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Caroline hat einen Plan

Caroline hat genug von ihrem Job an der Frischetheke eines großen Supermarkts. Viel lieber möchte sie eine Tapas-Bar in Stockholm eröffnen. Aber sie hat kein Geld - dafür hat sie einen Plan: Gemeinsam mit ihrem Kollegen und ihrem charmanten kleinkriminellen Vater will sie einen Fleischtransporter klauen. Der Erlös der Beute soll ihr Startkapital sein. Doch dann lernt sie den Fahrer des Transporters kennen, und es ist um Caroline geschehen. Natürlich ist das kein Grund, den Plan zu ändern …

"Welch eine leichtfüßige und zugleich tiefgründige Geschichte."
Boktok73, Blog

"Ein origineller, herzerwärmender Roman, der mit einer guten Portion schwedischem Humor und ohne jeden Kitsch das Chick-Lit-Genre nur bereichern kann. Für alle empfohlen."
ekz.bibliotheksservice (Carolin Scholl)


  • Erscheinungstag: 01.12.2017
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677196
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Der Wind dringt mir förmlich unter die Haut. Es ist Montagmorgen, ich steige in Lidingö-Zentrum aus dem Bus und versuche, optimistisch zu sein und mich auf die Arbeit zu freuen.

In meinem Kopfhörer singt Robyn. Aber nicht einmal sie hilft. Es fängt an zu regnen, ich suche Schutz unter dem Schrägdach und gehe an den noch geschlossenen Geschäften vorbei.

Svetlana und die anderen Obdachlosen sind noch nicht da. Ich betrete den Supermarkt, passiere die Gemüseabteilung und die absurd lange Frischetheke, ohne jemanden zu grüßen. In dem schmalen Personalgang ziehe ich meine Karte durch die Stempeluhr, die irgendjemand auf den Namen Agda getauft hat.

„Du weißt doch, dass man erst nach dem Umziehen einstempeln soll, oder, Carro?“

Daniella. Sie weiß ganz genau, dass ich es hasse, wenn man mich Carro nennt.

Ich drehe mich um, sie steht in der kleinen Nische, in der nur Platz für den Kopierer ist. Sie deutet auf einen handgeschriebenen Zettel an der Pinnwand über der Stempeluhr. Ich muss nicht hinsehen. Ich weiß, was da steht: NACH DEM UMZIEHEN EINSTEMPELN, VOR DEM UMZIEHEN AUSSTEMPELN.

Mein Herz schreit: „Das kann dir doch scheißegal sein!“ Mein Mund sagt: „Natürlich, entschuldige, ich hab’s vergessen.“

„Kein Problem. Aber denk beim nächsten Mal dran.“ Daniella lacht über ihr ganzes solariumgebräuntes Gesicht und geht in den Laden.

Hat sie spioniert?

Früher bin ich immer gerne zur Arbeit gegangen. Beim damaligen Chef, Henrik Lundquist, hatte ich einen Stein im Brett. Bei ihm durfte ich das Kommando über die Frischetheke übernehmen und „Carolines Tapas“ kreieren. Ich konnte meine Arbeitszeiten flexibel einteilen, und er hatte immer ein offenes Ohr für meine Ideen. Die Angestellten waren loyal und haben sich mit ihrem Arbeitsplatz identifiziert. Die Kunden aus dem Viertel wussten die persönliche Atmosphäre beim Einkaufen zu schätzen. Unser Supermarkt war so persönlich wie nur irgend möglich.

Dann wurde Henriks jüngste Tochter krank, und er zog mit seiner Familie nach Thailand. Den Laden verkaufte er an die Konkurrenz nebenan, und zwei große Supermärkte fusionierten zu einem gigantischen Mega-Supermarkt. Maxfood. Das Einzige, mit dem wir angeben können, ist, dass der Abstand zwischen Gurken und Milch mindestens einen Kilometer beträgt.

Jede persönliche Note ist wie weggeblasen, alles wird zentral gesteuert und verwaltet.

