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Wendy & Peter. Verloren im Nimmerwald

Als Buch hier erhältlich:

Manche Geheimnisse sind dunkler als jeder Schatten

Es ist fünf Jahre her, dass Wendy und ihre Brüder im Wald verschwanden und nur sie zurückkehrte. Als andere Kinder aus der Stadt vermisst werden, rückt das ungelöste Rätsel um ihre Brüder wieder ins Licht. Während sie versucht, ihrer Vergangenheit zu entfliehen, trifft Wendy auf einen mysteriösen Jungen. Peter, von dem sie dachte, es gäbe ihn nur in Geschichten, bittet Wendy um Hilfe, die vermissten Kinder zu retten. Aber dazu muss sie sich den Schatten stellen, die im Wald auf sie warten …

Peter Pan in neuem Licht: Ein eindringlicher Roman darüber, was es bedeutet, erwachsen zu werden

Das neue Buch von New-York-Times-Bestsellerautor Aiden Thomas (Yadriel & Julian. Cemetery Boys)


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802174

Leseprobe

Für jedes schwere Herz,
das zu schnell erwachsen werden musste

KAPITEL 1

Sternschnuppen

Als Wendy Darling durch die Tür trat, brachen die Unterhaltungen ab, und alle Blicke richteten sich auf sie. Während sie da stand, einen Stapel Akten auf dem Arm, setzte gedämpftes Getuschel ein. In Wendys Nacken kribbelte es. Als unbedeutende ehrenamtliche Kraft im einzigen Krankenhaus der Stadt hatte sie den ganzen Tag damit verbracht, im Keller Akten zu kopieren. Diese Seite ihrer Arbeit war zwar langweilig, aber schließlich wollte Wendy Krankenschwester werden. Für den durchschnittlichen Teenager gab es wahrscheinlich spannendere Möglichkeiten, seinen achtzehnten Geburtstag zu verbringen, aber Wendy versuchte, sich unauffällig zu verhalten und auf keinen Fall Aufmerksamkeit zu erregen.

Das war ihr allerdings spektakulär misslungen.

Im Stationszimmer wimmelte es von Leuten in Krankenhauskitteln und Polizisten in Uniform, und alle schauten zu Wendy, die unschlüssig in der Tür stand und versuchte, ihren Aktenstapel nicht fallen zu lassen. Ihre schweißnassen Hände machten es ihr nicht gerade leichter, die Plastikordner festzuhalten, und obwohl eine leise Stimme in ihr sie beschwor, auf dem Absatz kehrtzumachen, eilte Wendy durch den Raum und ließ die Akten hinter den Empfangstresen fallen. Neugierige Blicke folgten ihr, und das unverständliche Knistern aus den Funkgeräten der Polizisten machte sie nervös.

»Gott, bist du etwa schon fertig?« Wendy schrak zusammen, als Schwester Judy plötzlich neben ihr erschien.

»Äh – ja, bin ich.« Wendy trat schnell einen Schritt zurück und fuhr sich mit den Händen durch ihre unauffällige Kurzhaarfrisur. Oberschwester Judy war eine kleine Frau mit starker Präsenz, gekleidet in einen Snoopy-Schwesternkittel. Sie hatte eine dröhnende Stimme – wie geschaffen, um den Lärm von vollen Wartezimmern zu übertönen – und ein lautes, unbefangenes Lachen, das häufig zu hören war, wenn sie die Ärzte aufzog.

»Verflixt, Mädchen! Du lässt uns andere ziemlich alt aussehen.« Judy ließ sich nichts gefallen und sagte gewöhnlich, was sie dachte, weshalb sich Wendy bei ihrem angespannten Lächeln und ihren gestikulierenden Händen der Magen zusammenkrampfte.

Wendy zwang sich zu einem leisen Lachen, das ihr allerdings schnell im Hals stecken blieb. Hinter Schwester Judy auf der anderen Seite des u-förmigen Schwesternempfangs stand Officer Smith. Das fahle Neonlicht wurde von seinem kahlen Schädel reflektiert, er reckte die Brust vor und hatte die Daumen in die Gurte seiner kugelsicheren Weste gehakt. Er sah Wendy an, sein Mund ein gerader Strich, während seine Kiefer einen Kaugummi bearbeiteten. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit, Officer Smith’ wachsame Augen waren immer von weißen Ringen umgeben, die durch seine Sonnenbrille verursacht wurden. Er hatte so eine Art, einen anzusehen, dass man sich automatisch schuldig fühlte, auch wenn man gar nichts falsch gemacht hatte. Es war ein Gesichtsausdruck, den Wendy in den letzten fünf Jahren ziemlich oft zu spüren bekommen hatte.

»Wendy.« Aus seinem Mund klang ihr Name immer schroff, als ärgere es ihn schon, sie überhaupt erwähnen oder ansprechen zu müssen.

Sie nickte nervös zur Begrüßung. Sie hätte gern gefragt, was eigentlich los war, aber so, wie alle sie die ganze Zeit ansahen …

»Da bist du ja!« Ein kräftiger Ruck an ihrem Arm ließ Wendy herumwirbeln, und sie schaute in Jordans strahlendes Gesicht. »Ich habe dich schon überall gesucht!« Jordan Arroyo war seit der 7. Klasse Wendys beste Freundin. Wenn Wendy je etwas außerhalb ihrer Komfortzone unternahm, dann nur, weil Jordan sie dazu ermutigte – und sie manchmal auch in die richtige Richtung schubste. Jordan war diejenige, die sie dazu überredet hatte, sich bei namhaften Colleges zu bewerben, und die vor Freude geschrien und getanzt hatte, als sie beide an der University of Oregon angenommen worden waren. Als Wendy sich daraufhin Sorgen gemacht hatte, dass Oregon doch recht weit von Astoria und ihren Eltern entfernt sei, hatte Jordan Wendy versprochen, die vierstündige Autofahrt nach Hause mit ihr zu unternehmen, so oft sie nur wollte.

Wendy beruhigte sich ein wenig. »Ich …«

»Bist du fertig für heute?« Der Blick aus Jordans dunklen Augen fiel auf den Aktenstapel. Sie war groß, und auf ihrer Haut mit dem warmen Braunton zeigten sich niemals Unreinheiten. Ihr dunkles Haar, das ihr Gesicht normalerweise mit dichten Locken umrahmte, hatte sie heute zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

»Ja, schon …«

»Wunderbar!« Bevor Wendy Einwände erheben konnte, schnappte sich Jordan mit einer Hand ihre Taschen und zog Wendy mit der anderen in den Flur. »Dann komm!« Wendy rechnete halb damit, dass die drei Polizeibeamten sie aufhalten würden, aber auch wenn sie ihnen nachschauten, als sie gingen – ganz besonders Officer Smith –, sagte niemand etwas.

Nachdem die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte und sie im Flur allein waren, holte Wendy tief Luft. »Was hatte das zu bedeuten?« Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, um festzustellen, ob ihnen jemand folgte.

»Was meinst du?«, fragte Jordan.

Wendy musste sich beeilen, um mit Jordans langen, entschlossenen Schritten mitzuhalten. »Die Cops und all die anderen.«

»Tja, wer weiß das schon!« Jordan zuckte mit den Schultern und tippte dann an der Tür zum Pausenraum des Pflegepersonals den Zugangscode ein.

Wendy runzelte die Stirn. Jordan ließ sich nie eine Gelegenheit zum Tratschen entgehen. Wann immer im Krankenhaus etwas Interessantes passierte – wie zum Beispiel, wenn ein Junge aus der Gegend seinem Freund beim illegalen Jagen im Wald den Zeh abschoss oder ein Arzt eine Assistenzärztin zum Weinen brachte –, stürzte sich Jordan darauf. Sie fragte überall nach, bohrte nach Details und grub Informationen aus, bevor sie sich auf die Suche nach Wendy machte und ihr alles, was sie herausgefunden hatte, brühwarm erzählte.

Und jetzt verheimlichte sie ihr irgendetwas.

»Hey, warte«, sagte Wendy, und ihre Schultern verkrampften sich vor Anspannung.

»Setz dich!« Jordan drückte sie auf einen Stuhl an dem schiefen, runden Tisch, der mit Papptellern, Plastikbesteck und Fast-Food-Verpackungen übersät war. »Okay, ich weiß, du feierst deinen Geburtstag nicht gern …« Jordan schoss durch den Raum, schnappte sich zwei Plastikgabeln und holte eine Tupperdose aus dem alten Kühlschrank. »Aber du wirst heute achtzehn! Also musste ich einfach irgendetwas tun.«

»Jordan.«

»Ich habe dir deinen Lieblingskuchen gebacken!« Jordan schaute nicht einmal auf, während sie an dem Tupperdosendeckel herumfummelte. »Schau mal!«

Das Lächeln auf Jordans Gesicht konnte man bestenfalls unsicher nennen, als sie einen gelben Cupcake auf einen kleinen Teller hob und Wendy hinstellte. Ein dicker Klecks Schokoladenglasur lief an dem Papierförmchen herunter. »Er ist nicht ganz so geworden, wie ich wollte, aber du weißt ja, was für eine Niete ich im Backen bin.«

Wendy pochte das Herz bis zum Hals. Warum wollte Jordan sie nicht ansehen? »Jordan.«

»Aber mein Dad hat ungefähr drei gegessen und ist nicht in der Notaufnahme gelandet«, überlegte Jordan laut und steckte eine violette Kerze in den Cupcake und zündete sie mit einem gelben Feuerzeug an. »Also können sie so schlimm nicht geworden sein!«

»Jordan.« Wendy ließ nicht locker.

