×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Guides - Die erste Stunde«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Guides - Die erste Stunde« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Guides - Die erste Stunde

Niemand weiß, was sich in dem gigantischen UFO befindet, das die Welt nach seinem Absturz in Atem hält. Und Alice ist sicher: Niemand außer ihr Vater, der für die NASA arbeitet, hätte seine siebzehnjährige Tochter jetzt auf ein Internat nach Minnesota gebracht - ausgerechnet mitten ins Zentrum der Katastrophe. Hier kommt Alice der Wahrheit hinter den Nachrichten gefährlich nahe. Doch mit der Wahrheit kommt auch die Angst vor den unbekannten Geschöpfen, die das Raumschiff verlassen …

"Ein Buch, das bis ins Mark erschüttert. Eine kluge Prämisse, ein schnelles Erzähltempo und Charaktere, denen man sofort folgt - dies sind die Zutaten für eine rasante Wells-Lektüre." Publishers Weekly

"Ein durchdacht ausgearbeitetes Action-Abenteuer, das die Leser auch nach der letzten Seite noch nachhaltig beeindrucken wird." Kirkus Reviews

"Wells steht für überraschende Wendungen und das pure Grauen. Fantastisch!" Ally Condie, #1 NYT-Autorin


  • Erscheinungstag: 10.04.2017
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676502

Leseprobe

PROLOG

Willst du mal was Abgefahrenes hören?

Geh nach draußen, und schau dir den Nachthimmel an. Sofern du nicht in einer Großstadt wohnst, kannst du vielleicht sogar ein paar Sterne sehen. Neben einigen Tausend anderen. Wenn du gute Ferngläser hast, kannst du um die 200.000 entdecken. Und mit einem Teleskop in einem richtigen Observatorium könntest du mehr als eine Milliarde Sterne erkennen.

Eine Milliarde. Das sind abartig viele Sterne.

Aber es kommt noch besser.

Denn allein in der Milchstraße befinden sich mehr als 400 Milliarden Sterne. Und das ist gerade mal eine einzige Galaxis. Davon wiederum gibt es mehr als 170 Milliarden. Wenn 170 Milliarden Galaxien jeweils 400 Milliarden Sterne hätten …

Eine Quadrillion. Das ist eine Eins mit vierundzwanzig Nullen dahinter.

1.000.000.000.000.000.000.000.000.

Wie gesagt, abartig viele Sterne.

Aber weißt du auch, was sonst noch da draußen rumschwirrt?

Dunkle Energie. Dunkle Materie.

Wir nennen sie so, weil wir sie nicht sehen können. Wir können sie nicht sehen, haben keine Ahnung, was sie ist, und genauso wenig wissen wir, wo sie herkommt. Und trotzdem macht sie 96 Prozent des Universums aus.

Ganz genau, 96 Prozent von dem ganzen Zeug im Universum ist dunkles, unerklärliches Irgendwas.

Der Astronom Carl Sagan sagte einmal: „Irgendwo wartet irgendetwas Unglaubliches darauf, entdeckt zu werden.“

Diese Geschichte dreht sich nicht um dunkle Energie, aber sie handelt davon, dass es im All eine Unmenge von Zeug gibt, das wir nicht verstehen.

Und manchmal landet es hier.

EINS

Die Aliens waren möglicherweise genauso angepisst, im Mittleren Westen zu landen, wie ich es war. Ich bezweifle, dass sie tatsächlich vorhatten, kurz in Iowa aufzusetzen und dann noch zweihundertfünfzig Meilen nördlich von Minnesota entlangzuschlittern.

Das Cockpit war wahrscheinlich voll von Aliens, die laut „Verdammt!“ gerufen haben, oder wie auch immer Aliens fluchen. Dann haben sie aus dem Fenster gesehen und gesagt: „Echt jetzt, Captain? Hier ist es?“

Nicht, dass ich irgendwas gegen den Mittleren Westen hätte. Es ist nur, dass ich eigentlich nach Florida gehöre. Nach Miami. Die Stadt der Sonne. Und nicht nach Minneapolis. Die Stadt der Windmühlen. Die außerdem so weit vom Ozean entfernt liegt, wie es nur irgendwie geht. (Ich hab das zwar nicht ausgerechnet oder so, aber es klingt doch glaubhaft, oder?)

Aber was das angeht, hatte ich eh nichts zu melden.

Bevor sich auch nur der Staub über der Absturzstelle verziehen konnte, hatte mich mein Dad schon an der Minnetonka-Schule für Begabte und Talentierte eingeschrieben, damit er mich nicht zurücklassen müsste, während er nach Minnesota reiste. Dad war der Leiter für besondere Projekte bei der NASA im Kennedy Space Center. Und wenn überhaupt etwas als besonderes Projekt durchgeht, dann das hier.

Aliens, die mitten in den Staaten landen. Ziemlich besonders.

Aber ich saß schon im Privatjet, drei Shirts in meinem Rucksack, dazu ein zweites Paar Stiefel und meinen Laptop, bevor mir Dad überhaupt sagte, dass ich aufs Internat gehen würde. Er schien überrascht zu sein, dass ich das nicht wusste. Als hätte ich irgendein Memo verpasst.

„Wir sind nur zu zweit, Dad“, sagte ich ihm. „Deine Sekretärin lässt mich ja nicht in den inneren Kreis.“

„Und genau deswegen ist ein Internat das Beste für dich, Alice“, sagte er und klappte seinen Laptop auf, obwohl wir noch gar nicht abgehoben waren. Aber solche Dinge tut man wohl, wenn man in Krisenzeiten in einem Privatjet der NASA hockt und geradewegs auf die Absturzstelle eines UFOs zufliegt.