Daniella Andersson, die neue Supermarktleiterin, hat keine Ahnung vom Viertel, den Kunden oder Lidingö. Aber sie weiß alles über Maxfood. Sie ist um die vierzig, hat braune, leuchtende Augen, schneeweiße Zähne und niedliche Lachgrübchen. Vermutlich gibt es keinen einzigen Angestellten, der sich nicht in sie verknallt hat, als sie zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien. Kurz darauf wurden wir eines Besseren belehrt. Einen falscheren Menschen muss man erst einmal finden. Aber alle schleimen sich bei ihr ein, und keiner verliert ein schlechtes Wort über sie.

Als Henrik Lundquist noch da war, habe ich nie etwas geklaut. Nicht einmal eine Olive. Er war für mich da, als es mir schlecht ging, und da macht man so etwas einfach nicht.

Aber jetzt. Für ein bisschen mehr Spaß bei der Arbeit habe ich todsichere Methoden entwickelt, Eins-a-Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen zu ergattern. Im Lager steht ein Korb, in dem fast immer Fleisch liegt, das nach dem Ablauftag nicht mehr neu ausgezeichnet werden darf. Wenn ich Spätschicht habe und den Laden schließe, nehme ich es mit nach Hause. Aber das kann man ja wohl kaum als Diebstahl bezeichnen, ich verstehe es eher als Dienst an der Umwelt, und Henrik Lundquist hatte nie etwas dagegen.

Da ist es schon raffinierter, wenn ich teure Lebensmittel aus der Frischetheke verpacke, sie mit günstigen Preisen etikettiere und sie selbst kaufe.

Die heutige Belegschaft an der Fleischtheke besteht aus mir, dem Miesepeter Ralf und der flippigen, attraktiven Lesbe Anna-Lena Samuelsson, die sich selbst den Spitznamen ALS gegeben hat.

Ich fasse ein Rinderfilet von einem glücklichen Rind ins Auge, das vierzig Tage auf einem Hof in der Nähe von Flen abgehangen hat, um zu reifen. Es hat eine schöne Marmorierung und ist so dunkelrot, dass es fast schon schwarz wirkt. Der Preis: 899 Kronen pro Kilo.

Während ALS eine elegante Lidingö-Dame bedient, die mit der Auswahl der Mortadella Schwierigkeiten hat, und Ralf auf der Toilette ist, lande ich meinen bislang größten Coup und schneide ein großes Filetstück ab. Ich peile 400 Gramm an, die Waage zeigt 393 Gramm, über mein Augenmaß konnte ich mich noch nie beklagen. Ich zeichne das Filet als Nackenstück aus, die günstigste Ware, die wir an der Fleischtheke haben. Es kostet dreiundvierzig Kronen. Hätte ich es als Rinderfilet etikettiert, wären es über dreihundertfünfzig gewesen. Ich schreibe ein C auf das Paket und verstecke es unauffällig hinter einer Fleischwurst im Personalkühlschrank hinter der Theke.

Es ist 19:02 Uhr, meine Schicht ist zu Ende. Diesmal habe ich darauf geachtet, auszustempeln, bevor ich mich umgezogen habe, weil ich keine Diskussion riskieren will. In meinem Korb liegen auch noch andere Lebensmittel. Verschiedene Sorten Wurzelgemüse und Kartoffeln. Einerseits sind sie billig, andererseits passen die Zutaten gut zum Eintopf, für den ich das Nackenstück gekauft habe, falls jemand fragen sollte.

Wenn ich bezahle, nehme ich immer die Kasse, an der die unerfahrenste Kollegin oder der unerfahrenste Kollege sitzt. Heute ist es ein junges Mädchen, dessen Namen ich nicht kenne. Ihr Gesicht ist mit Make-up zugekleistert, und ich muss unweigerlich an all die Blondinenwitze denken, die Östen immer im Personalraum zum Besten gibt.

„Wie ist die Blondine beim Milchtrinken gestorben?“

„Die Kuh ist auf sie gefallen.“

Pause für Lacher.

