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Die Prophezeiung der Sternenuhr

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Reise in die Welt hinter den Bergen

Erneut treten die beiden Schwestern Imogen und Marie durch die Tür im Baum ins magische Königreich von Jaroslaw, diesmal ungewollt begleitet von Mark, dem Freund ihrer Mutter. Gleich in der ersten Nacht wird die kleine Marie von der machtbesessenen Anneschka entführt. Sie hat nach dem Tod von König Drakomor ihre Stellung als Königin verloren, aber nachdem die Waldhexe Otschi ihr mit Hilfe der Sternenuhr trotzdem eine Zukunft als Königin prophezeit hat, ist Anneschka sicher: Um ihr Lebensziel zu erreichen, braucht sie Marie. Imogen, Mark und Miro, der inzwischen die Nachfolge als König von Jaroslaw angetreten hat, machen sich auf den Weg, Marie aus Anneschkas Fängen zu befreien. Auf ihrer Reise in die Welt hinter den Bergen begegnen sie einer Vielzahl fantastischer Wesen, nicht zuletzt einer riesigen Katze, einem Drachen und einem geheimnisvollen Einsiedler.

Atemberaubende Fortsetzung der Abenteuer von Imogen und Marie im Reich der Sternenuhr


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Aus der Serie: Sternenuhr
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 432
  • Altersempfehlung: 10
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748801771

Leseprobe

Auch dieses Buch ist
für Mini und Bonnie

Ich fürchte nicht des Vaters Zorn

und nicht der Mutter Schelten,

denn im Alter brauchen sie

mich beide, um zu helfen.

Angst hab ich vor den Monstern,

in Rüstung gehen sie auf Jagd.

Sie stehlen freche Kinder,

hat Mutter mir gesagt.

Ich fürcht’ mich nicht vor Finsternis,

wünsch’ mir nicht Helligkeit,

denn diese Bestien jagen

zu jeder Tageszeit.

Achtung, die Käfige rasseln!

Achtung, es klopft an der Tür!

Achtung, die Kruttemosch kommen!

Die Monster suchen nach dir.

Ich fürchte nicht des Vaters Zorn

und nicht der Mutter Schelten,

denn im Alter brauchen sie

mich beide, um zu helfen.

Kinderlied aus den Tieflanden

Kapitel 1

Die Bäume bogen sich aus dem Weg und bahnten Otschi so einen Pfad durch die Dunkelheit.

Otschi schritt ohne Zögern voran, denn sie kannte sich in diesen Wäldern aus – schließlich war sie die Waldhexe.

In respektvollem Abstand folgte ihr ein Pony. An seinem Sattel war ein Kissenbezug mit einer sehr merkwürdigen Uhr darin festgebunden.

Dem Pony folgte Anneschka Mazanar. Ihr Schlurfen hatte nichts Respektvolles. Sie murrte vor sich hin, während sie durch den Wald stolperte. Andels mechanischer Drache hatte ihr die Hände und das Gesicht versengt, sie hatte einen Pantoffel verloren, und ihr Hochzeitskleid hing in Fetzen an ihr herunter. An den Unterröcken schleifte sie Brombeerranken hinter sich her, die raschelten wie ein stachliger Schwanz.

Anneschkas Verbrennungen waren schmerzhaft, aber mehr noch quälte sie der Gedanke an das, was sie verloren hatte. Um ein Haar wäre sie zur Königin gekrönt worden. Sie war so nah daran gewesen, ihre Bestimmung zu erfüllen.

Doch jetzt war König Drakomor tot. Und es würde nicht lange dauern, bis ganz Jaroslaw erfuhr, was sie getan und welche Männer sie umgebracht hatte und dass der Prinz entkommen war.

Anneschka stellte sich die Reaktion ihrer Mutter vor: »Du hättest den König heiraten können, aber nein! Du musstest ja einen Drachen haben. Musstest das Schloss in Brand setzen. Du dummes Ding! Was werden die Nachbarn sagen?«

Nein. Anneschka würde nicht nach Jaroslaw zurückkehren. Die Hexe war ihre einzige Hoffnung.

Otschi ging mit großen Schritten vor ihr her. Ihre Laterne schaukelte. Die Hexe war groß und schlank und hatte eine blasse Haut und schwarzes Haar. Sie hatte Anneschka eine Unterkunft angeboten. Vielleicht wusste sie außerdem auch eine Lösung?

Die Hexe weiß jedenfalls, dass ich zum Herrschen bestimmt bin, dachte Anneschka. Ich kann immer noch ein Königreich und ein Schloss bekommen. Das werde ich Mutter schon zeigen. Allen werde ich es zeigen. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie weiter.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Otschis Hütte auf. Eben noch waren in der Finsternis nur Bäume zu erahnen gewesen, und plötzlich stand Anneschka vor einem alten, kleinen Haus. Otschi war noch damit beschäftigt, das Pony abzusatteln, daher trat Anneschka einfach ein. Im Haus fand sie einen offenen Kamin, bunt zusammengewürfelte Möbel und zahllose Tongefäße. In einer Schublade schlief ein Huhn.

Und das ist alles, was mir geblieben ist, dachte Anneschka und ließ sich in einen Sessel fallen.

Auf dem Kaminsims klapperte ein Tontopf. Anneschka blickte auf. Das Tongefäß war wieder still.

»Dieses Haus macht mich wahnsinnig«, murmelte sie und zog sich eine Fußbank heran. Ein Fuß war nackt und blutig. Am anderen trug sie einen schmutzigen Seidenpantoffel.

»Recht so, Kind, fühl dich wie zu Hause«, sagte eine heisere Stimme hinter ihr. Anneschka sprang auf. Die Stimme gehörte einem hässlichen alten Weib mit runzliger Haut und dürren, knochigen Armen. Ihre Haut war verrunzelt, und die Arme waren dürr und knochig. Anneschka schaute sich nach einem spitzen Gegenstand um.

»Keine Angst«, schnaufte die Greisin. »Nur ich verwandle mich. Du bist innen bestimmt genauso schön, wie du aussiehst.«

Anneschka zuckte zurück. War das … »Otschi?«

»Was hast du denn erwartet?«, fragte die Alte. »Niemand bleibt ewig jung.«

Anneschka mochte ihr Lächeln nicht, doch sie wusste, dass die Alte die Wahrheit sprach. Die junge Hexe und die alte Frau waren ein und dieselbe Person. Anneschka erkannte es an den Augen.

»Wir sollten uns lieber um deine Brandwunden kümmern«, sagte die alte Otschi. Sie öffnete eine Schublade und nahm zwei Schnecken heraus.

»Was machst du da?«, schrie Anneschka. »Schaff die Viecher fort!«

»Wenn du an einer Entzündung stirbst, wirst du niemals Königin«, sagte Otschi und hinkte näher heran. »Deine Verletzungen müssen behandelt werden.«

Die Schnecken blieben in ihren Häusern versteckt. Anneschka blickte auf ihre Hände hinunter. Wo das Feuer des Drachen sie erwischt hatte, hatten sich Blasen gebildet. »Also gut«, sagte sie spöttisch, »dann tu, was du nicht lassen kannst.«

Otschi setzte die Schnecken auf Anneschkas Handgelenke und strich mit ihren krummen alten Fingern über ihre Häuschen, bis die kleinen Bewohner herauskamen.

Anneschka musste sich beherrschen, um die Schnecken nicht quer durchs Zimmer zu schleudern. Sie hasste es, wie die Schneckenaugen vorn auf Stielen saßen; sie hasste es, wie die Schnecken vorwärtsrutschten. Alles an diesen Tieren war ekelhaft.

»Im Gesicht hast du auch Verbrennungen«, sagte die Hexe.

Anneschka zog die Nase kraus, aber ihre Hände taten wirklich nicht mehr so weh. Daher ließ sie zu, dass Otschi ihr eine Schnecke aufs Kinn setzte. Der kalte Schneckenfuß rutschte Anneschkas Wange hinauf und über ihren Nasenrücken.

Als Otschi fertig war, waren die Verbrennungen mit einer schillernden Schleimschicht überzogen.

»Wehe, das hilft nicht«, grummelte Anneschka.

Die alte Frau setzte die Schnecken auf den Fußboden, und die beiden traten die lange Reise zurück in ihre Schublade an.

»Was wirst du für eine großartige Königin sein«, seufzte die Hexe, als sie sich setzte.

»Königin wovon? Und wo?«, fauchte Anneschka. Allmählich hatte sie Otschis Art zu reden satt.

»Ich kann die Sterne danach fragen … wenn du bereit bist, dafür zu bezahlen.«

Ein Tontopf neben Otschis Sessel begann zu beben. Die Hexe stieß ihn mit dem Absatz zurück.

»Du verbirgst mir etwas«, sagte Anneschka. »Was ist in diesen vielen Töpfen?«

»Ich verberge nichts, Kind. Warum sollte ich etwas vor dir verbergen?«

Anneschka sah die Hexe böse an. Die Alte wirkte klapprig, wie ein Knochenbündel mit einer Eierschale als Kopf. Es wäre ein Leichtes, ihr den Schädel einzuschlagen und zu sehen, ob die Geheimnisse rausfallen, dachte sie.

