Kopf und zerzauster Zopf.

Links wärmten sich schon die Profis auf: tief hängende Hosen, bauchfreie Shirts und mindestens ein dramatisches Tattoo auf der Haut. Eine von ihnen grüßte. Maren. Oder Maja? Mina? Irgendwas mit M und neu in seinem Biokurs. Felix nickte ihr kurz zu, ging dann nach rechts. Seine Sohlen quietschten, egal wie vorsichtig er auftrat. Zwischen den anderen Abholern fand er einen Platz und lehnte sich an die Wand.

Tanzen! Für ihn war das ein Fremdwort, aber was Fiene da aus ihrem kleinen dünnen Körper rausholte: Irre!

Er musste grinsen – sie hatte ihn entdeckt, ihr Gesicht leuchtete auf. Sie kam kurz aus dem Takt, verdrehte die Augen, bevor sie sich schnell wieder einreihte.

Dass sie zu Hause erbittert um eine neue Leggings kämpfte, verstand er jetzt zu gut. Wann war sie nur so gewachsen?

»Hi, Felix!«

Er spürte eine Hand auf seinem Arm. Überrascht drehte er sich um: Das M aus Bio.

»Deine Schwester macht das schon richtig gut!«

Das sagte sie ihm? Warum nicht ihr? Fiene wechselte doch jetzt gerade direkt vor ihnen die Schuhe.

»Hast du gehört?« Er hockte sich zu ihr und stupste sie an. »Lob vom Profi!«

Fiene flutschte ein Schuh weg, sie strahlte hoch.

Nur klebte Ms Blick weiterhin an ihm. »Meine Schwester hat ja leider aufgehört. Aber … sie dürfte ihre Größe haben. Und hat sicher noch einiges an Klamotten. Also wenn sie mag, kann ich ihr …«

»Nein!« Das Wort knallte ihm raus. Zog ihn mit hoch. Er stand jetzt dicht vor dieser M. Zu dicht scheinbar, denn sie verkroch sich rückwärts – mit erhobenen Händen.

»Hey, hey. War nur nett gemeint.«

Er wollte gerade etwas erwidern, als ihn ein Zupfen am Bein ablenkte. Fiene. Mit ihren hellblauen Augen schaute sie bittend zu ihm hoch. Fies! Gegen den Blick war er chancenlos. Felix schluckte seinen Zorn hinunter, murmelte ein halbwegs freundliches »Danke!«, wollte das Ganze auch noch mit einem Lächeln entspannen, aber scheiterte. M war schon weg.

Unter ihm schmiss Fiene wütend einen Schuh in die Tasche und schulterte sie. Als Felix versuchte, sie ihr abzunehmen, stutzte er. »Was ist denn da drin?«

»Zu viele Klamotten jedenfalls nicht«, zischte sie und stand auf. »Komm, gehen wir!«

Sie verließen die Halle und rannten durch den Regen zum Bulli. Felix setzte sich hinters Steuer. Kein Strafzettel! Wenigstens das. Mit verschränkten Armen saß Fiene neben ihm und starrte stumm vor sich hin.

Felix wartete. Spielte mit den Schlüsseln in seiner Hand. »Sei nicht wütend auf mich!« Sanft zog er ihr Kinn zu sich heran. Sie sah traurig aus. »Hey …«

»Ich hätte mir die Sachen vielleicht einfach gerne mal angeguckt?«

»Fiene, wir brauchen keine Spenden, okay? So was bleibt immer an einem kleben. Außerdem …«

»Was?«

»Du bist du, Fiene. Absolut besonders! Vorhin – in den schwarzen Leggings und dem weißen Shirt. Mehr braucht es bei dir gar nicht. Du tanzt so hammermäßig gut. Man muss bei dir einfach hingucken. Bei den anderen fallen, wenn überhaupt, nur die Klamotten auf. Verstehst du?«

An ihren Mundwinkeln zuckte es. Erst ein klein wenig, dann aber mehr. Und sie wanderten nach oben. Erleichtert begann auch er zu lächeln. Seine Worte waren angekommen!

»Fahr los, du Blödmann!«

Felix startete den Motor.

Gerade in den Verkehr eingefädelt, klingelte sein Handy auf der Ablage. Xenia. Einen besseren Stimmungsaufheller hätte es gar nicht geben können! Nicht nur für ihn. Fiene schnappte sich auf sein Nicken hin sein Handy und quatschte drauflos. Xenia hatte keine Chance. Er hörte nur ab und zu ihr Lachen und nutzte dann eine längere Atempause von Fiene, um sie daran zu erinnern, dass der Anruf eigentlich für ihn war. Sie verzog das Gesicht, stellte aber auf laut.

»Xen? Lebst du noch?«

»Klar!« Sie lachte. »Und ich wollte eigentlich nur kurz noch mal wegen morgen nachfragen. Lernen um drei?«

»Unbedingt!« Sein Chemiewissen gegen ihre Englischkenntnisse. Ein fairer Deal. »Bei mir, oder?«

»Gerne. Dann komm ich hier mal raus. Ich nehme den Bus um halb. Bis morgen! Ciao ihr beiden!« Xenia legte auf.

»Warum ist sie eigentlich nicht deine Freundin?« Fiene gab ihm das Handy zurück.

»Wer? Xen?« Er stutzte. »Ist sie doch!«

»Ich meine, so richtig. Mit Küssen und so.«

Felix packte Fienes Kopf und wuschelte ihr kräftig durchs Haar. »Erstens: Geht dich das nichts an. Und zweitens …« Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und suchte im Kopf nach Worten.