Vor mir in der Schlange steht ein Typ um die dreißig. Automatisch werfe ich einen Blick in seinen Einkaufskorb und denke mir eine Geschichte über ihn aus, das ist eine Art Hobby von mir. Dieser hier ist leicht. Er kauft irgendeins von diesen Gourmet-Fertiggerichten von einem Sterne-Restaurant, denen ich nie irgendetwas abgewinnen konnte. Der Typ ist reich, Single und glaubt, dass er Geschmack hat. Ich glaube das nicht.

Gerade als ich meine Einkäufe aufs Band legen will, kommt eine süße ältere Dame mit rotem Hut aus dem Eingangsbereich vorne an die Kasse.

„Ich habe ein paar Mineralwasserflaschen in den Pfandautomaten gesteckt und sollte achtzehn Kronen zurückbekommen, aber irgendetwas ist da schiefgelaufen …“

Die blonde Kassiererin sieht die Kundin erstaunt an.

„Kann ich Ihren Bon sehen?“

„Ich habe den gelben Knopf gedrückt.“

„Den gelben Knopf?“

Mir ist sofort klar, was passiert ist. Wenn man auf den gelben Knopf drückt, spendet man den Pfandbetrag an Save the Children. Die Dame hat den Knopf aus Versehen gedrückt, und jetzt will sie ihre achtzehn Kronen haben.

Sie zeigt ihren Pfandbeleg vor. „Hier steht Vielen Dank für Ihre Spende an Save the Children, aber ich spende lieber auf eine andere Art.“

„Ach so, aber das geht leider nicht –“, setzt die Blondine zu einer Erklärung an.

„Gib ihr einfach die achtzehn Kronen, das geht schon in Ordnung“, sage ich freundlich.

„Nein, das kann ich nicht machen, dann stimmt meine Kasse nicht mehr.“

„Dieser Automat hat angezeigt, dass ich achtzehn Kronen herausbekomme. Es kann doch wohl nicht sein, dass, nur weil ich auf den falschen Knopf gedrückt habe –“, meldet sich die arme alte Dame wieder zu Wort.

„Sie haben recht“, pflichte ich ihr bei.

Die Blondine greift zum Telefon. „Supermarktleitung, bitte zu Kasse drei.“

Ich sage mir, dass es ganz praktisch ist, wenn es vor meinem kleinen Coup an der Kasse ein bisschen chaotisch zugeht, allerdings wäre es ganz und gar nicht gut, wenn jetzt ein hellwacher Vorgesetzter aufkreuzte.

Natürlich ist es Daniella, die an die Kasse kommt. Mir wird flau im Magen, und meine Füße fangen an, unangenehm zu kribbeln, ein typisches Zeichen, dass ich nervös bin.

„Was können wir für Sie tun?“, fragt Daniella und ringt sich ein Lächeln ab. Die Dame erklärt ein weiteres Mal, was vorgefallen ist, und Daniella bestätigt, dass Maxfood ihr in dieser Angelegenheit leider nicht weiterhelfen könne.

„Es ist doch eine noble Geste, Save the Children mit einer kleinen Spende zu unterstützen, finden Sie nicht?“

„Ich gebe regelmäßig viel Geld für wohltätige Zwecke aus, aber jetzt möchte ich meine achtzehn Kronen Pfand zurückbekommen“, beharrt die alte Frau.

„So ein Aufstand wegen ein bisschen Pfand“, murmelt Daniella.

Ich finde einen zerknitterten Zwanzig-Kronen-Schein in meiner Gesäßtasche.

„Hier, bitte“, sage ich zu der Dame.

„Nein, das kann ich doch nicht –“

„Doch, doch, das können Sie“, sage ich und lächele. „So etwas gleicht sich aus.“

„Vielen Dank“, sagt die Dame, die jetzt deutlich milder gestimmt ist. „Warten Sie, ich gebe Ihnen –“

„Nein, nein, ist schon gut.“

Die Frau bedankt sich noch einmal und verlässt das Geschäft. Daniella sieht mir tief in die Augen. Ich erwidere ihren Blick, erleichtert, dass sie sich nicht dafür interessiert, was vor ihr auf dem Band liegt.