Jordan schob ihr den Cupcake hin, ihr breites Lächeln jetzt eher eine Grimasse. »Wünsch dir was!«

»JORDAN!« Jordan zuckte zusammen, und selbst Wendy erschrak über die Lautstärke ihrer eigenen Stimme. Endlich schaute Jordan auf, zog die Augenbrauen in die Höhe und biss sich auf die Lippe. »Was ist los?«, fragte Wendy noch einmal und beugte sich vor, jetzt sehr beunruhigt. Die Hitze der Kerze streifte ihr Kinn. »Warum sind hier so viele Cops? Was ist passiert?«

Als Jordan jetzt sprach, klang ihre Stimme ganz sanft. »Ashley Ford ist verschwunden.«

Es fühlte sich an, als presse eine riesige Hand alle Luft aus Wendys Lungen. »Verschwunden?« Automatisch holte Wendy ihr Handy hervor. Sie hatte keine offizielle Vermisstenmeldung bekommen, aber im Aktenraum hatte ihr Handy auch kein Netz gehabt.

»Vor ein paar Stunden.« Jordan ließ Wendy nicht aus den Augen, während sie sprach.

Das Zimmer kippte zur Seite. Wendy umklammerte mit schweißnassen Händen die Tischkante. »Aber ich habe sie doch heute Morgen noch gesehen.«

»Angeblich hat sie im Garten gespielt. Ihre Mom ist ins Haus gegangen, um etwas zu holen, und als sie zurückkam, war Ashley verschwunden.«

Wendy kannte Ashley gut. Wenn sie nicht mit Papierkram beschäftigt war, verbrachte Wendy den größten Teil ihrer Zeit im Krankenhaus auf der Kinderstation, las den Kleinen vor oder leitete Bastelstunden. Mrs. Ford war eine Patientin, die regelmäßig zur Dialyse ins Krankenhaus kam, und wenn sie einen Termin hatte, ließ sie Ashley im Kinderspielzimmer bei Wendy. Ashley war erst acht Jahre alt, aber sie war klug und besaß ein geradezu enzyklopädisches Wissen über Bäume. Heute Morgen erst hatte Ashley auf einem der riesigen Sitzsäcke gesessen, der ihre zierliche Gestalt förmlich verschluckte, und die Namen der Bäume heruntergerasselt, die sie durch die großen Fenster gesehen hatte.

»Sie können sie nicht finden?«, fragte Wendy. Jordan schüttelte den Kopf. Kein Wunder, dass alle sie angestarrt hatten. »Und Benjamin Lane?«

»Den haben sie auch noch nicht gefunden.« Jordan kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie Wendy beobachtete. »Das macht schon zwei verschwundene Kinder in den letzten vierundzwanzig Stunden. Aber sehr viele Leute suchen nach ihnen«, beeilte Jordan sich hinzuzufügen, doch ihre Stimme klang gedämpft, als ob Wendy sie unter Wasser hören würde. »Deshalb sind die Cops hier – sie wollen wissen, wer sie als Letzter gesehen hat, und ob jemandem etwas Verdächtiges aufgefallen ist.« Jordan verstummte, aber Wendy wusste, was sie dachte.

Wendy schwirrte der Kopf. Benjamin Lane, ein Junge aus der Gegend, war am vergangenen Nachmittag verschwunden. Er war erst zehn Jahre alt, aber er hatte eine rebellische Ader. Benjamin war schon einmal von zu Hause weggelaufen, und alle schienen anzunehmen, dass er sich bei einem Freund versteckte. Das war eine einfache Erklärung, die jeder in der Stadt schnell akzeptiert hatte, um dann über schlechte Erziehung und »die Jugend von heute« zu schimpfen.

Denn in Astoria, Oregon, gab es praktisch keine Verbrechen. Schon gar keine von der finsteren Sorte. Und erst recht keine verschwundenen Kinder. Es sei denn natürlich …

Wendys Schultern sackten nach unten. »Meine Brüder.« Sie schluckte. »Denken sie …?«

Jordan schüttelte energisch den Kopf und drückte Wendys Schulter. »Das hat überhaupt nichts mit euch zu tun. Sie ist wahrscheinlich nur zu einer Freundin gegangen. Oder man findet sie putzmunter auf irgendeinem Spielplatz.« Sie bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. Doch das funktionierte bei Wendy nicht.

Es war ein beklemmender Gedanke, noch einmal von der Polizei befragt zu werden und sich vorstellen zu müssen, dass Ashley irgendwo allein umherirrte oder etwas noch Schlimmeres mit dem kleinen Mädchen passiert war.

Wendy ließ den Kopf in die Hände sinken, doch dann spürte sie einen scharfen Schmerz am Kinn. Mit einem Zischen fuhr sie zurück, weg von der Kerzenflamme.

Rasch blies Jordan die Kerze aus. Violettes Wachs tropfte über die Schokolade. Leise fluchend ließ Jordan schnell etwas Wasser über ein braunes Papierhandtuch laufen und reichte es Wendy. »Ist alles okay?«

Wendy drückte das kühle Tuch auf die schmerzende Stelle an ihrem Kinn. »Ja, schon gut.« Sie ächzte. »Es ist nur eine kleine Verbrennung.«

»Das meinte ich nicht«, sagte Jordan.

Wendy wich ihrem Blick aus. »Ich will nach Hause.«

Auf dem Weg durch die Eingangshalle nach draußen spürte Wendy wieder, wie sämtliche Blicke ihr folgten. Jordan füllte Wendys Schweigen, indem sie von ihren haarsträubenden Cupcake-Abenteuern erzählte und davon, dass die erste Ladung noch flüssiger geworden war, nachdem sie sie in den Ofen geschoben hatte.

Auf dem Parkplatz angekommen, verschwand die Sonne gerade hinter dem zerklüfteten Kamm der baumbestandenen Hügel im Westen. Wendy betrachtete die letzten Sonnenstrahlen, die den Wald in der Ferne in ein dunkles Rot tauchten, während Jordan sie zu ihrem Wagen begleitete. Sie hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, so lange zu bleiben, doch in dem fensterlosen Untergeschoss hatte sie wohl jegliches Zeitgefühl verloren.

Wendys Pick-up hatte sich die Beschreibung »alt und klapprig« absolut verdient. Der einst hell grün-blaue Lack war größtenteils verblasst, und stellenweise schimmerten orangebraune Rostflecken durch. Der Wagen war älter als sie, aber dank Jordan und ihrem Dad lief er noch. Mr. Arroyo betrieb eine der beiden Autowerkstätten der Stadt und er brachte Jordan alles bei, was er wusste. Und Jordan kümmerte sich ihrerseits auf jede erdenkliche Weise um Wendy.

Wendy wollte gerade die Wagentür öffnen, aber Jordan lehnte sich dagegen. »Schaffst du es alleine nach Hause?« Sie blinzelte mit ihren braunen Augen in das schwindende Sonnenlicht.

»Klar, das geht schon«, versicherte Wendy sowohl Jordan als auch sich selbst.

»Ich wünschte, ich müsste heute Abend nicht arbeiten«, sagte Jordan und zog ihre völlig symmetrischen Brauen zusammen.

»Ist schon gut«, sagte Wendy. Im tief stehenden Licht der Sonne musste sie die Augen zusammenkneifen.

»Weißt du, ich könnte ohne Probleme meine Schicht sausen lassen«, fügte Jordan hinzu und sprach jetzt schneller, wie immer, wenn sie sich selbst zu irgendetwas überreden wollte. »Wir könnten uns mit Tyler treffen. Sie kurven auf den Straßen rum – oder ins Gateway gehen und uns einen Film ansehen.«

»Schon in Ordnung, wirklich.« Wendy mochte Jordans Freund Tyler, aber ihr war einfach nicht danach, mit ihm und seinen Freunden durch die Gegend zu fahren. Tyler besaß einen Toyota Pick-up-Truck mit riesigen Rädern, und Wendy hatte immer Mühe beim Einsteigen. Er fuhr zu schnell durch die verwinkelten Straßen der Stadt, und die lauten Stimmen und der Geruch nach Bier bereiteten ihr Übelkeit. Und was das Kino betraf, Jordan wollte immer die neuesten Horrorfilme sehen, und obwohl Wendy wusste, dass Jordan ihr zuliebe eine Indie-Doku über Krokodile im Regenwald des Amazonas über sich ergehen lassen würde, lagen ihre Nerven zu blank, um ein ähnliches Opfer für sie zu bringen. »Mir ist sowieso nicht nach feiern zumute.«

Diese Antwort schien Jordan nicht zufriedenzustellen, aber zu Wendys Erleichterung beließ sie es dennoch dabei. »Dann komm gut nach Hause.« Jordan stieß sich vom Wagen ab und zupfte liebevoll an einer Locke von Wendys dunkelblondem Haar. »Und schreib mir, falls du irgendetwas brauchst, okay?«

Wendy fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bevor sie die Tür öffnete und einstieg. »Mach ich.«

»Und iss den Kuchen und sag mir, wie er dir geschmeckt hat!«, befahl Jordan und reichte ihr die Tupperdose mit dem hineingequetschten Cupcake. »Oh! Das hätte ich fast vergessen!« Jordan wühlte in ihrer Tasche und förderte ein rechteckiges Päckchen zutage, das nachlässig in dunkelblau glänzendes Papier gewickelt war. »Mach es auf! Mach es auf!«

Wendy konnte sich ein Lachen über ihre beste Freundin, die aufgeregt auf der Stelle hüpfte, nicht verkneifen. Sie riss das Geschenkpapier herunter, worauf ein Skizzenblock zum Vorschein kam. Auf dem Deckblatt war eine Zeichnung von einem Vogel im Flug zu sehen, und Jordan hatte eine Schachtel mit Stiften darauf geklebt.

»Ein Zeichenblock?«, fragte Wendy überrascht und auch ein wenig verwirrt.

»Ja, ein Zeichenblock!«, bestätigte Jordan triumphierend. »Mir ist aufgefallen, wie oft du in letzter Zeit irgendetwas vor dich hin kritzelst«, fügte sie hinzu. Sie hob stolz das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du hast meine Zeichnungen gesehen?«, fragte Wendy.

