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Für immer ein Teil von mir

hier erhältlich:

182 Tage ohne sie! Seit dem Tod ihrer besten Freundin Ashlyn ist Cloudys Welt leer und einsam. Auch Kyle verliert sich in seiner unendlichen Trauer. Er wäre der Einzige, mit dem Cloudy über ihren Verlust sprechen könnte, doch zwischen ihnen ist etwas geschehen, über das sie für immer schweigen wollten. Dennoch begleitet Kyle sie, als Cloudy beschließt, die drei Menschen aufsuchen, die durch Ashlyns Organspende gerettet wurden. Ein Abschied, aber vielleicht auch ein Neuanfang?


  • Erscheinungstag: 09.01.2017
  • Aus der Serie: Harper Ya!
  • Bandnummer: 200019
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676212

Leseprobe

Michelle Andreani
Mindi Scott

Für immer ein Teil von mir

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Henriette Zeltner

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HarperCollins YA!®

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HarperCollins YA!® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by HarperCollins YA!

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Way back to You

Copyright © 2016 by Michelle Andreani and Mindi Scott

erschienen bei: Katherine Tegen Books, New York

Published by arrangement with

Katherine Tegen Books, an imprint of HarperCollins LLC.

Cover-/Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Krivosheev Vitaly, d-e-n-i-s / Shutterstock

ISBN eBook 978-3-95967-621-2

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Oregon

Liebe Empfänger,

man hat mir zwar nahegelegt, dass ich mir Zeit zum Trauern nehmen soll, bevor ich jeden von Euch kontaktiere, doch an Eurer Stelle wäre ich auch neugierig, etwas über die Sechzehnjährige zu erfahren, deren Organe Ihr bekommen habt. Und weil ich ihre Mutter war, kann ich es wirklich kaum erwarten, Euch von ihr zu erzählen.

Wenn es eines über Ashlyn zu sagen gibt, dann dass sie ein Mensch war, der sich um andere kümmerte. Das zeigte sich besonders in ihrer Tierliebe. Als kleines Mädchen striegelte sie die Pferde ihres Großvaters und versuchte, jeden Hund und jede Katze zu streicheln, die ihr über den Weg liefen. Sie sprach davon, Tierärztin, Zoologin oder Aktivistin für Tierrechte zu werden, wenn sie erst groß wäre. Das Schöne am Jungsein ist ja, dass man seine Meinung hundertmal ändern kann und immer noch das Leben mit all seinen Möglichkeiten vor sich hat. Wir werden nie erfahren, wofür sie sich entschieden hätte, sobald es so weit gewesen wäre. Aber nachdem sie in den letzten Jahren als Freiwillige bei verschiedenen Tierheimen hier in der Gegend geholfen hatte, erschien ihr die Vorstellung am aufregendsten, eines Tages ihre eigene gemeinnützige Tierschutzeinrichtung aufzumachen.

Ashlyn war sportlich und gehörte zum Cheerleader-Team ihrer Schule. Sie hatte immer sehr, sehr viel mit Trainings, Auftritten bei Spielen, landesweiten Wettbewerben und Cheer-Camps im Sommer zu tun. In ihrem Team spielt soziales Engagement auch eine wichtige Rolle, sodass sie zwischen Cheerleader-Verpflichtungen und ihren eigenen Aufgaben immer auf dem Sprung war, irgendjemand auf die eine oder andere Weise zu helfen.

Was kann ich Euch sonst noch erzählen? Außer mir hatte Ashlyn noch ihren Dad, ihren kleinen Bruder, ihre beste Freundin, ihren Freund und unzählige Freundinnen und Freunde sowie Verwandte. Sie war eine gute Schülerin. Aufgeschlossen, gesprächig, meinungsstark. Manche würden vielleicht sogar sagen, rechthaberisch. Sie mochte es am liebsten, wenn die Dinge nach ihrem Kopf gingen. (Doch ist das nicht bei den meisten von uns so?) Sie war auch sensibel und extrem loyal. Sie hat viel gelacht und mich oft zum Lachen gebracht. Sie war meine Erstgeborene, und ich war immer so stolz auf sie. Das bin ich nach wie vor.

Als Ashlyn letztes Jahr ihren Führerschein machte, entschied sie sich dafür, sich als Organspenderin registrieren zu lassen.

Es war ihr Wunsch, andere zu retten, falls sie ums Leben kommen sollte. Unsere Familie trauert tief, aber es ist uns ein Trost, dass unser Mädchen Euch in Eurer Not helfen konnte.

Wenn das für Euch in Ordnung wäre, würde ich Euch wahnsinnig gern kennenlernen und erfahren, wie es Euch mit dem Spenderorgan ergeht. Wie auch immer sollt Ihr jedoch bitte wissen, dass ich dankbar dafür bin, dass es Euch gibt. Ich wünsche Euch eine blitzschnelle Genesung und ein Leben voller Freude und Sinn.

Mit meinen allerbesten Wünschen

Paige (und auch Enrique und Tyler)

Cloudy

Es ist nicht so, dass ich nie an Ashlyn denke. Das tue ich.

Vor allem an Tagen wie heute.

So war das früher an Auftrittstagen: Ashlyn und ich trafen uns an meinem Spind und beklagten uns darüber, dass wir unsere Cheerleader-Uniformen im Unterricht tragen mussten. Dann klärten wir, wessen Haarschleife in den Farben Blau und Gelb der Bend Highschool frecher aussah, verdrückten ein paar Müsliriegel und gingen gemeinsam in die Turnhalle.

Und so läuft es heute: Ich sitze allein in der Sporthalle auf dem Boden und versuche, gelben Ballons Leben einzupusten. Wir benutzen sie später beim Staffellauf, weshalb ich sie, sobald ich fertig bin, in einen leeren Mülleimer stopfe. Der Rest der Schulmannschaft ist in der Halle verteilt – beim Aufhängen von Schildern, Drapieren von Kreppbändern und Gesichter-Anmalen.

Früher haben Ashlyn und ich immer geschminkt. Als dann die elfte Klasse begann – dieses Schuljahr also –, sagte ich Coach Voss, wie sehr es mich langweilen würde, auf die Hautporen von Leuten zu starren, während ich ihnen Bärenpfoten auf die Wangen malte, und dass meine Talente vielleicht woanders nützlich sein könnten. Zu diesen Talenten gehört anscheinend auch, Kohlendioxid aus meinem Mund in einen Ballon zu blasen, ohne davon in Ohnmacht zu fallen.

Von meinem Platz an der Seitenlinie aus konnte ich den Rest der Schule hereinmarschieren sehen. Die meisten Schüler haben sich gemäß dem Thema des Wettkampfs kostümiert: Schlagt die Blackhawks in die Vergangenheit! Das ist eine Aufforderung an unsere Basketball-Jungs, die Play-offs zu schaffen. Jeder Klasse wurde ein anderes Jahrzehnt zugeteilt – den Neunten die 1920er-Jahre, den Zehnten die 1950er, den Elftklässlern die 1960er und den Zwölften die heiß begehrten Achtziger.

Während die soundsovielte Madonna die Tribüne hochsteigt, marschieren Lita und Izzy zu mir rüber. Zoë geht zwischen ihnen. Als Teamchefin musste Zoë sich gar nicht verkleiden, aber sie hatte es dennoch gemacht. Und es war mal wieder typisch meine kleine Schwester, dass sie als Dorothy Parker auftaucht, obwohl wahrscheinlich kaum jemand hier die Schriftstellerin aus den Zwanzigern erkennen würde.

Sowie sie bei mir angekommen sind, pustet Lita sich den braunen Pony aus der Stirn. „Zoë meint, ich kann bei einem Auftritt nicht ‚Vollidiot‘ sagen.“

Zoë schnaubt und rückt ihren Hut zurecht – eine Cloche, wie sie ihn heute Morgen genannt hat, obwohl ich gar nicht danach gefragt hatte. „Es ist unfein“, erklärt sie, während sie auf mich runterschaut. „Es würde die ganze enthusiastische Stimmung verderben!“

Wahrscheinlich gibt es für so einen Fall eine Faustregel. Du sollest deine Schwester verteidigen, selbst wenn sie ein Eindringling ist.

Cheerleading war nie Zoës Ding. Immer nur meins. Aber nachdem unsere frühere Teamchefin weggezogen war, schnappte Zoë sich den Job, und zwar ohne mir vorher ein Wort zu sagen. Plötzlich ist sie ganz wild darauf, unsere Spendensammlungen und Busfahrten zu koordinieren, und sie überschreitet damit eine Grenze, von der ich vorher gar nicht wusste, dass sie überhaupt existiert. Und wenn sie eine Regel bricht, dann kann ich das natürlich auch.

„Die Lektion müssen wir im Cheer-Camp übersprungen haben“, erwidere ich schnippisch.