Für Fiene zu lange. »Erstens ist scheiße. Aber … was ist zweitens?«

»Zweitens ist, … dass es – so wie es ist – mehr Chancen hat, für immer zu sein.«

»Hä?« Fiene kaute auf ihrer Lippe. »Hört sich komisch an.«

Er lachte. »Stimmt aber. Freundschaften können ewig halten! Anderes nicht.«

»Aha.« Sie wackelte mit den Füßen. »Und … mit Janne?«

»Da gilt erstens!«

»Blödmann!«

Regen, Dunkelheit und sich spiegelnde Lichter. Felix schaltete den Scheibenwischer hoch und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen nach vorn, um das Rot der Ampel im Blick zu haben. Die Sicht war scheiße. Dazu Freitagabend. Gefühlt waren alle Autos der Stadt unterwegs, nur um dann kilometerlang Schlange zu stehen. Jetzt noch die neuen Gitarrensaiten zu kaufen, konnte er vergessen. Viertel nach sechs. Der Laden schloss in fünfzehn Minuten.

Gespartes Geld. Für neue Leggings für Fiene?

Hinter ihm hupte es.

»Ja, Mann!« Felix fuhr los. Doch anscheinend nicht schnell genug, der Typ klebte ihm die nächsten paar Hundert Meter an der Stoßstange. Nutzte dann aber die Linksabbiegerspur und überholte mit aufheulendem Motor. Normalerweise schimpften solche Idioten vor sich hin. Der nicht. Völlig ruhig saß er am Steuer, warf ihm aber durchs Seitenfenster einen Blick zu, für den er einen Waffenschein gebraucht hätte.

»Was für ein Affe!« Felix schüttelte den Kopf, griff dann aber schnell nach Fienes Finger, der schon Richtung Stirn unterwegs war, um dem Affen dort den Vogel zu zeigen. Bei solchen Idioten wusste man ja nie: Schwarzer Van, aufgemotzte Felgen, abgedunkelte Scheiben – ziemlich schlammverschmiert. Egal. Sie waren ihn los.

»Ich hab voll Hunger«, klang es vom Beifahrersitz. »Ist Mama schon zu Hause?«

Oh ja. Felix nickte und griff fester ins Lenkrad. Ihm hatte vorhin nur das Türöffnen gereicht, um zu wissen, dass sie zurück war. Kampferöl! Der Geruch nach diesem Fußbad würde ihn zeitlebens an sie erinnern. Und an ihre Schmerzen. Der Job im Altenheim und die zusätzliche Arbeit als Putzfrau saugten sie aus. Geld macht nicht glücklich? Felix knirschte mit den Zähnen. Der scheiß Spruch könnte von seinem Vater sein. So was sagten nur Leute, die im Geld ersticken!

Kurz hinter der Stadtgrenze wurden die Straßen zum Glück freier, und auch der Regen ließ nach.

Als sie auf dem Hof ankamen, blickte Felix zum Haus. Im Erdgeschoss brannte Licht, ein Schatten war hinter dem Fenster zu sehen. Seine Mutter werkelte trotz Schmerzen in der Küche rum? Ne Tiefkühlpizza hätte es doch auch getan. Mit den Einkäufen fürs Wochenende überquerte er den Hof, balancierte die schwere Klappbox auf den Knien aus, während er die Tür aufschloss. Fiene, die dabei unter seinem Arm hindurchschlüpfen wollte, erwischte er gerade noch rechtzeitig an ihrer Kapuze. »Hey! Ausräumen, Fiene!«

»Kann ich nicht erst duschen?«

»Nix da!«

Nach Kampferöl roch es im Haus nicht mehr, der Duft von Bolognesesoße hatte sich über den Geruch gelegt. Er stellte die Einkäufe auf dem Küchentisch ab. Vom Herd aus lächelte ihm seine Mutter entgegen. Er ging auf sie zu und nahm sie fest in den Arm. »Morgen koche ich, okay?«

JAEL

Treue. Loyalität und bedingungsloser Gehorsam.

Ich schwöre.

Gehorsam.

Treue. Loyalität.

Die Wörter erfüllten ihn. Sie wurden zu einem Rhythmus und mischten sich in das Geräusch der ausschlagenden Scheibenwischer. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Die Straße zog glänzend unter ihm vorbei.

Jael fuhr den schwarzen abgedunkelten Van aus der Stadt raus. Er hatte ihn nach Anweisung in der Garage im Hinterhof gefunden und eine genaue Wegbeschreibung erhalten.

Auf der Rückbank saß das Mädchen, gefesselt – fixiert. Im Rückspiegel sah er ihre Augen: weit aufgerissen, übergroße Pupillen, die ins Nichts starrten. Sie kämpfte nicht mehr gegen ihre Fesseln an. Sie war ein Niemand mehr. Lebte man, war man ein Lebender. Starb man, war man ein Toter. Sie stand genau dazwischen. Und diese Fahrt war ihre letzte.

Treue, Loyalität, Gehorsam! Sie hätte sich an die Regeln halten müssen. Jeder, der den Partem in Gefahr brachte, wurde ein Niemand.

Jael drosselte das Tempo und steuerte den Wagen über schlammige Feldwege, durch den Wald bis hin zur Kirche. Dort parkte er. Pfützen sammelten sich auf dem Hof. Sehr gut! Reifenspuren, Fußabdrücke – alles würde verschwimmen.