„Ich werde keine Zeit haben, mich um dich zu kümmern. Und komm mir jetzt nicht mit deinem ‚Du hast doch nie Zeit für mich‘. Du hast für mich genauso wenig Zeit. Letzte Woche erst dachte ich, wir sehen uns diesen Film an. Wie hieß der noch? Du meintest jedenfalls, du wärst zu beschäftigt.“

„War ich auch“, sagte ich. „Muss ich von meinem Dad geerbt haben.“

„Das ist unfair von dir. Schließlich habe ich extra darauf geachtet, dass es eine gemischte Schule ist. Würde das ein mieser Vater etwa tun?“

„Also willst du mich nicht nur loswerden, sondern auch gleich verheiraten? Ich bin gerade erst siebzehn.“

„Okay, du hast mich erwischt. Vielleicht dürfen Siebzehnjährige in Minnesota ja heiraten“, meinte er. „Ich gebe dir hiermit mein Einverständnis. Gib dir Mühe, und versuch, einen netten Arzt oder so abzukriegen.“

„Ich wette, die Schule ist voller angehender Ärzte“, erwiderte ich mit verzogener Miene.

„Oder Politikern. Auf jeden Fall wurde sie von den Obersten in Washington empfohlen.“

„Seit wann kennst du denn Leute in Washington?“

„Aly, du weißt doch, dass ich besondere Projekte bei der NASA leite. Ernsthaft, ich bin wichtiger, als du vielleicht glaubst.“

„Ich gebe mir Mühe, häufiger zu salutieren.“

Er beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn, dann widmete er sich wieder seinem Computer. Ich holte währenddessen mein Handy raus, um Minnetonka im Internet zu suchen. Während die Homepage der Schule lud, dachte ich darüber nach, in welche Kategorie ich wohl passte. Begabt oder talentiert?

Meine Noten waren ganz gut, aber deswegen gleich begabt? So was hatte mir bisher noch keiner unterstellt. Ich könnte Klavier spielen, wenn ich dazu gezwungen würde, was nicht gerade häufig vorkam. Also vielleicht talentiert?

Als die Homepage endlich geladen hatte, wurde ich Bildern von geschwungenen Hügeln und riesigen Grünflächen ausgesetzt. Einige der Gebäude sahen brandneu aus, alles aus Metall und Glas, während andere aus grauem Stein und roten Ziegeln gebaut waren.

Grinsende Teenager posierten auf den Stufen des Hauptgebäudes in ihren Schuluniformen. Röcke, weiße Oxfordhemden, grüne Sweater. Die Jungen trugen Krawatten. Fünf der sechs Leute auf dem Bild waren weiß, vier davon hatten blondes Haar.

Ich betrachtete den einsamen schwarzen Jungen.

War wirklich ein Sechstel der Schüler schwarz, oder hatten sie ihn extra für das Foto engagiert, um eine Quote zu erfüllen?

Ich fragte mich, was sie wohl über mich denken würden. Meine Mum war eine Navajo, und ich hatte ihre dunkle Hautfarbe und das schwarze Haar.

Und obwohl ich mich nicht gerade als Rebellin bezeichnen würde, habe ich mir die Haare gefärbt, bevor wir Miami verlassen haben.

Aber da ich ohnehin die Neue sein würde – das neue Navajo-Mädchen –, konnte ich genauso gut das neue Navajo-Mädchen mit der blauen Strähne in den Haaren sein.

Dad hasste die Farbe natürlich, aber er duldete es und meinte, ich würde nur eine Phase des Ungehorsams durchmachen, was ganz natürlich wäre in stressigen Zeiten. Ich meinte, seine Mutter würde eine Phase durchmachen. Touché!

Ich schielte zu dem Computer meines Dads hinüber. Sein Desktophintergrund war ein Bild der Absturzstelle.

„Eine merkwürdige Form für ein Raumschiff“, sagte ich. „Sieht aus wie eine Duracell-Batterie.“

„Das hat mit der Schwerkraft zu tun. Bau einen zylindrischen Körper, lass ihn rotieren, und so erzeugst du künstliche Schwerkraft. Die Leute laufen dann im Inneren des Schiffes wie in einem großen Hamsterrad. Es gehört zwar noch etwas mehr dazu, aber das war schon mal das Wichtigste. Zentripetalkraft für Dummies.“

„Ganz toll, Dad, danke.“

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich in dem Raumschiff loslaufe, nur um dann irgendwann am selben Ort wieder anzukommen. Star Wars hatte damit wenig am Hut.

„Also ist da drinnen jetzt alles ziemlich durcheinander, oder?“

„Hmm?“

„Na ja, das Schiff ist doch so gebaut, dass es immer rotiert, oder? Müsste dann nicht alles auf dem Kopf stehen, wenn sich das Raumschiff nicht mehr bewegt? Und die Leute liegen an der Decke herum oder stapeln sich auf dem Boden der Gänge.“

„Ein kluger Gedanke“, murmelte Dad, hörte sich aber an, als wäre er mit dem Kopf woanders.

„Ich brauche mehr Klamotten“, erklärte ich ihm, während er eine Kalkulationstabelle öffnete. „Ich bezweifle, dass ich die angemessene Anzahl an Pullovern dabeihabe für den Winter in Minnesota.“

Sein Blick ruhte weiter auf dem Bildschirm seines Laptops. „Du kannst doch mit einer Kreditkarte umgehen. Wusstest du, dass die Mall of America in Minnesota gebaut wurde? Das ist wie Amerika, nur als Einkaufszentrum.“

„Und was wird aus den einheimischen Läden?“

Er grinste schief. „Na jedenfalls, in der Mall gibt es eine Achterbahn, ein Aquarium und wahrscheinlich haufenweise Klamottengeschäfte – und vielleicht sogar Smoothies. Ich bin sicher, du wirst eine Möglichkeit finden, Geld auszugeben.“

Ich beugte mich vor und hob die Schultern. „Und was ist mit Bluebell?“

„Sie wird ein neues, schönes Zuhause kriegen. Vielleicht auf einer Farm.“

„Daddy“, fing ich an und packte die schweren Geschütze aus. „Liebster Daddy, du lässt mich doch nicht ganz allein ohne Bluebell, oder?“

Er seufzte. „Mein Assistent hat schon alles in die Wege geleitet. Bluebell kriegt einen schönen großen Platz in einem schönen großen Truck, und bald hast du sie wieder ganz für dich allein.“

Ich sank in meinen Sitz zurück und griff nach einer Diät-Cola. „Danke, Daddy.“

Bluebell war ein BMW 550i Gran Turismo.

