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Risa aus dem Schattenwald

Als Buch hier erhältlich:

Schon seit Jahrhunderten leben die Wesen des Schattenwaldes in schönstem Einklang mit der Natur. Doch es ist einer unter ihnen, der den Frieden zerstören will ...

Risa traut ihren Ohren kaum: Der Schattenwald, ihr Zuhause, ist in Gefahr! Tag für Tag verschwinden Tiere aus dem Wald, und schon bald wollen Grumpfknolle die ersten Bäume fällen. Nicht nur die Elfe Frigge, sondern auch die hundertjährige Kastanie drängen das Waldglimpf-Mädchen, schleunigst etwas zu unternehmen! Aber warum erkennen die Wald-Weisen den Ernst der Lage nicht? Selbst Risas eigener Vater will nicht auf sie hören. Und so ist es an Risa und ihrem treuen Gefährten, dem Wolf Halgrimm, den Schattenwald zu retten.

Ein großes Abenteuer über wahre Freundschaft und ein Mädchen, das die Natur mit Mut und Tapferkeit vor ihrem Feind beschützt!


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Seitenanzahl: 160
  • Altersempfehlung: 8
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850441

Leseprobe

Für unsere sechs starken Risas
und die beiden mutigen Yoricks

Es war Herbst geworden im Schattenwald. Nebel, zäh wie Kiefernharz, hing zwischen dem Farn und dem dichten Hexenkraut. Ein Sturm fegte durch die Bäume und schüttelte das Laub zu Boden.

Vor einem Blätterberg stand ein Wolf. Ein kräftiges, altes graubraunes Tier. Sein Körper war angespannt, das Nackenfell gesträubt, die Augen funkelten. Messerscharfe Zähne blitzten unter seinen hochgezogenen Lefzen hervor. »Endlich hab ich dich«, knurrte er. »Du entkommst mir nicht. Es ist vorbei.«

Im Laub raschelte es.

»Was ist – soll ich dich packen? Soll ich dich rausziehen? Oder ergibst du dich aus freien Stücken?«, drohte der Wolf.

Kein Geräusch war mehr aus dem Blätterberg zu hören.

»Du bist da drin. Ich weiß es genau. Ich kann dich riechen … spüren …« Der Wolf heulte auf und fletschte die Zähne.

Ein unterdrücktes Husten drang aus dem Laub.

Der Wolf verzog zufrieden das Maul. Ohne dabei einen Laut zu verursachen, machte er einen federnden Schritt nach vorn. »Du willst es nicht anders. Bei drei schnappe ich zu. Eins … zwei …«

In diesem Moment stob das Laub auseinander und gab den Blick frei. Zunächst auf einen Kopf mit roten Wangen, dunklen, fast schwarzen Augen, spitzen langen Ohren und einer wuscheligen honigblonden Lockenmähne, in der sich zahlreiche Blätter verfangen hatten. Dann tauchte auch der schmale Körper zu dem Kopf auf.

Ein Mädchen in einem moosgrünen Kleid befreite sich lachend aus ihrem Versteck. Sie reichte dem Wolf gerade bis zur Schulter. »Das ist gemein! Ich hatte mich so gut versteckt. Beim nächsten Mal stopfe ich dir Kastanien in die Nasenlöcher, damit du mich nicht erschnupperst, Halgrimm.«

»Das nützt auch nichts, Risa. Wolf bleibt Wolf!«

Das Mädchen streckte die Arme nach dem zotteligen Kerl aus und streichelte ihm liebevoll durchs Fell. Dabei begannen die blättrigen Muster auf ihrer Haut, die sich über den Unterarm bis zu den Fingern zogen und das Erkennungsmerkmal der Waldglimpfe waren, zu leuchten. »Du solltest meine Kraft und meinen Mut nicht unterschätzen! Ich kann auch gefährlich werden, mein Freund. Genau wie du. Ich habe meinen Bogen dabei.«

Statt einer Antwort stupste Halgrimm das Mädchen mit seiner Schnauze so kräftig an, dass es rückwärts in den Blätterberg zurückfiel.