»Ähm, ja, natürlich!«, sagte Jordan mit einem Schnauben, dann grinste sie. »Ich hab nur so getan, als würde ich es nicht mitkriegen, damit du super überrascht bist, wenn ich dir dein Geschenk gebe. Ich dachte mir, ein Zeichenblock ist besser als irgendwelche Zettel, findest du nicht auch?«

Wendy lachte verlegen, während sie die dicken Seiten befühlte. »Doch, klar.«

»Jede Menge Bäume, stimmt’s?« Das Lächeln auf Jordans Gesicht machte klar, dass sie versuchte zu beweisen, wie viel sie mitbekommen hatte. »Und wer ist der Junge?«

Wendys Augen weiteten sich. »Junge?«

»Ja, der Junge, den du immer zeichnest …« Jordan beugte sich vor und klaubte ein Stück Papier aus der Mittelkonsole. »Genau, das ist er! Siehst du?« Sie hielt Wendy den Zettel hin. Es war die Zeichnung eines Jungen, der in einem Baum saß, im Begriff, ein Bein über einen Ast zu schwingen. Er hatte Grübchen in den Wangen, und sein zerzaustes Haar hing ihm in die Augen, sodass es einen Teil seines Gesichts verdeckte. In der Ecke befand sich eine unvollendete Skizze eines alten, verkrüppelten und kahlen Baumes mit knorrigen Wurzeln.

Hitze schoss Wendy in die Wangen. »Das ist niemand!« Sie riss Jordan das Papier aus der Hand und zerknüllte es.

Jordans Gesicht leuchtete auf. »Oh mein Gott – Wendy Darling, wirst du etwa gerade rot?«

»Nein!«, protestierte Wendy. Jetzt stand ihr Gesicht in Flammen.

Jordan warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Okay, jetzt musst du es mir erzählen! Wer ist der Junge?« Sie hielt einen Finger hoch. »Und wage es nicht, mich anzulügen!«

Wendy ließ den Kopf gegen die Kopfstütze fallen und stöhnte. Wenn sie log, würde Jordan es merken und sie einfach weiter in die Enge treiben. Aber die Wahrheit war ihr schrecklich peinlich.

Jordan zog erwartungsvoll eine Augenbraue nach oben.

»Puh!« Wendy seufzte. »Das ist Peter Pan«, murmelte sie leise.

»Peter Pan?«, wiederholte Jordan stirnrunzelnd. »Peter – Moment mal, du meinst den Jungen aus den Geschichten deiner Mom?«, hakte sie nach.

»Ja«, gestand Wendy.

Bei Michaels Geburt war John drei gewesen und Wendy fünf. Ihre Mutter hatte ihnen jeden Abend vor dem Schlafengehen von Peter Pan, seinen Abenteuern mit Piraten, Meerjungfrauen und von seiner Bande verlorener Kinder erzählt. Den Tag hatten Wendy, John und Michael hinter dem Haus im Wald verbracht und so getan, als kämpften sie an Peter Pans Seite gegen Bären und Wölfe. Und nachts hatten sie sich mit einer Taschenlampe unter einer Decke zusammengedrängt, während Wendy von Peter und den Feen erzählte. Peter Pan war ein magischer Junge, der auf einer Fantasie-Insel am Himmel lebte, und das Wichtigste: Er konnte fliegen und wurde niemals erwachsen.

Als sie älter wurde, übernahm Wendy zur Schlafenszeit die Rolle der Geschichtenerzählerin. Sie griff die Erzählungen ihrer Mutter auf, erfand aber auch ihre eigenen Peter-Pan-Abenteuer für ihre kleinen Brüder.

Doch nach dem, was mit John und Michael passiert war, erwähnte Wendy Peter nur noch in der Geschichtenzeit im Krankenhaus. Wenn sie zusammen mit Jordan im Krankenhaus bei den Kindern aushalf, spielte ihre Freundin normalerweise Brettspiele mit den Älteren, aber manchmal hörte sie auch Wendys Geschichten zu.

»Ich träume auch manchmal von ihm.« Wendy glättete das Papier über dem Lenkrad, um die unvollendete Zeichnung zu betrachten. »Jedenfalls irgendwie. Wenn ich aufwache, habe ich immer vergessen, was passiert ist, aber ich erinnere mich an Kleinigkeiten wie schwüle Dschungel, weiße Strände und Eicheln.« Sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum. »Vor ein paar Nächten habe ich angefangen, ihn so zu zeichnen, wie er in meiner Vorstellung aussieht.«

»Und die Bäume?«, fragte Jordan leise.

»Ich habe keine Ahnung. Es sind wahrscheinlich einfach nur Bäume.«

Einen Augenblick lang war Jordan ganz still. Wendy hasste das. Sie hatte das Gefühl, dass Jordan es immer merkte, wenn sie etwas vor ihr verheimlichte. Aber dann zuckte Jordan nur mit den Schultern. »Vielleicht fühlst du dich alt und möchtest einfach für immer jung bleiben, wie dieser Peter Pan«, schlug sie vor. »Möglicherweise willst du ja mit ihm nach Nimmerland durchbrennen?« Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Wendy verdrehte die Augen. »Haha.«

Jordan beugte sich plötzlich in den Pick-up und umarmte Wendy ganz fest. Bevor diese erstarren konnte, ließ Jordan sie schon wieder los und trat einen Schritt zurück. Wendy stand nicht besonders auf Umarmungen. Für sie fühlten sie sich immer unbeholfen und erzwungen an. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte sie irgendwann vergessen, wie man so etwas machte. Dafür wurde sie oft gehänselt. Es war schmerzhaft offensichtlich, wie unwohl sie sich bei körperlichem Kontakt fühlte, aber Jordan machte sich nie über sie lustig. Und wenn sie schon von jemandem umarmt werden musste, dann doch am ehesten von ihrer besten Freundin.

Jordan schlug mit der Hand auf das Dach des Pick-ups. »Herzlichen Glückwunsch zum Achtzehnten!«, rief sie, bevor sie den Parkplatz überquerte und zu ihrem eigenen Auto ging.

Wendy wartete, bis Jordan weggefahren war, und winkte ihrer Freundin ein letztes Mal nach, als diese um die Ecke verschwand.

Dann sackte sie auf dem Fahrersitz zusammen und stieß langsam den Atem aus. Da die Luft jetzt rein war, beugte sie sich vor und legte den Zeichenblock auf den Beifahrersitz. Darunter war der Boden übersät von Papieren. Einige gefaltet, andere zusammengeknüllt, manche sogar zerrissen. Ja, Wendy hatte angefangen zu zeichnen, aber es steckte noch viel mehr dahinter.

Sie konnte einfach nicht damit aufhören.

Angefangen hatte alles ganz harmlos. Manchmal, wenn sie im Krankenhaus in Gedanken versunken war, schaute sie plötzlich ein auf die Ecke einer Akte gekritzeltes Augenpaar an. Oder sie saß mit Jordan beim Mittagessen, und ließ sich vom Klatsch über ihre Freunde ablenken, und stellte plötzlich fest, dass sie einen Baum auf die Quittung gezeichnet hatte, die sie eigentlich unterschreiben sollte. Das passierte immer häufiger, und Wendy merkte es nie, bis sie nach unten schaute und das Gesicht des Jungen sah, der sie anzublicken schien.

Peters Gesicht. Oder eines, das ihm ähnelte. Sie wusste, dass er es sein sollte, aber irgendetwas stimmte immer nicht. Etwas an den Augen, das sie nicht richtig hinbekam.

Und es waren nicht irgendwelche Bäume. Es war ein Baum. Ein ganz bestimmter Baum.

Wendy wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Sie erinnerte sich nicht daran, jemals so einen Baum gesehen zu haben, er wirkte beinahe wie aus einer anderen Welt. Während die Skizzen von Peter Pan ziemlich realistisch waren – viel realistischer, als Wendy es sich je zugetraut hätte –, war mit dem Baum etwas nicht in Ordnung. Etwas stimmte nicht mit seinen krummen und spitzen Ästen. Aus irgendeinem Grund bekam sie von seinem Anblick eine Gänsehaut, auch wenn sie nicht wusste, warum.

Genauso wenig konnte sie erklären, warum sie ihn immer wieder zeichnete oder wieso ihr nie bewusst war, dass sie es tat, bis es bereits geschehen war. Und jetzt gab es haufenweise Zeichnungen auf Servietten, Quittungen und sogar auf Werbeflyern. Sie wollte nicht, dass jemand die Zeichnungen fand, daher hatte sie sie in ihren Wagen geworfen, aber offensichtlich war Jordan das nicht entgangen.

Wendys Magen krampfte sich zusammen. Es gefiel ihr nicht, dass ihr Gehirn und ihre Hände in der Lage waren, Dinge hervorzuzaubern, ohne dass sie es merkte. Sie schnappte sich ihren Kapuzenpulli und warf ihn über die Zeichnungen, damit sie sie nicht aus dem Augenwinkel sehen musste. Wenn sie nach Hause kam, würde sie sie in den Mülleimer werfen. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war ein weiterer Grund für die Leute, sie für seltsam zu halten. Für ein schlechtes Omen, wenn nicht gar für verflucht.

Wendy glaubte langsam, dass sie alle recht haben könnten.

Astoria war nur eine kleine Felszunge umgeben von Wasser, und der Wald ein großer grüner Tintenklecks auf der Landkarte, der sie von den Nachbarstädten abschnitt. Die Williamsport Road – oder wegen des Mülls, der hier gerne abgeladen wurde, von den Einheimischen auch Dump Road genannt – schlängelte sich quer durch den Wald bis zum äußersten Stadtrand, wo Wendy wohnte. Sie schmiegte sich eng an die Hügel, weswegen sie nur von Ortskundigen befahren wurde. Mehrere, von vielen Reifen zerfurchte Forstwege zweigten von der Asphaltstraße ab. Sie zogen sich kreuz und quer durch die Bäume und führten entweder im Kreis zurück oder endeten einfach mitten im Wald. Ständig verirrten sich dort Touristen, und Eltern ermahnten ihre Kinder immer wieder, sich von dort fernzuhalten, aber sie hörten nicht darauf. Doch auch wenn sie es hasste, durch den Wald zu fahren, ganz besonders bei Dunkelheit, kam Wendy auf diesem Weg schneller nach Hause, als wenn sie die Hauptstraßen nahm.