Wüsste meine Mutter von ihm, würde sie glatt der Schlag treffen. Wenn der sie nicht schon getroffen hätte und sie nicht gestorben wäre, als ich acht Jahre alt war.

Ich will nicht gefühllos über ihren Tod sprechen, aber ganz ehrlich, sie hätte aufhören sollen zu rauchen.

Ihr früher Tod war ihre eigene Schuld, also hatte sie auch kein Mitspracherecht über das Auto, das mir Dad zum Führerschein gekauft hat.

Zugegeben, der Wagen war zu teuer gewesen. Aber das war einer der Vorteile, wenn man aus reichem Hause stammt.

Dads Job, obwohl ganz gut bezahlt, war nicht unbedingt die ultimative Einkommensquelle. Diese Ehre gebührt eher unserer jährlichen Pilgerfahrt ins Heimatland unserer Ahnen nach Upstate New York, wo Dad mit Grandma Gin Tonic trinkt, während Grandpa und ich uns Virgin Margaritas genehmigen. Eine Woche später sind wir dann mit genügend Geld für ein weiteres Jahr versorgt. Für gewöhnlich verlangen diese Besuche von mir, auf dem Klavier vorzuspielen (würg) oder zu singen (doppelwürg!), aber bis es dazu kommt, haben wir alle schon so viel getrunken und gegessen, dass keiner mehr so richtig hinhört.

Zwar bin ich kein Fan dieses Lebensstils, aber es ist eine ganz nette Absicherung.

Ich hatte auch mehrfach versucht, der Mutter meiner Mutter, meiner Shimasani, mit dem Geld auszuhelfen.

Aber sie weigerte sich immer, etwas davon anzunehmen.

Sie meinte dann, das Leben im Navajo-Reservat gefällt ihr genau so, wie es ist.

„Was meinst du eigentlich, warum die Aliens ihr Schiff noch nicht verlassen haben?“, fragte ich. „Immerhin sind sie jetzt schon seit fünf Tagen auf der Erde. Das ist eine lange Zeit, um einfach nur im Schiff zu hocken, oder?“

Dad hielt nur lange genug inne, um seine Brille zu richten, und tippte dann weiter auf seinem Laptop.

„So wie es aussieht“, fuhr ich fort, „könnten sie gerade planen, die Alienpest oder so auf der Erde zu verbreiten. Oder uns einfach so irgendwie abzumurksen.“

„Es ist genauso wie mit der Mall of America“, meinte er.

„Ernsthaft Dad, sind das nette Aliens oder böse Aliens?“

„Im Moment wissen wir nicht mal, ob es überhaupt welche im Schiffs gibt“, antwortete er und schaute an mir vorbei aus dem Fenster. „Es könnte ebenso gut unbemannt sein.“

„Wenn Hollywood uns eins gelehrt hat, dann, dass es nur zwei Arten von Außerirdischen gibt. Nämlich solche, die uns erobern und töten wollen, und solche, die uns mit ihrem Wissen erleuchten wollen. Und egal, welche es sind, die Menschen kommen mit keiner der beiden Arten zurecht.“

„Glaubst du, wir würden eine Mischung aus E.T. und dem Dalai Lama freundlich willkommen heißen, die versehentlich den halben Staat platt gewalzt hat?“

„Eigentlich zwei Staaten. Und ich glaube eher, dass E.T. Lama einen Kampfanzug tragen wird.“

„Es gibt auch andere Sorten Aliens“, sagte er. „Hast du noch nie Star Trek geguckt? Vielleicht sind es auch die Ferengi, die hier einen Haufen Kohle verdienen wollen.“

„Vielleicht sind es auch die Klingonen, die für Ruhm und Ehre kämpfen wollen.“

„Quatsch, die Klingonen sind doch Mitglieder der Vereinigten Föderation der Planeten, Aly“, erwiderte er und lehnte sich zurück. „Also ehrlich, hörst du mir überhaupt zu, wenn ich von meiner Arbeit rede?“

„Was ich sagen will“, sagte ich mit aller Entrüstung, die ich aufbringen konnte. „Das kann verdammt übel enden. Es sind bestimmt schon achtzehntausend Menschen durch diesen Vorfall gestorben! Ich glaube, inzwischen wetzt jeder hier die Messer.“

„Also machst du dir mehr Sorgen über einen wütenden Mob als über bösartige Aliens?“

„Ich meine ja nur, das wird übel ausgehen, was auch immer die hier wollen.“

Er tätschelte mein Bein und wendete sich wieder seinen Tabellen zu. „Die Nationalgarde ist schon vor Ort. Die halten ihre Waffen in beide Richtungen.“

„Nicht gerade beruhigend.“

Ein paar Stunden später kündigte der Pilot den Landeanflug an. Ich steckte mein iPhone weg und schaute aus dem Fenster.

Das Raumschiff selbst war vom Flugzeug aus nicht zu sehen. Die gewaltige Schneise, die es in der Erde hinterlassen hatte, dagegen umso besser.

Ich fragte mich, wie kalt es draußen wohl sein würde. In Miami waren es angenehme zwanzig Grad gewesen, als wir aufbrachen. Ich brauchte die Hitze zwar nicht um jeden Preis, aber ich kannte die Horrorgeschichten über die Winter in Minnesota. Und ganz ehrlich, ich komme mit Kälte nicht klar. Und wenn ich schon nicht in Miami bleiben könnte, dann wären die einzigen Winter, die ich noch ertragen könnte, die mit meiner Großmutter im Reservat. Solche, während derer am Morgen ein Zentimeter Schnee liegt, der noch vor dem Nachmittag wieder geschmolzen ist. Aber ich wusste, dass das Wunschdenken war.

Minnesota war nun mal nicht New Mexico.