Die Töpfe am Fenster waren mit Pfropfen verschlossen. Anneschka nahm sich ein Gefäß und las das Etikett.

W. Lokai.

Die Aufschrift sagte ihr nichts. Sie griff nach einem anderen Tontopf und hinterließ schleimige Fingerabdrücke.

Von einem Zaubertrank dieses Namens hatte sie noch nie gehört.

Ein Tongefäß hatte keinen Deckel. Anneschka lugte hinein. Fast rechnete sie damit, dass ihr ein Frosch entgegenspringen würde, aber der Topf war leer. Sie schaute auf das Etikett.

V. Mazanar

»Das ist ja meine Mutter«, rief Anneschka. »Das ist ihr Name!« Sie brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. »Warum heißt dieser Topf nach meiner Mutter?«

»Komm«, sagte die Hexe, »es ist Zeit, sich auszuruhen.«

»Sofort sagst du mir das!« Anneschka ging zu den langsam dahinkriechenden Schnecken hinüber und hielt den Fuß mit dem Pantoffel über eine der beiden.

»Es ist schon so spät. Ich erkläre es dir morgen.«

Anneschka senkte den Pantoffel und genoss das Knirschen.

»Meine Schnecke!«, rief Otschi. Ihr Gesicht zuckte vor Kummer.

»Rede!«, verlangte Anneschka. Ihr bloßer Fuß schwebte über der zweiten Schnecke.

»Deine Mutter hat am Tag deiner Geburt eine Weissagung erworben«, sagte Otschi. »Ich habe ihr gesagt, du würdest Königin, wenn du erwachsen bist.«

Anneschka drückte mit dem großen Zeh auf das Schneckenhaus. »Das weiß ich schon.«

»Bitte nicht! Nicht Boris!«, flehte die Hexe. Sie sprach schneller. »Wenn deine Mutter stirbt, wird sie mit ihrer Seele für diese Weissagung bezahlen. Und in diesem Topf werde ich ihre Seele aufbewahren.« Die Hexe hielt inne. Sie sah aus, als schäme sie sich. »Jede Seele, die mir aus freien Stücken übergeben wird, garantiert mir mehr Zeit in diesem Körper.«

Anneschka hob eine Augenbraue und ließ die Schnecke in Ruhe. »Du sammelst Seelen, um dein jämmerliches Leben zu verlängern?«

Die Regale standen voll mit Tongefäßen, die Töpfe stapelten sich in allen Ecken und standen auch auf dem Tisch und unter den Stühlen. Anneschka drehte sich einmal um sich selbst. Dann sah sie auf die Hexe hinunter. »Wie alt bist du eigentlich?«

Otschi starrte auf Boris, der sich gerade unter einen Schrank schob. »Ich bin dreiundzwanzig«, flüsterte sie. »Siebenhundertdreiundzwanzig.«

Kapitel 2

Irgendjemand hatte die Schlüssel für die Fenster in Raum 32C geklaut. Es war einer der letzten heißen Tage des Jahres, und die siebte Klasse saß hier drinnen wie in einem Backofen.

Auch Mr Morris wurde gebacken. »Schlagt Seite acht auf«, sagte er. Träge wie eine Eidechse im Terrarium schleppte er sich durch das Klassenzimmer.

Imogen blätterte die Seiten des Schulbuchs um und freute sich an dem winzigen Luftzug, der dabei entstand. Bei einem Foto von einem Astronauten, der durch ein blasenförmiges Fenster schaute, stoppte sie.

Das ist die Erde, stand im Text. Hier ist unser Zuhause. Hier setzen wir Zeichen.

Imogen überlegte, ob der Astronaut wohl Heimweh gehabt oder sich gefreut hatte, als er die Erde aus dieser fremden, neuen Perspektive sah. Vielleicht von beidem ein bisschen?

Sie sah zu ihrem Lehrer hoch. Er sprach nicht über Astronauten, sondern erklärte gerade den Unterschied zwischen flüssigen und festen Stoffen.

Schweiß ist eine Flüssigkeit, dachte Imogen, als ihm ein Tropfen über das Gesicht lief. Zeit ist ein Feststoff, sinnierte sie weiter. Nichts kann sie beschleunigen.

Bis zum Ende des Schultages waren es noch fünf Minuten. Noch fünf Minuten, dann hatte Imogen ihre erste Woche an der weiterführenden Schule hinter sich gebracht.

Es war kein schlechter Anfang gewesen. Sie hatte Freundinnen gefunden, und sie mochte ihren Klassenlehrer. Aber mittlerweile wussten alle, dass sie »das verschwundene Mädchen« war. Doch zum Glück wusste niemand, dass sie zu einer Therapeutin ging. Sonst hätten die anderen sie richtig schräg gefunden.

Immer wieder fragten die anderen Kinder sie, ob sie ausgerissen oder entführt worden war. Imogen hatte beschlossen, ihnen nicht die Wahrheit zu erzählen. Sie würden ihr niemals glauben, dass sie in einem Baum eine Tür gefunden und sich mit einem Prinzen angefreundet hatte und dass sie auf dem Rücken von Riesenvögeln geflogen war …

Noch drei Minuten bis Schulschluss. Imogen versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren.

Raumfahrt fordert ihren Preis. Die Astronauten auf diesem Flug werden ihre Familien fünf Jahre lang nicht sehen. Und wenn sie zurückkehren, werden sie viele weitere Jahre brauchen, um sich wieder an das normale Leben zu gewöhnen.

Noch zwei Minuten.

Mama wartete bestimmt schon am Schultor. Das war Imogen peinlich. Von den anderen Kindern wurde niemand abgeholt, aber seit Imogens Verschwinden hatte Mama sich verändert.

Es war Mamas Idee gewesen, eine Therapeutin zu suchen. Sie sagte, Imogen brauche »besondere Unterstützung«. Das war anscheinend das Codewort für stundenlanges Gerede … als wenn man sie überreden könnte, eine magische Welt zu vergessen.

Noch eine Minute.

»Bei Zimmertemperatur ist Wasser eine Flüssigkeit«, sagte Mr Morris. Er klang erschöpft. »Aber wenn es erhitzt wird, beginnt Wasser zu« – die Schulglocke ertönte, und die Kinder griffen nach ihren Büchern und strömten aus dem Raum – »verdampfen«, beendete der Lehrer den Satz und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Die Tür knallte zu, und im Klassenzimmer wurde es still. Mr Morris schloss die Augen. Imogen wartete darauf, dass er sie bemerkte. Er atmete tief durch die Nase ein und stieß die Luft durch den Mund wieder aus. Dann drückte er sich eine Wasserflasche an die Wange. Er blieb regungslos sitzen.

»Mr Morris?«

Der Lehrer zuckte zusammen. »Imogen! Du bist ja noch da!«

»Die Astronauten sind doch auf dem Mond gewesen. Waren sie auch sonst noch irgendwo?«

Mr Morris ließ seine Wasserflasche sinken. »Also … ja. Die NASA hat Sonden auf den Mars geschickt.«

»Aber Menschen sind nicht auf dem Mars gewesen?«

»Nein, Imogen. Bisher nicht.«

Imogen kniff die Augen zusammen. »Glauben Sie, dass es einen Planeten gibt, den die Astronauten noch nicht entdeckt haben? Der so ist wie unser Planet, mit Menschen und Tieren … aber anders?«

»Das weiß ich nicht«, sagte der Lehrer. »Aber falls es so einen Stern geben sollte, ist er sehr weit entfernt. Selbst mit einem Raumschiff, das mit Lichtgeschwindigkeit fliegen kann, würde man viele Jahre brauchen, um dorthin zu gelangen. Bei der Landung könntest du eine alte Frau sein.«

Imogen fiel es schwer, sich vorzustellen, dass sie jemals eine alte Frau sein würde.

»Warum fragst du?«, erkundigte sich Mr Morris.

Imogen wandte sich zum Gehen. Inzwischen war genügend Zeit verstrichen. Alle anderen Schüler waren verschwunden, und niemand würde sehen, wie ihre Mutter sie am Schultor abholte.

»Ach, nur so«, sagte sie. »Ich war einfach neugierig.«

Kapitel 3

Imogen lag auf dem Bett ihrer Schwester Marie. An den Wänden hingen so viele Zeichnungen, dass es aussah, als würden die Zimmerwände sich verformen, wenn der Wind durchs Fenster blies und die Blätter anhob. Man fühlte sich dann eher wie im Zelt als wie in einem Haus.

Marie war drei Jahre jünger als Imogen. Sie saß auf dem Fußboden und malte. Ihre Stifte waren über den ganzen Teppich verstreut.