„Genau.“ Izzy lässt sich unter der Fahne mit der Aufschrift Lava Bear Country an der Wand auf den Boden sinken. „Gibt’s eine Liste von Sachen, die wir nicht sagen sollen?“

Ich verknote den letzten Ballon und drücke ihn an meine Brust. „Erektionsschwierigkeiten.“

Nachdenklich tippt sich Lita ans Kinn. „Feucht?“

„Vernaschen“, steuert Izzy bei. „Sekret.“

Ich schaue rasch zu Zoë, auf deren Gesicht sich ein Grinsen ausbreitet.

„Chlamydien!“, ruft sie, während die Schulband einen Song von Prince anstimmt. Die Lautstärke ihrer Stimme lässt mich zusammenzucken.

Doch das spielt keine Rolle mehr, weil „1999“ unser Stichwort ist.

Ich verspüre ein nervöses Flattern im Magen, als ich aufstehe und mich zu Lita, Izzy und den anderen Mädchen auf den Platz in der Mitte begebe. Dort herrscht eine solche Energie, dass meine Haut davon zu kribbeln beginnt. Unser letzter Auftritt war bei den Nationals, den nationalen Cheerleader-Meisterschaften, vor einer Woche und ich bin aufgeregt.

Zarter Lavendelduft steigt mir in die Nase. Ich wirble herum, um Ashlyn zu fragen, wo sie gesteckt hat, und …

Ich sehe ein Mädchen in einem Tellerrock, deren kastanienbrauner Pferdeschwanz wippt, während sie davongeht.

Es ist nicht Ashlyn.

„Was ist los?“ Zoë ist wieder mit ihrem Hut beschäftigt gewesen und hat es daher nicht mitbekommen. Doch ich muss so aussehen, wie ich mich fühle – blutleer, schwerelos, knochenlos –, denn ihre Augenbrauen sind fragend hochgezogen.

„Nichts“, antworte ich und bemühe mich, wie immer zu klingen. Ich streiche meinen weißen, gebügelten Uniformrock glatt, damit sie das Zittern meiner Hände nicht bemerkt. Dann ermahne ich mich zu atmen – das Atmen ist entscheidend.

Shit.

Was soll das?

Es ist jetzt sechs Monate her, dass meine beste Freundin gestorben ist, und nie war ich dermaßen durch den Wind. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Ich habe mich ganz gut zusammengerissen, und ich bin mir verdammt sicher, auch jetzt nicht die Nerven zu verlieren – nicht vor der ganzen Schule und ungefähr vier verschiedenen James Deans.

Die stickige Sporthallenluft hilft mir nicht gerade, meine geröteten Wangen zu kühlen. „Ich brauch einen Schluck Wasser. Bin gleich zurück.“

Bevor Zoë irgendwas erwidern kann, habe ich mich an einer Gruppe Hippies aus der Elften vorbeigedrängelt. Meine Turnschuhe quietschen auf dem Hallenboden, während ich auf die Mädchenumkleide zulaufe. Darauf konzentriere ich mich. Je lauter es quietscht, desto besser, denn desto schneller renne ich. Um mich herum nehme ich nur noch verschwommene Neonfarben, Pailletten und Kunsthaarperücken wahr.

„Cloudy!“

Als ich meinen Namen höre, halte ich an, obwohl ich schon so nah bei der Umkleide bin. Ich drehe mich um und sehe da Matty Ocie mit diesem typischen Zug um den Mund. Er schenkt mir ein für seine Verhältnisse kleines Lächeln. Die Wattzahl meines erwiderten Lächelns ist im Vergleich dazu nur ein schwaches Flackern.

Zwischen Matty und mir ist die Sache kompliziert. Er mag vielleicht mein Exfreund sein und mich auch schon mal nackt gesehen haben, doch wir können einander immer noch in die Augen schauen. Was auch gut ist, weil seine von einem hübschen M&M-Braun sind und sein Blick mich im Moment aufrechthält.

Mein Puls beruhigt sich so weit, dass ich auch den Rest von ihm zur Kenntnis nehmen kann. Sein schmal geschnittener dunkelblauer Anzug schillert im Lampenlicht, was mir vorher in Spanisch gar nicht aufgefallen war. „Wow.“

„Ich weiß“, meint er und sein Grinsen wird breiter.

„Wer sollst du sein?“

Er seufzt, als hätte er die Frage heute schon oft gehört und deutet auf seine Frisur. „Ich bin JFK! Man beachte den majestätischen Scheitel.“

Er dreht sich im Kreis, um sich von allen Seiten zu zeigen, und da merke ich, dass noch jemand hinter ihm ist. Ein Jahr Übung hat es mir zur zweiten Natur werden lassen, dass ich versuche Kyle zu ignorieren, doch jetzt hat es möglicherweise das erste Mal wirklich funktioniert.

Ein vertrautes Kribbeln durchläuft mich und verebbt schließlich. Ich lasse es nie lange genug dauern, um es zu genießen.

„Hi“, begrüße ich Kyle.

„Hey“, antwortet er.

„Tolle Arbeit, Leute.“ Matty klatscht in die Hände. „Das waren echte Wörter und ihr habt euch dabei beinah angesehen.“

Im Vergleich zu Matty ist Kyle in Jeans und Sweatshirt für das Turnier total underdressed. Er trägt noch nicht mal was in Blau oder Gelb.

„Hast du deine gute Stimmung im Spind gelassen?“, frage ich ihn, allerdings bleibt mir der blöde Scherz fast im Hals stecken. Es gab mal eine Zeit, da wäre das nicht so gewesen, aber das war, bevor Kyle anfing, Ashlyn zu daten. Bevor ich Matty datete – und mich wieder von ihm trennte. Kyle und ich sind wie so eine Vorher-Nachher-Studie. Und wenn man schon sagen kann, dass es zwischen Matty und mir kompliziert war, dann ist mein Verhältnis zu Kyle ungefähr so einfach wie die Kernspaltung.

„Ich muss den Trainer finden“, murmelt Kyle und schlurft davon.

Matty schaut ihm nach und seine Miene spiegelt so vieles wider, das nur ich verstehe. Monatelange Sorge und Furcht um seinen Cousin.

„Wie geht’s ihm?“, will ich von Matty wissen.

Kyle und ich sind zwar nicht befreundet, doch Ashlyn würde auch nicht wollen, dass aus ihrem Freund ein trauriger Epilog wird. Er zerbrach geradezu, als sie starb, aber es ist besser geworden. Das meint zumindest Matty, und er würde in dieser Sache nicht lügen.

„Wahrscheinlich ist er nur nervös“, erwidert Matty achselzuckend. „Slawson lässt ihn heute die Baseball-Prüfungen ansagen. Aber die Frage ist eher“ – und dabei fasst er mich mit einer Hand an der Schulter – „was hast du als Notfallhilfe für deine gute Stimmung? Du bist ja gerade ziemlich davongeprescht.“

Von allen Leuten hätte ich noch am ehesten Matty von meinem Ausrutscher mit Ashlyn erzählen können. Davon dass die Erinnerung mich fast umgehauen hätte und falls ich mir das jemals erlauben würde, ich vielleicht nicht mehr auf die Beine käme. Doch das war nur ein kleines Missgeschick. Es würde nicht mehr passieren. Und außerdem hatte er schon genug Sorgen.

„Mir geht’s gut“, erkläre ich ihm. Automatische Antwortfunktion: an. „Hole mir nur Stift und Papier, damit ich nicht vergesse, dass ich ‚Chlamydien‘ nicht sagen darf.“

Die Stimme von Sophie Paxton zittert bei der Hymne dermaßen, dass ich eigentlich eine Tablette gegen Reiseübelkeit bräuchte. Doch irgendwie kämpfen wir uns beide da durch. Dann stürmt das Basketballteam aufs Feld. Dabei zerreißt es ein Banner aus Papier, das sechs Cheerleader hochhalten. Bei einem Footballspiel haben wir das mal nur zwei machen lassen und hatten danach eine Grasfleckenkatastrophe bei allen Beteiligten.

Als die Jungs sich auf der riesigen Bärentatze versammeln, die auf das mittlere Spielfeld gemalt ist, steigen vier Cheerleader, darunter auch ich, die Tribünen hoch, um den Schreiwettbewerb der Jahrgangsstufen durchzuführen. Die anderen beteiligen sich vom Feld aus. Mir werden jedes Mal die Zehnten zugeteilt, weil die am wenigsten Begeisterung aufbringen und ich diesen „Bin zu cool dafür“-Mist am wenigsten toleriere. Kaum überraschend gewinnen die Seniors, also die Zwölften.

Danach stelle ich mich zum Team an die Freiwurflinie, während die allgemeinen Ankündigungen beginnen. Coach Voss steht am Ende der Schlange, und drei Leute vor ihr entdecke ich Matty – doch nirgends Kyle. Ich spüre meinen Herzschlag in den Ohren, während ich meinen Blick suchend über den Tribünenbereich der Elften schweifen lasse und danach über alle anderen, anschließend noch bei den Türen und über alle schattigen Winkel der Halle. Er ist nirgends. Aber das ist unmöglich. Er würde sich nicht vor so einer Aufgabe drücken. Abgesehen davon, dass Slawson ihm dann furchtbar einheizen würde. Doch Kyle würde auch sein Team niemals im Stich lassen.