Seit Wendy denken konnte, hatte man allen Kindern in Astoria eingeschärft, niemals die Pfade zu betreten. Man sagte ihnen, der Wald sei gefährlich und sie sollten sich davon fernhalten. Auch Wendys Eltern hatten ihr und ihren Brüdern verboten, die Forstwege zu erkunden, obwohl sie direkt im Wald hinter ihrem Haus begannen.

Nach dem, was passiert war, wurde Wendy zu einem abschreckenden Beispiel erklärt.

Der Motor des Wagens heulte auf, als Wendy ihn so sehr beschleunigte, wie sie es sich zutraute. Je schneller sie fuhr, desto eher könnte sie den Wald hinter sich lassen. Die Zweige der verwilderten Bäume und Büsche reckten sich ihr entgegen und streiften gelegentlich das Beifahrerfenster, obwohl sie sich dicht an die gelbe Mittellinie hielt. Die grauen Augen weit geöffnet, warf sie ängstliche Blicke auf die Bäume. Ihre trockenen, rissigen Finger krampften sich mit bleichen Knöcheln um das Lenkrad. Die Schlüsselkette, die von der Zündung herabhing, schlug rhythmisch gegen das Armaturenbrett.

Sie wollte einfach nur nach Hause, vielleicht noch ein Buch lesen und dann ins Bett gehen, damit ihr Geburtstag endlich vorbei war. Wendy schaute auf ihre Tasche auf dem Beifahrersitz, die bei jeder Bewegung des Wagens hin und her rutschte. Auf der unteren Ecke war ein blauer Tintenfleck von einem ausgelaufenen Füller, und die verstellbare Schnalle, einst glänzend und messingfarben, wies jetzt ein stumpfes Grau auf. Aber sie liebte das alte Ding, weil ihre Brüder sie extra für sie ausgesucht und von ihrem eigenen Geld gekauft hatten. Es war das einzige Geburtstagsgeschenk, das sie jemals von ihnen bekommen hatte.

In die Tasche hineingestopft waren weitere Zeichnungen von Peter Pan und dem mysteriösen Baum.

Der Abend war sehr warm, und im Wagen war es stickig, aber die Klimaanlage in ihrem zerbeulten Pick-up hatte wahrscheinlich schon vor der Zeit ihrer Geburt den Geist aufgegeben, und die Fenster wollte Wendy nicht herunterkurbeln. Ein Schweißrinnsal lief ihr über den Rücken, und sie beugte sich nach vorne. Musik wäre eine schöne Ablenkung. Sie würde sogar das Gejaule eines der vielen Country-Sender ertragen, wenn sie dadurch ihr Gedankenkarussell anhalten könnte. Sie schaltete das Radio ein, und eine Stimme drang durch die knisternden Lautsprecher.

»In Clatsop County wurde die achtjährige Ashley Ford als vermisst gemeldet. Sie verschwand heute um zwölf Uhr fünfundvierzig von zu Hause …«

Wendy fummelte am Radio herum, um einen anderen Sender einzustellen. Nicht, weil es ihr egal war – es ging ihr sogar sehr nahe –, aber sie hielt es einfach nicht aus. Nicht heute, nicht jetzt. Wendy spürte bereits das Beben in ihrer Brust, und es kostete sie all ihre Konzentration, es in Schach zu halten.

Sie wollte nur noch raus aus dem Wald und nach Hause. Wendy klickte auf einen anderen voreingestellten Sender, aber wieder kam die gleiche Stimme aus den Lautsprechern.

»Ashley hat blondes Haar und braune Augen. Sie wurde zuletzt im Garten ihres Elternhauses gesehen, bekleidet mit einer weiß-gelb karierten Bluse und einer blauen Hose. Ihrem Verschwinden geht das eines Jungen aus dem Ort am vergangenen Nachmittag voraus. Benjamin Lane wurde gestern vermisst gemeldet. Die Behörden haben nichts darüber verlauten lassen, ob die beiden Fälle in Zusammenhang stehen …«

Wieder drehte sie an der Senderauswahl. Die Stimme wurde leiser und ging dann in lautes Rauschen über. Wendy holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und spähte auf die flackernde Hintergrundbeleuchtung des Autoradios.

Sie kannte jeden Winkel und jede Kurve der Strecke und hätte sie mit geschlossenen Augen fahren können, also umfasste sie das Lenkrad fest mit der linken Hand und schlug mit der rechten gegen das Radio. Das löste normalerweise die meisten Probleme des Pick-ups, aber noch immer erfüllte lautes Rauschen den Wagen.

Wendy biss die Zähne zusammen und schaute hoch. Sie wusste, dass gleich die weite Kurve kommen würde, aber das laute Knistern machte sie nervös. Wieder sah sie zum Radio und drehte am Knopf für die Senderauswahl, aber kein einziger ließ sich einstellen. Sie wollte gerade auf AM umschalten, als das Radio verstummte und nur noch das gleichmäßige Rumpeln des Motors zu hören war.

Ein Zweig schlug auf der Beifahrerseite gegen das Fenster.

Wendy fuhr so heftig zusammen, dass es wehtat.

Ein Schatten fiel auf die Motorhaube ihres Pick-ups und versperrte ihr die Sicht. Er war pechschwarz und fest. Etwas Dunkles, Gekrümmtes wie Finger wurde über die Windschutzscheibe gezogen. Ein schreckliches Kreischen drang an ihre Ohren.

Wendy kreischte, und das schattenhafte Ding glitt gerade noch rechtzeitig von der Motorhaube, dass sie etwas mitten auf der Straße liegen sehen konnte, beleuchtet von ihren Scheinwerfern. Ein Schrei löste sich aus Wendys Kehle, und sie trat mit aller Kraft auf die Bremse. Sie umklammerte das Lenkrad, und alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an, als der Wagen nach rechts ausbrach.

Die Reifen rasten über losen Untergrund, bevor der Pick-up zwischen Straße und Wald ruckartig zum Stehen kam. Wendy starrte durch die Windschutzscheibe in ein Gewirr von Ästen. Ihre keuchenden Atemzüge beraubten die Fahrerkabine jeglicher frischer Luft. Adrenalin rauschte durch ihre Adern. In ihrem Hals und ihren Schläfen pochte es.

Wendy fluchte leise.

Sie löste ihre steifen Finger vom Lenkrad. Zitternd tastete sie ihren Oberkörper und ihre Oberschenkel ab, um sich zu vergewissern, dass sie unverletzt war. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen.

Wie konnte sie bloß so dumm sein? Sie hatte ihre Nervosität die Oberhand gewinnen lassen. Sie wusste, dass sie den Blick keine Sekunde lang von der Straße wenden durfte, wenn sie fuhr, besonders bei Dunkelheit. Ihr Dad würde ausflippen! Und was wäre gewesen, wenn sie ihren Pick-up zu Schrott gefahren hätte? Wendy hätte sterben können – oder schlimmer noch, jemand anders.

Dann fiel ihr wieder die dunkle Gestalt auf der Straße ein.

Wendy stockte der Atem. Natürlich konnte es auch ein totes Tier sein, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es keins war. Sie drehte sich auf ihrem Sitz um und versuchte, durch die Heckscheibe zu blicken, aber der rote Schein ihrer Rücklichter beleuchtete kaum die Umrisse von was auch immer sie fast überfahren hätte.

Bitte, lass es keinen Menschen sein.

Wendy hatte Mühe, sich aus dem Sicherheitsgurt zu befreien. Sie taumelte aus dem Wagen und blickte sofort in den Wald. Ohne die Bäume aus den Augen zu lassen, ging sie einige Schritte zurück. Aber sie standen still und reglos in der drückenden Sommerluft. Die einzigen Geräusche waren die schwache Brise in den Blättern und ihr eigener schwerer Atem.

Ängstlich betrachtete sie den vorderen Teil ihres Pick-ups. Der Wagen ragte auf den unbefestigten Seitenstreifen, die vordere Stoßstange gefährlich nahe an einem dicken Baum, aber der Motor lief noch. In der Motorhaube war eine Delle von was immer darauf gelandet war. Die Windschutzscheibe hatte einen Riss – oder nein, keinen Riss.

Waren das Kratzer?

Wendy strich mit den Fingern über die Furchen. Es waren vier, die parallel zueinander quer über die Scheibe verliefen. Wovon konnten diese Kratzer stammen? Sicher von keinem Reh und auch von keinem Ast.

Was hatte sie da bloß auf der Straße beinahe angefahren? Sie riss den Kopf herum, um über ihre Schulter zu schauen, zu dem Haufen mitten auf der Straße. Was es auch war, es hatte sich immer noch nicht bewegt.

Um so wenig Lärm wie möglich zu machen, ging Wendy auf Zehenspitzen auf die Gestalt zu. Langsam schob sie sich mit weit aufgerissenen Augen vorwärts, um die Dunkelheit besser durchdringen zu können. Sie reckte den Hals, als eine Wolke den Mond freigab, der daraufhin einen auf der Seite liegenden Jungen in sein silbernes Licht tauchte.

Ein Schauer durchlief Wendy, als sie losrannte und sich neben der Gestalt auf die Knie fallen ließ. Spitze Kieselsteine drückten sich durch ihre Jeans.

»Hallo?« Mit bebender Stimme und zitternden Händen beugte sie sich über den Jungen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. »Geht es dir gut?«

Bist du noch am Leben?

Er stieß ein gequältes Stöhnen aus.

Sie riss die Hände zurück. »Oh mein Gott.« Wendy stand auf, um von der anderen Seite einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Sie hatte von ihrer Mom gelernt, dass man einen Bewusstlosen niemals bewegen sollte.

Er hatte die Arme an die Brust gezogen, als würde er schlafen. Er war mit irgendeinem Stoff bekleidet, der fest um seine Schultern und seinen Oberkörper gewickelt war und bis zu den Knien herunterhing. Sie konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, um was für ein Material es sich handelte, aber es hatte grob gezackte Ränder und roch wie das Laub, das sie im Frühling immer aus der Dachrinne fischte.