Wir hatten jetzt Oktober, und obwohl keinerlei Anzeichen vom Winter zu sehen waren, ahnte ich, dass ich eine arktische Gefriertruhe betreten würde.

Der Job meines Dads stellte mein gesamtes Leben auf den Kopf. Und da der Absturz eines UFOs so ziemlich das Größte in der Geschichte der Geschichte überhaupt war, hatte ich schon lange den Verdacht, dass wir früher oder später für eine längere Zeit nach Minnesota gehen würden.

Aber würde ich den ganzen Rest meiner Highschoolzeit hier verbringen müssen? Auf einem Internat?

Ich wusste, dass mein Vater mich nur deshalb in der Minnetonka-Schule eingeschrieben hatte, weil er vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten musste.

Aber ich wünschte, er würde mir etwas Selbstständigkeit zutrauen. Ich hatte Bluebell, eine Kreditkarte, und irgendwo in Minnesota würde es ja wohl einen Lieferservice mit chinesischem Essen geben. Es war nicht nötig, mich in irgendein piekfeines Internat zu verfrachten.

Je näher das Flugzeug dem Boden kam, desto größer wurde meine Wut.

„Du weißt, dass ich inzwischen siebzehn Jahre alt bin, oder? Ich sollte auch was in meinem Leben mitbestimmen dürfen.“

„Ich nehme dich mit zum interessantesten Ort, an dem man im Moment sein kann, und du besuchst eine Schule, deren Absolventen zu den besten und klügsten Köpfen des Landes zählen. Wusstest du, dass John F. Kennedy auf dieselbe Schule gegangen ist? Margaret Thatcher genauso. Martin Luther hat seine fünfundneunzig Thesen an die Tür dieser Schule genagelt.“

„Das hast du dir doch ausgedacht.“

„Vielleicht“, sagte er und klappte seinen Laptop zu, als das Flugzeug den Boden berührte. „Aber vielleicht auch nicht. Das wirst du niemals erfahren.“

„Ich werd’s herausfinden, sobald ich mein Handy wieder anschalten kann.“

„Bis dahin bin ich längst zum Auto geflüchtet.“

„Wenn ich schon auf diese Schule gehen muss, damit ich in deiner Nähe sein kann, dann zeig mir vorher wenigstens das Raumschiff!“

„Im Moment ist es umzingelt von Soldaten mit scharfen Waffen. Also eher nicht heute, aber ganz bald. Keine Sorge, das Schiff ist rund achthundert Meter hoch und fast fünf Kilometer lang. Du wirst es gut sehen können, egal, wo du bist.“

Als wir den vollkommen ausgestorbenen Flughafen betraten, führte ich meinen Dad zu Starbucks, um mir einen Karamell Latte zu kaufen – in weiser Voraussicht, ihn angesichts der frostigen Temperaturen draußen zu brauchen.

Starbucks war das einzig offene Geschäft im ganzen Flughafen. Nicht mal die Rolltreppen waren eingeschaltet.

Wir hielten auf den Schalter für Mietwagen zu. Dad wurde ein neuer Sedan zugewiesen – ein Toyota irgendwas, und er gab mir die Schlüssel für den Wagen. Das war eigentlich gegen die Regeln. Man muss mindestens einundzwanzig Jahre alt sein, um einen Mietwagen fahren zu dürfen. Aber ihn erwartete schon ein Fahrer, der ihn direkt zur Absturzstelle bringen sollte, während ich irgendwie zur Schule kommen musste.

Am Flughafen hat es mich erstaunt, wie wenig sich das Leben der Menschen geändert hatte, in deren Vorgärten gerade ein UFO gelandet war. Die Typen vom Mietwagenverleih wollten uns nach wie vor Extraversicherungen andrehen, und die Mitarbeiter von Starbucks lächelten ihre Kunden immer noch freundlich an. Als ich das Auto gefunden hatte, stellte ich das Navigationssystem auf die Adresse meiner Schule ein, änderte meine Meinung aber noch im selben Moment. Warum sollte ich nicht einfach allein zum abgestützten Schiff fahren und einen Blick riskieren? Also programmierte ich das Navi so, dass es mich nach Lakeville führte, und steuerte auf die Interstate 35 zu.

Die Straße ins Innere der Stadt war zwar komplett versperrt, aber genau wie Dad gesagt hatte, war das Schiff nicht zu übersehen.

Ich hatte schon einige Aufnahmen davon gesehen in den letzten fünf Tagen, aber der Anblick aus der Nähe war atemberaubend. Es wirkte unglaublich riesig, besonders vor dem Hintergrund der Felder. In den Nachrichten hieß es, das Schiff sei achthundert Meter hoch. Das war doppelt so hoch wie das Empire State Building. Und es in echt zu sehen war ein komisches Gefühl.

In den Nachrichten haben sie immer wieder neue Leute von ihren Erlebnissen am Tag des Absturzes berichten lassen. Wie sie zu Hause waren und dann beschlossen hatten, noch mal ein paar Meter rüber zum Gemüseladen zu laufen – sie waren in Sicherheit, doch der Rest der Familie war beim Absturz gestorben.

Und dieses Schiff war es, das ihren Tod verursacht, ihre Lieben getötet hatte. Ich holte mein Handy raus und machte einen Haufen Fotos, um sie meinen Freunden zu Hause schicken zu können. Sie könnten sich zwar bessere Fotos im Internet oder im Fernsehen anschauen, schließlich trieben sich hier überall Kamerateams herum, aber das war der Beweis, dass ich wirklich hier war. Mittendrin – und endgültig fort von zu Hause.

Ich schoss noch ein letztes Foto. Der Vorderteil des Schiffes hatte einen Erdhügel vor sich aufgetürmt, der nur ganz sacht ein kleines rot-weißes Farmhaus streifte. Die glücklichsten Menschen in Minnesota.

Ich stieg zurück ins Auto und tippte Minnetonka-Schule für Begabte und Talentierte ins Navigationssystem ein. Eine Route ploppte auf, die mich weit wegführte von allem, was war, in Richtung meines neuen Lebens. Wenigstens lag auf dem Weg eine Mall. Ich brauchte nämlich dingend ein paar verdammte Pullover und eine Winterjacke.