Er stieg aus und öffnete die Hintertür. Sie war so leicht. Verschwand fast in seinen Armen, als er sie heraushob.

Jael legte den Weg zum Portal mit ihr mühelos zurück. Die Kirchentür ließ sich durch einen Code öffnen, sie quietschte leicht, als er sie aufstieß.

Im Inneren war es fast dunkel, nur durch vereinzelte Kirchenfenster drang mattes Licht in den Altarraum. Warf Schatten auf den Boden. Staub schwebte reglos in der Luft. Er musste den Gang runter zu Kammer drei. Weitere Anweisungen würden folgen, hatte man ihm gesagt.

Das Praktischste an Kirchen war, dass jede einen Friedhof hatte.

XENIA

Irgendwann würde sie ihm seine süße Fiene einfach klauen.

Oder eintauschen – gegen ihre Eins in Englisch.

Hätte ihre Mutter mit diesem Mr. Unbekannt nicht zwei Kinder machen können? Junge, Mädchen – egal. Zicke, Blödmann … auch egal. Nur eben nicht allein sein. Nicht dauernd für ihre Mutter erreichbar sein!

Xenia seufzte und steckte das Handy wieder ein. Haarsträhnen hatten sich an ihr verschwitztes Gesicht geklebt. Sie wischte sie mit ihrem Ärmel weg und rümpfte die Nase. Ihre Hände rochen nach Zitrone.

Küche, Bad, Treppenhaus. Streifenfreier Glanz!

Und im Keller hing sogar schon die Wäsche auf der Leine. Lediglich hier im Wohnzimmer gab es noch Spuren vom Chaos der Woche: die Papiere ihrer Mutter. Sie bedeckten den Tisch wie eine Schneeschicht. Nur dass sie leider nicht von allein schmelzen würden. Diese scheiß Prozesse! Psychologische Gutachten. Sie brachten mehr Geld, machten aber alles kaputt. Vor allem ihre Mutter.

Wann hatte ihre Angst eigentlich angefangen?

Xenia ging zum Fenster und stellte es auf Kipp. Regenrauschen gegen die Stille.

Oder besser: Liva gegen die Stille?

Sie griff zum Handy: Und? Wie läuft die Nachhilfe?

Scheiß Photoshop. Der Typ sieht ganz anders aus.

Ach ne! Xenia schüttelte lächelnd den Kopf. Bist du schon fertig?

Mit ihm schon! Mit Mathe gleich auch. Er ist gerade auf dem Klo.

Kann er denn gut erklären?

Mama?!?! Bist du es?

Xenia lachte auf. Doch als sie aus dem Fenster blickte, erstarrte ihr Gesicht. War da ein Schatten? In der Wohnung direkt gegenüber? Unten lebte seit Kurzem eine Frau. Aber im dritten Stock? Die Wohnung stand doch leer. Bisher zumindest.

Sie legte ihr Handy auf die Fensterbank und zog die Gardinen ein Stück weiter auseinander. Und da! Ein Gesicht am Fenster. Sie sah es ganz deutlich. Ein Mann! Und er schaute rüber. Mist! Xenia wich sofort zurück. Sicher konnte er sie auch sehen.

Neue Nachbarn. Wer das wohl war?

Vorsichtig schielte Xenia zur anderen Straßenseite. Das Gesicht war weg. Merkwürdig! Wie eigentlich alles, was in Nummer 17 passierte. Erst der grausame Mord vor zwei Jahren, der bis heute nicht aufgeklärt war, dann der lange Leerstand, weil keiner mehr dort wohnen wollte. Und jetzt? Wochenlang hatte man Schutt aus dem Haus abtransportiert. Rumgewerkelt. Handwerker in Blaumännern waren ein und aus gegangen – richtig viele, aber von anderen Leuten hatte sie bisher nichts gesehen. Bis auf die Frau unten.

Zogen oben jetzt auch welche ein?

Pling.

Xenia griff zum Handy.

Ist deine Mutter schon da? Kannst du mit ins Kino??

Sie wollte gerade antworten, da fuhr unten ein Auto vor. Schwarz. Aufgemotzt. Mit abgedunkelten Scheiben.

Pling.

Janne und ich treffen uns gegen sieben! Also? Sag Bescheid!

Die Türen gingen auf, und Leute stiegen aus. Vorne ein Fahrer? Schwarzer Anzug, weißes Hemd. Schlaksig.

Die anderen waren das krasse Gegenteil. Xenia riss erstaunt die Augen auf. War das ne Boygroup? Drei Jungs. Gut aussehend. Ne, mehr noch. Geile Typen, würde Liva sagen. Alle groß, breit und … Moment. Als Letztes kletterte ein Mädchen aus dem Wagen, und Xenia klappte der Mund auf. Wenn das eine Band war, dann war sie die Frontfrau. Schwarze Haare, Modelfigur. Und: extrem cool. Ihre Haltung. Ihr Gang. Die Art, wie sie mit den Jungs sprach. Und sie dann vorschickte. Tatsächlich zu Nr. 17. Aber … ohne Koffer?

Der Fahrer stieg ein und fuhr weg. Die Gruppe verschwand im Haus. Licht ging an, erst im Treppenhaus, dann auch im dritten Stock.

Xenia zog sich einen Sessel ans Fenster.