Wendy ging in die Hocke, stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab und beugte sich dichter zu ihm vor. Langsam und vorsichtig schob sie ihm das nasse Haar aus dem Gesicht und strich ihm mit dem Daumen über die Stirn. Die Sommersprossen auf der Nase und um die geschlossenen Augen herum waren ihr irgendwie vertraut …

Bevor sie das Rätsel lösen konnte, kam ein tiefes Stöhnen aus der Brust des Jungen. Er rollte sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah sie an.

Wendy wollte instinktiv zurückweichen, aber sie konnte sich nicht bewegen.

Seine Augen waren atemberaubend. Sie hatten einen dunklen Kobaltton mit kristallblauen Tupfen, die um seine Pupillen herum explodierten.

Sie kannte diese Augen. Es waren dieselben, die sie wieder und wieder gezeichnet, aber nie richtig hinbekommen hatte. Doch das war unmöglich. Es konnte einfach nicht sein …

»Wendy?«, hauchte der Junge, und der süße Geruch von Gras wehte über ihr Gesicht.

Wendy fuhr zurück. Gleichzeitig rollten die kosmischen Augen des Jungen in ihren Höhlen nach hinten und schlossen sich wieder.

Wendy presste sich eine Hand auf den Mund.

Er war älter als der Junge in ihren Zeichnungen. Sein Gesicht war nicht so rund und seine Wangen nicht so voll wie in den Dutzenden von Skizzen, die in ihrem Auto verstreut lagen, aber die Linien seiner Nase und seines Kinns waren unverkennbar.

Sie keuchte. Woher kannte er ihren Namen? Ihr Herz hämmerte wie ein wildes Tier gegen ihre Rippen. Es war nicht möglich, dass sie ihn kannte. Es war unmöglich, dass der Junge, den sie gerade vor sich sah, derselbe Junge war wie auf ihren Zeichnungen.

Peter Pan war nicht real. Er war nur eine Geschichte, die sich ihre Mutter ausgedacht hatte. Sie verlor gerade einfach die Nerven, und ihr Verstand spielte ihr Streiche. Sie konnte unmöglich auf ihr Bauchgefühl vertrauen.

Obwohl jede Faser ihres Seins ihr zuschrie, dass er es war.

Doch es ergab keinen Sinn. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Und jetzt musste sie ihm Hilfe holen.

Wendy versuchte, sich zu konzentrieren und die Benommenheit in ihrem Kopf beiseitezuschieben. Sie wühlte in ihrer Tasche und holte ihr Handy heraus. Das Display war verschwommen, und ihr wurde klar, dass sie Tränen in den Augen hatte, aber es gelang ihr dennoch, den Notruf zu wählen.

Sobald das Klingeln verstummte, und noch bevor die Frau von der Zentrale auch nur ein Wort sagen konnte, brach aus Wendy ein ersticktes »Hilfe!« hervor.

KAPITEL 2

Peter

»Wie heißen Sie, Miss?«

»Wendy Darling«, sagte sie und beugte sich zur Seite, um einen Blick auf den immer noch bewusstlosen Jungen zu erhaschen, den die anderen Sanitäter gerade auf eine Trage legten.

»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

»Ich bin eine Meile von zu Hause entfernt und sitze hier bei Ihnen.« Sie riss ihre Hand weg, als er versuchte, den Puls an ihrem Handgelenk zu fühlen.

»Ich heiße Dallas. Ich bin Sanitäter.«

Wendy betrachtete das glänzende Abzeichen an seiner dunkelblauen Uniform, den Aufnäher an seinem Ärmel mit der Aufschrift: ASTORIA, OREGON, FEUERWEHR – SANITÄTER. »Das sehe ich.«

»Ich führe lediglich ein paar Tests durch, um sicherzugehen, dass Ihnen nichts fehlt«, fuhr er fort. Nachdem sie den Notruf gewählt hatte, war die Feuerwehr vor Ort eingetroffen, dicht gefolgt von einem Krankenwagen. Sie waren direkt zu dem Jungen gegangen, bevor man sie beiseitegenommen hatte, um sie zu befragen.

»Es geht mir gut, Sanitäter Dallas«, erklärte sie und schob die Stiftlampe weg, die er ihr ins Gesicht hielt. Durch ihre ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus und die Tatsache, dass ihre Mom in der Notaufnahme arbeitete, kannte Wendy alle Mitarbeiter des medizinischen Rettungsdienstes in Astoria. Wenn sie raten müsste und gemessen an den Fragen, die wie aus dem Lehrbuch klangen, würde sie vermuten, dass er immer noch seinen Freiwilligendienst ableistete.

»Tut Ihnen irgendetwas weh?«

»Nur mein Hintern, weil ich so lange am Straßenrand gesessen habe.« Sie reckte wieder den Hals, um zum Krankenwagen hinüberzuschauen. Die Trage klapperte laut, als die Sanitäter den Jungen in den Wagen schoben. Wendy hätte sie am liebsten angebrüllt, sie sollten vorsichtiger sein.

»Haben Sie sich bei dem Unfall den Kopf gestoßen?«

»Es war kein Unfall. Mir geht es gut und meinem Pick-up auch.« Sie holte tief Luft. »Es gab keinen Unfall.«

»In Ordnung, Miss«, sagte er, stand auf und steckte das Stethoskop wieder in seine Tasche. Die Türen des Krankenwagens wurden zugeschlagen.

Sie brachten ihn weg. Panik stieg in Wendy auf. Sie musste ihn sehen, mit ihm reden und herausfinden, wer er war. Sie musste sich selbst beweisen, dass er nicht Peter Pan war, sondern einfach nur irgendein Junge. Ein sehr verlorener Junge, der irgendwie auf der Straße gelandet war.

»Ich will ins Krankenhaus«, platzte Wendy heraus.

Dallas blinzelte. »Was?«

»Das Krankenhaus. Ich will da hin. Kann ich Ihnen nachfahren? Wie gesagt, mit meinem Pick-up ist alles in Ordnung, er steht direkt am Straßenrand.« Der unbezähmbare Drang, dem Krankenwagen zu folgen, wurde nur noch stärker, als dieser anfuhr.

Dallas runzelte die Stirn. »Ich halte es für keine gute Idee, dass Sie fahren, wenn Sie meinen, sich im Krankenhaus untersuchen lassen zu müssen …«

Frustration stieg in ihr hoch. »Nein – meine Mom arbeitet dort. Ich will zu meiner Mom. Sie ist Krankenschwester«, erklärte sie. Die Lichter des Krankenwagens verschwanden hinter der Kurve.

»Oh.« Erneut blinzelte er. »In Ordnung.« Er zögerte kurz, sah dann aber zu seinem Sergeant, der im Feuerwehrwagen saß und etwas in sein Funkgerät sprach. »He, Marshall«, rief Dallas. »Sag den Polizeibeamten, dass sie dem Rettungsdienst ins Krankenhaus folgen sollen.«

Polizei. Toll. Sie würde mit ihnen reden müssen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, und sie spürte, wie der Schweiß durch ihr Shirt drang.

Mit verkniffenem Gesicht drehte Dallas sich wieder zu Wendy. »Sind Sie sich sicher, dass Sie fahren können?«

Wendy sah ihm fest in die Augen. »Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und lehne medizinische Versorgung und eine Fahrt ins Krankenhaus ab«, rezitierte sie.

Er zog die Augenbrauen zusammen, aber dann seufzte er und holte sein Klemmbrett aus Metall hervor. »Unterschreiben Sie hier, dass Sie …« Wendy riss es ihm aus der Hand und kritzelte schnell ihren Namen auf die Linie, bevor sie ihm das Klemmbrett an die Brust drückte. Nur mit Mühe konnte er verhindern, dass es ihm herunterfiel.

Dallas betrachtete mit zusammengekniffenen Augen ihren Führerschein, bevor er ihn ihr hinhielt. »Übrigens, alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke.« Wendy lief zu ihrem Pick-up zurück. Sie ließ den Motor aufheulen, setzte rückwärts aus dem Dickicht aus Ästen und fuhr zurück in Richtung Stadt. Der Wald verschwand hinter ihr in der Nacht.

Wendy tippte den Code ein, um durch die Nebentür im Wartezimmer in die Notaufnahme zu schlüpfen. Diese war klein und altmodisch, und komplett in Blau und Grün gehalten. Die Plastikschirme über den grässlichen Neonröhren waren blau und mit weißen Wolken bemalt, als würde das das grelle Licht irgendwie weicher erscheinen lassen. Das Stationszimmer lag in der Mitte, und die sechs Behandlungsräume der Notaufnahme waren in einem u-förmigen Ring darum herum angeordnet. Vorhänge und Schiebetüren aus Glas umschlossen sie. Sie ging geradewegs zu einem der an der Wand hängenden Desinfektionsmittelspender, gab genau drei Pumpstöße in ihre Hände und rieb sie kräftig aneinander. Es ließ die Risse in ihren Fingern brennen.

Niemand schenkte ihr große Beachtung. Die Notaufnahme war überfüllt und chronisch unterbesetzt. Es gab nicht genug Lagermöglichkeiten, daher waren die Wände gesäumt von fahrbaren Regalen mit medizinischem Material, die man von Raum zu Raum fahren konnte.

Zumindest waren hier alle viel zu beschäftigt, um Wendy zu bemerken. Sie erhaschte noch einen kurzen Blick auf den Jungen, der in einer Behandlungsnische weiter hinten auf einer Trage lag, dann zog eine Krankenschwester auch schon den Vorhang zu.

Wendy setzte sich auf einen der Plastikstühle an der Wand und beobachtete die Füße des Pflegepersonals und der Ärzte, die das Bett umringten. Immer wieder sagte sie sich, dass das nur irgendein Junge war, der sich im Wald verirrt hatte. Die Straße war dunkel gewesen, und sie hatte ihn nicht richtig sehen können. Sie war müde und gestresst, und ihr Kopf verknüpfte irgendwelche wilden Vorstellungen miteinander. Sobald sie sich selbst beweisen konnte, dass es sich bei ihm nur um einen Fremden handelte, konnte sie nach Hause fahren und ein wenig schlafen.

Aber sie würde nicht gehen, ohne ihn gesehen zu haben.