ZWEI

Es war schon beinahe dunkel, als ich das eiserne Haupttor passierte. Davor befand sich eine elektronische Sprechanlange. Ich musste mich aus dem Fenster lehnen, um den Knopf zu erreichen.

Eine verzerrte, männliche Stimme ertönte. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Alice Goodwin“, antwortete ich. „Ich bin die Neue.“

Es folgte eine lange Pause. Lange genug, dass ich befürchtete, den Knopf noch mal drücken zu müssen, aber die Stimme meldete sich erneut. „Wir hatten Sie früher erwartet.“

„Es war ein ziemlich anstrengender Tag, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Mein Dad arbeitet hier für die NASA.“

„Ja, ja“, antwortete die Stimme in einem Tonfall, als wäre die Landung der Aliens vor fünf Tagen noch lange kein Grund, die Schule zu versäumen. „Fahren Sie zur Südseite des Gebäudes, dort befindet sich der Parkplatz. Wir schicken jemanden, der Sie abholt.“

Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich geräuschvoll, und ich lenkte den Wagen einen Hügel hinauf zur Schule. Als die Straße einen Bogen machte, konnte ich die Rückseite des Gebäudes erkennen, die den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Abschnitt der Schule deutlich machte. Die Vorderseite sah zwar mit ihren Steinwänden und Ziegeln sehr alt aus, der Großteil der Rückseite jedoch wirkte nicht älter als fünf Jahre.

Hinter den verglasten Außenwänden konnte ich sehen, wie sich die Schüler im Inneren tummelten. Keiner schien zu bemerken, wie ich mit dem Auto auf den Parkplatz fuhr. Von mir aus müssten sie nicht alles stehen und liegen lassen, um die Neue begrüßen zu kommen, aber zumindest ein paar neugierige Blicke wären ganz nett gewesen.

Der Parkplatz hingegen entsprach vollkommen meinen Erwartungen. Sechs Mercedes Benz, zwei Lexus, drei Porsches und fünf BMWs. Dazwischen standen auch ein Honda und ein alter Chevy, um dem Ganzen etwas Würze zu verleihen.

Ich stellte den gemieteten Toyota zwischen zwei Mercedes und fragte mich, wie es wäre, auf eine Schule zu gehen, deren Schüler so viel Geld hatten. Ein etwas kurz geratener Typ mit rabenschwarzem Haar, südländischem Teint und rechteckigen Brillengläsern auf der Nase kam gerade die Treppe hinuntergelaufen, als ich versuchte, mein Gepäck samt Einkaufstüten hoch ins Gebäude zu schleppen.

„Hey“, sagte ich mit den drei Schuhkartons auf einem Arm. „Kannst du kurz helfen?“

„Bist du neu hier?“, fragte er und griff nach meinem Gepäck.

Er trug die Freizeitversion der Schuluniform, bestehend aus einer kakifarbenen Hose, einem weißen Oxfordhemd und einer lockeren Krawatte. Ich umgab mich mit einer Aura des Selbstvertrauens; schließlich kam ich andauernd an neue Schulen und war es längst gewohnt.

„Ja“, antwortete ich gelassen. „Alice Goodwin. Bring mich zu eurem Anführer.“

Er sah mich wortlos an.

„UFO-Scherz“, ergänzte ich und folgte ihm auf die Eingangstür zu. Er sah ganz süß aus, und ich machte einen tollen ersten Eindruck.

„Bist du wegen dem UFO hier?“, fragte er und fügte dann schnell hinzu: „Also, nicht dass du irgendwie aus dem Schiff gekommen wärst oder so. Aber du bist hier, weil sie hier sind, oder?“

„Mein Dad arbeitet für die NASA. Wie bist du darauf gekommen?“

„Weil die meisten Leute packen und von hier verschwinden und nicht umgekehrt.“

Ich hielt ihm die Tür auf, und er ging hinein.

„Und du? Keine Angst vor Außerirdischen?“

„Wo soll ich denn sonst hin? Mein Dad ist in Abu Dhabi, meine Mom in Singapur. Geschäft ist Geschäft. Immerhin hat meine Mom mir eine SMS geschickt. Ganze vier Worte: UFO in Minnesota – verrückt. Man könnte also sagen, sie sind überaus besorgt.“

Ein zügiges Klackern hallte über den Marmorboden, und einen Moment später bog eine Frau um die Ecke.

„Miss Goodwin“, sagte sie und rang sich ein halbherziges Lächeln ab. „Mein Name ist Mrs. Lund. Wir hatten Sie sehr viel eher erwartet.“

„Was lange währt, wird endlich gut“, entgegnete ich.

„Wie ich sehe, haben Sie Mr. Malik bereits kennengelernt.“

„Und wie ich das habe.“ Ich nickte ihm zu. „Hi, Malik.“

„Kurt“, sagte er. „Kurt Malik.“

„Nun, Mr. Malik, da Sie ohnehin schon alle Hände voll mit Miss Goodwins Habseligkeiten zu tun haben, wären Sie so freundlich, ihr gleich die Schlafsäle zu zeigen?“

„Sicher doch.“

„Miss Goodwin“, sagte die Frau, nun wieder an mich gewandt. „Sie sind in Zimmer Nummer 109 untergebracht. Sie werden morgen früh in Mrs. Cushings Büro erwartet. Um acht. Pünktlich.“

„Pünktlich“, wiederholte ich nickend.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

„Also“, sagte ich zu Kurt, während wir gingen. „Sie haben dich also doch nicht geschickt, um mir zu helfen?“

„Schuldig im Sinne der Anklage. Wahrscheinlich war Mrs. Lund deswegen hier. Aber warum hätte ich es auch nicht tun sollen? Einem Menschen in Not beistehen. Wir werden morgen ja ohnehin als Alienburger enden.“

„Ich bezweifle, dass Aliens großes Interesse an Fast Food haben.“

„Oder sie verarbeiten uns zu Dosenfleisch. Wollen wir wetten? Ich setze zwanzig Mäuse auf Dosenfleisch.“

„Ich setze zwanzig auf Alienseuche. Weltraumpocken. Aber so oder so, danke für deine Hilfe.“ Wir gingen durch einen ausladenden Raum, in dem sich zwei Dutzend Schüler vor einem Großbildfernseher versammelt hatten, bevor wir an der Cafeteria vorbeikamen, in der noch mehr Personen vor dem Fernsehen hingen.