An der Mittellinie drückt der Schülersprecher das Mikrofon Matty in die Hand. Seine ersten Worte sind die Termine der Baseball-Prüfungen.

„Unmöglich“, murmele ich. Kyle hat gekniffen.

Zoë quetscht sich neben mich, sodass ihr Arm meinen berührt. „Würdest du Matty jemals noch mal daten?“, flüstert sie total unbefangen. „Weil ich denke, wenn du wolltest, würde er noch mal mit dir zusammen sein.“

„Ich will aber nicht“, entgegne ich, obwohl es sie eigentlich nichts angeht. Sie mag sich ins Cheerleader-Team gedrängelt haben, das bedeutet nicht, dass gleich jeder andere Bereich meines Lebens Freiwild ist.

Matty rattert Einzelheiten runter, auf die ich nicht achte. Danach dreht er sich um und gibt das Mikro an das Mädchen hinter ihm weiter, bevor er gelassen zu seinem Platz zurückschlendert.

Zoë legt noch mal nach: „Weißt du, ich würde das ja schon sehen, wenn ihr nicht schon zweimal zusammen gewesen wärt. Aller guten Dinge sind drei, oder?“

„Kein drittes Mal. Kein gutes Ding.“ Ich spucke die Worte förmlich heraus.

Übrigens kann man das, was nach Ashlyns Tod zwischen Matty und mir war, nicht wirklich Dating nennen. Aber es gibt ein paar Einzelheiten, die ich nicht mit meiner kleinen Schwester teilen muss.

Ich höre wieder hin, als Coach Voss sich räuspert und das Geräusch von den Wänden widerhallt. Ihr Mund ist eine strenge Linie in einem ansonsten ziemlich faltenfreien Gesicht. Mit leicht gespreizten Beinen steht sie da und zieht die Aufmerksamkeit so zwingend auf sich wie beim Cheerleader-Training.

„Wie euch vielleicht bekannt ist“, sagt sie, „sind die Cheerleader der Schulmannschaft gerade erst von den Nationalen Meisterschaften zurück, wo sie den dritten Platz gemacht haben.“ Sie tritt einen Schritt zurück und wartet den Applaus ab, der endlich irgendwann auch einsetzt. – Verdammte Zehntklässler. „Es war kein leichter Kampf. Wir haben in der allerersten Woche dieses Schuljahrs einen strahlenden Stern unseres Teams verloren.“

Auf einen Schlag stehen alle in der Halle still, ich stehe still und bin froh, dass Kyle nicht da ist und das mitkriegt.

„Ashlyn Montiel war ein wichtiges Mitglied unseres Teams und wir vermissen ihr Engagement, ihren Optimismus jeden Tag. Aber“, hier wechselt ihr Ton von liebevoll zu stahlhart, „diese Mädchen haben gekämpft, gearbeitet und ihren Erfolg verdient. Und deshalb … ist es mir eine Ehre, zu verkünden, dass die Bend High Varsity Cheer in der landesweit erscheinenden Zeitschrift Cheer Insider porträtiert werden wird.“

Um mich herum explodieren Kreischbomben und ich muss kurzzeitig taub sein, weil ich mittendrin total verblüfft dastehe. Das kann nicht wahr sein – Cheer Insider kann sich nicht für unsere Existenz interessieren. Doch dann hüpft Zoë neben mir auf und ab, schüttelt mich an den Schultern und grinst dermaßen, dass ich merke, wie ich zurückgrinse. Ich glaube es. Und was auch immer sich das Team an Energie für den Rest des Tages aufgespart hatte, fällt wellenartig von uns ab. Außerhalb unseres ekstatischen Haufens scheint sonst niemand in der Halle zu begreifen, was sich da abspielt, aber diese Gleichgültigkeit berührt uns nicht. Das ist es. Es ist wahr. Und es ist verdammt noch mal unglaublich.

Voss ist noch nicht fertig. Immer noch lächelnd fügt sie hinzu. „Und aufgrund ihres unermüdlichen Engagements in diesem Jahr, hat man sich entschieden, unsere …“, unsere Blicke treffen sich und mir wird ganz schlecht, als sie eine Hand in meine Richtung ausstreckt, „Claudia Marlowe in den Mittelpunkt zu stellen.“

Da passiert es wieder. Ich stehe da, während meine Mannschaftskolleginnen sich um mich drängen, damit sie mir gratulieren und mich umarmen können. Und alles, was ich tun kann, ist mich daran zu erinnern, dass ich atme.

Es geht nur ums Atmen.

Kyle

In Filmen sieht das immer so leicht aus. Jemand durchlebt eine Krise, dann spaziert derjenige in eine beliebige Kirche, wo er Frieden findet, indem er Statuen anstarrt oder Trost aus den vagen und dennoch inspirierenden Worten eines Priesters, einer Nonne oder einfach eines Fremden schöpft. Oder, wenn diese beiden Varianten nicht eintreten, verlässt die Figur entmutigt die Kirche, nur um festzustellen, dass die Antwort, die er suchte, ihn schon draußen erwartet.

Ich werde mich freuen, wenn mir irgendwas davon heute passiert, aber große Hoffnungen mache ich mir nicht. In diesem Moment halte ich bei beliebiger Kirche Nummer vier, nachdem die beliebigen Kirchen eins bis drei allesamt verschlossen waren. Anders als bei vorigen steht hier ein Auto auf dem Parkplatz, was bedeuten kann, dass ich die Chance habe, reinzugehen.

Nachdem ich in eine Parkbucht nahe beim Eingang gebogen bin, schalte ich die Automatik meines Geländewagens auf Parken, stelle den Motor ab und steige aus. Das Pflaster des Platzes und das Kirchengebäude lassen jeden meiner Schritte widerhallen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, laufe ich die kurze Treppe hinauf. Oben ist der Eingang hinter Doppeltüren aus Glas zwar dunkel, doch im Schloss baumelt ein Schlüsselbund. Ich ziehe am Griff und die Tür schwingt nach außen auf. Ich recke eine Faust zum Himmel (Halleluja?) und eile hinein.

Hierher zu kommen, das war ein letzter Versuch, und es kotzt mich an, dass ich dermaßen verzweifelt bin. Die Gründe dafür sind, dass mir heute erstens einer der Assistenten des Baseballtrainers eine epische Standpauke zum Thema „dein dauerndes Fehlen reißt uns hier alle runter“ gehalten hat und dass das zweitens der erste Jahrestag mit meiner toten Freundin Ashlyn wäre.

Und beides zusammen hat mir anscheinend den Rest gegeben.

Sogar sehr den Rest gegeben, um ehrlich zu sein.

Ich gehe weiter in die Dunkelheit. Schließlich ziehe ich spontan am Griff einer der geschnitzten Holztüren vor mir. Sie führt in einen großen dämmrigen Raum mit hoher Decke. Darin stehen viele Reihen von gepolsterten Bänken vor einem hölzernen Podium und zwei Stockwerke hohen bunten Glasfenstern.

Ich bin drin, suche mir eine Bank in der Mitte des Raums aus und setze mich.

Warum ausgerechnet hier? Keine Ahnung. Es ist hier zu hundert Prozent leer, aber die Vorstellung ganz nach vorne zu laufen, käme mir genauso mies vor, als würde ich mir den letzten Chip mit Salsa nehmen, obwohl auch alle anderen total ausgehungert auf ihre Enchiladas warten. Ich käme mir vor, als würde ich probieren, mir die ganze Erleuchtung für mich allein zu krallen.

Weil ich das Kind einer „nicht christlichen, aber dennoch zutiefst spirituellen“ Mutter und eines Vaters, der sich als „Agnostiker mit Hoffnung“ bezeichnet, bin, ist das erst mein zweiter Besuch einer Kirche. (Der erste war vor fast sechs Monaten die Gedenkfeier für Ashlyn.) Wären meine Eltern anders, dann wäre vielleicht auch ich anders, doch ich glaube nicht. Ich finde einfach keinen Zugang zu irgendwelchen religiösen oder mystischen Sachen. Vorher hat es mich nie gestört, dass ich die Fähigkeit meiner Mutter, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, oder die meines Vaters, darauf zu hoffen, nicht geerbt habe. Seit Ashlyns Tod macht es mir viel aus.

In dieser Kirche spielt keine Orgelmusik, es gibt keine brennenden Kerzen oder Statuen. Die Heizung scheint auch nicht an zu sein. Die Inneneinrichtung ist auch schäbig, erbsengrüne fadenscheinige Polster und gelblich beiger Teppichboden.

Ich sitze absolut still, absolut schweigend da. Vorne raschelt etwas. Eine Kirchenmaus vielleicht? (Gibt’s die im wirklichen Leben oder nur in Kinderbüchern?) Wahrscheinlich ist es auch deshalb gut, dass ich mir einen Platz weiter hinten ausgesucht habe.