„Ich hoffe, dir ist klar, dass du das gerade aus deiner eigenen Tasche bezahlt hast, Carro“, sagt sie scharf.

„Natürlich“, antworte ich.

„Gut, dann sind wir uns ja einig.“ Daniella macht auf dem Absatz kehrt und geht.

Die Blondine wirkt eingeschüchtert.

„Das war nett von dir. Ich hab leider kein Bargeld, sonst hätte ich auch –“

„Kein Thema.“

Sie tippt alle Waren routiniert in ihre Kasse ein, und ich verabschiede mich von ihr und den anderen Kassiererinnen. Ich achte immer darauf, beim Gehen den Rücken zu straffen, weil ich relativ klein bin und möglichst groß wirken möchte, aber heute gehe ich ganz besonders aufrecht.

Draußen setze ich meinen Kopfhörer auf, und Robyn singt an der Stelle weiter, wo sie heute Morgen aufgehört hat.

I’m just gonna dance all night.

I’m all messed up, I’m so outta line.

Stilettos and broken bottles. I’m

spinning around in circles.

So möchte ich sein. Wie Robin Hood. Oder Robyn Hood. Königin der Gesetzlosen, die vom geldgierigen Maxfood-Supermarkt nimmt und armen alten Damen gibt.

2

Ich sitze im Bus 53 in Richtung Henriksdalsberget und bin auf dem Weg zu meinem Vater.

Die Aussicht, alleine in meinem Ein-Zimmer-Apartment mit Kochnische und Schlafsofa in Kungsholmen zu sitzen und Fleisch der Spitzenklasse zu verzehren, erschien mir nicht gerade verlockend. Nur mein Vater ist es wert, in den Genuss meines butterzarten Rinderfilets zu kommen, und keiner kann es besser zubereiten als er. Er ist von Beruf Koch und würde jedem Sterne-Restaurant in Europa alle Ehre machen. Aber er sagt, dass er die Restaurantbranche hasst, weil es dort nur um Geschäftemacherei, Prestige und Konzepte gehe. Die Wahrheit ist, dass er ohne Alkohol nicht klarkommt. Sturzbetrunken ist er selten, dafür aber auch niemals völlig nüchtern, und heutzutage können Köche nicht von mittags bis spät in die Nacht trinken, egal, wie gut sie ihr Handwerk verstehen.

Das Erste, worauf mein Blick in Papas Wohnung fällt, ist der Pfifferlingberg auf dem Wohnzimmertisch.

„Hallo!“, rufe ich.

Keine Antwort. Ich durchquere das Wohnzimmer und rufe lauter.

„Papa!“

„Hallo“, murmelt es irgendwo auf dem Boden. Ich beuge mich nach unten und sehe, dass er unter dem Sofa liegt.

„Was machst du da?“

„Ich suche.“

„Ist dir ein Pfifferling ausgebüxt?“

„Nein, eine Weinbergschnecke.“

„Eine Weinbergschnecke?“

An dieser Stelle könnte man vielleicht eine ausführliche Erklärung erwarten, aber ich kenne meinen Vater. Wenn es etwas gibt, das er für überflüssig hält, dann, Dinge zu erklären, die seiner Ansicht nach nicht erklärt werden müssen. Wenn man im dritten Stock hoch oben auf einem Berg nach einer Schnecke sucht, dann sucht man eben im dritten Stock hoch oben auf einem Berg nach einer Schnecke.