»Schon wieder da?«

Die vertraute Stimme von Schwester Judy riss Wendy in die Gegenwart zurück. Sie stand hinter dem Empfangstresen des Stationszimmers und hielt ein Tablett mit Spritzen in den Händen. Sie musterte Wendy über den Rand ihrer Brille hinweg und lieferte ihr eine Ausrede, bevor sie eine erfinden musste. »Oh, wartest du auf deine Mom?« Ihre Züge entspannten sich. »Sie ist im Pausenraum und sollte gleich kommen.«

»Danke.« Das schien Schwester Judy zu genügen, denn sie wandte sich sofort wieder ihrer Arbeit zu. Manchmal, wenn sie die gleiche Schicht hatten, fuhren Wendy und ihre Mom zusammen nach Hause.

Wendy verkrallte die Finger im Saum ihres Tanktops. Sie musste den Jungen nur noch ein einziges Mal sehen. Dann konnte sie von hier verschwinden, bevor irgendjemand stutzig wurde und anfing, Fragen zu stellen.

Aber das war natürlich zu viel gehofft.

Die Türen der Notaufnahme schwangen auf, und herein kamen Dallas, Marshall, Officer Smith und ein weiterer Cop, den sie nicht kannte. Wendy rutschte das Herz in die Hose. Sie zog die Füße auf den Stuhl und schlang sich die Arme um die Knie. Vielleicht würden sie sie ja gar nicht sehen.

Dallas reichte Officer Smith einige Papiere und nickte dann in Wendys Richtung. Officer Smith warf ihr einen strengen Blick zu, und Wendy schaute schnell wieder zu den geschlossenen Vorhängen.

Na toll.

Wendy mochte keine Cops. Nach allem, was im Wald passiert war, vertraute sie ihnen nicht mehr. Sie hatten nichts anderes getan, als ihr Angst zu machen und ihr immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Niemand hatte ihr geglaubt, als sie gesagt hatte, sie könne sich an nichts erinnern.

Und es war ihnen auch nicht gelungen, ihre Brüder zurückzubringen.

Officer Smith war einer dieser Cops gewesen.

Wendy hörte das Klappern ihrer schweren Gürtel und das Quietschen ihrer Stiefel auf dem fleckigen Linoleum. Sie blieben vor ihr stehen. Sie versuchte, ihre Gesichtsmuskeln zu entspannen und eine gelangweilte Miene aufzusetzen, während sie weiter stur geradeaus schaute. Aber ihr Herz flatterte verräterisch in ihrer Brust.

Der ihr unbekannte Beamte sprach als Erster. »Miss Darling?« Seine Stimme war zu sanft. Er hatte den falschen Beruf gewählt.

Wendy brummte zur Bestätigung.

»Wir haben nur noch ein paar Fragen an Sie«, fuhr er fort. Papierrascheln war zu hören, als er einen Notizblock hervorholte.

»Ich habe bereits mit den Sanitätern geredet«, sagte Wendy tonlos.

Officer Smith trat vor. Die Handschellen an seinem Gürtel funkelten. »Nun, wir haben trotzdem noch ein paar Fragen.«

Zorn und Trotz übermannten Wendy. »Sollten Sie nicht da draußen sein und nach den verschwundenen Kindern suchen, statt mich zu belästigen?« Kaum dass ihr diese Worte über die Lippen gekommen waren, bereute sie sie auch schon.

»Ja, das sollten wir, Wendy.« Bei seinem unfreundlichen Ton schaute sie auf. Officer Smith runzelte finster die Stirn und stützte die Fäuste in die Hüften. Der andere Cop – jung, mit ordentlichem, kurz geschnittenem Haar – wirkte, als fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut.

Auf dem Namensschild an seiner Uniform stand CECCO. Wendy kannte den Namen. Auf ihrer Highschool war ein Mädchen mit dem Nachnamen Cecco. Das musste ihr älterer Bruder sein.

Officer Cecco schaute zwischen Wendy und Smith hin und her.

»Und genau deshalb solltest du mit uns kooperieren, damit wir herausfinden, ob dieser Junge auch ein Opfer ist«, fügte Officer Smith hinzu.

Wendy schluckte, zog aber erwartungsvoll eine Augenbraue hoch. »Also?«

Cecco räusperte sich. »Sie haben gesagt, etwas sei auf die Motorhaube Ihres Wagens gefallen?«

»Ja.«

»Etwas wie ein Ast?«, hakte er nach.

»Nein – kein Ast, eher etwas wie …« Wendy dachte an das seltsame schwarze Ding, das sie gesehen hatte. Für einen Ast war es nicht fest und schwer genug gewesen. Es war trüb gewesen, und es hatte gewirbelt und gewabert, als würde es einem einfach durch die Finger gleiten, wenn man es anfassen wollte.

Aber wie um alles in der Welt sollte sie das den Polizisten beschreiben? »Das Ding hat eine Beule in meiner Motorhaube hinterlassen und meine Windschutzscheibe zerkratzt.«

»Wie ein Ast«, beharrte Smith und trat missmutig von einem Fuß auf den anderen.

Wendy hob das Kinn und gab sich Mühe, energisch zu klingen. »Nein.« Natürlich glaubte er ihr nicht. »Ich weiß nicht, was es war, aber ein Ast war es nicht.«

»Die Sanitäter sagten, es habe keine Anzeichen dafür gegeben, dass das Opfer« – Wendy verzog bei dem Wort das Gesicht – »von einem Auto angefahren worden sei«, fuhr Cecco fort. »Und Sie haben ausgesagt, er habe mit Ihnen geredet. Hat er gesagt, was passiert ist?«

»Nein.«

»Sie haben ausgesagt, er habe Ihren Namen gekannt.« Seine Stimme wurde wieder ganz sanft. »Kennen Sie ihn?«

Sie öffnete den Mund, um Nein zu sagen, aber das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Sie zögerte.

Wendys Blick wanderte zum Empfangstresen des Stationszimmers.

Dort stand Schwester Judy und beobachtete verwundert, wie die beiden Beamten mit Wendy redeten. Sie bekam rote Flecken im Gesicht, und für einen Moment dachte Wendy, sie würde herüberkommen und den Beamten die Leviten lesen. Doch stattdessen ging sie schnell in Richtung Pausenraum.

Wendy legte die Arme noch fester um ihre Knie. Ihre Atmung beschleunigte sich, und sie hoffte, dass Smith und Cecco es nicht bemerkten. »Nein.« Aber sie klang nicht einmal annähernd so sicher wie zuvor. Sie konnte ihnen schließlich nicht sagen, dass sie glaubte, sie hätte beinahe einen Jungen mit ihrem Pick-up überfahren, den sie nur aus erfundenen Geschichten kannte.

Wendys Herz machte einen schmerzhaften Satz.

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja.«

Smith’ kalte graue Augen verengten sich. »Wie ist er dann auf der Straße gelandet?«, fragte er. »Kam er von einer der Forststraßen?«

Endlich schaute Wendy den beiden Beamten direkt ins Gesicht. Sie lächelte und blinzelte. »Vielleicht ist er ja vom Himmel gefallen?«

Smith presste die Lippen zu einem festen Strich zusammen, und ein Muskel in seiner Wange zuckte. Die Regung bescherte Wendy ein kurzes Gefühl der Befriedigung. Cecco rieb sich ratlos den Nacken. Nachdem er Smith einen nervösen Blick zugeworfen hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Wendy. »Woher kennt er Ihren …?«

»Was ist hier los?« Die Stimme war leise, aber streng.

»Mom«, hauchte Wendy.

Ihre Mutter trat zwischen die beiden Beamten.

Mary Darling trug ein ausgeblichenes blaues Hemd und eine passende Hose, ihr hellbraunes Haar hatte sie zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt. Sie hielt die zitternden Hände an den Seiten, während der scharfe Blick ihrer braunen Augen zwischen den Beamten hin und her huschte. Die Autorität, die sie einst ausgestrahlt hatte, wurde durch die hängenden Schultern und die dunklen Ringe unter ihren Augen Lügen gestraft.

Wendy stand auf und zwängte sich an Smith und Cecco vorbei, um sich neben ihre Mutter zu stellen.

»Geht es dir gut?«, fragte Mrs. Darling mit einem Seitenblick auf Wendy. »Was ist passiert? Dein Vater …?«

»Nein, alles in Ordnung«, beteuerte Wendy schnell. Ihre Mom konnte das Problem lösen, konnte alldem einen Sinn geben. »Da war ein Junge …«

»Mrs. Darling, wir müssen mit Ihrer Tochter reden«, unterbrach Smith sie.

»Und warum müssen Sie das, Officer Smith?«

Er nahm seine Mütze ab und machte sich offensichtlich bereit, eine Erklärung abzugeben.

»Wendy!«

Alle drehten sich um. Die blauen Vorhänge um das Bett des Jungen raschelten. Schwestern und Pfleger kamen angelaufen und verschwanden hinter den Vorhängen.

»WENDY

Sie konnte nicht verstehen, was die Ärzte sagten, weil irgendjemand völlig hysterisch ihren Namen schrie. Es knallte zweimal laut, als Metalltabletts zu Boden geworfen wurden.

Alle starrten sie an. Die Krankenschwestern und Pfleger, die Ärzte, die Beamten, ihre Mom.

»WENDY

Ihre Gedanken überschlugen sich. Alle anderen Geräusche waren jetzt gedämpft und verzerrt, alle bis auf seine durchdringenden Schreie.

Sie fühlte sich wie in einem Albtraum. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie ging auf das Bett hinter dem Vorhang zu.

»Wendy.« Diesmal war es ihre Mutter, die ihren Namen sagte, und sie legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter, doch Wendy schüttelte sie ab. Sie schob sich an Krankenschwestern und Pflegern vorbei, die sie unverhohlen anstarrten, ihr jedoch Platz machten.

»WENDY

Sie war jetzt nah genug bei ihm, um nach dem Baumwollvorhang zu greifen. Sie zögerte, als sie bemerkte, wie heftig ihre Hand zitterte. Dann riss sie den Vorhang zurück.