Aus der Tasche meines Kapuzenpullis hole ich mein Handy und die Ohrstöpsel, damit ich Geräusche von potenziellen Nagern nicht höre. Ich erwäge kurz, dieses Erlebnis noch authentischer zu gestalten, indem ich irgendeinen Sender mit Gospelmusik einstelle. Letztendlich bleibe ich doch lieber bei meiner üblichen Musik (die kein Emo ist, egal, was mein Cousin Matty behauptet). Ich drehe sie laut auf und warte auf Antworten, die meine Krise beenden, denn ich wäre mehr als bereit, wieder der „normale“ Kyle zu sein, den alle von mir erwarten.

Ich warte.

Ich starre geradeaus.

Ich konzentriere mich auf das helle Kreuz auf dem Altar aus dunklem Holz.

Ich verliere mich in den kaleidoskopischen Kreisen des bunten Glasfensters.

Ich schaue nach links, rechts, oben und unten.

Ich warte noch ein bisschen.

Als ich das letzte Mal in der Kirche war, gab der Pfarrer den Hunderten Menschen, die sich zu Ashlyns Gedenkfeier eingefunden hatten, „Zuspruch“. Später im Gottesdienst las Matty Erinnerungen von Freunden und Familienangehörigen vor, die er zusammengetragen hatte. Ich war überrascht, dass Claudia (Ashlyns beste Freundin, die meistens Cloudy genannt wird) nicht mit ihm nach vorne ging, und noch überraschter, weil keine der Anekdoten von ihr gewesen war.

In der Erinnerung der Cheerleader-Trainerin war nur von ihrem inspirierenden Einsatz, Perfektionismus und der positiven Einstellung die Rede, die Ashlyn ins Team gebracht hatte. Meine Tante Robin erzählte von der etwa achtjährigen Ashlyn, die bei ihr im Haus nebenan auftauchte, nachdem sie „weggelaufen“ war, und zwar nur mit einem Koffer voller Stofftiere. Ashlyns Mutter hatte Matty den Brief vorlesen lassen, den sie an die Empfänger von Ashlyns gespendeten Organen schicken würde. So viele fröhliche, nachdenkliche und alberne Geschichten. So viele, dass ich mich nicht an alle erinnern könnte, selbst wenn ich wollte.

Die Leute hatten leise gelacht, als Matty vorlas, was ich über Ashlyns Lachen geschrieben hatte und dass es mich anfangs total irritiert hatte. Jeder wusste, was ich meinte, denn niemand hätte jemals ein so seltsames Geräusch von einem so reizenden Mädchen erwartet.

Wenn sie richtig loslegte, klang sie manchmal wie ein Bauernhoftier, und ich hatte sie mal mit der Frage aufgezogen, ob sie in einem früheren Leben ein Esel gewesen war. (Nicht dass ich an Wiedergeburt und so glaubte, natürlich nicht. Obwohl mir die Vorstellung gefiel.) Heute bekomme ich Bauchschmerzen, sobald ich daran denke, wie gemein es von mir war, das zu sagen, aber Ashlyn störte es nicht im Geringsten. Scherzhaft stieß sie mich nur an und lachte ihr einzigartiges, liebenswertes und ansteckendes Lachen.

Dieses Lachen, das kein Mensch je wieder hören wird. Zumindest nicht live.

Ich unterbreche meine Musik. Und obwohl ich weiß, dass es ein Fehler ist, suche ich auf meinem Handy das letzte Video, das ich von ihr habe.

Es gab mal eine Zeit, da hätte es mich viel Zeit gekostet, etwas von vor einem Jahr zu finden. Doch weil es seit ihrem Tod keinen einzigen Moment mehr gab, den ich hätte festhalten wollen, finde ich es sofort und drücke auf „Play“. Ein verwackeltes Bild zeigt zuerst den dämmrigen Himmel und richtet sich dann auf zwei Mädchen am Parkplatz des Stadions, die die Arme umeinandergelegt haben. Ihre Wangen sind aneinander gedrückt und Ashlyns schwarz glänzender Pferdeschwanz wippt über beiden, sodass Cloudys rötlich blondes Haar kaum zu sehen ist.

An jenem Freitagabend hatten sie ihre Uniformen schon ausgezogen, nachdem sie beim ersten Footballspiel des Jahres als Cheerleader aufgetreten waren. Zu dritt warteten wir, dass Matty aus der Umkleide kam. Die Schule hatte in der Woche wieder angefangen und es war einer der seltenen Momente, bei denen Cloudy und ich uns zur selben Zeit am selben Ort aufhielten, ohne dass ich das Gefühl hatte, sie wünschte mich weg.

Aus den Ohrstöpseln höre ich meine Stimme im Hintergrund sagen: „Okay, fertig? Eins, zwei, drei.“

Die Sekunden verstreichen und das Lächeln der Mädchen auf meinem Display wird breiter, dann ein wenig schmaler und wieder breit. Ashlyns Augen strahlen ganz besonders grün. (Einmal hat sie gesagt, ihre Augen hätten die gleiche Farbe wie die 7Up-Dosen und Cloudys wären so blau wie eine Dose Pepsi.) Auf dem Video zieht Ashlyn jetzt die Brauen hoch und Cloudy kräuselt die Nase, während beide kichern. Ashlyns Grinsen wirkt schon ein bisschen steif, während sie fragt: „Hast du jetzt ein Bild gemacht, Kyle?“

Ich: „Ich glaube nicht. Ihr habt doch auch keinen Blitz gesehen, oder?“

Cloudy flüstert ihr irgendwas zu (was, das werde ich nie erfahren, doch ich vermute, es war irgendeine zweideutige Bemerkung über mich), woraufhin beide in Gelächter ausbrechen.

Ich wieder: „Oh, wartet mal. Ich hatte aus Versehen auf Video gestellt.“

Das Bild ist wieder verwackelt, und man hört nur die Mädchen lachen und lachen und lachen. Das ist alles aus Versehen aufgezeichnet, weil ich die Einstellungen ändere, aber die Kamera fokussiert wieder auf die beiden und folgt ihnen, während sie mit dem Rücken an meinem Nissan Xterra runterrutschen und auf dem Asphalt landen, wo sie noch ein bisschen weiterlachen.

Dann ist das Video zu Ende. Mir treten Tränen in die Augen, kaum dass ich auf das verschwommene Standbild von Ashlyn und Cloudy schaue, auf dem sie mit gespreizten Beinen am Boden sitzen und beide albern und hübsch zugleich aussehen.

Es gibt Leute, die sagen, Ashlyn sei jetzt an einem besseren Ort und schaue vom Himmel auf uns herab. Aber ich finde den Gedanken unerträglich, dass sie so eine Art Stalker im Himmel sein soll. Und dass sie dort nichts Besseres zu tun haben soll, als mit ihren Augen, die so grün sind wie eine 7Up-Dose, teleskopmäßig den ganzen Tag auf mich runterzugucken, während ich dusche, esse, zur Schule gehen, meine Hausaufgaben erledige, (manchmal) im Kraftraum trainiere, Videospiele spiele und schlafe.

Ich packe es auch nicht, mir vorzustellen, dass sie mich jetzt gerade beobachtet.

Insgeheim wünsche ich mir die Hoffnung, dass es eine Wiedergeburt gibt und sie jetzt wieder ein Baby ist. Oder ein Esel, eine Katze, ein Waschbär, eine Möwe, ein Zebra oder ein tropischer Fisch. Oder was anderes. Irgendwas. Es ist mir egal, was sie ist, ich wünsche mir nur, dass ein Teil von ihr irgendwo auf diesem Planeten lebt. Denn wenn nicht, was soll das dann alles?

Meine Brust wird eng und ich beiße die Zähne zusammen, um nicht loszuheulen. Das funktioniert inzwischen meistens, auch wenn ich das Gefühl hinterher hasse: Als hätte jemand mein Gesicht wie ein Bonbonpapier in seiner Faust zusammengeknüllt. Ich ziehe die Ohrstöpsel raus, lasse das Handy neben mir auf die Bank fallen und lege die Hände über meine Augen.

Es war zwei Tage nach diesem Footballspiel, als Ashlyn mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder zu einer Radtour aufbrach. Beim Bergabfahren verlor sie die Kontrolle und stürzte so schwer, dass sie ihren Helm verlor und mit dem Kopf aufschlug. Zunächst dachten die Ärzte, es gäbe eine Chance, dass sie aus dem Koma aufwachte – und wieder gesund würde. Doch schon nach ein paar Tagen stellten sie fest, dass sie hirntot war.

Ich weiß nicht, wie der heutige Tag verlaufen wäre, hätte Ashlyn diesen Unfall nicht gehabt. Es war ihr wichtig, dass wir zu unserem Monatsjubiläum irgendwas Besonderes unternahmen (was wir auch immer machten – bis auf letzten Juni, als ich es vergessen hatte). Also hätte sie sich für unser Einjähriges bestimmt eine viel größere Sache erwartet. Eine zwölfmal größere wahrscheinlich.