„Habe ich irgendwas Spannendes verpasst in den letzten paar Stunden?“, fragte ich.

Kurt lachte. „Du nimmst die ganze Sache lockerer als jeder andere, den ich kenne.“

„Mein Dad ist daran schuld, glaube ich. Für ihn ist das alles einfach nur spannend. Ich hab ihn noch nie so aufgeregt gesehen, weder als der Mars Rover gelandet ist, noch als sie dieses andere Ding auf einen Kometen geschickt haben. Seine Begeisterung färbt wohl auf mich ab. Er hat nicht mal meine blauen Haare richtig bemerkt.“ Das war zwar gelogen, aber so bald würden mein Dad und er vermutlich keine angeregte Diskussion über meine Haarfarbe führen.

„Sie werden verlangen, dass du sie wieder änderst“, meinte er und zitierte in mahnendem Ton: „Keine unangemessene Haartracht!“

„Eine einzige Strähne? Das ist wohl kaum unangemessen“, erwiderte ich. „Da hätte ich mir etwas anderes überlegt.“

Er legte die Taschen ab und strich sich die Haare ins Gesicht, sodass sie seine Augenbrauen verdeckten. „Das hier gilt schon als zu extrem. In spätestens einer Woche verwarnen sie mich dafür.“

„Offenbar hat mich mein Vater in ein Gefängnis geschickt.“

Kurt hob die Taschen wieder auf. „Es ist gar nicht so schlimm. Wir sind hier nur alle reich. Und man erwartet ein gewisses Auftreten von uns.“

Als wir um eine Ecke bogen, kamen wir an eine Tür, die spärlich mit Halloween-Utensilien dekoriert war. Die Schüler hatten einen kleinen Geist daraufgeklebt und die Aufschrift „Damen“ zu „Dämon“ verändert.

„Ich zähle also als Dämon, was?“

„Du hast es besser getroffen als wir“, sagte er. „Auf der Tür zu unseren Schlafsälen steht ‚Monster‘.“

„Ernsthaft?“

„Ernsthaft. Wie dem auch sei, weiter kann ich dich nicht bringen. Reichtum bedeutet nämlich auch Respekt, Anstand und Würde. Und irgendeins davon bedeutet, dass es mir nicht gestattet ist, deine Taschen in dein Schlafzimmer zu bringen.“

„Das krieg ich schon irgendwie hin.“

„Wenn du später Lust hast, noch mehr Nachrichten darüber zu sehen, wie sich rein gar nichts an dem Raumschiff tut, komm einfach runter zur Cafeteria. Ich hab vor, mich da später mit Kuchen vollzustopfen. Wir sind ja eh alle des Todes, also was soll’s.“

„Gesunde Einstellung.“

Er hielt mir die Tür auf, und ich wankte unter meinem Gepäck in die Räume der Mädchen. Dieser Teil des Gebäudes wirkte sehr neu und steril. Hier und da waren Türen mit weiterer Halloween-Deko behangen. Zimmer 109 war am Ende der ersten Halle, direkt vor einer Kurve, die noch zu weiteren Schlafzimmern führte. Auf der Tür prangten eine Zeichnung einer sexy Teufelin und ein Schild, das die Bewohnerinnen als Sukkuben, Liebesdämonen, auswies.

Ich klopfte und setzte mein überzeugendstes Sukkubus-Gesicht auf, von dem ich aber befürchtete, dass es eher wie mein Ich-war-den-ganzen-Tag-unterwegs-und-einkaufen-Gesicht aussah.

Die Tür öffnete sich, und dahinter erschien jemand, der einem Sukkubus noch weniger ähnelte als ich. Sie war groß und dürr, trug ein graues Sweatshirt und karierte Pyjamahosen. Ihr rotes Haar war zu einem krausen Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Hi!“, stieß sie hervor. „Bist du die Neue?“

„Ich bin die Neue. Bist du der Sukkubus?“

Sie deutete mit der Hand auf ihren Körper. „Eine Dämonin, die Männer verführt“, antwortete sie lachend. „Und sie dann tötet.“ Sie streckte die Hand nach meinen Einkaufstüten aus. „Warst du shoppen?“

„Pullover“, gab ich zu. „Ist kalt hier.“

„Du kommst aus Florida, oder? Das muss echt hart sein.“ Sie führte mich in ein überraschend großes Zimmer mit vier Schreibtischen und zwei Sofas. Durch offene Türen auf jeder Seite konnte ich zwei Schlafzimmer mit jeweils zwei Betten darin erkennen. Alles wirkte neu und sauber. Ich würde hier sterben. Ich hatte mir noch nie in meinem ganzen Leben ein Zimmer teilen müssen.

„Ich schätze, du hast dich an das Wetter hier schon gewöhnt?“

„Nein“, sagte sie und legte mein Gepäck auf einem der Betten ab. „Nicht mal ansatzweise. Ich bin aus Atlanta. Hört man das nicht an meinem Dialekt?“

Sie hatte nicht mal den leisesten Hauch eines südlichen Akzents, und als ich schon eilig den Mund öffnete, um irgendwas zu sagen, lachte sie wieder und setzte sich.

„Keine Sorge. Ich bin zwar gebürtig aus Atlanta, hab da aber kaum gelebt. Meine Grundschule war die St. Barbara Schule für Mädchen in Pasadena, meine Junior High die St. Rose in Santa Fe.“

„Und jetzt hast du keine Lust mehr auf Heilige, oder was? Deswegen der Sukkubus?“

Sie öffnete einen meiner Schuhkartons und zog die schwarzen Lederschuhe heraus, deren Absätze sie prompt mit den Fingern maß.