»Mrs Kalmadi hat gesagt, Falter können keine Türen aufmachen«, sagte Marie, »und auch keine Menschen erkennen.«

»Du darfst in der Schule nicht mehr darüber sprechen«, schimpfte Imogen. »Die denken sonst, du hättest einen Schuss.«

»Aber alle reden doch darüber. An deiner Schule etwa nicht?«

Imogen betrachtete eine Kritzelei an der Wand, die Mama darstellen sollte. Ihr Kopf hatte die Form einer Glühbirne, und ihre Hände ähnelten Bananenbündeln. Diese Zeichnung hatte Marie schon vor ein paar Jahren angefertigt.

»Doch«, gestand Imogen. »Sie reden die ganze Zeit darüber.«

Am Fußende des Bettes hing ein jüngeres Bild: das Porträt eines Jungen mit weit auseinanderstehenden Augen und mit Ohren, die aus seinem Haarschopf herausguckten. Imogens Blick wanderte immer wieder zu diesem Jungengesicht. Sie musste zugeben, dass Marie ihn richtig gut getroffen hatte.

»Ich will nicht immer so tun, als würde es Jaroslaw nicht geben«, sagte Marie jetzt. »Die Stadt war doch genauso wirklich wie Mrs Kalmadi. Und als wir da waren, kam sie mir sogar noch wirklicher vor.«

Imogen ging es genauso. Sie hasste es, sich zu verstellen. »Ich bin sicher, dass Mama uns irgendwann glaubt«, sagte sie. »Wir müssen es bloß schaffen, sie irgendwie zu überzeugen.«

Von unten hörten sie Mamas Stimme: »Kommt essen, Kinder!«

Marie ließ ihren Stift fallen und sauste aus dem Zimmer. Imogen schwang sich vom Bett und hob Maries Bild auf. Es war eine Skizze von einem Wald in der Nacht. Er war gut getroffen: die heimlichen Schatten, das kalte Licht der Sterne. Wenn Imogen die Augen schloss, konnte sie beinahe das Wispern von Falterflügeln hören.

»Erde an Imogen!«, rief Mama. »Eure Oma ist da. Komm her und begrüße sie!«

Imogen legte das Bild wieder hin und ging nach unten zu ihrer Familie.

Für September war es warm, daher aßen sie draußen zu Abend. Mama zündete Duftkerzen an, um die Insekten fernzuhalten. Oma servierte Lasagne und redete über den Bridgeclub. Sie war rausgeworfen worden, weil sie zu gut spielte. Jedenfalls sagte sie das.

Nach dem Essen, als die Mädchen anfingen, den Terrassentisch abzuräumen, wisperte Mama Oma etwas über Mrs Haberdash zu. Imogen spitzte die Ohren. Die alte Mrs Haberdash war die Besitzerin der Teestube und des Parks, in dem Imogen die Tür im Baum gefunden hatte.

»Bei dem Zustand, in dem der Park ist«, sagte Oma leise, »wäre ich gar nicht überrascht, wenn da tatsächlich irgendwelche wilden Tiere leben würden. Höchstwahrscheinlich Füchse.«

»Worüber redet ihr?«, fragte Imogen mit einem Blick zu den Erwachsenen.

»Ach, über nichts, Schatz«, sagte Mama. »Nimmst du meinen Teller bitte auch mit?«

»Ja, Mama, sofort … Aber ihr habt doch von Mrs Haberdash gesprochen, oder?«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick. »Mrs Haberdash geht’s leider nicht besonders gut«, sagte Mama.

»Sie sieht Dinge, die gar nicht da sind«, fügte Oma hinzu. »Bei alten Leuten passiert das manchmal.« Sie tippte sich an die Schläfe, so als hätte alt sein nichts mit ihr selbst zu tun.

»Du meinst, Mrs Haberdash hat einen Vogel, weil da Füchse sind?«, fragte Imogen verwirrt.

»Nein, nein«, sagte Oma. »Sie glaubt, in ihrem Park würde sich irgendwas herumtreiben – so was wie ein Monster. Sie sagt, abends würde sie es sehen, hinter dem Haus bei den Mülltonnen. Wahrscheinlich ist es bloß ein Fuchs, der nach Essensresten sucht, aber die arme Mrs Haberdash ist ganz außer sich.«

Ein Monster? dachte Imogen. Könnte das …?

»Vielleicht sollten wir sie mal besuchen«, schlug Marie vor.

»Ich glaube nicht, dass eure Mutter das erlauben würde«, sagte Oma mit einem Blick zu Mama.

»Du brauchst mich gar nicht so anzugucken«, sagte Mama. »Du kannst deine Freundinnen doch besuchen, wann immer du Lust hast.«

»Man kann mir bloß nicht deine Kinder anvertrauen«, erwiderte Oma. »Das willst du doch damit sagen, oder?«

Mama blickte konzentriert auf eine Duftkerze. »Imogen, Marie … bringt jetzt unsere Teller in die Küche.«

Aber Oma hielt ihren Teller fest. »Es war nicht meine Schuld, dass die Mädchen verschwunden sind«, sagte sie scharf. »Ich hatte sie nur ganz kurz aus den Augen gelassen.«

Imogen hatte noch nie erlebt, dass Mama und Oma sich stritten. Sonst hielt Mama zu Oma, und Oma hielt zu Mama. Das war die Regel.

»Wir können doch alle vier hinfahren«, sagte Marie. »Warum fahren wir nicht zusammen zur Teestube?«

Mit gerunzelter Stirn blickte Mama auf. »Ich überlege es mir«, sagte sie.

Später am Abend brachte Oma Marie ins Bett, sodass Imogen Mama ganz für sich hatte. Sie saßen im Garten und suchten den Himmel nach den ersten Sternen ab.

Über dem Horizont schimmerte der Himmel noch orange. Es war ein greller Schein, gegen den sich selbst die hellsten Sterne nicht durchsetzen konnten. Der Nachthimmel über Jaroslaw war schwarz gewesen und voller Sterne. Imogen überlegte, ob die Nachbarn hier bei einem Angriff der Skret wohl die Lichter ausmachen würden. Dann könnte man viel mehr Sterne sehen. Wahrscheinlich wäre es ihnen das nicht wert, dachte sie mit einem Lächeln.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Mama. Sie legte den Arm um ihre Tochter. Obwohl Imogen jetzt in die siebte Klasse ging, passte sie noch sehr gut in Mamas Arm.

»Ach, weißt du … Ich hab nur überlegt, wie es wäre, wenn man alle Sterne sehen könnte.« Imogen schmiegte den Kopf an Mamas Schulter.

»Es ist schön, euch wiederzuhaben, Imogen«, sagte Mama. »Ich hatte solche Angst um euch … Ich weiß nicht, was ich ohne Mark gemacht …«

Imogen ergriff die Gelegenheit. »Ist Mark jetzt richtig dein Freund?«

Ein Weberknecht schwebte vorbei.

Mama holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Ja. Ich habe ihn wirklich sehr gern, und ich glaube, du wirst ihn auch mögen, wenn du ihm nur eine Chance gibst … Er hat ja selbst keine Kinder, daher fällt es ihm nicht leicht mit euch, aber Mark ist ein guter Mann. Bitte, versprich mir, dass du es versuchst.«

»Ich sage aber nicht Papa zu ihm.«

»Natürlich nicht. Das würde ich nie von dir verlangen.«

»Na ja, wenn du ihn gernhast, kann ich es vielleicht …«

Mum drückte Imogen an sich. »Das ist lieb von dir.«

Kapitel 4

Als der erste Schnee gefallen war, stellten die Bewohner von Jaroslaw ihre Suche nach Anneschka ein. Falls sie sich im Wald versteckt hatte, musste sie inzwischen verhungert sein. Niemand würde einer Mörderin etwas zu essen geben, nicht einmal, wenn sie so hübsch war wie Anneschka.

Die meisten glaubten, sie wäre bei der Überquerung der Berge umgekommen, denn es war die falsche Jahreszeit für diese Reise. Vielleicht würde man im Frühling ihre Leiche finden, irgendwo in der Nähe eines Berggipfels, in ihrem Hochzeitskleid und von Eis umschlossen. Bei den Künstlern in Jaroslaw war das ein beliebtes Motiv. Es verkaufte sich hervorragend.

Woher sollten die Leute von Jaroslaw wissen, dass Anneschka weder tot noch dem Tod nahe war, sondern sicher und warm im Haus der Waldhexe lebte?

Anneschka saß am Feuer. Das Huhn hockte in seiner Schublade, und die Tontöpfe waren still, so wie es sich für Töpfe gehörte. Anneschka strich mit dem Finger über ihre Brandnarben. Die neue Haut war silbrig.

Durch das kleine Fenster konnte sie nichts als Bäume sehen. Sie beugten sich unter der Schneelast. Otschi war draußen und schüttelte das weiße Puder von den Ästen.

Die fallenden Flocken schienen Anneschka zuzuflüstern: »Wir jubeln dir zu, wir juuubeln.« Sie blickte wieder ins Feuer. »Kööönigin!«, zischelten die Flammen.

Otschi kam herein, und Anneschka schreckte aus ihrer Träumerei hoch.