Der ganze letzte Monat war voll mit quälenden Erinnerungen daran, wie meine Beziehung mit Ashlyn vor einem Jahr begann. Und jede Woche war irgendwas, das noch mehr „Was wäre gewesen, wenn?“-Gedanken auslöste: Wenn Ashlyn noch da wäre, was hätte sie mir zum Geburtstag geschenkt? Was hätten wir am Valentinstag unternommen? Was für Klamotten hätte sie für mich anlässlich des Winterballs ausgesucht?

Und so weiter und so weiter.

Weiter vorn raschelt es wieder und jemand flüstert: „Hast du irgendwas gehört?“

Ich wische mir über die Augen und schaue gerade rechtzeitig auf, um den Kopf eines Mädchens über der ersten Bank auftauchen zu sehen. Meine Augen haben sich an das Dämmerlicht gewöhnt, sodass ich Danielle, eine der Cheerleader, erkenne. Ich erkenne auch, dass sie bis auf einen schwarzen BH obenrum nackt ist.

Sie setzt sich ein bisschen weiter auf, blinzelt in meine Richtung und verschwindet dann wieder. „Ach du meine Güte! Kyle ist hier!“

Ein anderer Kopf taucht auch. Er gehört meinem Cousin Matty, der obenrum gar nichts anhat. „Kyle?“, fragt er.

Grüßend hebe ich die Hand, obwohl ich das Gefühl habe, vor plötzlicher Erschöpfung gleich zusammenzubrechen. Matty winkt zurück und grinst albern.

„Was macht er denn?“, flüstert Danielle ziemlich laut.

Matty verschwindet aus meinem Blickfeld. „Keine Ahnung.“

Das Gespräch geht noch weiter, allerdings so leise, dass ich nichts mehr verstehen kann.

Ich bin mir nicht sicher, was ich als Nächstes tun soll. Was würde sich denn gehören, wenn man eine beliebige Kirche aufsucht, um Erleuchtung zu finden, und stattdessen auf den eigenen Cousin und die Teamkollegin seiner Exfreundin stößt, die zehn Reihen vor einem Sex haben?

Gerade als ich mich entschlossen habe zu verschwinden, kommt mir Danielle zuvor. Sie eilt den Mittelgang hinunter (inzwischen mit Shirt und Jacke bekleidet) und schaut dabei sehr konzentriert auf etwas, das nicht mein Gesicht ist.

Von weiter vorn erklingt das Geräusch eines Reißverschlusses, der hochzogen wird. Dann steht Matty auf und schlendert auf mich zu, wobei er sein Baseball-T-Shirt der Lava Bears auf links anhat. (Er spielt Football und Baseball, ist aber im Baseball besser.) Sein Grinsen ist breiter als alles, was er mir gegönnt hat, seit ich gestern die Nerven verlor und vor der Feier zum Saisonauftakt abgehauen bin.

„Also, Kyle.“ Er lässt sich neben mir auf die Bank fallen. „Was treibst du hier?“

„Nach Ruhe und Frieden suchen. Und das ist offensichtlich nicht das Gleiche, was dich herführt.“ Ich breite die Arme zu einer Geste aus, die den Raum umfasst. „Wer hätte gedacht, dass es hier passiert?“

„Ja, oder?“, meint Matty. „Pastorentöchter. Nimm dich in Acht, wenn sie dich nach Hause fahren und erklären, sie müssten nur ganz kurz bei der Kirche vorbeischauen, um irgendwas abzuholen.“

„Danke für den Hinweis.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Mitfahrgelegenheit in Anspruch nehme, ist verschwindend gering. Dagegen ist es die Lieblingsstrafe von Onkel Matthew und Tante Robin, Matty seinen Wagen wegzunehmen. Ob er eine schlechte Note kriegt, später als vereinbart nach Hause kommt, beim Stibitzen eines Biers aus dem Kühlschrank erwischt wird oder vor ihnen „Scheiße“ sagt – dann bleibt sein Auto unter Garantie eine Woche oder länger im „Fegefeuer“, wie er es nennt. (Garantiert ist dann auch, dass wir anderen unter den Folgen mitzuleiden haben, weil wir ihn überall hinkutschieren müssen.) „Ich dachte, du würdest deinen Wagen heute zurückkriegen.“

„Nein, am Sonntag.“

„Da kommt ja kein Mensch mehr mit. Dann bin ich also der Letzte, der davon“ – ich deutete in die Richtung, wo Danielle verschwunden war – „erfährt?“

„Das ist gerade erst passiert. Ich meine, gerade jetzt. Also bist du der Erste.“ Er greift nach meinem Handy und ich halte die Luft an. Wird er das Ashlyn-Video sehen und sich zusammenreimen, was mit mir los ist? Aber er gibt es mir nur lächelnd. „Mach ein Foto von mir. Wenn ich mich dann frage, ob ich das nur geträumt habe, kann ich mich auf die Weise dran erinnern.“

Genau das, was ich mir so vorstelle, Teil der abartigen Erinnerungen meines Cousins sein. Ich lasse das Telefon wieder in meiner Tasche verschwinden. „Oder wir vergessen einfach, dass ich hier war.“

„So geht’s auch.“ Er lässt sich gegen das harte Rückenpolster der Bank sinken. „Aber im Ernst. Jetzt, wo du mich ja gefunden hast, was brauchtest du denn?“

„Nichts. Ich meine, ich hab dich nicht gesucht. Und auch sonst keinen. Ich bin einfach … nur hier. Wegen der Ruhe, wie schon gesagt.“

Matty mustert mich lange mit diesem Kyle-du-machst-mir-Angst-Gesicht. Mal abgesehen von der geschwänzten Veranstaltung gestern tue ich, was ich kann, um zu vermeiden, dass er dieses Gesicht machen muss. Deshalb ist es auch so besonders frustrierend, dass wir uns, wenn man bedenkt, wo auf der Welt sich jeder von uns gerade aufhalten könnte, ausgerechnet in der Zufallskirche Nummer vier begegnen.

„Ich sollte jetzt gehen.“ Ich stehe auf und steige über seine Beine, um zum Mittelgang zu gelangen.

„Und ich sollte mal Danielle suchen.“

Matty läuft nach vorn und holt seine restlichen Sachen, während ich schon auf die mit Schnitzereien verzierte Tür zugehe.

Als ich den Vorraum betrete, wartet Danielle dort. „Ich weiß jetzt, wie du hier reingekommen bist.“ Sie klimpert mit dem Schlüsselbund und lächelt verlegen. „Ist alles … in Ordnung bei dir?“

Ich setze extra für sie ein Lächeln auf. Wie Matty scheint sie zu denken, ich sei seinetwegen hier. „Alles gut. Und tut mir leid, dass ich dich erschreckt hab. Nur damit du Bescheid weißt, ich hatte keine Ahnung, dass ihr beiden da drin wart. In Kinofilmen scheinen Leute einfach in Kirchen zu gehen, wann immer ihnen danach zumute ist.“

„Hier ist das nicht so. Mein Dad hat feste Öffnungszeiten.“

„Und der Donnerstagnachmittag scheint nicht zufällig dazuzugehören.“

Sie kichert. „Ganz sicher nicht.“

Als ich die Tür aufstoße, um die Kirche zu verlassen, trifft mich ein Schwall kalter Luft, so als würde ich einen Tiefkühlschrank öffnen.

Danielle folgt mir nach draußen. „Oh nein. Der Rächer mit den dreckigen Pfoten hat wieder zugeschlagen!“

Zuerst kapiere ich gar nicht, worauf sie zeigt, aber dann sehe ich die schmutzige Spur auf der Motorhaube meines Wagens, die zu einer schwarzen Katze führt, die vor dem dunklen Hintergrund kaum zu erkennen ist. „Wem gehört die denn?“, frage ich.

„Sie ist eine Streunerin. Immer auf der Suche nach einer warmen Motorhaube. Als sie das erste Mal hier auftauchte, war sie noch so winzig. Jeden Sonntag wechselt sie von einem Auto zum nächsten. Ziemlich witzig.“

Die Außentemperaturen liegen schon seit Wochen unter null, da ist es kein Wunder, wie fest sich die arme Katze eingerollt hat.

Matty kommt raus zu Danielle und mir und die Atmosphäre wird eigenartig, weil die zwei sich verlegen und geheimnisvoll angrinsen. Dennoch denke ich, dass es für Matty in Ordnung ist. Seit Monaten erzählt er mir, er würde Cloudy nur als gute Freundin mögen, was ich ihm bisher nicht abgekauft habe.