Die hatten geklingelt, oder? Das heißt, das Gesicht am Fenster muss ihnen aufgemacht haben. Wenn ja, waren es fünf. Die drei Jungen, das Mädchen und der Typ, der schon oben war. Vom Alter her könnten es Studenten sein, allerdings dann eher Studienanfänger. Sie schätzte sie auf höchstens Anfang zwanzig. Also drei, vier Jahre älter als sie selbst. Aber … eine Studenten-WG? Hier im Viertel?

Ärzte, Anwälte, Berater. Leute mit Kohle wohnten hier. Büros gab es. Kanzleien. Aber definitiv keine Studenten.

Hinter ihr fiel plötzlich die Wohnungstür ins Schloss. Sie fuhr herum. »Mama?«

»Hallo Nia!«, kam es aus dem Flur.

Xenia wurde der Hals eng. Sieg oder Niederlage? Was ihre Mutter nach Hause brachte, war schon entscheidend für die nächsten Tage.

»Und? Wie war es?«

Ihre Mutter lächelte. »Es ist alles gut gelaufen.«

Immerhin das! Ein wenig Anspannung löste sich aus Xenias’ Körper. Hoffentlich war nun auch der Streit von vorhin vergessen. Sie zögerte erst, ging dann aber doch auf ihre Mutter zu, um sie wenigstens ganz kurz nur zu umarmen. Die Hände tief in den Ärmeln vergraben.

Klirrende Scherben regneten auf sie nieder.

Diesmal nur etwas leiser. »Gratulation!«

»Danke!« Ihre Mutter blickte sich um. »Du hast schon Ordnung gemacht? Ach Nia, das ist ja …«

»Bis auf deine Sachen.«

»Mache ich morgen. Hast du schon was gegessen?«

»Nö.«

»Sehr gut!« Sie zwinkerte ihr kurz zu und verschwand wieder im Flur. Mit zwei Boxen in der Hand kam sie zurück, und Xenia begann zu lächeln. Lieblingsnudeln vom Lieblings-Thai! Ein mehr als gutes Ende für diesen Tag! Gemeinsames Essen und reden.

Allerdings erst nach der Zigarette. Ihre Mutter schenkte sich ein Glas Wein ein und stand zum Rauchen in der Balkontür. »Sag mal, sind drüben Leute eingezogen? Da brennt Licht.«

»Ja. Vorhin. Glaube ich zumindest. Da kam so ein komisches schwarzes Mafia-Auto und hat …«

»Ein Van? Mit abgedunkelten Scheiben?«

Xenia horchte auf. »Ne. Kein Van, aber …«

»Hier parkt nämlich gerade so einer.«

»Was?« Noch mehr Leute? Sie ließ das Besteck fallen und quetschte sich mit auf den Balkon.

»Da. Guck!« Ihre Mutter stand jetzt am Geländer und zeigte auf die Straße. Xenia starrte runter. Tatsächlich, ein Van. Der Mann, der vorne ausstieg, trug wieder einen schwarzen Anzug, war aber überhaupt nicht schlaksig. Eher so ein Typ Bodyguard. Und zwar so einer, mit dem man definitiv keinen Ärger haben wollte. Er nahm den Weg zum Eingang – allein. Sonst war wohl niemand im Auto. Er klingelte, und Xenia runzelte die Stirn. Denn er wartete nicht, dass man ihn einließ, sondern marschierte gleich wieder zum Auto zurück, öffnete die Heckklappe und lud Koffer aus. Fünf schwarze. Fünf graue. Gleiche Größe. Gleiches Design. Xenia und ihre Mutter tauschten verwunderte Blicke aus, bevor sie sich gleichzeitig wegduckten. Das da unten hatte etwas Unheimliches. Und zog wie Kälte zu ihnen hoch.

Stumm beobachteten sie durch die Ritze zwischen Geländer und Beton die Szene weiter. Der Mann wartete am Auto, bis tatsächlich die … Studenten auftauchten. Die drei Jungs von vorhin. Das Mädchen. Und … Xenia erstarrte.

Der Horror-Typ aus der Tram!

Sie atmete nicht. Bewegte sich nicht. Starrte nur rüber. Die Koffer wurden ins Haus geschleppt, die Tür fiel ins Schloss, das Auto fuhr weg.

Stille.

Ihre Mutter stand auf und stellte sich zurück ans Geländer.

»Das war komisch, oder?«

Xenia nickte. Und schluckte. Der Typ wohnte ab jetzt hier?

»Fehlten irgendwie nur noch die Sonnenbrillen.« Ihre Mutter griff nach dem Aschenbecher und drückte die abgebrannte Zigarette aus. »Ob das jemand Wichtiges ist?«

Xenia stand jetzt auch auf, sie fror. »Wie … wie meinst du das?«

»Na ja. Irgendeine Band, die ihr so hört. Oder … eine Fernseh-WG. Über die gesendet wird?«

Könnte sein. Aber ohne Kameras?

»Ach, egal! Wird sich ja zeigen.« Ihre Mutter stellte den Aschenbecher auf dem Boden ab. »Gehen wir rein, oder? Ich hab Hunger! Du auch?«

Xenia nickte, obwohl es schlichtweg gelogen war. Irgendwie hatte ihr Magen dichtgemacht. Trotzdem folgte sie ihrer Mutter in die Küche. Alles war besser, als hier noch rumzustehen und weiter über die Typen nachzudenken.