Ich bleibe stehen und sehe mich in der Wohnung um. Wie immer hat mein Vater Kräuter zum Trocknen aufgehängt, und überall stehen Blumentöpfe mit verschiedenen Gemüsesorten und Kräutern, die er selbst heranzieht. Auf dem Herd köcheln ein paar riesige Töpfe vor sich hin, es duftet nach Wildfond. Ich kann nicht sagen, welches Tier, tippe aber auf Reh. Am schönsten Platz im Wohnzimmer – wo normale Menschen eine Kommode oder eine Vitrine hinstellen – steht bei meinem Vater eine riesige Tiefkühltruhe. Es ist eine von insgesamt drei Kühltruhen, die mit eingekochten Fonds und allen möglichen Teilen von erlegtem Wild bestückt sind.

Papa lebt sein eigenes Leben am Rande der Gesellschaft. Ich liebe und hasse ihn dafür. Abgesehen davon, dass er Fonds an Restaurants im gesamten Stockholmer Großraumgebiet verkauft, geht er haufenweise anderen Geschäften nach. Welchen genau, weiß ich nicht, wir sprechen nie darüber.

Auf dem Boden steht ein mit Gras und Blättern gefüllter Karton, in dem Schnecken herumkriechen.

Mein Vater steht unbeholfen vom Boden auf.

„Ja, also … wir waren sowieso im Wald unterwegs, und da haben wir die Gelegenheit genutzt und vier Dutzend Weinbergschnecken gesammelt. Aber hier ging es heute ein bisschen wild zu, und da ist eine abgehauen.“

„Soll ich dir suchen helfen?“

Er hört mich nicht und rechtfertigt sich weiter.

„Ich bin heute Morgen aufgewacht und hatte plötzlich Lust auf Bruschetta mit Weinbergschnecken. Hast du das schon mal gegessen?“

„Nein. Passt das denn zusammen?“

„Keine Ahnung. Ich habe noch nie davon gehört. Aber ich kann es mir gut vorstellen. Zitrone, Knoblauch, Tomate, Weinbergschnecke, Petersilie und so weiter. Die Zutaten ergänzen sich doch wunderbar.“

„Ja, das klingt lecker. Soll ich dir suchen helfen?“

„Gerne. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor sie das Schild abnimmt.“

Mein Vater hat unglaublich viele Umschreibungen fürs Sterben. „Das Schild abnehmen“ höre ich heute zum ersten Mal. In den seltenen Fällen, in denen man ihn zwingt, über den Tod seines Sohnes zu reden – was für ihn das Allerschlimmste ist –, spricht er davon, dass Sebastian „sich für den Kaffee bedankt hat“ oder „in ein Ein-Zimmer-Apartment mit Deckel“ gezogen ist.

„Wo wurde die Weinbergschnecke zum letzten Mal gesichtet?“

„Der Balkon war ein heißer Tipp, aber da war es eiskalt“, sagt mein Vater und verschwindet mit dem Kopf wieder unter dem Sofa.

Ich hänge meinen grünen Flohmarkt-Parka an die Garderobe, meine Stiefel behalte ich an. Papa möchte nicht, dass man in Socken herumläuft. Die Stiefel sind das einzige Kleidungsstück, das ich nicht auf dem Flohmarkt erstanden habe. Heute trage ich zum Beispiel eine Markenbluse und eine Designerjeans im Gesamtwert von dreißig Kronen.

„Wie heißt die Schnecke?“

„Sie hat keinen Namen. Sobald man ihnen einen Namen gibt, geht man eine emotionale Bindung zu ihnen ein, und das kann problematisch werden. Schließlich soll man sie mästen, aushungern und waschen. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Er oder eine Sie ist.“

„Es ist eine Sie, und sie soll Annika heißen“, entscheide ich.

„Hiermit taufen wir dich auf den Namen Annika!“, ruft Papa, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ich die Schnecke nach meiner Mutter benannt habe.

„Annika!“, wiederhole ich und will mich gerade auf die Suche machen, als es unter meinem Stiefel verdächtig knirscht.

„Ich glaube, ich habe sie gefunden“, sage ich zu meinem Vater, der langsam aufsteht.

„So hat es jedenfalls geklungen“, erwidert er.

Ich hebe den Fuß hoch, und da liegt Annika, zusammengerollt, ihr Schneckenhaus ist zerbrochen.