Risa stieß einen ärgerlichen Schrei aus, so spitz und hell, dass er wie der Laut eines Vogels klang. Er hallte von den hohen Bäumen wider, überschlug sich, wurde immer leiser und löste sich schließlich ganz auf.

Der Wolf störte sich nicht daran. Er drehte sich schweigend um und verschwand. Doch Risa konnte seine Gedanken hören: Ich habe unser kleines Spiel gewonnen, meine Freundin. Ich freue mich schon aufs nächste Mal.

Risa lächelte. Halgrimm und sie konnten sich auch ohne Worte verständigen. Ihre enge Freundschaft verlieh ihnen diese ganz besondere Gabe.

Während Risa noch gedankenversunken dastand, stieß ein riesiger Vogel vom Himmel herunter.

»Baltur!« Risa streckte den Arm aus, und der Mäusebussard landete darauf. Als Bote von Risas Vater gehörte Baltur zur Familie. Risa kannte ihn schon von klein auf. »Was machst du hier?«

»Ich wollte dir nur schnell Auf Wiedersehen sagen«, erklärte Baltur. »Ich bin später für eine Weile unterwegs, zu einer Versammlung der Greifvögel. Aber wenn du Hilfe brauchst, lass die Bäume ihr Lied singen. Dann bin ich für dich da. Pass auf dich auf, Risa-Kind.«

»Klar, das mache ich, Baltur. Bis bald!« Risa hob den Arm, der Vogel stieß sich ab, stieg wieder in den Himmel auf, wo er bald zwischen den Wolken verschwunden war.

»Du kleiner, nichtsnutziger Waldglimpf«, hörte Risa stattdessen eine fiepsige Stimme über sich. »Lässt dich von einem Wolf in die Blätter stoßen. Beim Birkenschneckling! Eine Schande ist das, wirklich eine Schande.«

Genervt sah Risa nach oben. In einem dichten Heckenrosenstrauch turnte eine winzige Gestalt, eine Waldelfe. Sie war nicht größer als Risas Zeigefinger. Ihre Haare sahen aus, als loderte ein Feuer auf ihrem Kopf, und das Elfenkleid war schwarz.

»Und was geht dich das an, Frigge?«, schnauzte Risa das kleine Wesen an. Sie kannte die Geschwätzigkeit der Elfe. Und sie hatte das Gefühl, dass Frigge häufig schlecht gelaunt war. »Musst du dich schon wieder einmischen?«

»Du bist die Tochter von Rune, dem Chef der Waldglimpfe. Und lässt dich von einem Wolf ärgern?«

Risa stemmte die Hände in die Hüften und holte tief Luft. »Er hat mich nicht geärgert, du garstige Fee.«

Risa wusste nur zu genau, dass es nichts gab, was die Elfen mehr ärgerte, als mit den zwar freundlichen, aber einfältigen Feen verglichen zu werden.

Prompt begann Frigge auf ihrem Ast zu schaukeln und zu toben und dabei die wildesten Schimpfwörter auszustoßen.

»Aber weißt du, wer mich gerade ärgert?« Mit ihren Füßen schob Risa die Blätter unter sich weg, stellte sich fest auf den Boden, packte einen Pfeil aus ihrem Köcher und spannte ihren Bogen.

»Das ist nicht lustig, Waldglimpfmädchen«, rief die Elfe erschrocken und verschränkte abwehrend die Arme. »Sei bitte so nett und leg den Bogen zur Seite. Dann … verrate ich dir auch ein Geheimnis.«

Risa hob neugierig die Augenbrauen, blieb aber dennoch in Schussposition. »Was willst du mir schon erzählen, Frigge? Bestimmt nicht mehr als ein paar alberne Geschichten von den Wurzeltrollen. Oder uralte Neuigkeiten von den Steinriesen? Glaubst du etwa, ich kenne die Geschichten aus dem Buch der Legenden nicht? Pah!«

»Giftiger Seidelbast, wenn ich es dir doch sage, es ist ein echtes Geheimnis«, quietschte Frigge aufgeregt. »Wichtig für dich und dein Volk.«

Der Ast einer krumm gewachsenen Tanne, die in unmittelbarer Nähe zu Risa stand, legte sich behutsam auf Risas Schulter. »Du solltest ihr wirklich zuhören. Frigge könnte recht haben. Möglich ist das schon. Sogar sehr wahrscheinlich«, murmelte sie.