Schwestern und Pfleger liefen durcheinander. Männer in blauer Krankenhauskleidung zu beiden Seiten des Jungen versuchten, ihn an den Armen festzuhalten. Er trat mit den Beinen unter der Leinendecke wild um sich. Ein Arzt mit einer Spritze und einer kleinen Glasflasche stand über ihm.

Aber dann blieb plötzlich die Zeit stehen: Wendy sah den Jungen an, und er erwiderte ihren Blick. Jetzt erkannte sie, dass sein Haar von einem dunklen Rostrot war und selbst in der trüben Krankenhausbeleuchtung rötlich schimmerte. Wie Blätter im Spätherbst. Er trug ein blaues Krankenhaushemd. Sie hatten ihn anscheinend aus den Kleidern herausgeschnitten, die er angehabt hatte.

»Wendy?« Er brüllte nicht mehr. Stattdessen neigte er den Kopf zur Seite und blinzelte sie mit seinen strahlend blauen Augen an.

Wendy verschlug es die Sprache. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Ihr Mund war geöffnet, aber kein Laut kam heraus.

Ein breites Lächeln glitt über seine Züge und entblößte einen Schneidezahn, von dem eine kleine Ecke abgebrochen war, und tiefe Grübchen. Seine klaren Augen leuchteten auf – die Augen, die sie in ihren zahlreichen Zeichnungen nie hatte einfangen können. Aber das war unmöglich …

»Ich habe dich gefunden«, sagte er triumphierend. Er wehrte sich immer noch gegen die beiden Männer, die ihn festhielten, doch er hörte dabei keine Sekunde auf zu lächeln. Unter seinem Blick wurden Wendys Wangen ganz heiß, und ihr Magen schlug Purzelbäume.

Der Arzt stach ihm die Nadel in den Arm und drückte den Kolben herunter.

»Nein, tun Sie das nicht!« Die Worte flogen aus ihrem Mund, aber es war zu spät. Der Junge zuckte zurück, konnte der Nadel jedoch nicht entkommen. Fast augenblicklich wurden seine strahlenden Augen glasig.

Sein Kopf fiel zur Seite, und er sank zurück auf das Krankenhausbett. »Ich wusste, dass ich dich finden würde.« Seine Worte waren kaum zu verstehen, und sein Blick irrte benommen im Raum umher, aber er wirkte so glücklich – so erleichtert.

Wendy schob sich an einer Krankenschwester vorbei und trat neben ihn. »Wer bist du?«, fragte sie und umklammerte das Bettgitter.

Der Junge runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen hoch, während er versuchte, wach zu bleiben. »Du hast mich vergessen?« Seine Augen versuchten verzweifelt, sie zu fokussieren.

Wendys Herz raste. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und sie war sich bewusst, dass die anderen im Raum sie beobachteten. Sie hatte so viele Fragen, aber das Beruhigungsmittel entfaltete rasch seine Wirkung bei ihm.

»Wie heißt du?«, fragte sie drängend.

Seine schläfrigen Augen fanden endlich ihre. »Peter.« Er blinzelte langsam, dann sank sein Kopf zurück auf das Kissen. Er ließ ein kleines, betrunken klingendes Lachen hören. »Du bist so alt …« Seine Lider schlossen sich, und plötzlich lag er regungslos da. Nur seine Brust hob und senkte sich langsam.

Peter.

Bewegungen um sie herum ließen sie erneut zusammenzucken. Man stellte ihr Fragen, doch sie hörte sie kaum. Sie wurde von Menschen in Kitteln sanft von Peters Seite weggezogen. Plötzlich hatte Wendy das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Speichel sammelte sich in ihrem Mund, während der Raum sich um sie zu drehen begann.

Du hast mich vergessen?

Wendy vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Herz hämmerte. Sie konnte noch immer die Erde und das nasse Gras auf seiner Haut riechen. Fest presste sie die Augen zusammen, und Bilder von Bäumen und Zwielicht zwischen Blättern blitzten vor ihrem inneren Auge auf.

Jemand massierte ihr den Rücken und führte sie zu einem Stuhl, wo sie den Kopf zwischen die Knie sinken ließ, die Hände in ihrem verschwitzten Nacken verschränkte und die Unterarme auf ihre Ohren presste.

Woher kannte er sie? Warum hatte er nach ihr gesucht? Und wer war er? Das konnte nicht Peter Pan sein, ihr Peter. Er war nicht real, war nur eine ausgedachte Geschichte. Oder?

Du hast mich vergessen?

Es gab so vieles, das sie vergessen hatte – riesige Zeitspannen, die in ihrer Erinnerung fehlten. Was, wenn er eine von diesen Erinnerungslücken war? Was, wenn er wusste, was passiert war?

Plötzlich machte ihr der Gedanke, er könnte aufwachen, schreckliche Angst.

Die Menschen um sie herum wichen zurück, und sie spürte einen leichten Druck auf dem Kopf, bei dem es sich nur um eine Berührung ihrer Mutter handeln konnte. Wendy schaute zwischen ihren Armen hindurch zu ihrer Mom hoch.

»Ich bring dich nach Hause, okay?« Die Schwestern und Pfleger hinter Mrs. Darling starrten sie noch immer an, aber Mrs. Darling wickelte sich nur eine Locke von Wendys Haar um den Finger und zog sanft daran.

Wendy nickte.

»Mrs. Darling.« Smith war immer noch da. »Wir haben noch weitere Fragen an Ihre Tochter.« An die Stelle des Argwohns war jetzt ein Ausdruck wachsamer Besorgnis getreten, mit dem er auf Wendy hinabschaute.

Mrs. Darling verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht heute Abend. Meine Tochter hat schon genug durchgemacht. Aber morgen sprechen wir gern noch einmal mit Ihnen.«

Officer Cecco trat zurück und murmelte rasch einige Worte in sein Funkgerät.

»Es tut mir leid, Ma’am, aber …«

Wendy hörte gar nicht mehr zu.

Sie legte die Wange aufs Knie und schaute wieder zu Peters Bett hinüber.

Jemand hatte die heruntergefallenen Tabletts aufgehoben, und sie konnte gerade noch eine Hand erkennen, um deren Gelenk eine gepolsterte Ledermanschette gelegt worden war. Sie hatten ihn ans Bett gefesselt.

Sie dachte daran, wie diese Fesseln sich an ihren eigenen Handgelenken angefühlt hatten, nachdem man sie an ihrem dreizehnten Geburtstag im Wald gefunden hatte.

Zuerst war sie nur ins Krankenhaus gebracht worden, damit ihre leichten Verletzungen untersucht werden konnten, aber als sie nicht aufhören konnte zu weinen und immer wieder mitten in der Nacht schreiend und um sich schlagend aufgewacht war, hatte man sie an den Handgelenken und Knöcheln fixiert. Zu ihrem eigenen Schutz, hatten sie gesagt. Danach konnte sie sich nicht mehr an viel erinnern, nur an den stetigen Strom von Ärzten, Sozialarbeitern und Psychologen.

Ihre Brüder waren immer noch verschwunden, und das war ihre Schuld.

Eine Krankenschwester stand gerade neben Peter und maß seinen Puls. Wendys Mutter und Officer Smith waren noch immer ins Gespräch vertieft. Sein Gesicht war puterrot, und ihre Mutter reckte stur das Kinn vor. Der andere Beamte hatte ihnen den Rücken zugewandt und sprach in sein Handy.

Als die Krankenschwester den Raum verließ, erhob Wendy sich von ihrem Stuhl.

Sie trat wieder ans Bett. Ihr Blick flog über sein Kinn, seine Ohren, sein Haar. Sie suchte nach irgendeinem Beweis, dass er Peter Pan war. Er war definitiv älter als der Junge in ihren Geschichten und Zeichnungen. Der Peter Pan, den sie kannte, war ein Kind, das niemals alterte. Der Junge hier im Krankenhausbett war definitiv ein Teenager. Sich an die Vorstellung zu klammern, dass dies nicht Peter Pan sein konnte, weil Peter Pan niemals erwachsen wurde, war zwar albern, aber besser als nichts.

Der Junge hatte ausgeprägte Wangenknochen, und selbst im fahlen Licht der Neonröhren war seine Haut sonnengebräunt. Seine Sommersprossen stachen inmitten der Dreckflecken hervor wie kleine Fetzen zerrissener Herbstblätter.

Zwischen seinen Augenbrauen war eine kleine Falte zu sehen. Wendy beugte sich dichter über ihn. Er runzelte im Schlaf die Stirn, als hätte er einen bösen Traum.

Wendy strich sachte mit dem Daumen über die Falte zwischen seinen Augen, wieder und wieder, bis seine Stirn sich entspannte und die Furchen sich glätteten.

Noch einmal schaute sie auf sein gefesseltes Handgelenk hinunter und ließ ihren Blick dann über seinen Handrücken bis zu seinen langen, schlanken Fingern wandern. Seine Nägel waren abgekaut, das Nagelbett dreckverkrustet.

Das Bild von ihren eigenen Fingernägeln, als man sie gefunden hatte, stieg in ihr auf. Schmutzig, abgebrochen, mit irgendetwas Rotem darunter.

Wendy fuhr zurück, und ein Beben durchlief sie. Sie gab von dem an der Wand angebrachten Pumpspender einige Spritzer Desinfektionsmittel in ihre Handfläche und rieb sie kräftig aneinander. Der scharfe Geruch stach ihr in der Nase.

»Wendy.«

Sie zuckte zusammen und wirbelte herum. Ihre Mutter stand im Flur, wo sie ihr zuwinkte, um ihr zu bedeuten, dass sie kommen sollte.

»Wir gehen jetzt«, verkündete ihre Mom, die ihre Handtasche fest umklammert hielt. Wendy fand, dass ihre Mutter plötzlich viel älter aussah. Als würde eine schwere Last ihre Schultern nach unten drücken, ihr Kopf gesenkt und ihr Rücken gebeugt.

Wendy wischte sich mit der Hand über ihre schweißnasse Stirn. »Was ist mit meinem Pick-up?«

»Den kannst du morgen früh abholen«, entschied ihre Mutter und wühlte in ihrer Handtasche nach ihren Schlüsseln.