„Na ja“, sagt Papa. „Da waren es nur noch siebenundvierzig.“

Er nimmt eine Zeitung und zerquetscht Annika, bevor er sie vom Balkon wirft.

Als er zurückkommt, fragt er mich, ob ich ein Glas Rosé trinken möchte.

„Gerne.“

Ich zeige ihm das Fleisch. Er macht die Augen zu und schnuppert.

„Das war ein glückliches Rind“, murmelt er zufrieden. „Wie lange ist es gereift, einen Monat, oder?“

„Vierzig Tage. Aus Flen.“

Er nickt und dreht das Paket um, auf dem das Nackenstück ausgezeichnet ist.

„Kreativ, Caroline. Kreativ.“

Wir sehen uns an und lächeln. Die grauen Bartstoppeln und seine faltige Haut lassen ihn noch älter aussehen, als er ist, aber seine Augen sind noch genauso blau, warm und lebhaft wie eh und je. Er reicht mir ein Glas gekühlten Rosé, die billigste Sorte, legt eine frühe CD vom schwedisch-niederländischen Liedermacher Cornelis Vreeswijk ein und macht es sich auf dem Sofa bequem. Ich setze mich ihm gegenüber an den Wohnzimmertisch, und wir machen uns daran, zwölf Kilo Pfifferlinge zu putzen.

3

Die effektivste Methode, einen Kater zu bekämpfen, ist Schwimmen mit anschließendem Saunagang. Und das beste Hallenbad in ganz Stockholm ist das Eriksdalsbadet.

Ich weiß, wovon ich rede, ich habe alle Bäder getestet.

Wie immer verzichte ich darauf, vorher zu duschen, ich bin sauber genug. Ich liebe es, ins Wasser einzutauchen. Und wenn man zuerst duscht, bringt man sich um dieses Erlebnis. Irgendjemand hat mal gesagt: „Nackt im Meer zu baden ist, wie sich mit der Ewigkeit zu verbinden.“ Das finde ich auch, aber leider ist das Meer um diese Jahreszeit noch zu kalt. Badeanzug und warmes Chlorwasser müssen reichen.

Um mehr Höhe zu haben, stelle ich mich auf einen Startblock. Ich schaue leicht nach oben, und kurz bevor meine Hände auf die Wasseroberfläche treffen, strecke ich mich. Ich spüre am ganzen Körper, dass es ein guter Sprung ist. Solange ich kann, schwimme ich unter Wasser, ohne zu atmen. Als ich wieder auftauche, habe ich ungefähr die Hälfte der 50-Meter-Bahn zurückgelegt. Mein Rekord ist die ganze. Aber damals bin ich mehrmals in der Woche zum Turmspring-Training gegangen, war dreizehn Jahre alt und hatte vor allem keinen Kater.

Die Schuld für meinen Brummschädel gebe ich meinem Vater. Er hat verschiedene Fonds aus einer seiner Tiefkühltruhen geholt und mit einem Wein, der im Himmel gekeltert worden sein muss, eine Rotweinjus zubereitet. Dazu gab es einen mit Cognac flambierten Lendenbraten, Pfifferlinge und Heidelbeergelee. Das war das Beste, was ich jemals gegessen habe, aber das denke ich jedes Mal, wenn mein Vater für mich kocht. Nach dem Essen sind wir zu seinem selbst gemachten Johannisbeerwein übergegangen, und ich bin auf dem Sofa eingeschlafen.

Heute bin ich fast allein im Becken. Außer mir ziehen nur zwei Rentner und eine Mutter mit ihrem Sohn ihre Bahnen. Der Junge trägt Schwimmflügel und einen grünen Kapselgehörschutz. Als ich eine Pause mache und die beiden beobachte, fällt mir auf, dass der Junge anders ist. Er ist ein wenig sonderlich, wie mein Vater immer über Sebastian gesagt hat, der alle Handicaps hatte, die man nur haben kann. Woran der Junge genau leidet, kann ich aus der Entfernung nicht sagen, aber irgendeine Beeinträchtigung hat er.