„Tja, anscheinend bleibt mir nichts anderes übrig, als der Bösewicht zu sein, der diese streunende Katze zurück auf die harten Straßen von Bend, Oregon, schickt.“ Ich nicke Danielle und Matty flüchtig zu und steige die Stufen hinunter. „Man sieht sich in der Schule.“

„Kyle, warte mal!“, ruft Matty. „Willst du heute Abend irgendwas machen?“

Langsam drehe ich mich um. „Nee. Morgen vielleicht.“

„Also, morgen definitiv.“

Ich ziehe die Mundwinkel hoch, damit ich annähernd erfreut wirke und mir meine Verwirrung nicht anzumerken ist. „Stimmt.“

Die offiziellen Testspiele im Baseball finden erst nach den Winterferien statt, aber Matty hat beschlossen, dass sich alle, die letztes Jahr in der Schulmannschaft waren (natürlich außer denen, die nicht mehr auf der Schule sind, weil sie ihren Abschluss in der Tasche haben), jeden Freitagabend treffen sollen, um sich vor Saisonbeginn irgendwie zusammenzuschweißen. Heute Morgen habe ich ihm gesagt, ich würde dabei sein (nachdem er an mein schlechtes Gewissen appelliert hat, weil ich es gestern ihm überlassen habe, die Ankündigung zu übernehmen). Doch um ehrlich zu sein, ist es so, dass ich, je näher der Saisonbeginn rückt, desto weniger mit der Mannschaft zu tun haben will.

Ohne noch eine Erwiderung von Matty abzuwarten, springe ich die restlichen Stufen hinunter. Noch bevor ich unten ankomme, ist mein aufgesetztes Lächeln verschwunden und die Depression packt mich wieder. Ich bin wegen Antworten, einem Zeichen oder irgendwas hergefahren. Aber es gab ja keine Figuren, keine Nonnen oder Priester und keine hilfreichen Fremden. Das Einzige, was dabei rausgekommen ist: Ich habe Matty mal wieder am Hals und schmutzige kleine Pfotenabdrücke auf dem ganzen Wagen.

„Tut mir leid, Rächer mit den schmutzigen Pfoten.“ Inzwischen habe ich die Fahrertür erreicht. „Zeit, dass du dir eine andere Heizung suchst.“

Wie sich rausstellt, ist die Katze tatsächlich noch ein Kätzchen. Sie bleibt einfach mit zugekniffenen Augen liegen, also trete ich näher und stupse sie ein bisschen in die Seite. „Ich mein’s ernst. Ich fahre jetzt nach Hause.“

Sie rollt sich zu einem noch festeren Ball zusammen. Beim Atmen hebt und senkt sich ihr Bäuchlein. Was meinte Danielle, als sie sagte, sie wäre winzig gewesen, als sie zum ersten Mal hier auftauchte? Sie ist doch immer noch superklein.

Abgesehen von einem Goldfisch, den wir auf dem Rummel gewonnen hatten, hat es bei Dad und mir noch nie ein Haustier gegeben. Und Mattys Kater Hercules ist auch das einzige Tier, mit dem ich jemals mehr Zeit verbracht habe. Er zeigt seine „Zuneigung“ gern, indem er seine Krallen in mein Bein schlägt und mich ins Handgelenk beißt. Deshalb bin ich auch kein besonderer Fan von ihm.

Jetzt streichle ich das Kätzchen zwischen den Ohren. Ihr glänzend schwarzer Pelz ist weicher, als er aussieht. Es reagiert, indem es den Kopf gegen meine Hand drückt, mit dem Schwanz schlägt und die Augen öffnet.

Diese Augen sind zufällig grün. Sie strahlen besonders grün. In der Farbe einer 7Up-Dose, um genau zu sein. Eine Sekunde lang setzt mein Herz aus.

Sie blinzelt mich an und ich blinzle sofort zurück.

Ich weiß nicht, was das bedeutet, falls es überhaupt was bedeutet. Echt nicht. Aber ich kann gar nicht anders als hoffen, dass ich vielleicht, nur vielleicht, doch die Antwort gefunden habe, nach der ich schon so lange suche.

Cloudy

Endlich biegen wir in eine Parkbucht ein.

„Gott sei Dank“, meine ich seufzend und schalte das Radio aus. Die Mischung aus Gitarren und Lalala-Gesang endet abrupt und aus den Lautsprechern kommt zum Glück nichts mehr. Ich erschauere, als sei der Knopf zum Ein- und Ausschalten von rohem Hackfleisch bedeckt gewesen. „Keine Musik von traurigen Jungs mehr.“

Zoë verschränkt auf dem Beifahrersitz die Arme vor der Brust. „Du hast gesagt, ich kann mir was aussuchen.“

„Mein Fehler.“ Ich stelle die Automatik meines Honda auf Parken um und mache den Motor aus.

„Außerdem sind die nicht traurig. Sie sind …“

„Heulsusen.“

„Leidenschaftlich“, erwidert sie entschieden und mit verträumtem Blick.

„Ich kotz gleich.“ Nachdem ich meinen Sicherheitsgurt gelöst habe, drehe ich mich nach hinten, um meinen dicken Anorak von der Rückbank zu nehmen. Während ich reinschlüpfe, sage ich: „Nur damit du Bescheid weißt, auf der Heimfahrt hören wir uns jemand an, der Glitzer trägt.“

Zoës Augen hinter den Brillengläsern werden schmal. „Glitzer? Echt jetzt?“

„Glitzer“, fange ich an aufzuzählen, „dazu noch Trommelsynthesizer und Klatschen.“

„Dann krieche ich lieber auf allen vieren nach Hause.“ Grinsend steigt sie aus.

Als ich meine Tür auch noch aufmache, weht eisige Februarluft herein. Das muss der bislang kälteste Tag des Jahres sein. Die Sonne wird gleich untergehen, und der Himmel ist eine Mischung aus Violett- und Pinktönen vor der Silhouette der Kiefern, die um den Target-Parkplatz stehen. Es ist vermutlich der einzige Parkplatz in Bend ohne Bergblick.

Wir laufen auf das große rote Bull’s-Eye-Logo des Supermarkts zu. Zoë tänzelt in ihren grünen Converse und mit orangefarbener Strickmütze neben mir her. Für einen Freitagabend ist der Parkplatz ziemlich leer. Wahrscheinlich sind die meisten längst in die Winterferien aufgebrochen.

Zoë und ich haben allerdings nicht so ein Glück. Wir müssen zu Hause bleiben, während Mom und Dad nach Mexiko unterwegs sind. Seit Zoës Geburt haben sie nicht mehr allein Urlaub gemacht, deshalb nutzen sie jetzt die Gelegenheit. Das ist gut und schön, bis zu dem Punkt, wo man für zehn Tage lang ihre Verantwortung aufgehalst kriegt. Ich würde mir zutrauen, für mich selbst zu sorgen, aber Ashlyns Eltern haben vorgeschlagen, dass Zoë und ich bei ihnen übernachten. Als ich die Einladung annahm, fühlte sich das eher wie eine Strafe an. Mir graut davor, in ihr Haus zurückzukehren, doch ich konnte es auch nicht ablehnen. Obwohl ja immer noch die Chance besteht, dass ich mir den Knöchel breche und noch vor dem Abendessen absagen muss.

„Zuerst zu den Süßigkeiten“, verkünde ich, sobald wir den Laden betreten haben. Weil die Montiels uns erst in einer Stunde erwarten, habe ich vor, mich in jeder Minute davor abzulenken.

Normalerweise ist die erste Station bei Target immer die Kosmetikabteilung. Diese Tradition nahm ihren Anfang, nachdem Ashlyn und ich jede ihren Führerschein hatten und nach Lust und Laune herfahren konnten. Erst Make-up, danach Zeitschriften, anschließend der Gang mit den Küchengeräten, wo uns vor allem die Kaffeemaschinen interessierten. So arbeiteten wir uns jedes Mal durch den Supermarkt – außer an besonders ruhigen Abenden, denn dann forderte Ashlyn mich in der Gartenmöbelabteilung zu Flickflacks heraus. Das machte sie immer auf dieselbe Weise und mit glitzernden Augen, als wüsste sie nicht längst, dass ich die Herausforderung annahm.

Jetzt kommt die Kosmetikabteilung nie mehr zuerst dran, wenn ich sie überhaupt noch aufsuche.

Zoë steht nur daneben, während ich mir die wesentlichen Sachen schnappe: eine Tüte saure Gummiwürmer für meinen persönlichen Vorrat und ein paar Packungen Dum-Dum-Lutscher für den Geschenkekorb, den ich für das Cheerleader-Event am nächsten Tag zusammenstellen muss. Zoë fürchtet sich vor leeren Kalorien und Konservierungsstoffen, kann also nicht mit mir verwandt sein und ignoriert die Süßigkeiten komplett.

Danach folgt sie mir in den Gang für Dekoartikel, wo ich eine Packung künstlicher Narzissen hole. Die werde ich später zerschneiden und die Blüten mit in den Korb tun, damit es hübscher aussieht. Wäre es schon wärmer, würde ich echte Blumen aus unserem Garten nehmen, aber die hier tun es auch. Danach lotst Zoë mich in die DVD-Abteilung. Sie ist der letzte Mensch unter dreißig, der da noch hingeht und fünf Mäuse für irgendwas Todlangweiliges in Schwarz-Weiß ausgibt.