„Das ganze Zeug mit den Sukkuben ist eher Brynnes Ding. Ich bin übrigens Rachel. Die werden dir niemals erlauben, diese Schuhe zu tragen. Viel zu hoch.“

Ich stöhnte und ließ meine Sachen auf das Bett fallen. „Es sind gerade mal drei Zentimeter.“

„Fast schon vier“, meinte Rachel. „Zwei Zentimeter ist das Limit. Darum trage ich nur noch flache Schuhe.“

„Zwei Zentimeter? Sind das dann überhaupt noch Schuhe?“

Sie grinste und öffnete den nächsten Karton. Sie schien sich keine Spur um Privatsphäre oder so zu kümmern. So fühlte es sich an, Zimmergenossen zu haben? Ich schnüffle zwar auch ganz gern in den Privatsachen anderer Leute herum – wie jeder andere auch –, aber gibt es für Mitbewohner keine Anstandsregeln?

Ich deutete mit dem Finger auf die Box. „Die werden dann wahrscheinlich auch zu hoch sein.“

„Jupp“, sagte sie. „Aber nach den Schulstunden wirst du klasse darin aussehen.“ Sie hielt die Schuhsohle gegen ihren Fuß. „Ich wette, wir könnten tauschen.“

„Nur zu. Also, du, Brynne, und wer schläft im vierten Bett?“

„Das war Nikki, aber ihre Eltern haben sie gestern Morgen abgemeldet. Im Moment machen hier alle die Fliege. Was ist mit dir? Ich hab gehört, du bist extra wegen dem Ding hier?“

„Eigentlich wegen meinem Dad. Er arbeitet für die NASA.“

„Warum wohnst du dann nicht einfach bei ihm?“

„Vermutlich lebt er in einem Wohnwagen voller benutzter Kaffeebecher. Er kann sehr leidenschaftlich werden, wenn es um seine Arbeit geht. Selbst wenn es keinen Hinweis auf Aliens gibt, würde er niemals vor zwanzig Uhr nach Hause kommen.“

Rachel schlüpfte in einen meiner Schuhe und betrachtete sich in dem großen Spiegel an der Badezimmertür.

„Die bringen das karierte Flanell wirklich super zur Geltung“, sagte ich. Sie drehte sich um und streckte mir die Zunge heraus.

„Also, was ist mit dir?“, fragte ich, immer noch zu verlegen, um auszupacken. „Zählst du zu den Begabten oder den Talentierten?“

Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Ehrlich?“

„Nein, erzähl mir einfach irgendwelchen Mist. Ja, natürlich ehrlich.“

Rachel lachte wieder und setzte sich, um die Schuhe auszuziehen. „Beides eigentlich. Begabt in Mathe und Naturwissenschaften. Und talentiert am Cello. Ich kann auch ganz gut Violine spielen, wenn man das von mir verlangt.“

„Tut man das hier? So eine Schule ist das?“

„Nein, hier nicht“, meinte sie und räumte die Schuhe wieder in den Karton, legte ihn auf ihren Schoß und schloss den Deckel. „Meine Eltern meinen, Violine sei das angemessenere Instrument für mich ist. Keine Ahnung, wieso.“

„Gefällt’s dir nicht?“

„Ich bin einfach nicht so gut darin“, sagte sie mit einem Schulterzucken. „Ich finde, es klingt irgendwie zu kreischig, keine Ahnung. Ist das überhaupt ein Wort? Aber Cello macht Laune.“

„Tja, die gute Nachricht ist, dass die Welt ohnehin untergehen wird, also muss man sich darüber keine Sorgen mehr machen.“

Jegliche Farbe wich aus Rachels Gesicht. „Sagt dein Vater das etwa?“

Ich berührte tröstend ihre Hand. „Nein, entschuldige. War nur ein Scherz.“

„Alle machen sich darüber lustig“, sagte sie. Ihr Verhalten änderte sich schlagartig. Sie hob meine Taschen auf, verstaute sie im Schlafzimmer. Anscheinend teilten wir uns den Schlafraum, denn unsere Namen standen auf der Tür. „Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Und jeder findet das wahnsinnig witzig. Weißt du, warum ich mich hier verkrieche? Weil ich es nicht mehr ertrage fernzusehen. Ich kann ja kaum noch online bleiben.“ Rachel deutete auf ihren Laptop. „Selbst Websites, die gar nichts mit Nachrichten zu tun haben, zeigen schwarze Schleifen für die Opfer, die bei dem Absturz gestorben sind. Alles ist voll mit Artikeln wie ‚Wo warst du, als …?‘ oder ‚Was bedeutet das?‘. Es ist furchtbar!“

„Das tut mir leid.“ Es schien nicht gerade ausreichend als Entschuldigung, aber etwas anderes fiel mir auch nicht ein. Ich machte Witze über Aliens, weil es immer noch besser war, als auszuflippen. Rachel hingegen zog wohl Letzteres vor, und ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen.

„Ist schon okay“, meinte sie. „Ich bin ja auch keine von denen, die den Weltuntergang heraufbeschwören. Nur eine von denen, die nicht gut damit klarkommen, wenn sich durch ein Ereignis alles verändert. Das ist wie die Aufklärung mal eine Million.“

Ich lächelte, und sie erwiderte es.

„Ergibt nicht viel Sinn, oder?“, fragte sie.

„Ich verstehe, was du meinst.“ Ich kramte ein Paar Socken aus einer meiner Taschen. „Sag mal, kennst du Kurt Malik?“

„Klar. Wieso fragst du?“

„Ich hatte vor, mich später mit ihm in der Cafeteria zu treffen, zum Fernsehen.“

„Dein Ernst?“ Sie ließ sich aufs Bett fallen.