Am Tisch gab es dann für ihre Mutter zum Glück auch nur noch ein Thema: der Abschluss des Gerichtsverfahrens. Das Mädchen durfte in seiner Familie bleiben, so hatte der Richter entschieden. Ihr Gutachten war überzeugend und allem Anschein nach ausschlaggebend für das Urteil gewesen. Xenia beobachtete ihre Mutter beim Essen. Beim Erzählen. Ihr Blick wirkte gelöster, und immer wieder zeigte sich ein Lächeln auf ihren Lippen. Ob es bis morgen blieb? Oder würde die Nacht es mitnehmen?

Dass sie selbst kaum etwas aß, bekam ihre Mutter gar nicht mit. Xenia war schlecht. Sogar später im Bett noch. Immer wieder rollte sie sich herum. Ihr war kalt. Dann heiß. Dann beides. Er wohnte jetzt hier – direkt gegenüber. Scheiß Zufall!

Sie wollte nicht an ihn denken, sie wollte einfach nur schlafen. Doch immer wenn sie die Augen schloss, erschien sein Gesicht. Sein Lächeln. Das leuchtende Hell seiner Augen! Bevor er zurückzuckte. Das Leuchten erfror. Und sich sein Blick messerscharf an ihren Hals setzte.

CHRYSTAL

»Wir sind gleich da!«

Die Stimme kam von links. Die Hand, die vorsichtig an ihr Bein klopfte, auch. Rafi versuchte, sie zu wecken. Sicher war er erleichtert, ihren Kopf gleich von seiner Schulter zu bekommen.

Jetlag! Chrystal gähnte laut. Endlich konnte sie sich entspannen. Beim »Schlafen« hatte sie absichtlich den Mund ein Stück offen stehen lassen, was echt eine Herausforderung war, ohne dabei mit den Mundwinkeln zu zucken. Sie hatte die Jungs ungestört belauschen wollen, doch nicht mit Geno gerechnet. Auf den musste sie echt aufpassen. Seine Hände ruhten jetzt wieder unschuldig auf seinen Knien, so als hätten sie sich dort die ganze Fahrt über gelangweilt. Dabei hatten sie zugegriffen – äußerst geschickt sogar – nach ihrer Tasche. Um zu checken, ob sie tatsächlich schlief? Scheiße, das mit dem Konzertticket. Ihr Lesezeichen. Er hatte es herausgezogen und triumphierend den anderen gezeigt. Dass sie vor fünf Wochen schon mal hier in der Stadt gewesen war, wussten sie nun alle. Das war jetzt nichts, was sie nicht zurechtbiegen konnte. Trotzdem überflüssig.

Ihre Fingerspitzen kribbelten, als der Wagen hielt.

Die Show konnte beginnen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die Jungs. Sie waren ausgestiegen und sahen sich um. Mit Händen in den Taschen, konzentriertem Blick und Köpfen, die sich wie Überwachungskameras in Zeitlupe drehten. Sie scannten die Umgebung.

Chrystals Blick glitt über die weiße Stuckfassade von Nr. 17. Nach oben, zu den dicken Engelchen rechts und links, die lächelnd die Gäste des Hauses begrüßten. Es hätte ihre Bleibe für die nächsten Jahre werden sollen, aber nach dem Einsatz hier konnte sie das vergessen. Schade. Immerhin hatte sie um das Haus gekämpft, sogar eigenhändig dafür gesorgt, dass es überhaupt leer stand. Tod durch Fremdeinwirkung. Der Mieter im dritten Stock hatte nicht ausziehen wollen. Jetzt bewegten sich dort Vorhänge, und sofort schlug ihr Herz schneller. Jael?

Sie ließ die Jungs vor. Geno übernahm die Führung und ging vorneweg zum Eingang. Gerade als er klingeln wollte, ertönte der Summer. Sie wurden erwartet.

Im Vorbeigehen strich Chrystal über das Klingelschild. Gute Arbeit! Alle Namenskärtchen waren ordentlich beschriftet. Unten links: Agentur Schwertmann. Googelte man nach ihr, erfuhr man, dass sie für Design und Kommunikation zuständig war. Nur würde man unter der Telefonnummer und E-Mail-Adresse niemanden erreichen. Genauso wenig wie bei der Anwaltskanzlei »Danton und Partner«, die sich angeblich im zweiten Stock befand. Alles Fake. Einzig die Wohnung unten im Erdgeschoss war bewohnt. Hier ging das Licht an und aus, weil wirklich jemand da war – das Hausmädchen.

Chrystal schloss zu den anderen auf und stieg hinter Rafi die Treppe hoch. Die Stufen hingen in der Mitte durch, abgetretenes Holz, aber auf Hochglanz poliert. Der Geruch von Bohnerwachs schwebte noch immer in der Luft. Gepflegte Pflanzen vor den Wohnungen im ersten Stock, das Urlaubsschild an der Tür der Kanzlei im zweiten. Chrystal grinste. Sie hatten wirklich gute Arbeit geleistet – trotz der Eile.

Über ihr erhellte sich plötzlich das Treppenhaus, jemand musste die Wohnungstür geöffnet haben. Sie griff an das Geländer und spähte an Akroms Rücken vorbei nach oben. Noch sah sie nur Füße. Jaels Füße. Sie steckten in schwarzen Docs und ruhten auf der Türschwelle. Waren das Lehmspritzer auf dem Leder? An der Jeans?

Die Füße bewegten sich, traten ins Treppenhaus. Geno war oben angekommen. Sie hörte Hände einklatschen. Dann Begrüßungsfloskeln, die man nur aussprach, wenn man sich schon Jahre kannte, aber länger nicht gesehen hatte. Chrystal zog schnell ihr Zopfgummi raus und ließ ihre Haare fliegen. Er würde sie zum ersten Mal sehen.