Ich stecke bis zu den Ellenbogen in dem Regal mit den Komödien, als Zoë zu mir kommt und mir eine DVD unter die Nase hält. Ich staune, dass sie überhaupt aus diesem Jahrhundert ist. Noch dazu sieht sie nach genügend Gemetzel aus, um einen Anfall auszulösen.

„Nicht dein Ernst, Zoë.“ Ich hebe fragend eine Augenbraue. „Ein Horrorfilm?“

Beleidigt verzieht sie den Mund. „Na und?“

Ich schaue über ihre Schulter zu den anderen Regalen. „Diese Woche etwa kein gähnend langweiliges Dokudrama?“

„Weißt du, ich darf mich auch für Verschiedenes interessieren.“

Sie reicht mir die DVD und ich greife zögernd danach. Die Zusammenfassung der Story auf der Rückseite überfliege ich nur und betrachte stattdessen die Schnappschüsse der attraktiven, verzweifelt wirkenden Schauspieler mit ihren aufgerissenen Augen und Mündern. Ein gruseliger, blutrünstiger Film ist so untypisch für Zoë. Doch da steht auch schon das Zauberwort: Untertitel.

„Das ist ein ausländischer Streifen.“

„Koreanisch“, erklärt sie mir.

„Wie kommst du denn auf den?“

„Ach, dieser Owen hat mir davon erzählt. Das ist einer seiner Lieblingsfilme.“

Meine Finger erstarren. Vor einem Monat kam Zoë aus der Schule und redete wie ein Wasserfall. Owen hatte ihr einen Thriller empfohlen, in dem es um einen Typen mit einer Gehirntransplantation ging. Danach fingen bei ihm Visionen vom Leben seines Spenders an, und das war dann echt übersinnlich. Zoë spekulierte mir gegenüber laut darüber, ob das tatsächlich passieren könne, doch ich schnitt ihr gleich das Wort ab. Das war nicht echt und lohnte nicht, drüber nachzudenken.

„Klingt so, als bräuchte dieser Owen mal ein Wochenende nur mit romantischen Komödien“, meine ich und werfe ihr die DVD wieder zu.

Sie blinzelt. „Er hat einen extrem vielseitigen Geschmack.“

Ich zwinge mich zu einem interessierten Lächeln und wechsle das Thema. „Was läuft da eigentlich zwischen dir und diesem Owen?“

Zoës Wangen werden rot, ihre Augen ganz groß. Anscheinend ist sie verliebt. „Wir haben ein paar Kurse zusammen, das ist alles.“

„Falls er versucht, dich mit Streifen über das Abschlachten Unschuldiger für sich zu gewinnen, sollte ich vielleicht mehr über ihn erfahren. Etwa Sachen wie: Wie viele geköpfte Puppen er in seinem Spind hat?“

Sie verdreht die Augen, lächelt aber dabei. „Nur weil einem gut gemachte Horrorfilme gefallen, muss man ja noch kein Psychopath sein, Cloudy.“

„Du verteidigst ihn also.“ Ich wackele mit den Augenbrauen.

„Es ist nicht so, wie du denkst“, erwidert sie ein wenig atemlos, woraus ich schließe, dass es ganz genau so ist. „Außerdem hat er sowieso eine Freundin.“

Ich betrachte sie noch kurz und sehe, dass sie auf die übliche Art die Schultern hängen lässt. Außerdem hat er sowieso eine Freundin , das muss wohl das Motto von uns Marlowe-Schwestern sein. „Also, ich verspreche dir, dass da draußen für dich noch viele Puppen-Henker ohne Freundin unterwegs sind.“

Denn wenn irgendjemand dieses Gefühl kennt, dieses schwarze Loch, das dich zu verschlucken und zermalmen droht, weil du etwas für jemand empfindet, der auf eine andere steht, dann bin ich das. Und ich kann nur jedem raten, diese Gefühle im Keim zu ersticken, bevor sie dich ersticken.

Ich steuere auf die Spielzeugabteilung zu, um noch ein paar Kleinigkeiten für den Geschenkekorb zu besorgen. Das Team wird sie morgen bei der Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der Stadtbücherei verlosen. Während ich durch den Laden laufe, summt das Handy in meiner Tasche.

Cheer Insider ist von dir besessen! Leichte Übertreibung, aber lass uns mal reden, ja?

Eine Nachricht meiner Freundin Jade mit dem Screenshot der Ankündigung unseres Interviews in Cheer Insider – und meines Einzelprofils. Eine Meldung der Zeitschrift auf Twitter. Super.

Jade wohnte bis vor zwei Jahren hier und war auch Cheerleader, bis sie mit ihrer Familie nach Kalifornien zog. Wir halten jedoch die Verbindung und sehen uns jeden Sommer im Cheer-Camp. Idealerweise treffen wir uns auch alljährlich bei den landesweiten Meisterschaften, aber das Team der Bend schaffte es in der letzten Saison nicht über die Regionalwettbewerbe hinaus, und diesmal erging es Santa Monica so.

Ich schreibe rasch eine Antwort – RIESEN-Übertreibung. Reden wir später?

Vielleicht vermisse ich sie im Moment zwar mehr denn je, doch ich bin nicht so wild darauf wie sie, mich über das Interview zu unterhalten.

Ich habe gerade erst auf Senden gedrückt, als ich ihn entdecke.

Kyle.

Obwohl er mir den Rücken zudreht, erkenne ich ihn sofort.

Und ich hasse das.

Noch mehr hasse ich das Gefühlsgewitter, das sofort in mir losbricht. Zack! Aufregung. Zing! Erschrecken. Zisch! Kribbeln am ganzen Körper. Glüh! Ein gigantisches schlechtes Gewissen.

Er steht vor irgendwas am Ende eines Ganges. Hände in den Hosentaschen, und die Kapuze seiner schwarzen Jacke reicht genau bis zum Ansatz seiner kurzgeschnittenen blonden Haare.

Ich kann nicht anders: Ich sehe ihn auf einmal wieder im Krankenhaus und spüre diese Schwere in allen meinen Gliedern. Es war am Tag nach dem Unfall, als Ashlyn noch im Koma lag. Ich wollte einfach nur da sein, wenn sie aufwachte. Aber mein Auto war auf der Fahrt dorthin verreckt, was mich wegen der Zeitverschwendung total stresste. Denn es bedeutete weniger Zeit, die ich bei ihr sein konnte. Kyle war schon da, in der Nähe des Wartebereichs. Seine Haltung war exakt die gleiche wie jetzt. Mit den Händen in den Hosentaschen. Nur dass er damals den Getränke- und Süßigkeitenautomaten anstarrte. Er stand länger da, als die Auswahl des Krankenhauses wert war: alte, miese Chips oder noch ältere, miesere Schokoriegel. Deshalb fragte ich mich auch, ob er überhaupt hungrig war. Damals wurde allerdings viel ins Leere gestarrt. Ich stürmte schließlich einfach an Kyle vorbei in Richtung Intensivstation. Und ich bezweifle, dass er es überhaupt mitkriegte.

Jetzt will ich es eigentlich genauso machen – hinter ihm vorbeilaufen und das erledigen, wofür ich hergefahren bin –, doch ich halte an, als mir auffällt, was ihn so fasziniert. Eine ganze Wand voll mit bunten, flauschigen Kissen in Tiergestalt. Warum zum Teufel will Kyle sich ein Tierkissen kaufen?

Bei der Veranstaltung gestern war Matty sich noch sicher, dass es mit Kyle nicht wieder bergab geht. Dass er klarkommt. Aber ein Siebzehnjähriger ohne kleinere Geschwister, der in der Plüschtierabteilung einkauft, kommt definitiv nicht klar. Und genauso, wie ich vor zwei Tagen Matty nach ihm fragen musste, kann ich jetzt nicht anders, als mich ihm zu nähern. Einfach um sicher zu sein, dass er nicht gleich die Köpfe von ein paar dieser Kissen abreißt und sich als Hüte aufsetzt.

Jetzt nimmt er in eine Hand einen Koala, in die andere einen Panda. Er überlegt.

Ach du Scheiße.

„Kyle.“ Ich spreche seinen Namen aus, bevor ich es verhindern kann.

Kyle erschrickt und richtet sich kerzengerade auf, bevor er herumwirbelt und mich anschaut. Ich muss auf der Stelle an meine zerzausten Haare und die Salzkrusten auf meinen Stiefeln denken. „Cloudy. Hey.“ Er umklammert den Koala fester und seine leise Stimme klingt wie dumpfer Donner. „Was treibst du so?“

Knack! Hitze.

„Bin mit meiner Schwester da. Und du?“ Ich sehe auf das Regal hinter ihm. „Dekorierst du um?“

„Äh“, macht er und folgt meinem Blick. „Eigentlich nicht. Guck mich nur mal so um.“

Dann machen seine Augenbrauen diese Sache. Die Sache, bei der sie irgendwie schräg nach oben gehen, als würde er über etwas nachdenken, das einfach zu groß ist. Ich möchte sie dann am liebsten wieder gerade streichen. Diese Sache hat schon schlimme Dinge in mir angerichtet, seit er als Zehntklässler das erste Mal in meinem Biokurs auftauchte.