Zusammen mit ihrem Mantel legte die Hexe auch ihre Jugend ab. Dann schlurfte sie langsam und steif zum Feuer. »Die armen Bäume«, schnaufte sie. »So viel Schnee haben sie nicht erwartet. Der Winter ist früh gekommen.«

Dieses ganze Gerede von Bäumen, dachte Anneschka, dabei hat die alte Hexe mir immer noch nicht gesagt, wo ich Königin sein werde.

Otschis Knie knackten, als sie sich hinsetzte. Anneschka wohnte jetzt lange genug bei der Hexe, um über ihre Verwandlungen Bescheid zu wissen. Wenn Otschi sich draußen aufhielt, war sie eine junge Frau, und ihr Körper war geschmeidig wie ein junger Baum, aber sobald die Hexe ihre Hütte betrat, ähnelte sie einem Baumstumpf. Hässlich und alt.

Anneschka fragte sich, ob Otschi ihre Prophezeiungen wohl auch so gut verkaufen könnte, wenn die Leute ihr wahres Gesicht sähen. Sie bezweifelte es.

»Sag mal«, fragte Anneschka, »wenn ich nicht Königin von Jaroslaw werde, wo werde ich denn dann regieren?«

Die Hexe lehnte sich zurück. »Meine Weissagungen geben nur einen kurzen Blick auf die Zukunft. Aber was du verlangst, ist ein langes, ruhiges Hinschauen.«

»Ich verliere allmählich die Geduld, Hexe. Du hast versprochen, dass du mir sagst, wo ich herrschen werde.«

»Das habe ich nicht getan.«

»Was ist denn los?« Anneschka grinste spöttisch. »Baust du allmählich ab?«

Otschi schaute zur Uhr hinüber – zu der Uhr, die Anneschka Andel weggenommen hatte und die jetzt auf dem Kaminsims stand. Die Uhr sah genauso alt aus wie Otschi. Sie musste schon vor langer Zeit stehen geblieben sein.

»Ich kann das durchaus«, sagte die Hexe. »Aber ich brauche dazu ein wenig Hilfe.«

Die Töpfe auf dem Kaminsims rappelten.

»Pah!«, höhnte Anneschka. »Die Uhr wird dir nicht helfen. Die geht nicht. Sie zeigt ja nicht mal mehr die Zeit an.«

»Welche Zeit?«, sagte die Hexe. »Zeit und Bewegung, Bewegung und Zeit. Je älter ich werde, desto schwieriger wird es, beides voneinander zu unterscheiden.« Sie lächelte zahnlos, und Anneschka hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen. Zum Teufel mit der Hexe und ihren Rätseln.

»Rede Klartext«, verlangte Anneschka.

»Diese Uhr geht nach den Sternen«, sagte Otschi.

Ihre Worte ließen eine Erinnerung wach werden.

Anneschka stand auf.

Drakomor hatte ihr von einer derartigen Uhr erzählt. Er hatte gesagt, Andel hätte sie hergestellt und sie könne die Sterne deuten. Hatte er etwa diese Uhr gemeint? Hatte Andel sie deshalb vor dem Feuer gerettet?

Anneschka betrachtete die Uhr aus der Nähe. Sie hatte fünf Zeiger, aber keiner bewegte sich. Vor dem Zifferblatt hingen verstreut ein paar Edelsteine.

»Mit einem so machtvollen Werkzeug könnte ich tief in die Zukunft hineinsehen«, fuhr Otschi fort. Sie sprach lauter, um die klappernden Töpfe zu übertönen. Jetzt machten alle Lärm, die Töpfe in den Regalen, die Töpfe in den Ecken und die Töpfe, die man nicht sehen konnte.

»Ich bin sicher, dass du durchaus in der Lage bist, das richtige Königreich zu finden, ganz ohne meine Hilfe«, sagte die Hexe. »Schließlich ist das deine Bestimmung. Die einzige Frage ist, wie lange willst du warten?«

Anneschka warf der Hexe einen giftigen Blick zu. Sie hatte nicht die Absicht, so alt wie Otschi zu sein, wenn sie ihren Thron bestieg. »Sag es mir«, befahl sie. »Jetzt sofort.«

Die Töpfe klapperten mit aller Kraft. Otschis Huhn hüpfte aus der Schublade und versteckte sich unter dem Schreibtisch.

»Ich bitte nur um eine kleine Sicherheit …« Das klang beiläufig, aber Otschis Blick war eindringlich. »Ich bitte nur um deine Seele.«

Jetzt bebte der ganze Raum mit der Kraft von siebenhundert gefangenen Seelen. Anneschka blickte sich um. Konnte es sein, dass die Töpfe sie warnten?

»Kein Grund zu erschrecken«, sagte die Hexe. »Vor deinem Tod nehme ich dir nichts weg.«

Aber wenn die Seelen in den Töpfen nun neidisch waren? Wenn sie nicht wollten, dass Anneschka ihr Ziel erreichte? Ihre Mutter war immer neidisch auf sie gewesen. Sie hatte sich stets gewünscht, das Schicksal hätte sie selbst zur Königin erkoren.

Anneschka drehte sich zur Hexe um. »Abgemacht!«, rief sie.

Die Töpfe schepperten, als wollten sie die Wände zum Einsturz bringen. Eine Laterne fiel auf den Boden und zerschellte. Otschis Huhn gackerte.

»Anneschka Mazanar, ich verspreche dir, dass ich die Sterne für dich deute«, sagte die Hexe. Sie drückte sich ein Messer gegen den Daumen, und es ritzte ihre Haut auf, als wäre sie nasses Papier. Dann reichte sie Anneschka das Messer.

»Ich verspreche dir, dass du an meinem Todestag meine Seele bekommst«, sagte Anneschka. Sie schnitt sich ebenfalls in den Daumen und drückte ihn gegen Otschis Daumen. Das Blut der beiden vermischte sich. Die Töpfe rührten sich nicht mehr.

Alles in der Hütte war still.

Alles außer der Uhr, die zu ticken begann.

Anfangs bewegten die Zeiger sich langsam. Dann schneller. Dann noch schneller, bis sie im Kreis herumrasten. Tage vergingen in einem Moment. Das Törchen in der Uhr flog rascher auf und zu, als ein Falter mit den Flügeln schlägt.

Dann wurde alles langsamer. Die juwelenbesetzten Sterne nahmen ihre Positionen ein. Die Uhr tickte im Sekundentakt. Anneschka legte sich die Hände an die Wangen. Sie fühlte sich nicht anders als sonst. »Ist das alles?«, flüsterte sie.

Das Törchen in der Uhr öffnete sich, und eine hölzerne Krone glitt heraus. Sie war so winzig und so perfekt … Anneschka hätte sie gern berührt. Aber die Krone drehte sich im Kreis, als würde sie tanzen, und zog sich in die Uhr zurück.

»Was war das?«, fragte Anneschka.

»Das war unser erster Hinweis«, sagte die Hexe und humpelte zu ihrem Schreibtisch hinüber.

»Hinweis? Um Hinweise habe ich nicht gebeten. Ich habe eine Weissagung verlangt!«

Otschi nahm eine Schreibfeder zur Hand. »Es ist der erste Teil deiner Weissagung. Keine Sorge, ich finde heraus, was er bedeutet … Die Sternenuhr lässt sich nicht hetzen.«

Kapitel 5

Als Imogen und Marie endlich in Mrs Haberdashs Teestube durften, war schon fast Halloween. Mama schien immer noch zu glauben, dass die Mädchen das Haus nur mit einem bewaffneten Leibwächter verlassen konnten, daher fuhr »die ganze Familie« mit.

Imogen, Marie, Mama und Oma warteten bereits, als es vor dem Haus hupte. »Meine Damen«, rief Mark, »Ihr Wagen wartet!« Mum fand Marks Wagen sportlich. Imogen fand, dass er wie eine platt getretene Zitrone aussah.

Imogen und Marie rutschten schnell auf den Rücksitz und klemmten Oma zwischen sich ein. »Rate mal, was wir gemacht haben!«, sagte Mama, als sie sich auf den Beifahrersitz sinken ließ.

»Gehirn-Wackelpeter!«, rief Marie.

»Da kriege ich ja Angst«, sagte Mark. Er sah Imogen im Rückspiegel in die Augen. »Ich hoffe, ihr da hinten habt keine klebrigen Finger. Die Sitze sind aus echtem Leder.« Dann ließ er den Motor an.

Imogen lehnte die Stirn an die Fensterscheibe und rief sich Szenen aus dem Sommer ins Gedächtnis. Der Schattenfalter mit seinen silbergrauen Flügeln fiel ihr ein. Sie erinnerte sich an die Burg und an die Höhlen der Skret und an –

»Wie läuft’s denn so in der Schule, Imogen?«, fragte Mark. »Ich höre, du interessierst dich für Naturwissenschaften?«

Imogen verdrehte die Augen. »Nicht für alle«, sagte sie. »Bloß für das Weltall.«

»Das Weltall …« Mark nickte. »Das Thema hat mir früher auch gefallen.«

Er versucht, Kontakt zu mir aufzubauen, dachte Imogen, aber gerade hat er die Abzweigung zur Teestube verpasst.