Risa ließ erst den Bogen sinken, dann streifte sie den Ast vorsichtig ab. »Was weißt du, Tanne? Nun sag schon!«

Frigge schnaubte beleidigt. »Hallo? Ich hatte gerade mit dir geredet, du ungehobelte Walnuss!«

Doch Risa achtete nicht darauf, sondern wandte sich nun ganz der Tanne zu.

»Es scheint so, als ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu. Gefahr droht.« Ein Zittern ging durch den Nadelbaum. »Alle Bäume reden darüber, alle. Wir munkeln und flüstern, wispern und grübeln. Aber … keiner kennt Einzelheiten.«

»Aber wie kann es sein, dass ich davon nichts weiß?« Risa seufzte. »Ich kann nicht nur im Dunkeln sehen wie alle Waldglimpfe, dazu habe ich auch das beste Gehör im ganzen Schattenwald. Ich kann das Lied der Bäume hören, das Murmeln der Steine, die Erzählungen des Windes und jeder noch so kleinen Bö. Warum sollten mir diese Geschichten entgangen sein?«

Die Tanne schüttelte ihre Zweige. »Weil wir dich nicht beunruhigen wollten, Risa. Keiner weiß wirklich Bescheid.«

»Was soll das heißen? Kann sich nicht mal einer etwas genauer ausdrücken?« Langsam wurde Risa ungeduldig.

Nun richtete auch noch die große, hundertjährige Kastanie das Wort an das Waldglimpfmädchen. »Du lässt uns doch nicht im Stich, Risa?«

Eilig lief Risa hinüber zu ihrem Lieblingsbaum, der ein Stück entfernt von den Nadelbäumen an der Lichtung stand, lehnte ihren Kopf an den mächtigen Stamm und strich mit ihren Händen über die furchige grünbraune Rinde. Sofort nahmen die Muster auf ihren Armen die gleiche Farbe an. Risa schien beinahe mit dem Baum zu verwachsen. Gleichzeitig senkte die Kastanie einen Ast und strich mit ihren gezackten Blattfingern sachte über Risas Kopf. »Ich mag diese Schattenmänner nicht, die meinen Stamm vermessen haben. Meine kleine Freundin. Lass nicht zu, dass uns etwas angetan wird, bitte. Versprich es.«

»Natürlich nicht, Kastanie. Niemals! Aber ich muss doch erst mal wissen, worum es geht!«, gab Risa zurück, bevor sie sich wieder von ihrem Lieblingsbaum löste und der Elfe zuwandte, die ihr gefolgt war. »Sag mir auf der Stelle, was du angeblich irgendwo erfahren hast und von wem, Frigge!«

Die Elfe lächelte siegessicher. »Was gibst du mir dafür?«

»Wie bitte? Wie kommst du denn auf so eine Idee!?« Risa hob den gespannten Bogen. »Du kannst gar nichts verlangen. Im Gegenteil! Pass bloß auf, dass ich dir nicht in deinen Elfenpo schieße.«

»Das würdest du nie tun«, rief Frigge. Aber ihre Stimme klang unsicher.

»Risa, lass Frigge in Ruhe«, mischte sich eine kleine Birke ein. Ihre Blätter zitterten, während sie sprach. »Gib ihr etwas, bitte. Und dann hör ihr zu. Es ist bestimmt wichtig für uns Bäume, was sie zu sagen hat. Für uns kleine ganz besonders.«

Risa zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts. Also nichts Wertvolles, was einer eitlen Elfe gefallen könnte.«

»Doch!« Frigge deutete auf das Kleid des Waldglimpfmädchens. »Gib mir einen von den Knöpfen. Ich mag sie. Ich mag sie sogar sehr!«

Die kleinen Glasknöpfe hatte Risas Mutter Milda unter großen Anstrengungen von den Glasbergen am Schwarzen See abgeschlagen und an vielen Abenden eigenhändig geschliffen. Risas Vater hatte behutsam ein Loch hineingebohrt. Viel Arbeit und vor allem Liebe steckten in jedem einzelnen Knopf.