Ich habe mich immer gefragt, ob es sich für sie auch anfühlte wie ein Wettersturz, Kyles Anziehung zu spüren. Aber vielleicht war es für sie ruhiger, weil sie nicht permanent mit ihren Gefühlen ringen musste. Als sie mich das erste Mal auf ihn ansprach, glitzerten ihre Augen wie Wunderkerzen.

„Kyle. Ocie.“

Sie zog mich zu einer Nische unter der Treppe. Ihr Grinsen war so ausgelassen und nervös, dass ich loskicherte, bevor ich eine Ahnung hatte, worum es ging. Damals erschien mir Kyle wie mein kleines Geheimnis, obwohl er eigentlich überhaupt kein Geheimnis war. „Der Typ, der das ganze letzte Semester über meine Bio-Notizen abgeschrieben hat?“

Ashlyn hatte die Handflächen an ihre Wangen gepresst und sah niedlich verlegen aus. „Ich mag ihn“, flüsterte sie. „Sehr. Ich glaube, ich mag ihn sehr.“

Mein Lächeln war breit und starr. Ich erinnerte bestimmt an eine Wachsfigur. „Seit wann?“

„Halb acht. Heute Morgen.“

„Was, Ashlyn? Aber er ist doch schon seit Monaten …“

„Ich weiß! Ich meine, er ist mir auch schon früher bei Matty zu Hause aufgefallen und ich habe immer gedacht, dass er süß ist. Doch heute ist er mit mir durch den Haupteingang gekommen und hat mir die Tür aufgehalten, und plötzlich sehe ich lauter Herzchen, in denen Für Kyle steht.“

Ich presste mich mit dem Rücken gegen die Wand. „Mag er dich auch?“

„Vielleicht?“

Ein Tornado tobte in mir. Jetzt hätte ich ihr die Wahrheit sagen können und sie hätte es auf sich beruhen lassen. Doch was dann? Diese seltsame Situation hätte von da an immer zwischen uns gestanden. Und in jenem Moment glaubte ich, es könnte ganz einfach sein, auf Kyle zu verzichten. Ashlyn das zu vermiesen hätte ich mir dagegen nie verziehen. Diese Kerbe würde ich unserer Freundschaft nicht zufügen. Allerdings hatte ich nicht vorhergesehen, dass es genauso schlimm sein würde, das Geheimnis zu wahren. Und dass ich nicht so über Kyle hinwegkommen würde, wie ich es mir gewünscht hatte. „Was wirst du jetzt tun?“

„Ihn zum Winterball einladen. Der wird bei der Schulversammlung später angekündigt, und da könnte ich ihn doch sofort fragen.“ Sie wippte auf den Fußspitzen und schien so hoffnungsvoll, dass ich Bauchschmerzen kriegte. „Du bist doch eine starke, selbstbewusste Frau. Sei ehrlich: Soll ich es einfach tun?“

Das fühlte sich an, als sei Giftgas aus den Heizungsrohren gedrungen. Ich wusste, dass Kyle zusagen würde – sonst wäre er ja auch ein Vollidiot gewesen. Ashlyn war ein Star an der Schule. Warmherzig, temperamentvoll und das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Am glücklichsten schien sie, wenn sie andere Leute glücklich machen konnte. Also riet ich ihr, ja. Frag ihn.

„Ashlyn hat Pandas geliebt“, platzt es aus mir heraus und ich deute auf das Kissen in Kyles rechter Hand. Danach vergehe ich fast vor Verlegenheit. Als ob er das nicht wüsste. Als ob er nicht anlässlich eines ihrer monatlichen Jubiläen symbolisch einen Panda adoptiert hätte. Das stürzte sie damals in quälende Überlegungen, wie er genannt werden sollte (Pandy Warhol). Als ob das nicht der Grund gewesen ist, warum er überhaupt nach diesem Kissen gegriffen hat.

„Ich erinnere mich“, murmelt er und legt beide Stofftiere zurück ins Regal.

„Na klar“, erwidere ich schlagfertig und spähe über meine Schulter, weil ich instinktiv nach den Ausgängen schaue.

Wir stehen einander schweigend und irgendwie peinlich berührt gegenüber. Da schiebt eine Frau einen Einkaufswagen voller Papiertücherrollen zwischen uns durch. Als könnte sie nicht sehen, dass wir mitten in einem Gespräch sind. Doch das sind wir ja auch nicht wirklich.

„Hey, möchtest du …“ Ich verstumme und deute nur hinter mich. „Ich muss ein paar Sachen für einen Geschenkekorb besorgen. Du könntest mir helfen. Wenn du nichts vorhast.“

Und vielleicht bin ich, wenn wir nebeneinander herlaufen und er mich nicht direkt anschaut, nicht so eine Katastrophe.

Kyle macht den Mund ein Stückchen auf und zögert, bevor er ein „Okay“ herauspresst. Dann greift er nach dem Einkaufskorb neben seinen Füßen und folgt mir zu dem Gang mit den Actionfiguren. Wir sind total unsicher, wie wir miteinander umgehen sollen, und das ist total bescheuert, doch das habe ich mir schließlich selbst zuzuschreiben.

Früher war es mir leichtgefallen, mich mit ihm zu unterhalten. Zu leicht. Ich wartete tatsächlich schon ungeduldig auf Bio in der ersten Stunde und das Sezieren virtueller Tiere. Nach den ganzen Wortmeldungen von Ashlyn zum Thema Tierrechte weigerte auch ich mich, echte Tiere zu zerschneiden. Das bedeutete dann, mir einen Computer mit Kyle zu teilen, ein paar Minuten lang etwas zu haben, worauf wir uns gemeinsam konzentrierten. Aber außerhalb des Unterrichts waren da immer Matty und seine anderen Freunde. Und dann natürlich Ashlyn. Nachdem sie ihn zu dem Ball eingeladen hatte, kamen die beiden sich näher, und ich vergaß bewusst, wie es war, mit Kyle zu reden.

Deshalb wird es auch etwas Neues sein, jetzt mit ihm einzukaufen.

„Was suchst du denn?“, fragt er. Wir sind allein, und ich finde, es hier dunkler, nicht so grell und öffentlich wie in den Hauptgängen.

„Eigentlich alles, was Sechsjährige zum Strahlen bringt.“

Er lacht leise und es klingt echt. Nach etwas, das ich schon mal gehört habe. Und wenn er wie der vertraute Kyle klingt, dann geht es ihm vielleicht wirklich wieder gut. „Ist das für eine Cheerleader-Sache?“

„Für was sonst?“, antworte ich und schlendere weiter. „Für die Bibliothek. Wir verlosen Sachen aus einem Geschenkekorb, um Geld für die Kinder-Leseförderung zu sammeln. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass Kinder dich lieber mögen, wenn du sie mit Geschenken bestichst. Da sind sie irgendwie wie Brückentrolle.“ Ich nehme einen Dinosaurier – der auch noch kleine Felsen schleudert – aus dem Regal. „Oder wie die echt miesen Könige in der Bibel.“

Was?

Ich hoffe, dass Kyles Ohren gerade verstopft sind und er das nicht mitgekriegt hat.

Negativ. Er schaut mich verdutzt an. „Wenn du es sagst.“

Aus purer Verzweiflung wende ich mich einem dieser Stifte-Schrägstrich-Roboter aus einer Zeichentrickserie zu. Heutzutage muss ja alles multifunktional sein. Kann ein Stift nicht einfach nur ein Stift sein? Der grüne Roboter hängt irgendwie am Rand des obersten Regalfachs fest, und ich steige schon mit einem Fuß auf das unterste Fach, um an ihn heranzugelangen. Aber bevor ich das tun kann, ist Kyle schon hinter mir und berührt mit der Brust meine Schulter, während er die Schachtel für mich runterholt. Er ist wirklich ein großer Kerl und muss sich dafür nicht mal besonders strecken.

Danach tritt er rasch einen Schritt zur Seite. Ich halte die Luft an, damit ich nicht den minzigen Kyle-Duft inhaliere, der ihn immer umgibt. Das passierte in Biologie andauernd – wir saßen an unserem Tisch, über unsere Arbeitshefte gebeugt, und sobald er sich bewegte, kam es zu diesen winzigen Duftexplosionen. Ashlyn erzählte mir mal, dass er dieses Teebaum-Shampoo mit Minze benutzt, und sie schwärmte davon, dass seine Küsse nach Junior Mint, den Schokodragees mit Minzfüllung, schmeckten, die er so gerne aß. Ich schob diese Information weit weg zu den anderen Dingen, die ich mir in Bezug auf Kyle nicht merken sollte.

„Das hätte ich auch geschafft“, sage ich, anstatt mich zu bedanken.

Er schaut mich an. „Ich weiß.“ Ehe er mir den Roboter aushändigt, zögert er kurz. „Aber es schien sich nicht zu lohnen, dass du dir dafür einen Arm brichst.“

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