Sie nahm die letzten Stufen. Geno und Akrom waren schon in der Wohnung. Jael zog gerade Rafi zu sich heran. Er war der Einzige, den er so nah begrüßte. Mit offenen Armen, die sich dann fest um seinen Rücken schlossen.

Als er sich löste und zu ihr hinunterschaute, blieb ihr für einen Moment die Luft weg. Seine Augen hatten dieses hellgraue Leuchten, dem man sich nicht entziehen konnte. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und ließ seinen Blick über sie wandern, demonstrativ von oben bis unten. Ob sie ihm gefiel, war nicht zu erkennen. Seine Augen verrieten nichts. Im Gegenteil, sie hielten sie auf Distanz. Entspannte Schultern. Lässiger Stand. Nicht den Hauch eines Lächelns.

»Chrystal.« Eine hochgezogene Augenbraue. Ein Wort. Mehr hatte er nicht für sie?

Sie reckte ihr Kinn. Augenbrauen hochziehen konnte sie auch. »Nett, dich kennenzulernen, Jael.« Ihre Stimme klang bescheuert belegt. Sie räusperte sich geräuschlos, durchbrach dann den Abstand. Ein frisch-herber Duft strömte ihr entgegen. Er hatte geduscht. Sein graues Shirt spannte sich über seiner Brust und zeichnete deutlich jeden einzelnen Muskel ab. Chrystal verbot sich weitere Gedanken. Sie lächelte und hob den Blick. Hinter dem Grau seiner Augen schimmerte ein grüner Schatten. Warmes Interesse? Nein. Was wirklich dahinter lag, wusste sie zu gut. Absolute Wachsamkeit!

Als seine Hand sich ihrer entgegenstreckte, wollte sie zugreifen, aber sie hatte ihr Haargummi noch um die Finger gewickelt. Unauffällig wechselte sie es von rechts nach links, doch seine Lippen verzogen sich bereits zu einem spöttischen Lächeln. »Ich mag auch Zöpfe.«

Chrystal schluckte. »Wirklich?« Sie stellte ihr Lächeln auf kühl. »Und spielst, wie man sieht, noch gern im Sand?«

»Manchmal«, antwortete er nur. Dass seine Mundwinkel dabei leicht zuckten, verbuchte sie mal als Treffer und ließ ihre Augen aufleuchten. »Süß!«

Ihre Hände umschlossen sich. Unter seinen Fingern begann ihre Haut zu kribbeln. Ihr konnte er nicht gefährlich werden, das Elixier schützte sie. Wie vor sämtlichen Einflüssen von außen. Und doch … Es war die Hand des Meisters. Eines zugegebenermaßen mehr als attraktiven Meisters.

Jael trat zur Seite. Weitere Berührungen blieben aus. Aber seine Nähe war spürbar, auch als er hinter ihr die Tür schloss.

Chrystal atmete durch. Dann sah sie sich in der Wohnung um. »Cool!« Das Herausreißen der Decke und das Zusammenlegen der Wohnungen hatte sich gelohnt. Der Raum war genial. Dazu der herrschaftliche Kronleuchter. Sie nickte zurückhaltend – war aber mehr als zufrieden.

»Ach, du hast dir schon ein Zimmer unter den Nagel gerissen?«

Irritiert horchte sie auf. Geno war es, der Jael hart anging. Er stand in der Mitte des Raumes und blickte angriffslustig zu ihm herüber. Jael unterbrach die Unterhaltung mit Rafi abrupt, stieß sich von der Wand ab und baute sich vor Geno auf. Na super. Zwei Alphatiere. Und ihre Aufgabe war es, die beiden in Schach zu halten.

»Gibt’s ein Problem?« Sie trat zu Jael.

»Nur das Übliche.« Akrom kam grinsend vom Balkon rein. »Geno spielt Mädchen. Ist beleidigt, weil …«

Sie griff lautlos an. Erwischte Akroms Arme, hielt einen umklammert und drehte ihm den anderen weit auf den Rücken. Er hatte nicht einmal atmen können, so schnell saß er fest. Bewegungsunfähig. Chrystal rammte ihre Knie in seine Beine. »Pass mal auf, Süßer. Keine Sprüche mehr über Mädchen. Verstanden?«

Akrom nickte stöhnend.

Genos Augen funkelten spöttisch.

»Das gilt hier für alle. Auch für dich, Rafi! Wie war das mit dem Kochen vorhin?«

»Ich glaube, jeder hier hat’s verstanden.« Jael ging auf sie zu. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Sie erwiderte es und ließ Akrom los, der sich stöhnend wand, sonst aber stumm blieb.

Stille breitete sich im Raum aus.

Jael verschränkte die Arme vor der Brust. Breitbeinig stand er da und sah jeden Einzelnen stumm an. Es brauchte keine Worte, alle formierten sich um ihn. »Ich bin der Einzige, der bereits in einer WG gewohnt hat.«

Allgemeines Nicken.

»Leider haben wir es verbockt. Wir waren zu Beginn ein Team. Haben gut zusammengearbeitet, danach nur noch gegeneinander. Ich habe es gemeldet. Und noch eine Chance bekommen.«

Chrystal mochte seine Stimme. Tief und klar, dazu irritierend warm. Was im krassen Kontrast zu seinem kühlen Blick stand. War er echt erst neunzehn?