»Nein!« Das Waldglimpfmädchen ließ den Bogen sinken. »Keinen Knopf.«

»Wie du willst.« Frigge nutzte die Situation und flog zurück zum Heckenrosenstrauch. Dort hangelte sie sich geschickt und blitzschnell an den dornigen Zweigen nach oben. Beinahe an der Spitze angekommen, blickte sie noch einmal zurück. »Dann bleibt der hinterlistige Plan, der den ganzen Schattenwald betrifft, eben mein Geheimnis.«

Risas Ohren stellten sich steil auf, Blut schoss durch ihren Oberkörper und verdunkelte das Muster an ihren Händen. Mit einem schnellen Griff zog sie ihr Messer aus der Hosentasche, schnitt den obersten Knopf ab, legte das schimmernde Glas in die Handfläche und streckte den Arm aus. »Hier! Du kannst den Knopf haben, Frigge. Jetzt erzähl schon! Ich hoffe, ich kann dir trauen und du hast wirklich wichtige Neuigkeiten.«

Ein Rauschen ging durch die Bäume in der Umgebung. Es klang beinahe so, als würden sie vor Erleichterung seufzen. Kichernd ließ sich Frigge vom Wipfel fallen, breitete im Sturz ihre Flügel aus und landete sanft auf Risas Arm. Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Knopf und stopfte ihn hastig in einen Beutel, den sie über der Schulter trug. Dann schwebte sie direkt neben Risas rechtes Ohr.

»Sie wollen sich ausbreiten, die alten Knollenfresser. Ihr Land reicht ihnen nicht mehr«, wisperte Frigge so leise, als hätte sie Angst, dass jemand sie hören könnte. »Wollen Bäume fällen im Herbst und Winter. Als Erstes soll die Eiche des Westens fallen.«

»Waaas?« Risa sah die Elfe mit großen Augen an. »Das ist der Baum, der die Grenze zum Knollenland markiert.«

Frigge nickte heftig. »Im Frühling wollen sie einsäen. Auch auf dieser Lichtung in unserem Schattenwald, hier ist der Boden besonders gehaltvoll. Deshalb soll auch die alte Kastanie dran glauben, dein Lieblingsbaum.«

Irritiert drehte Risa den Kopf und blinzelte die Elfe an. »Ich … ich verstehe nicht. Von wem sprichst du?«

»Dummchen! Wirres Waldglimpfmädchen«, keifte Frigge. »Die Grumpfknolle natürlich! Sie wollen mehr Ackerland.«

»Unsinn, Frigge.« Risa schüttelte den Kopf. »Es gibt den Lumpalosa-Vertrag, den jedes Waldglimpfkind kennt – unser Abkommen mit den Grumpfknollen. Jeder bleibt auf seinem Gebiet. Für immer und ewig. So wurde es vor langer Zeit beschlossen und auch besiegelt!«

»Für immer und ewig – dass ich nicht lache!« Frigge schlug aufgebracht mit den Flügeln. »Ich habe sie belauscht, Risa, ich habe Gnör belauscht. Der Chef der Grumpfknolle hat es selbst gesagt. Beim Rotgiftkäfer, Gnör will euer Land!«

Ein dumpfes Knurren unterbrach das Gespräch der beiden. Plötzlich stand Halgrimm lauernd vor Risa. »Rückt dir die Elfe mit ihrem Geplapper auf die Pelle, Risa? Dieses aufdringliche Flatterwesen. Ich könnte sie mit einem Happs vertilgen.«