»Das ist der falsche Weg«, rief Oma.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Mark. »Ich vermeide bloß die Landstraßen. Wenn man ein schönes Auto hat, muss man darauf achtgeben.« Er lächelte Mama kurz zu. »Genauso wie auf die Mitfahrerinnen.«

Imogen tat, als müsse sie kotzen. Marie zog die Nase kraus. Oma versuchte, den beiden Mädchen Benehmt-euch-Blicke zuzuwerfen, aber auch sie sah leicht angewidert aus.

Als sie in den Parkplatz der Teestube einbogen, drehte Mama sich nach hinten um. »Also, ihr Mädchen, Mrs Haberdash hat eine schwere Zeit hinter sich. Deswegen wollen wir keine schwierigen Themen ansprechen. Bitte redet nicht über die Füchse in ihrem Garten.«

»Und kein Wort über euer Wolkenkuckucksheim«, fügte Mark hinzu. »Das würde sie nur durcheinanderbringen.«

Imogen betrachtete wütend Marks Hinterkopf. Wolkenkuckucksheim war also sein Name für die Welt auf der anderen Seite der Tür. Anscheinend wollte er unbedingt beweisen, dass die Schwestern das alles nur erfunden hatten.

Sie kletterten aus dem Auto und gingen über den knirschenden Kies. An einer Pforte in der Ecke des Parkplatzes blieb Imogen kurz stehen. Das war der Eingang zum Haberdash-Park. Hier hatte der Schattenfalter sie im vergangenen Sommer hingeführt. Hier hatten ihre Abenteuer begonnen …

Aber jemand hatte das Schloss an der Pforte repariert. Jetzt konnten Unbefugte nicht mehr hindurch.

»Komm, Imogen«, sagte Mama. »Zur Teestube geht’s hier entlang.« Widerstrebend folgte Imogen den anderen.

Wie immer hatte Mrs Haberdash sich angezogen, als wäre sie mit der Queen zum Tee verabredet. Sie trug Diamanten in den Ohren und Rüschen um den Hals.

Als sie sah, dass Gäste kamen, steuerte sie ihr Elektromobil zur Tür.

»Agnes!«, rief Oma und eilte auf ihre alte Freundin zu. »Es tut mir so leid, dass wir dich nicht eher besuchen konnten.«

Mrs Haberdash sah aus, als wolle sie antworten, aber Oma war schneller. »Wir hatten wahnsinnig viel zu tun – mit den polizeilichen Ermittlungen und dem Schulbeginn der Kinder und den Füchsen – habe ich Füchse gesagt? Ich meinte Eichhörnchen!«

Imogen beschloss, die Erwachsenen sich selbst zu überlassen. Sie ging zu Mrs Haberdashs Hunden hinüber, die wie drei flauschige Kissen auf einem Korbsofa faulenzten. Marie folgte ihr.

»Guck mal, was ich habe«, sagte Imogen, als sie außer Hörweite waren. Sie hielt ihren Rucksack auf, und ihre Schwester lugte hinein.

»Mamas Smartphone!« Marie japste nach Luft. »Weiß sie, dass du es hast?«

Der Hund, der ihnen am nächsten lag, hob den Kopf.

»Natürlich nicht. Sprich leise. Ich will es Mrs Haberdash leihen.«

»Was? Warum denn das?« Marie war verdutzt. »Mama bringt dich um!«

»Nein, nein. Sie wird einfach glauben, sie hätte es hier vergessen. Sie legt ja dauernd Sachen irgendwo hin und weiß dann nicht mehr, wo. Außerdem, wenn ich selbst ein Smartphone haben dürfte, müsste ich mir nicht das von Mama ausborgen.«

Marie holte ihr Zeichenheft aus dem Rucksack. »Was soll Mrs Haberdash denn mit einem Smartphone anfangen?«

»Ein Foto machen.«

»Wovon?«

»Von dem Monster natürlich«, flüsterte Imogen.

»Von welchem Monster?«

»Mrs Haberdash sieht hier doch immer wieder ein Monster.«

Marie presste skeptisch die Lippen zusammen. »Ich weiß nicht, Imogen. Oma hat gesagt, das ist bloß ein Fuchs, und Mum sagt, wir sollen nicht darüber sprechen.«

»Und wenn Oma da falschliegt? Wenn die Erwachsenen sich alle irren? Sie haben auch gesagt, in Bäumen gäbe es keine Türen. Sie sagen, Miro ist bloß ein Fantasiefreund. Und jetzt sagen sie, Mrs Haberdash bildet sich das Monster nur ein. Aber guck sie doch mal an! Findest du, dass sie aussieht, als würde sie spinnen?«

Mrs Haberdash hörte gerade Oma zu. Sie sah adrett und gelassen aus. Oma beschrieb etwas Großes, sie gestikulierte mit den Armen und schwenkte ihren Gehstock gefährlich nah an den Kuchen und Torten.

»Und noch was«, fuhr Imogen fort, »wir sind durch den Haberdash-Park in eine andere Welt gekommen. Und jetzt sieht Mrs Haberdash genau da etwas Ungewöhnliches. Findest du nicht, dass das ein komischer Zufall ist?«

»Was flüstert ihr beiden denn da?«, fragte Mama. Sie trug ein Tablett mit Teetassen und Kuchen.

»Nichts«, sagten die Mädchen wie aus einem Mund. Imogen zog ihren Rucksack zu.

»Nichts?« Mama lachte. »Warum fällt es mir schwer, das zu glauben?«

Als sie ihren Kuchen verputzt hatten und die anderen mit Mrs Haberdashs Hunden schmusten, ging Imogen zu der alten Dame hinüber. Sie schob Mamas Smartphone über die Theke, berichtete flüsternd von ihrem Plan und bat Mrs Haberdash, sie nicht zu verraten.

Mrs Haberdash tippte sich an die Nase. »Keine Sorge, Imogen«, sagte sie leise. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher … Ich weiß, wie man diese Kameratelefone benutzt. Man muss einfach draufhalten und drauftippen, draufhalten und drauftippen.«

»Glauben Sie, dass Sie das Monster erwischen können?«, fragte Imogen.

»Ich sehe mal, was sich machen lässt«, sagte Mrs Haberdash, während sie das Smartphone in eine Schublade gleiten ließ. »Es ist wirklich nett von dir, dass du mir glaubst. Die da hinten denken alle, ich würde langsam verrückt.«

Die alte Dame nickte zu Imogens Familie am anderen Ende der Teestube hinüber. Oma fütterte gerade die Hunde mit Kuchen, und Mark versuchte, sie davon abzuhalten. Der kleinste Hund knurrte Mark an.

»Die glauben doch niemandem«, murmelte Imogen.

Kapitel 6

Am nächsten Tag, als sie wieder zu Hause waren, klingelte das Festnetztelefon. Mama nahm ab, und Imogen verging fast vor Aufregung. Das musste Mrs Haberdash sein.

Sie hörte, wie am anderen Ende eine Frau sprach, und im Hintergrund kläfften Hunde.

»Sie haben mein Handy gefunden?«, rief Mama in den Hörer. »Ach, das ist eine Erleichterung! Es muss mir aus der Jeans gerutscht sein … ja … ja, danke, Mrs Haberdash. Ich komme sofort.«

Mama legte auf.

»Darf ich mitfahren?«, fragte Imogen. Sie konnte es nicht erwarten, Mamas Gesicht zu sehen, wenn sie mit DER WAHRHEIT konfrontiert wurde.

»Na klar«, sagte Mama. »Oma kann bei Marie bleiben.« Sie holte ihre Jacke, und Imogen folgte ihr hüpfend aus dem Haus und zum Auto.

»Ich hab’s erwischt!«, rief Mrs Haberdash, kaum dass sie die Teestube betreten hatten. Imogen hatte die alte Dame noch nie so lebhaft gesehen.

»Was haben Sie erwischt?«, fragte Mama.

Oh, oh, dachte Imogen. Jetzt zieht sie mich mit rein. Gleich sagt sie Mama, dass ich ihr das Smartphone geliehen habe.

»Ich hab das Monster erwischt«, sagte Mrs Haberdash.

Mum griff nach Imogen und zog sie an sich, als könnte ein tollwütiger Fuchs hinter dem Korbsofa lauern. »Wo ist es?«, stieß sie hervor.

Mrs Haberdash fing an zu lachen. Sie lachte so sehr, dass sich mehrere lange Locken aus ihrer Frisur lösten. Ja, sie schüttelte sich richtig vor Lachen, und Imogen machte sich schon Sorgen, dass die alte Dame aus ihrem Elektromobil herausfallen könnte.