„Was denn?“

„Weißt du eigentlich, wie viele Verabredungen ich schon mit Jungs in der Cafeteria hatte? Noch gar keine. Und du tauchst hier auf und hast schon ein Date, bevor du überhaupt in dein Zimmer eingezogen bist!“

„Das ist kein Date.“

„Ach, du weißt schon. Irgendwas halt. Du hast ein Irgendwas mit Kurt Malik.“

„Stehst du auf Kurt?“

„Nein, tu ich nicht. Er ist nicht mal in meinen Top Ten. Aber trotzdem.“

„Trotzdem“, stimmte ich zu. „Wie wär’s damit: Ich hab eigentlich auch keine große Lust, jetzt fernzusehen. Stattdessen könnte ich uns beiden etwas Kuchen oder so besorgen, und du hilfst mir dann hier mit dem Auspacken?“

„Nein“, sagte Rachel und setzte sich wieder auf. „Ich möchte dir dein Irgendwas mit Kurt nicht vermiesen.“

„Ich kann’s einfach absagen. Wenn er auf mich steht, dann spiel ich einfach die Unnahbare. Und wenn er nicht auf mich steht, na ja, dann hab ich uns beiden einen Gefallen getan.“

Rachel lächelte leicht. „Deine Denkweise gefällt mir. Aber trotzdem. Was, wenn es deine einzige Gelegenheit ist? Ich bekomme hier jedenfalls nicht besonders viele.“

„Es werden sich andere ergeben. Sag mir lieber, ob du wirklich eine Top-Ten-Liste führst.“

„Na klar. Wie schon gesagt, begabt in Mathe und Naturwissenschaften. Oder anders ausgedrückt: ein kompletter Nerd. Ich habe sogar Diagramme darüber erstellt.“

Ich lachte. „Und wer steht an der Spitze?“

Sie grinste. „Das bleibt privat und durch ein Passwort auf meinem Computer geschützt. Denn sollte es jemals in die falschen Hände geraten, würde Brynne sicher zu meinem schlimmsten Albtraum werden.“

Ups. Ich wollte ganz sicher keine Zimmergenossin, die jemandes schlimmster Albtraum ist. „Wieso denn das? Würde sie es ausplaudern?“

„Das nicht. Aber sie würde versuchen, mich jede Minute des Tages dazu zu überreden, die Jungs auf der Liste anzubaggern.“

„Also bieten sich dir keine Chancen auf ein Date, weil du die Jungs nicht darum bittest?“

„Tja, sagen wir mal so: Das Wort ‚Sukkubus‘ trifft hier nur auf eine der Bewohnerinnen zu.“

„Ich will eigentlich gar nicht fragen“, fing ich an, „aber worin genau ist Brynne begabt oder talentiert? Oder sollte ich das lieber die Jungs fragen?“

„Oh, sie ist ein Genie. In mehr als einer Hinsicht. Nicht so wie ich. Ich meine, ich könnte jedem einzelnen dieser Typen Nachhilfe in Mathe geben, was ich auch getan habe, aber dennoch erinnert sich am Samstagabend keiner mehr an mich.“

„Und hast du mal einen von ihnen nach einem Date gefragt?“

„Ich bin in Internaten aufgewachsen. Da lernst du nicht wirklich, wie du mit Jungs sprichst. Statt Eltern hatte ich Vertrauenslehrer und Schulzeugnisse.“

„Tja, dann werde ich wohl deine Mom sein müssen, solange wir hier sind.“

„Vielen Dank.“ Rachel lachte und ergänzte dann mit piepsiger Kinderstimme: „Du hast versprochen, mir Kuchen zu holen, Mom.“

DREI

Die Kuchenauswahl war tatsächlich ganz gut. Eigentlich war die Auswahl an allem hier ganz gut. Rachel hatte erzählt, dass der Unterricht derzeit ausgesetzt war und die meisten Schüler ihre Zeit in den Aufenthaltsräumen verbrachten, während die Cafeteria sie am laufenden Band mit Mahlzeiten und Nachspeisen versorgte.

Die UFO-Landung würde noch schwere Herzprobleme an der Minnetonka-Schule für Begabte und Talentierte verursachen.

Kurt lag in der Cafeteria, ausgestreckt auf einer Bank, sodass für mich kein Platz mehr darauf war. Als er mich reinkommen sah, sprang er auf und folgte mir. Ich verkündete ihm, dass ich eher zurück auf mein Zimmer gehen würde, als hier zu bleiben. Es schien ihm nicht gerade das Herz zu brechen, was mich irgendwie enttäuschte. Sollte er nicht eigentlich traurig darüber sein? Stattdessen kriegte ich ein „Cool, kein Problem“ zu hören, so als ob er sich freute, dass dann mehr Bananenkuchen für ihn übrig blieb.

„Irgendwelche neuen Entwicklungen?“, fragte ich und balancierte vier Stück Kuchen gleichzeitig auf zwei Tellern. Zweimal Kirsche, einmal Limette und noch eins mit Kokosnusscreme. Ich überlegte, wie ich wohl die Tür zum Schlafsaal aufkriegen sollte.

„Sie mussten noch mal Verstärkung für das Militär anfordern, weil die Demonstranten immer wieder versuchen, die Absperrung um das Schiff zu übertreten.“

„Wieso das denn?“

„Weiß ich auch nicht. Aber einem Typen ist es anscheinend gelungen, zum Schiff zu rennen und es mit einem Brecheisen zu attackieren“, sagte er. „Das Video davon zeigen sie jetzt ziemlich oft. Du hättest mal sehen sollen, wie sie den Kerl festgenommen haben. So was sieht man sonst nur beim Football. Und das Militär hat jetzt vor, jeden zu erschießen, der versucht, das Schiff zu betreten. Sie haben wohl Angst vor Bomben oder so.“

„Wow. Willkommen auf der Erde.“

„Ich kann die Demonstranten schon irgendwie verstehen“, sagte Kurt. „Sie erzählen uns immer wieder, dass die Zahl der Opfer noch ansteigen wird. Es sind jetzt schon achtzehntausend Tote, und dreitausend Menschen werden noch vermisst.“

Autor