Seine Mutter spricht ruhig und liebevoll mit ihm, lobt ihn die ganze Zeit, wie toll er das macht, obwohl er nur merkwürdige Laute von sich gibt und sich unkontrolliert bewegt. Immer wieder taucht er den Kopf ins Wasser, sodass nur noch seine Arme und Schwimmflügel über der Wasseroberfläche sind. Die beiden waren schon hier, als ich gekommen bin, und sie scheinen nicht genug zu bekommen.

Ich schwimme noch ein paar Bahnen und setze mich dann wieder an den Beckenrand. Diesmal etwas näher.

Ich denke an meine Mutter, die jeden Tag mit Sebastian schwimmen gegangen ist. Sie hat mit ihm schon fast im Hallenbad gewohnt. Wie sehr ich das gehasst habe, weil sie mir nie beim Turmspringen zugesehen hat, nicht einmal bei Wettkämpfen.

Diese Mutter hat eine Engelsgeduld mit ihrem Sohn. Mittlerweile muss sie komplett durchgefroren und erschöpft sein, aber sie macht immer weiter. Ich frage mich, ob meine Mutter genauso war.

Ich fange jedenfalls an zu frieren und gehe zu den Duschen. Bevor ich in die Sauna gehe, dusche ich kalt. Wie immer um diese Uhrzeit ist der Duschraum fast leer. Zwei rundliche Frauen im mittleren Alter unterhalten sich über eine schwedische Comedyserie, die ich nicht gesehen habe. Verstohlen mustere ich ihre Körper. Ich frage mich, ob das wohl alle Frauen machen und ob sie deshalb nicht merken, dass die anderen sie auch heimlich betrachten. Oder bin ich die Einzige? Die Frauen waschen sich die Haare und haben die Augen zu, damit kein Shampoo hineinläuft, also kann ich sie in aller Seelenruhe ansehen. Sie erinnern mich an die Zeichentrickfigur Barbamama, allerdings in einer fülligeren Variante. Ich finde Rundungen schön. Ich bin auch ein kleines bisschen rundlich, aber alles an mir ist fest. Manche Männer stehen auf meinen Hintern, andere auf meine Brüste. Wenn ich ein tief ausgeschnittenes Oberteil trage und mich mit einem Mann unterhalte, dann gleitet sein Blick nicht selten nach unten. Vor ein paar Wochen bin ich mit Lina in einer Kneipe gewesen – Lina ist eine Freundin, die ich mittlerweile ein wenig überhabe (Es kommt häufiger vor, dass ich meine Freunde überhabe. Oder sie sterben.) –, und da hat uns irgend so ein besoffener Typ angequatscht und gesagt: „Ich hab nicht den blassesten Schimmer, wie viel du für diese Möpse hinblättern musstest, aber die Investition hat sich gelohnt!“

Danach ist er einfach abgehauen. Ich konnte weder Danke sagen noch etwas Geistreiches wie „Die waren genauso billig wie dein Anmachspruch“. Eigentlich hätte ich sauer werden sollen, das wäre die normale Reaktion auf Männer um die fünfzig, die so sternhagelvoll sind, dass sie keinen geraden Satz mehr rausbekommen. Aber ich habe es als Kompliment aufgefasst. Lina hat irgendeinen Feministinnen-Spruch vom Stapel gelassen, aber ich glaube, in Wahrheit war sie eifersüchtig. Komplimente machen ist nicht gerade eine meiner Stärken, und ich nehme mir immer wieder vor, besser darin zu werden, ernst gemeinte Komplimente glaubhaft rüberzubringen. Wenn eine Frau in der U-Bahn ein schönes Kleid trägt, dann wird sie sich garantiert darüber freuen, wenn es ihr jemand sagt.

Als ich gerade das Wasser abdrehen will, kommen Mutter und Sohn in den Duschraum. Ich dusche weiter, obwohl ich vor lauter Gänsehaut schon fast bibbere.