»Es ist nicht hier drinnen«, sagte Mrs Haberdash, als sie sich wieder gefasst hatte. »Ich habe das Monster mit der Kamera erwischt.« Sie zog eine Schublade auf und holte ein mit einem Taschentuch umwickeltes Päckchen heraus. »Ich hoffe, du hattest nichts dagegen, Catherine. Ich habe dein Mobiltelefon benutzt. Es lag ja hier auf der Theke.«

Imogen beobachtete Mamas Gesicht, als Mrs Haberdash das Taschentuch auffaltete. Mamas Handy kam zum Vorschein, und sie blinzelte auf das Display hinunter. »Wie sieht es aus?«, fragte Imogen. »Wie ein Fuchs?«

»Keine Ahnung«, sagte Mama. »Das Foto ist sehr dunkel.«

Mrs Haberdash rollte näher heran. »Wie meinst du das, Catherine?«, rief sie. »Das ist ein Monster! Es ist eindeutig ein Monster!«

Mama zoomte das Bild heran. »Das könnte alles Mögliche sein, Mrs Haberdash.«

Imogen nahm das Handy und guckte sich das Foto an. Es war verschwommen. Nur die Augen waren deutlich zu sehen. Zwei kreisrunde Kugeln, die der Blitz hatte aufglühen lassen. Die Umrisse waren unscharf, aber Imogen glaubte, etwas anderes zu erkennen … da, in der Ecke des Displays. Es war die Spitze einer langen, gekrümmten Kralle.

Eine solche Kralle hatte sie schon mal gesehen …

»Sind Sie sicher, dass das nicht eine Nahaufnahme von einem Frosch ist?«, fragte Mama.

Mrs Haberdash machte ein finsteres Gesicht. »Ich weiß doch, wie ein Frosch aussieht, Catherine.«

»Oder vielleicht waren es Kinder, die sich zu Halloween verkleidet haben? Die Kostüme sind heutzutage ja sehr realistisch.«

»Warum sollten Kinder sich hinter meinen Mülltonnen verstecken?« Mrs Haberdash wirkte tief betrübt, und plötzlich hatte Imogen Mitleid mit ihr. Sie wusste, wie es war, wenn niemand einem glaubte.

Erwachsene glauben Kindern nicht. Und alten Damen glauben sie auch nicht. Vielleicht kann man nur in mittleren Jahren Einfluss auf die Vorstellungen und die Denkweise anderer Menschen nehmen.

»Teenager kommen auf seltsame Ideen«, sagte Mama, nahm Imogen das Handy weg und steckte es in ihre Handtasche. »Mrs Haberdash, ich bin sicher, dass es Ihnen wieder besser geht, wenn Halloween vorbei ist. Morgen schicke ich Mark vorbei, damit er nach Ihnen sieht.«

Auf der Fahrt nach Hause bat Imogen ihre Mutter um das Handy und betrachtete das Foto noch einmal. »Das Monster hat Klauen«, sagte sie. »Für einen Fuchs hat es sehr große Klauen.«

»Was soll ich denn machen, Imogen?«, erwiderte Mama entnervt. »Die Armee rufen? Die Polizei kriegt jetzt zu Halloween bestimmt dauernd Anrufe wegen aller möglichen Streiche. Versuche einfach, nicht mehr daran zu denken. Es ist nicht gut für dich, wenn du über Dinge nachgrübelst, die nicht real sind.«

Imogen machte schmale Augen. Die Armee … die Polizei … beides wollte sie auf keinen Fall. Die würden das Monster einsperren oder sogar einschläfern. So machten die Leute es mit allen Wesen, vor denen sie Angst hatten.

»Lösch das Foto«, wies Mama sie an.

Widerstrebend gehorchte Imogen. »Okay«, sagte sie. »Ich denke nicht mehr daran.«

Aber sie überlegte fieberhaft. Sie musste eine andere Möglichkeit finden, Mama davon zu überzeugen, dass es die Tür im Baum wirklich gab. Doch wie konnte sie das schaffen, ohne das Monster zu gefährden?

Und die wichtigste Frage: Was machte ein Skret im Haberdash-Park?

Kapitel 7

Der Herbst verging, und mit ihm endeten auch alle Gespräche über Monster. Imogen war so sehr damit beschäftigt, sich auf ihrer neuen Schule einzugewöhnen, dass sie keine neuen Pläne schmieden konnte. Das Leben war mit Schularbeiten und der Jagd nach Teampunkten ausgefüllt.

Oft war es einfacher, so zu tun, als gäbe es die Tür im Baum gar nicht. Wenn andere Kinder Imogen nach ihrem mysteriösen Verschwinden fragten, lachte sie, als wäre das ein Scherz gewesen – ein lustiger Streich, den sie den Erwachsenen gespielt hatte.

Ich werde schon noch beweisen, dass Jaroslaw eine echte Stadt ist, ich warte bloß auf den richtigen Moment, sagte sie sich im Stillen. Doch der richtige Moment schien nicht zu kommen. Es gelang ihr immer besser, so zu tun, als glaube sie nicht an Monster. Manchmal verstellte sie sich dabei so sehr, dass ihre Erinnerungen undeutlich wurden.

Und so kroch die Zeit voran, Minute für Minute, Stunde für Stunde, bis Weihnachten kam. Imogen und Marie hatten Schulferien. Imogen freute sich auf Geschenke und Würstchen im Schlafrock. Allerdings sollte sie in diesem Jahr nichts davon bekommen.

Die Zeit hatte das Schneckentempo nämlich satt. Sie war bereit loszugaloppieren. Und die Tage, in denen Imogen so getan hatte, als wäre unsere Welt die einzige, die es gibt, waren gezählt.

Am ersten Morgen der Weihnachtsferien setzte Mama Imogen und Marie ins Auto. Sie fuhren aus der Stadt hinaus in Richtung Gut Haberdash, aber am Wegweiser zur Teestube bogen sie nicht ab.

»Wollen wir denn nicht Mrs Haberdash besuchen?«, fragte Marie.

»Überraschung!«, rief Mama. »Wir fahren in ein schickes Hotel. Es liegt an der gleichen Straße wie die Teestube, nur ein Stück weiter. Wir haben unsere Reisetaschen dabei, ich habe alles eingepackt.«

Imogens Blick wanderte von Mama zu Marie. Sie hatte noch nie in einem Hotel übernachtet. Aber sie hatte welche im Fernsehen gesehen, daher wusste sie, was sie erwartete. »Aber ich dachte, Hotels sind für Reisen«, sagte sie, »und wir sind doch gar nicht weit von zu Hause weg.«

»Es ist ein besonderes Weihnachtsgeschenk von Mark«, sagte Mama, als erkläre das alles. »Vergesst nicht, euch bei ihm zu bedanken.«

Mama parkte vor einem Gebäude mit gläserner Front. Auf dem Schild am Eingang stand:

Willkommen im Seerosenblatt

Spa – Restaurant – Kongresszentrum

Das Bild neben den Worten zeigte einen Frosch mit einem Handtuch um den Kopf und langen, manikürten Fingernägeln.

»Warum übernachten wir hier?«, fragte Imogen. »Was wollen wir denn hier machen?«

Mama hob die Taschen aus dem Kofferraum. »Entspannen!«, sagte sie mit einem halb verrückten Lächeln. »Wir sind hergekommen, um uns zu entspannen.«

»Dürfen wir auch malen?«, fragte Marie.

»Klar«, sagte Mama. »Und der Haberdash-Park ist ganz in der Nähe. Aber – Mark soll uns erklären, was der Plan ist.«

Imogen wollte »den Plan« sofort wissen, aber Mama marschierte bereits zum Hotel. Die Mädchen folgten. »Es ist ein sehr modernes Haus«, flüsterte Mama, als die automatischen Türen sich zischend auseinanderschoben.

Im Foyer stand ein gigantischer Weihnachtsbaum. Während Mama mit der Empfangsdame sprach, inspizierte Imogen den Baum. Er war künstlich. Auch die Geschenke darunter waren nicht echt.

»Kinder dürfen nach sechs nicht mehr ins Spa«, sagte die Empfangsdame und händigte Mama Schlüssel für ihre Zimmer aus.

Marie legte einen Schalter um, und die Lichter am Baum fingen an zu blinken. »Marie!«, zischte Mama, ohne sich umzudrehen. Wie konnte Mama das sehen, obwohl sie in die andere Richtung guckte? In letzter Zeit schien sie ihre Mädchen immerzu im Auge zu haben.

Ein Gepäckträger kam und nahm ihr Gepäck, während Mama ihr Handy checkte. »Mark hat uns einen Tisch reserviert«, sagte sie. »Was habt ihr für ein Glück. Nicht viele Kinder dürfen im Seerosenblatt mittagessen.«

Sie folgten dem Gepäckträger zu ihren Zimmern, und nachdem die Mädchen sich die Hände gewaschen hatten, gingen sie ins Restaurant. Imogen sah auf den ersten Blick, dass ihre Mutter recht gehabt hatte. Alle anderen Gäste waren Erwachsene. Sie wirkten nicht gerade so, als würden sie die Mahlzeit genießen. Eine Frau in einem Sackkleid starrte den Kellner an. Ihr Mann starrte zur Bar hinüber. Ein älteres Paar stocherte schweigend im Essen herum, als säßen die beiden in verschiedenen Zimmern – oder vielleicht in verschiedenen Universen.