Risa schüttelte den Kopf. »Schon gut, Halgrimm.«

Frigge warf dem Wolf einen giftigen Blick zu. Vermutlich ärgerte sie sich darüber, dass Halgrimm sie belauscht hatte. Mit lautem Schimpfen stob die Elfe nach oben in den Himmel und verschwand in der orangefarbenen, aber immer noch dichten Blattkrone einer Eiche.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Risa biss sich auf die Unterlippe. »Es gibt schlechte Nachrichten, Halgrimm. Wir müssen sofort zu Rune.«

So schnell sie konnte, verstaute Risa den Pfeil im Köcher und hängte sich den Bogen um. Sie sprang auf Halgrimms Rücken, damit der Wolf sie durch den Schattenwald nach Hause tragen würde. Zur Höhle der Waldglimpfe.

Beim Rotgiftkäfer, Gnör will euer Land! Frigges Worte hallten in Risas Ohren nach, während sie über den weichen Waldboden sausten.

Unterdessen raunten ihr die Bäume noch mehr besorgniserregende Geschichten zu. Es hatte sich wohl herumgesprochen, dass Risa mit einigen Bäumen geredet hatte. Und auf einmal wussten alle etwas zu berichten: »Immer mehr Tiere aus dem Schattenwald verschwinden«, wisperte eine hohe Fichte.

»In meinen Zweigen nistet sonst mein Freund, der Eichkrabbler«, jammerte eine schmale Kiefer. »Seit Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Wir vermissen Grimmelchen und Eichkrabbler, Rotfelle und sogar Wölfe«, rief ein kräftiger Ahorn und streckte einen Zweig nach Risa aus.

»Warte, Risa. Ich muss dringend mit dir sprechen!« Eine Tanne neigte sich zu Risa und legte ihr einen Ast auf die schmale Schulter. »Tiere verschwinden spurlos. Geheimnisvolle Späher machen nachts den Schattenwald unsicher.«

Halgrimm, der das Rauschen der Bäume vernahm, stellte die Ohren auf und knurrte bedrohlich. »Bei meinem Wolfsrudel, das klingt nach Gefahr!«

Risa hörte und lauschte, fragte nach und wunderte sich. Was die Bäume ihr gerade zuflüsterten, war unhörbar für die meisten anderen Wesen, aber klar und deutlich für Risa. Denn das war die besondere Fähigkeit der Waldglimpfe: Sie verstanden die Sprache der Bäume. Und die der Gräser und Hecken, Büsche und Feldgehölze. Sie konnten es hören, wenn die Bäume vor Schmerzen klagten oder vor Glück jubelten. Die Waldglimpfe erkannten, wenn der Schattenwald Wasser brauchte oder sich Ungeziefer eingeschlichen hatte. Alle Gewächse, die den Schattenwald ausmachten, waren für sie wie gute Freunde. Und diese Freunde waren in großer Sorge.

»Ich muss es Rune erzählen«, wisperte Risa immer wieder und legte den Kopf schief. »Was ist nur los im Schattenwald?«

Von ihrem Vater hatte Risa gelernt, völlig eins mit dem Wald zu sein. Egal ob die Sonne mit ihren hellen Strahlen sie wärmte oder der Wind sie ordentlich durchrüttelte. Risa wusste, dass die Natur ein Geschenk war, ein großes Geschenk, das zu hüten sie sich zur Aufgabe gemacht hatte. So wie es bereits ihr Vater, Urgroßvater, Ururgroßvater und all ihre Ahnen zuvor getan hatten.

In der Ferne entdeckte das Waldglimpfmädchen einen Punkt auf einem hohen Stein, der immer größer wurde, als sie auf Halgrimm herangeprescht kam. Keine Frage, das war Rune. Das Oberhaupt der Waldglimpfe saß auf seinem Lieblingsplatz in der Nähe der Höhle und war, wie so oft, in ein Gespräch mit einigen Bäumen vertieft.

»Es ist etwas passiert, Rune. Ich muss unbedingt mit dir reden!«, rief Risa atemlos, als der Wolf schließlich aus vollem Lauf vor Runes Platz stoppte. Mit einem kraftvollen Sprung hüpfte Risa vom Rücken des Tieres direkt vor die Füße ihres Vaters.