»Und diese Chance lasse ich mir nicht nehmen. Von keinem von euch. Der Partem hat mir hier ausdrücklich die Führung zugesprochen. Dazu auch die Pläne der Wohnung geschickt. Mein Zimmer war bereits eingezeichnet, Geno. Wie eure auch.«

Lächelnd drehte Chrystal ihren Kopf nach rechts – zu ihrem Zimmer. Südseite mit Balkon. Gleich daneben ihr Ba…

»Ach!« Jaels Stimme schnitt scharf durch ihre Gedanken. »Du kennst die Pläne auch, Chrystal?«

»Nein!« Ihr wurde heiß unter seinem Blick – und den Augen der anderen. Fahrig spielten ihre Finger mit dem Ring an ihrer Hand. Scheiße – keine Nervosität! »Pläne? Dazu brauche ich keine. Schmale Tür – Bad. Breite Tür – Zimmer. Oder? Und ich denke ja mal, dass ich allein duschen darf?« Sie zog amüsiert eine Augenbraue hoch, alle grinsten – bis auf Jael. »Das Zimmer dahinten hat ein eigenes Bad. Also für mich, oder?«

Er nickte. Ansonsten zeigte er wieder keine Regung. Kein Muskel zuckte, während hinter dieser Fassade sein Gehirn sicher auf Hochtouren arbeitete. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass das hier wirklich schiefgehen könnte.

»Wenn ihr gleich eure Zimmer bezieht, müsst ihr euch anmelden …«

Chrystal hörte Jaels weiteren Anweisungen nur noch mit halbem Ohr zu, nutzte stattdessen die Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Er erklärte gerade den Prozess des Einscannens über die Blume des Lebens, als es plötzlich an der Tür läutete. Die Koffer!

Gemeinsam gingen sie hinunter, um sie unten in Empfang zu nehmen.

Alle wussten Bescheid: Im schwarzen Koffer befand sich die notwendige Ausstattung, im grauen Koffer waren persönliche Gegenstände.

»Haben wir eine Putzfrau oder ein Hausmädchen?«, fragte Geno mit Blick auf die Wohnung im Erdgeschoss.

Jael räusperte sich kurz. »Es gab Komplikationen. Der Partem kümmert sich drum, wir bekommen noch jemanden.«

Komplikationen? Das war ihr neu. Chrystal verzichtete aber auf Nachfragen. Bei Gelegenheit hatte sie andere Quellen.

XENIA

Je mehr sie über eine Sache wusste, desto weniger Angst machte sie ihr. Das musste bei Menschen doch auch gelten, oder?

Xenia gab sich einen Ruck und trat mit dem Tablett in den Händen auf den Balkon. Der Himmel war leer, nach dem Regen von gestern auch kein Wunder. An manchen Stellen färbte er sich tatsächlich schon blau. Perfektes Wetter also, um draußen zu frühstücken. Und … die perfekte Gelegenheit, das Haus gegenüber zu beobachten. Der Typ ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sein Blick hatte sich eingebrannt. Ebenso wie diese alles verschluckende Stille. Gestern hatte er sie eingeschüchtert, und das sollte ihr keinesfalls noch mal passieren. Trotzdem flatterten ihre Finger leicht, als sie ihre Sachen auf den Tisch stellte: den Joghurt, ihren Marmeladentoast und ein Glas Orangensaft. Unter dem Arm klemmte ihr English Grammar Heft. Felix musste unbedingt von seiner Fünf runter. Wenn sie nachher zu ihm ging, sollten ihre Erklärungen sitzen, und sie hatte sich vorgenommen, das Wichtigste während des Frühstücks noch mal durchzugehen.

Sie zog sich den Stuhl ran und spähte unauffällig nach drüben. Gardinen vor den Fenstern. Noch war alles ruhig. Vielleicht auch besser so?

Xenia lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Hier draußen war die Luft noch klar. Drinnen wurde sie langsam eng.

Sie hatte die Schlaftablettenschachtel im Bad gesehen, mit einer Kapsel weniger drin. Auch das Türschild war ihr nicht entgangen. Den Text hatte sie nicht lesen müssen, sie kannte ihn auswendig. Auszeit! Ich komme raus, wenn ich kann.

Der Stuhl ihr gegenüber würde leer bleiben. Wenn es schlecht lief, das ganze Wochenende. Wenn es beschissen lief, noch länger. Dann würde die Praxis ihrer Mutter für Tage geschlossen bleiben. Wegen Fortbildung. Wegen Krankheit der Tochter. Wegen irgendwas halt. Nur gelogen. Die Wahrheit aber war viel zu gefährlich. Claire Morin. Eine namhafte Psychologin mit einer Angststörung! Wer wollte sich dann noch von ihr behandeln lassen?

Vom Gehweg kam ein Lachen, und Xenia beugte sich neugierig vor. Ein Mann mit Kind. Sie wichen einer Frau mit Einkäufen aus. Der Vater hielt die Hand seines Sohnes, in der anderen trug er eine Brötchentüte.

Wie es sich wohl anfühlte, eine so große Hand zu halten?

Sie riss den Deckel von ihrem Joghurt ab. Er fiel auf den Boden – natürlich auf die falsche Seite. Xenia fluchte, wollte ihn gerade aufheben, als plötzlich lautes Hupen von der Straße zu ihr hochdrang. Sie sah über das Geländer. Ein Typ raste mit seinem Fahrrad quer über die Straße, eine Hand hatte er am Lenker, die andere zeigte dem Auto hinter sich das Victoryzeichen. Lachte er etwa?