»Cathy!«, rief Mark von einem Tisch auf der anderen Seite des Saals. »Hier drüben! Ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber ich habe schon bestellt.« Er wandte sich an die Mädchen. »Hallo, meine jungen Damen! Hübsch seht ihr aus.«

Imogen zog eine Grimasse und setzte sich.

Dann fing Mark an, von seinem Job zu reden. Mama griff nach der Weinflasche. Imogen guckte aus dem Fenster. Draußen pustete ein Mann mit einem Laubbläser vertrocknete Blätter vor sich her. Imogen wünschte, sie wäre auch draußen im Freien. Selbst mit vertrockneten Blättern zu spielen machte mehr Spaß als das hier.

»Wir müssen innovativer werden«, fuhr Mark fort. »Jetzt heißt es digitalisieren oder krepieren. Genau das habe ich dem Vorstand gesagt.«

Ein Kellner erschien. Er trug vier Teller mit buntem Gemüse, das in perfekte kleine Vierecke geschnitten war.

»Hey, Imogen«, sagte Mark, als der Kellner die Teller vor sie hinstellte. »Wie läuft’s bei dir? Hast du irgendwelche neuen wissenschaftlichen Fakten gelernt?«

»Ähm, ja.« Imogen beäugte ihr gewürfeltes Gemüse.

Mark verschob eine Vase, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Lust, uns davon zu erzählen?«

»Ich habe gelernt, wie Sterne sterben«, sagte Imogen. »Die richtig großen Sterne explodieren, und es bleibt nichts weiter übrig als ein schwarzes Loch, und das schwarze Loch verschluckt alles. Sogar Planeten. Sogar Licht.«

»Erstaunlich«, sagte Mark, aber es klang gar nicht erstaunt.

»Wie kann ein Loch Licht verschlucken?«, fragte Marie.

»Niemand weiß, was in einem schwarzen Loch drin ist«, sagte Imogen. »Vielleicht einfach nur Chaos. Es könnte ein Tor in eine andere Welt sein.« Sie sah Mark vielsagend an.

Er reagierte, indem er die Stimme senkte. »Wie läuft es sonst so? Du weißt schon … mit der Therapie?«

»Frau Dr. Saeed hat gesagt, das bleibt alles zwischen ihr und mir«, antwortete Imogen.

»Mit uns kannst du auch darüber sprechen«, sagte Mama. »Wir haben immer ein offenes Ohr.«

Um Zeit zu gewinnen, schaufelte Imogen Gemüse in sich hinein. Die Therapie machte sie nur Mama zuliebe. Sie selbst brauchte keine. Wofür denn? Sie kaute das Gemüse langsam und gründlich.

»Die läuft gut«, sagte sie. »Mir geht’s gut.«

»Und du?«, fragte Mark jetzt Marie. »Was erzählst du der Therapeutin?«

Marie sah Mama an, und Mama lächelte ermunternd. »Ich erzähle ihr, dass sie vor den Skret keine Angst haben muss«, sagte Marie. »Sie sind nicht so böse, wie sie aussehen.«

»Okay«, seufzte Mark. »Wir klammern uns also immer noch an die Geschichte vom Wolkenkuckucksheim.« Er schnippte mit den Fingern, und der Kellner brachte noch mehr Wein.

Wolkenkuckucksheim. Etwas regte sich in Imogen. Sie hatte vergessen, dass Mark dieses Wort verwendete. »Den Köder schluck ich nicht«, murmelte sie vor sich hin, während sie eine Reihe Gemüsewürfel auf die Gabel spießte.

Kapitel 8

»Wisst ihr«, sagte Mark, »dass der Haberdash-Park gleich hinter der Hecke dort liegt?« Er hob das Kinn zum Restaurantfenster. Das war kaum zu glauben. Der Garten um das Hotel herum sah so leer aus, so ordentlich.

»Frau Dr. Saeed hat vorgeschlagen, wir sollten euch noch einmal in den Park bringen«, fuhr Mark fort. »Sie glaubt, dadurch könnten die Erinnerungen an den vergangenen Sommer freigesetzt werden – die richtigen Erinnerungen, meine ich.«

Aber unsere Erinnerungen sind doch richtig, dachte Imogen.

»Wir hätten auch einfach für einen Tag herkommen können, aber ich habe gedacht, ein bisschen Runterfahren im Spa würde euch guttun. Und eurer Mutter auch. Und ist es hier nicht toll? Wir genießen alle Annehmlichkeiten des Landlebens, und das ganz ohne den Matsch.«

»Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte Mama. »Wir begleiten euch durch den Park, bei jedem Schritt. Und Frau Dr. Saeed wird auch dabei sein. Sie kommt morgen früh.«

Imogen wollte gern zurück in den Park – aber nicht so. Nicht wie in einer Art Experiment. Was glaubten die Erwachsenen denn, was passieren würde? Dass sie plötzlich gestehen würde, sie hätte gelogen? Sie hätte die Tür im Baum erfunden? Frau Dr. Saeed konnte sich ihre Ideen sonst wohin …

Der nächste Gang kam und unterbrach Imogen in ihren Gedanken. Auf ihrem Teller lag ein Stück graues Fleisch mit einer Soßenpfütze und einem Stapel Kartoffelscheiben.

»Ich wette, ihr habt noch nie ein Mittagessen mit drei Gängen bekommen«, sagte Mark.

»Bei Miro gab es abends sieben Gänge«, sagte Marie.

Imogen stupste den Kartoffelturm an, und er platschte in die Soße, sodass sie über die Tischdecke spritzte. Mama warf ihr einen bösen Blick zu. »Was ist das?«, fragte Imogen und stach mit der Gabel in das Fleisch.

»Kalb«, sagte Mutter. »Es wird dir schmecken.«

»Das soll ein Kalb sein?«, fragte Marie.

»Das ist Fleisch von einem Kalb«, sagte Mark. »Wunderbar zart. Und nicht gerade billig.«

Er schnitt ein Stück ab und steckte es in den Mund.

Imogen verschob die Vase wieder, damit sie ihn nicht kauen sah.

»Ich bin Vegetarierin«, rief Marie.

»Stimmt doch gar nicht«, sagte Mama. »Probier mal ein Stückchen.«

Imogen guckte wieder aus dem Fenster. Der Mann mit dem Laubbläser war verschwunden, dafür flatterte jetzt ein grauer Falter über das Gras. Sie sprang vom Stuhl auf. »Guckt mal!«, rief sie atemlos. Vor Aufregung stieß sie Mamas Weinglas um.

»Ach, Imogen!«, rief Mama.

»Ihr verpasst ihn!«, sagte Imogen. »Ihr verpasst den Falter!«

Die Erwachsenen kümmerten sich hektisch um den verschütteten Wein, aber irgendwie musste Imogen sie dazu bringen, einen Blick nach draußen zu werfen. Vielleicht war das jetzt ihre einzige Chance! Sie kletterte auf ihren Stuhl. »Da ist der Schattenfalter, da ist er!«, schrie sie.

Jetzt hoben alle die Köpfe: die Frau im Sackkleid, das ältere Paar, der Kellner an der Bar. Aber sie guckten nicht aus dem Fenster. Sie starrten Imogen an.

Der Falter ließ sich vom Wind hochtragen und dann wieder fallen. Er sah gar nicht mehr richtig wie ein Falter aus.

»Mademoiselle.« Der Kellner berührte Imogen am Arm.

»Imogen Clarke!«, schrie Mama. »Runter vom Stuhl!«

»Aber mein Falter.« Imogen ließ die Hand sinken. Der Falter sah jetzt fast wie ein trockenes Blatt aus. »Er war da, genau da …«

»Sie hat völlig die Beherrschung verloren«, brummte Mark mit ungläubigem Kopfschütteln.

Imogen stieg vom Stuhl herunter. Sie wusste, dass sie Ärger kriegen würde. Der Kellner deutete auf das graue Stück Fleisch, das jetzt in Wein schwamm. »Möchten Mademoiselle ein neues Kalbssteak?«

»Mademoiselle geht jetzt auf ihr Zimmer«, sagte Mama.

Mit verschränkten Armen und hoch erhobenem Kopf verließ Imogen das Restaurant.

Kapitel 9

Imogen blieb den ganzen Nachmittag im Hotelzimmer. Aus dem Fenster konnte sie den Haberdash-Park sehen. Hinter der gepflegten Hecke des Hotels ragten seltsame Baumgestalten auf. Unter der Hecke hindurch reckten sich Wildpflanzen in die Höhe. Der Haberdash-Park versuchte, sich auszudehnen.

Immer wieder streckte Mama den Kopf durch die Tür. Sie hatte jedes Mal einen Vorwand, aber Imogen wusste, was in Wirklichkeit los war. »Wie sollte mich denn hier jemand entführen?«, beschwerte sie sich. »Das ist doch wie ein Gefängnis.«

»Ruf mich einfach an, falls du mich brauchst«, sagte Mama. »Da drüben neben dem Bett steht das Telefon.«

»Ich weiß deine Nummer nicht«, sagte Imogen.