»Risa, mein Ahornblatt, was bist du denn so außer Atem?«, begrüßte Rune sie.

Ein warmes Gefühl durchzuckte Risa. Mein Ahornblatt oder kleine Waldhimbeere, so nannte ihr Vater sie seit vielen Jahren. Als wäre sie immer noch sein kleines Mädchen und nicht die Tochter, die eines Tages in seine Fußstapfen als Oberhaupt der Waldglimpfe treten würde. »Frigge hat mir etwas Schreckliches erzählt«, begann sie. »Stell dir vor, die Grumpfknolle haben geheime Pläne. Sie wollen unser Land. Wie können sie nur so gemein sein!? Und die Tannen und Fichten und Birken machen sich Sorgen. Tiere verschwinden im Wald, und sie sprechen von geheimnisvollen Spähern. Frigge ist der Meinung, dass …«

»Stopp! Risa, hör sofort damit auf!«, befahl Rune. »Beruhige dich erst und rede dann.«

Risa sah ihn mit großen Augen an, tat aber, was er von ihr verlangte. So oft hatte Milda ihr eingeschärft, dass Rune Respekt verdiene.

»Gut so.« Rune nickte zufrieden. »Ich bin jeden Tag im Gespräch mit den Bäumen und habe mich gerade eben erst mit ihnen ausgetauscht. Ich habe nicht den Eindruck, dass es Probleme gibt. Also … jetzt noch einmal von vorne und bitte schön langsam und deutlich, meine kleine Walderdbeere.«

Risa holte tief Luft, bevor sie bemüht sagte: »Es geht um die Grumpfknolle. Ich … ich habe gerade erfahren, dass sie angeblich den Lumpalosa-Vertrag zur Aufteilung der Gebiete aufkündigen wollen. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann verlangen sie nach mehr Ackerland. Und das auf Kosten der Bäume, die dort stehen. Die sollen nämlich alle gefällt werden. Als Erstes die Eiche des Westens, später auch meine Lieblingskastanie. Aber das darf nicht sein, das darfst du auf keinen Fall zulassen, hörst du!? Auf gar keinen Fall, die Kastanie mag ich nämlich am liebsten von allen. Und außerdem machen sich die Tannen und Fichten Sorgen um die Tiere des Schattenwaldes.«

»Langsam, langsam, Risa. Woher weißt du das alles?«, wollte Rune wissen.

Risa hatte den Mund schon aufgeklappt, da entlud sich direkt über ihnen mit einem ohrenbetäubenden Krachen eine dicke schwarze Wolke. Harte Tropfen bahnten sich mit aller Kraft einen Weg durchs Geäst und prasselten auf Rune, Risa und Halgrimm nieder. Die Bäume um sie herum bogen sich bedrohlich, die Äste verteilten zornige Peitschenhiebe, und die letzten Herbstblätter wirbelten wie Wurfgeschosse durch die Luft.

»Schnell, lauf in die Höhle!«, hörte Risa ihren Vater durch das Tosen und Klatschen des Unwetters brüllen. Er selbst war von seinem Lieblingsfelsen gerutscht und beeilte sich, in die kleine Vorkammer der Wohnhöhle zu flüchten.

Risa tat es ihm gleich. Doch im Eingang blieb sie stehen, weil sie bemerkte, dass Halgrimm ihr nicht gefolgt war. »Was ist los, Zottelschnauze?«

Der Wolf ließ die feuchten Ohren hängen. »Deine Mutter mag mein Wolfsblut nicht. Sie sieht es nicht gern, wenn du …«

»Unsinn«, fiel Risa ihrem Freund ins Wort. »Ich hab es dir schon mindestens tausend Mal gesagt: Das bildest du dir nur ein. Und selbst, wenn es so wäre … Ein Unwetter zieht auf. Also komm endlich. Es sei denn, du möchtest unbedingt von einem herabstürzenden Ast eine riesige Beule verpasst bekommen?«

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