Das war doch einer von den neuen Nachbarn!

»Ach du Scheiße!« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. Äpfel, Gurken, Konserven … alles, was eigentlich in Einkaufstüten gehörte, kullerte jetzt in der Gegend herum: Auf den Gehweg, auf die Straße. Hatte der Typ die Frau auf dem Bürgersteig nicht gesehen?

Jetzt zumindest schon. Er drehte sich um, stieg von seinem Rad und lehnte es an eine Mauer. Stimmen drangen nach oben. Leider waren sie zu leise, um etwas zu verstehen. Der Frau war anscheinend nichts passiert, nur ihren Einkäufen. Gemeinsam machten sie sich daran, alles einzusammeln. Und hatten offenbar Spaß dabei. Die Frau sah ihn viel zu lange an, strich sich durch die Haare oder warf sie nach hinten. Flirtete die etwa? Hübsch war er ja. Hellblonde Haare, recht kurz geschnitten. Ein nettes Lächeln. Zumindest wirkte es von hier oben so. Aber trotzdem.

Xenia verbiss sich ein Grinsen. Die Frau könnte vom Alter her glatt ihre Mutter sein, was ihn komischerweise nicht zu stören schien. Er gab der Frau zum Abschied die Hand und hielt sie definitiv länger fest als nötig. Dann drehte er sich um und steuerte sein Fahrrad an. Xenia stutzte. Etwas stimmte nicht mit ihm. Schwankte er? Zumindest nahm er nicht den direkten Weg, er lief irgendwie im Zickzack, stolperte fast. Eine Hand ausgestreckt, suchte er die Mauer. Seine Knie knickten ein. Kippte der jetzt um? Xenia erhob sich, irgendjemand musste ihm helfen. Doch auf der Straße war niemand mehr. Sollte sie runterlaufen?

Mit aufgestützten Armen stand er da, während sein Rücken sich unter tiefen Atemzügen bewegte. Xenia atmete mit ihm, und er schien sich tatsächlich zu erholen. Zumindest so weit, dass er seinen Kopf anheben und sich dann langsam umdrehen konnte. Er hielt sein Gesicht der Sonne entgegen, mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen.

Xenia zog mit dem Fuß ihren Stuhl heran, sie wurde wohl nicht gebraucht. Beine hoch und ein Glas Wasser, das wäre auch alles gewesen, was ihr eingefallen wäre.

Sie griff zu ihrem Glas Orangensaft und wollte ihm gerade zuprosten, als sich seine Lippen verzogen. Lachte er etwa schon wieder? Es hatte etwas Triumphierendes, passte zu der geballten Faust, die er jetzt öffnete. Irgendwas hatte er da. Etwas Glänzendes, die Sonne brach sich darin. Ein Armband?

Er steckte es in die Hosentasche, dann guckte er so unvermittelt zu ihr hoch, dass Xenia sich blitzschnell hinter die Brüstung duckte. Hatte er sie gesehen?

Wäre blöd! Und wäre richtig scheiße, wenn es stimmte, was sie glaubte. Hatte er die Frau gerade echt beklaut?

Geduckt blieb sie sitzen, den Kopf fast zwischen den Knien, das Glas noch immer in der Hand. In Zeitlupentempo stellte sie es ab. Durch die Balkonritze sah sie den Typen bei seinem Rad stehen. Er schloss es ab. Und ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er dann tatsächlich im Haus gegenüber.

Xenia wartete einen Moment, bevor sie sich wieder aufrichtete. So viel also zum Thema: Nicht einschüchtern lassen! Das war jetzt das zweite Mal gewesen, in nicht viel mehr als zwölf Stunden, dass sie sich hier versteckt hatte. Gestern mit ihrer Mutter – heute allein.

Und alles wegen dieser Idioten da drüben?

Nein! Sie hatte vorgehabt, hier draußen zu essen, hier draußen die Grammatik durchzugehen. Und das würde sie jetzt auch tun. Mit dem Toastbrot in der einen Hand zog sie das Heft unter ihrem Teller hervor und öffnete es. Eigentlich mussten sie alles noch einmal durchgehen.

Während sie aß und sich vorbereitete, schielte sie immer wieder zu den Fenstern im dritten Stock. Niemand war zu sehen. Und doch hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden.

JAEL

Die Wahrscheinlichkeit, dass er in seinem Leben noch mal Glück haben würde, tendierte gen null. Unwahrscheinlich also, dass sich daran gerade jetzt etwas ändern sollte.

Kopfschüttelnd verscheuchte er den Gedanken und trat vom Fenster zurück. Die Vorhänge mussten geschlossen werden, denn nichts von dem, was sich hier gleich abspielte, durfte nach außen dringen. Fenster für Fenster ging er durch. Vor dem letzten hielt er erneut inne, hier gab der Stoff noch genau das bisschen Außenwelt frei, das er vorhin schon beobachtet hatte, und sein Blick blieb wieder hängen. Am Balkon gegenüber. Dunkle kurze Haare. Sicher gab es Hunderte Mädchen mit dieser Frisur in der Stadt. Und trotzdem. Irgendwas ließ ihn an diese Unwahrscheinlichkeit glauben: War das die Kleine aus der Tram?

Komm schon, zeig mir dein Gesicht! Jael trat näher ans Fenster, seine Hände wollten in den Stoff greifen, den Vorhang weiter aufziehen, doch er hielt sich zurück. Bewegungen am Fenster waren schnell sichtbar.

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