»Na schön«, seufzte Mama und hielt Imogen ihr Smartphone hin. »Du kannst mit meinem Handy Mark anrufen. Ich bestrafe dich nicht gern, Imogen, aber so geht es nicht weiter. Weißt du meine PIN

Imogen nickte und steckte das Handy in die Tasche.

Marie kam und setzte sich zu ihr. Sie malten schweigend. Imogen zeichnete den Schattenfalter, aber sie kriegte die Fühler nicht richtig hin. Marie malte von ihr ab, und irgendwie war ihre Kopie besser als das Original.

Marie zog wieder ab, um mit den Erwachsenen zu Abend zu essen. Imogen knüllte ihr eigenes Bild zusammen und warf es in den Papierkorb, aber danach fühlte sie sich auch nicht besser.

Als Mama später wiederkam, schlief Marie schon ganz fest, und Imogen stellte sich schlafend. Sie hörte, wie Mama und Mark sich an der Zimmertür unterhielten. »Vielleicht sollte ich Imogen wecken«, sagte Mama. »Sie hat bestimmt Hunger, so ganz ohne Abendessen.«

»Das könnte ihr mal ganz guttun«, sagte Mark. »Vielleicht überlegt sie sich dann, ob sie weiterhin lügen will.«

Imogen bemühte sich, ihn nicht böse anzugucken, denn damit hätte sie sich verraten. Im Schlaf kann man nicht böse gucken.

»Sie lügt nicht«, flüsterte Mama. »Frau Dr. Saeed sagt, die Mädchen glauben wirklich an ihre andere Welt. Es könnte sein, dass sie auf diese Weise versuchen, mit dem klarzukommen, was … was wirklich passiert ist.«

Eine Pause entstand. »Cathy, du weißt doch, dass die Polizei immer noch keinen Hinweis auf ein Verbrechen gefunden hat. Es ist gut möglich, dass die Mädchen einfach ausgerissen sind.«

»Aber warum hätten sie ausreißen sollen? Es gab doch nichts, wovor sie weglaufen mussten.« Mama klang ganz kleinlaut, und Imogen hätte sie gern in die Arme genommen.

»Schatz, darüber haben wir doch schon gesprochen«, sagte Mark. »Das hat nichts mit dir zu tun. Weglaufen, sich irgendwas ausdenken – so was machen Kinder, um ihre Grenzen auszutesten.«

»Meine Kinder nicht.«

»Okay«, sagte Mark. »Deine Kinder nicht. Wollen wir nach unten gehen und was trinken?«

Die Tür klickte ins Schloss, und Imogen blieb still liegen, während die Schritte verklangen. Sie hasste Mark. Sie hasste ihn mehr, als sie jemals irgendjemanden gehasst hatte.

Sie nahm den Hörer vom Hoteltelefon ab und rief die Rezeption an, genauso, wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. »Hier ist Zimmer 28«, sagte sie mit ihrer erwachsensten Stimme, aber leise, damit Marie nicht aufwachte. »Ich möchte etwas beim Zimmerservice bestellen.«

»Selbstverständlich«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Was hätten Sie denn gern?«

»Apple Crumble, Jelly Babies und einen Bananen-Milchshake.«

Die Frau zögerte, aber nur einen Moment. »Kein Problem«, sagte sie dann. »Möchten Sie gleich bezahlen, oder soll ich es aufs Zimmer schreiben?«

Imogen überlegte kurz. Mark würde alles bezahlen, schließlich war es seine Einladung. »Schreiben Sie es auf die Rechnung«, sagte sie.

Kapitel 10

In dieser Nacht hatte Imogen einen leichten Schlaf, aus dem sie in den frühen Morgenstunden durch Gepolter geweckt wurde. Sie sah sich im Hotelzimmer um. Am Fernsehgerät und an der Kaffeemaschine blinkten Lichter. Das Geräusch kam von draußen, daher schlüpfte sie aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen ans Fenster.

Wie ein schiefes Lächeln hing der Mond über der Hecke, die den Haberdash-Park vom Hotel trennte. An den Hotelbäumen glitzerte die Weihnachtsbeleuchtung, und auf die Terrasse waren Strahler gerichtet, aber der Haberdash-Park war dunkel.

Draußen hinter dem Restaurant bewegte sich etwas. Imogen drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe, um besser sehen zu können. Eine Recycling-Kiste war umgekippt. Es polterte wieder, und jetzt fiel auch eine Mülltonne um und verteilte ihren Inhalt auf der Terrasse.

Marie stellte sich zu ihrer Schwester ans Fenster. »Was ist denn da los?«, fragte sie.

»Jemand kippt die Mülltonnen um«, sagte Imogen.

Marie betrachtete die gepflegten Anlagen.

»Da ist er! Guck mal!« Imogen zeigte auf einen Schatten, der neben der umgekippten Mülltonne hockte. Mit Klauen, so lang wie Küchenmesser, riss er an den Müllbeuteln. Er hatte kein Fell, und seine Arme waren stark, man konnte sogar die kräftigen Muskeln erkennen.

»Das ist kein Fuchs«, flüsterte Marie.

Das Ungeheuer hatte ein Hühnchengerippe in den Klauen und zerrte an den Beinen, bis sie sich vom Körper lösten. Es drehte sich um und hob einen Knochen an den Mund. Imogen erkannte ihn sofort an den riesigen Hauern. »Das ist Zuby!«, rief sie. Sie schnappte sich ihren Pullover und zog ihn über.

»Was macht der denn hier?«, fragte Marie.

Imogen zog Jeans, Schuhe und Mantel an und steckte Mamas Handy in die Tasche. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich will ihn fragen.« Sie war schon halb aus der Tür.

»Warte auf mich«, rief Marie und griff auch nach Jeans und Mantel. »Ich komme mit!«

Die Schwestern schlichen den leeren Hotelflur entlang und die Treppe hinunter. Hinter dem Rezeptionstresen saß eine junge Frau, die den Mädchen den Rücken zuwandte. Imogen legte den Zeigefinger an die Lippen, um Marie zu ermahnen, still zu sein. Dann ließ sie sich auf alle viere nieder und krabbelte ganz dicht vor dem Tresen entlang. Marie tat es ihr nach. Die Frau konnte die beiden Mädchen nicht sehen, weil sie im Sichtschatten des Tresens krochen.

Am Ausgang des Hotels stoppte Imogen. Wenn der Sensor für die Automatiktüren sie jetzt erfasste, würde die Frau mit Sicherheit zu ihnen herübergucken. Dann würde sie Mama anrufen, und die Mädchen würden ernsthaft Ärger kriegen.

Imogen zog Mamas Handy aus der Tasche und suchte nach »Hotel Seerosenblatt«. Als die Webseite erschien, drückte sie auf Anrufen. Das Telefon an der Rezeption klingelte, und die Empfangsdame wirbelte auf ihrem Drehstuhl herum und ging dran. »Hallo, hier ist Eve vom Hotel Seerosenblatt. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Imogen nutzte die Gelegenheit und sprang auf die Füße. Die Automatiktüren öffneten sich, und die Mädchen rannten nach draußen.

»Hallo, ist da jemand?«, rief die Stimme der Empfangsdame aus Mamas Handy. Imogen legte auf. Sie grinste über das ganze Gesicht. Es war schon eine Weile her, dass etwas ihr so großen Spaß gemacht hatte.

Die Mädchen schlichen um das Hotel herum, bis sie zum Restaurant kamen. Alles war still.

»Wo ist er?«, flüsterte Marie.

Auf der Terrasse lagen in Stücke gerissene Plastikverpackungen und abgenagte Hühnchenknochen. Die Strahler und die blinkende Weihnachtsbeleuchtung gaben so viel Licht, dass die Mädchen alles sehen konnten.

»Zuby?« Imogen schaute hinter eine Mülltonne, die noch stand. »Zuby, bist du das?«

Im Blumenbeet raschelte etwas. Zuerst erschienen die Klauen, dann ein blassgrauer Körper und schließlich ein kahler Kopf.

»Kleine Menschen?«, sagte eine vertraute, kratzige Stimme.

Und mit staunendem Gesicht stand Zuby vor ihnen.

Kapitel 11

»Kleine Menschen!«, wiederholte der Skret mit seiner Raspelstimme. »Was macht ihr denn hier?«

»Was wir hier machen?«, sagte Imogen. »Wir wohnen hier.«

Zuby betrachtete das Hotel. »Ihr wohnt in diesem Palast?«

»Nein, nein. Nicht im Hotel. Aber wir wohnen in dieser Welt. Was machst du hier?«

Zuby kratzte sich den Kopf. An einer Klauenspitze klebte etwas, das verdächtig nach Mayo aussah. »Der Král hat herausgefunden, dass ich ohne sein Einverständnis Gefangene freigelassen habe und – also, normalerweise wird man für einen solchen Verrat zerschnitzelt und zerstückelt.«

»Wenn du Gefangene sagst … meinst du uns damit?«, fragte Marie.

Der Skret nickte.

»Ach, Zuby, das tut mir sehr leid!«, rief sie.

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