Wendy nickte. »Okay.«

Mrs. Darling entfernte sich mit schnellen Schritten, und Wendy folgte ihr. Im selben Moment, als sie durch die Schiebetüren aus Glas nach draußen traten, kamen zwei Personen in Anzügen herein.

Die Türen schlossen sich, und Wendy dachte an Peter, der im Bett lag, und an das Lächeln, das seine Lippen umspielt hatte.

KAPITEL 3

Geschlossene Türen

Auf der Heimfahrt saß Wendy auf dem Rücksitz des Wagens hinter ihrer Mutter. Sie zog die Beine an und drückte die Stirn gegen die kühle Scheibe, den Rücken dem Wald zugewandt. Um ihre Gedanken daran zu hindern abzuschweifen, schloss sie die Augen und sagte sich im Kopf immer wieder den Text ihres Lieblingssongs vor.

Über Kies rollende Reifen verrieten ihr, dass sie zu Hause waren. Wendy setzte sich auf und öffnete vorsichtig die Tür, um keine Beule in das neben ihnen geparkte Auto ihres Vaters zu schlagen.

»Ich muss noch einmal zurück und meine Schicht beenden«, sagte ihre Mom.

»In Ordnung.«

»Wir reden morgen früh.«

»Okay.« Wendy zögerte. So etwas wie Neugier, oder vielleicht waren es auch nur Gewissensbisse, hielten sie im Auto. »Mom, geht es dir gut?«

Mrs. Darling seufzte. Wendy suchte im Rückspiegel den Blick ihrer Mutter, aber diese starrte weiterhin bloß auf das Lenkrad. »Mir geht es gut. Alles ist gut.«

Sie wusste nicht, wen ihre Mutter zu überzeugen versuchte, sich selbst oder Wendy.

Ihre Mom fuhr los, noch bevor Wendy ihren Schlüssel aus der Tasche holen konnte. Ihr Vater hatte wieder einmal vergessen, die Verandalampe einzuschalten, also fummelte sie einen Moment lang mit dem Schlüssel am Schloss herum, bevor es ihr gelang, die Haustür aufzuschließen.

Im Wohnzimmer war es bis auf den Lichtstreifen dunkel, der unter der Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters drang. Sie drückte das Ohr an den Türrahmen und lauschte. Es war alles still, das Einzige, was man hören konnte, war das tiefe, sonore Schnarchen ihres Vaters.

Gut. Zumindest musste sie sich nicht von ihm mit Fragen löchern lassen. Jedenfalls noch nicht.

Wendys Geist und auch ihr Körper schwirrten von nervöser Energie. Sie musste sich irgendwie ablenken, musste ihren rastlosen Händen etwas zu tun geben, daher räumte sie die Küche auf. Sie leerte die Spülmaschine, die sie am Abend zuvor eingeräumt hatte. Dann legte sie die Bierkartons zusammen und stapelte sie mit dem Rest des Papiermülls auf einen Haufen. An der Spüle schrubbte sie sich erneut die Hände, die Haut rot und rissig von ihrer zwanghaften Angewohnheit.

Das Aufräumen lenkte sie ab, bis sie sich hinsetzte, um eine Einkaufsliste zu schreiben. Sie starrte auf den kleinen Notizblock, über dem die Spitze des blauen Stiftes schwebte, aber sie konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren, was sie diese Woche an Lebensmitteln einkaufen musste. Das war eine der vielen Pflichten, für die sie zu Hause zuständig war. Jetzt, da sie still dasaß, rasten ihre Gedanken. Sie überlegte, den Fernseher einzuschalten, um sie zu übertönen, aber sie wollte unter keinen Umständen die Gesichter von Benjamin Lane und Ashley Ford auf dem Bildschirm sehen.

Und sie wollte ihren Dad nicht wecken.

Wendy schloss die Augen und zwang sich, tief einzuatmen. Ihre Schläfen pochten. Sie freute sich nicht gerade darauf, dass er herausfand, was heute Abend passiert war. Verdammt, sie konnte ja nicht einmal selbst genau sagen, was passiert war. Wie sollte sie es dann jemand anderem erklären? Das Einzige, was sie mit Bestimmtheit wusste, war, dass jemand auf der Motorhaube ihres Autos gelandet war und sie einen Jungen gefunden hatte, der mitten auf der Straße gelegen hatte. Der Peter hieß.

Aber das bedeutete noch lange nicht, dass es auch ihr Peter war.

Wendy schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie musste sich konzentrieren.

Lebensmittel. Sie könnte Nudelauflauf machen. Das ging schnell, und ihre Mom und ihr Dad konnten sich davon etwas zur Arbeit mitnehmen.

Wendy schaute auf den Notizblock und wollte gerade Tomatensoße aufschreiben, als sie erst stutzte und dann nach Luft schnappte. Eine Gänsehaut raste an ihren Armen hinab.

Sie hatte es schon wieder getan.

Der Notizblock war vollgekritzelt mit blauer Tinte. In skizzenhaften Strichen war der knorrige Baum umrissen. Der Stamm war dick und die Rinde zerklüftet. Die Wurzeln wanden sich in der Erde unter ihm. Die Zeichnung hatte sich über die Ränder des Papiers hinaus ausgebreitet, und einige Äste erstreckten sich in scharfen Winkeln über den Holztisch.

»Scheiße.« Wendy schnappte sich das Putzmittel, das unter der Spüle stand, und eine Handvoll Papiertücher. Dann schrubbte sie den Tisch ab. Zwar verschwand die blaue Tinte, doch sie hatte mit dem Stift so fest aufgedrückt, dass er Rillen in dem weichen Holz hinterlassen hatte. Sie fluchte erneut und schrubbte noch kräftiger.

Die geisterhaften Umrisse der Äste ließen sich nicht entfernen. Wendy zog die Schublade auf, wo sie die hübschen Tischdecken für die Festtage aufbewahrten, und holte das Set grüner Platzdeckchen heraus. Sie verteilte sie so auf dem Tisch, dass die Linien verdeckt waren.

Wendy drückte sich die Handballen gegen die Augen. Was passierte nur mit ihr? Flippte sie jetzt völlig aus? Sie musste sich der Realität stellen. Der Junge, den sie gefunden hatte, war nicht Peter Pan. Die verschwundenen Kinder hatten nichts mit ihr oder ihren Brüdern zu tun. Sie war einfach erschöpft und musste mal wieder richtig ausschlafen.

Wendy ging die Treppe hoch und blieb oben für einen Moment stehen. Rechts von ihr befand sich die Tür, die in das Zimmer führte, das sie sich früher mit ihren Brüdern John und Michael geteilt hatte. Mittlerweile war es einfach nur eine Tür, die während der letzten fünf Jahre geschlossen geblieben war. Nach den Ereignissen von damals hatte Wendy sich geweigert, das Zimmer noch einmal zu betreten, daher hatten ihre Eltern sie sofort ins Spielzimmer umgesiedelt.

Sie hatten ihr lauter neue Kleider und Möbel gekauft. Der Einkaufsbummel hätte ein vergnügliches Mutter-Tochter-Abenteuer werden können, aber Wendy war in den ersten Wochen ständig zu irgendwelchen Untersuchungen im Krankenhaus gewesen und hatte nicht viel gesprochen. Also musste ihre Mom die meisten Einkäufe allein erledigen – und angesichts der vielen unterschiedlichen Stilrichtungen und Holzfarben vermutete Wendy, dass sie einfach auf die erstbesten Dinge gezeigt und sie sich nach Hause hatte liefern lassen. Wendy wandte der Tür den Rücken zu, fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes Haar und betrat ihr Zimmer auf der linken Seite des Flurs. Allein durch den Anblick ihres Bettes mit den aufeinandergetürmten Kissen und der dicken Daunendecke unter der glatten hellblauen Tagesdecke fühlte sie sich erschöpft.

Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand mittig unter dem Fenster. Aus einem kleinen Papierkorb neben dem Beistelltisch quollen weitere zerknüllte Zeichnungen von Peter und dem krumm gewachsenen Baum.

In ihrem kleinen Badezimmer spritzte Wendy sich Wasser in Gesicht und Nacken. Sie klammerte sich an den Waschbeckenrand und starrte auf ihr Spiegelbild am Medizinschränkchen. Abgesehen davon, dass sie ein wenig blass war, sah sie aus wie immer. Zu große Augen, aschblondes Haar, das keinerlei Glanz hatte, und zu breite Schultern vom Schwimmen. Völlig gewöhnlich und uninteressant, was ihr absolut recht war.

Wendy schlüpfte in ihr weißes Nachthemd. Die Luft auf ihrer feuchten Haut verschaffte ihr eine kleine Atempause von der Hitze.

Die Kommode war das Einzige in Wendys Zimmer, das man als unordentlich bezeichnen konnte. Darauf lagen lauter kleine Schätze verteilt, die sie im Lauf der Jahre gesammelt hatte: ihre Lieblingsbücher, eine Plüschrobbe, die ihre Großmutter ihr in San Francisco gekauft hatte, eine violette Badekappe mit dem Maskottchen ihrer Schule darauf – einem kämpfenden Fischer – und ihre Silber- und Bronze-Medaillen von Schwimmwettkämpfen.

Wendy griff nach der Badekappe, um sie in ihre Tasche zu werfen, woraufhin die kleine, hölzerne Schmuckschatulle zum Vorschein kam, die darunter verborgen gewesen war. Sie hielt inne.

Es war ein schlichtes Kästchen aus altem Holz. Sie hatte es vor einigen Jahren, in dem Sommer vor dem Verschwinden ihrer Brüder, in einem kleinen Laden an der Küste entdeckt. Meistens benutzte sie es als Bücherstütze, aber es befanden sich auch einige Schmuckstücke darin.

Wendy beugte sich vor und öffnete den Deckel. Dort lag eine alte Kette aus billigem Metall, das angelaufen war und nach Kupfer roch. Daneben lagen einige Münzen, ein kleines Stück violetter Quarz und, in der Ecke, eine Eichel.

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