An der einen Hand hält die Frau ihren Sohn, in der anderen einen Eimer. Sie nimmt ihm die Schwimmflügel ab, den Gehörschutz behält er auf. Dann füllt sie den Eimer mit Wasser und gießt es über ihren Sohn. Es sieht merkwürdig aus, aber mir ist klar, dass das Teil ihrer Routine ist.

Ich gehe in die Sauna. Heiße Luft schlägt mir entgegen, und ich habe das Gefühl, dass sich mein Kater an der Tür verabschiedet hat. Gott sei Dank ist die Sauna leer. Ich ziehe meinen Badeanzug aus und setze mich ganz oben in der Ecke auf ein Handtuch.

Nach einer Weile erscheinen Mutter und Sohn.

Sie entschuldigt sich und fragt, ob es okay ist.

„Klar. Ist es in Ordnung, dass ich …“ Ich zeige auf meinen nackten Körper, sie versteht, was ich meine.

„Absolut, Hannes stört es nicht. Und mich auch nicht“, sagt sie, und wir grinsen beide ein bisschen.

Sie setzen sich auf die unterste Bank, und erst jetzt nimmt der Junge den Gehörschutz ab.

Er muss zehn, elf Jahre alt sein und hat ebenmäßige, schöne Gesichtszüge.

Seine Mutter ist um die vierzig, hat aschblonde Haare und große Rehaugen. Bei den meisten Frauen, die die vierzig überschritten haben, hängt alles ein bisschen schlaff, aber sie ist attraktiv, und man ahnt, dass sie mit fünfundzwanzig heißer gewesen sein muss als das Heizaggregat der Sauna.

„Hallo, Hannes“, sage ich.

Die Mutter sieht ihren Sohn an, ohne ihn zu einer Erwiderung aufzufordern.

Nach ein paar Sekunden murmelt er „Hallo“ und bewegt den Kopf auf eine ganz spezielle Art hin und her. Er schiebt das Kinn nach vorne und legt den Kopf in den Nacken, so, wie man beim Brustschwimmen nach einem Schwimmstoß wieder aus dem Wasser taucht.

„Hannes ist gerne im Hallenbad, stimmt’s? Du kannst stundenlang im Becken bleiben, und die Sauna würdest du am liebsten gar nicht mehr verlassen. Es muss irgendwie am Wasser und der Wärme liegen.“

„Es hat etwas Ursprüngliches“, sage ich und bereue meine vorschnelle Bemerkung sofort.

Aber die Mutter springt darauf an. „Ja, genau! Erinnert dich das an die schöne Zeit, als du noch in Mamas Bauch warst, kleiner Mann? Ohne Sorgen und Nöte? Wenn du genug trinkst, Goldschatz, dann können wir noch ein bisschen bleiben.“ Sie gibt ihm eine Flasche, die er komplett austrinkt.

„Hier ist es so ruhig, dass du keinen Gehörschutz brauchst“, sagt sie an Hannes gewandt, aber ich begreife, dass sie mir zu verstehen geben will, dass er extrem geräuschempfindlich ist.

Sie geht toll mit ihm um. Sie spricht mit ihm und redet gleichzeitig mit mir. Ich weiß noch, dass ich das auch immer bei Sebastian versucht habe: Wenn ich mich mit anderen unterhalten habe, sollte er sich nie ausgeschlossen fühlen. Meine Mutter hat es genau umgekehrt gemacht. Sie hat nur mit Sebastian gesprochen und alle anderen außen vor gelassen.

„Du bist eine tolle Mutter“, höre ich mich sagen.

„Danke“, erwidert sie und blickt mich erstaunt an. Ich sehe ihr an, dass sie sich ehrlich freut. Aber damit sie mich nicht falsch versteht, rede ich weiter.

„Du nimmst dir so viel Zeit, um –“

„Wenn du mich gestern Abend gesehen hättest, als er partout nicht ins Bett gehen wollte, würdest du das jetzt nicht sagen.“ Sie seufzt leise.

„Ich meine, dass du dir die Zeit nimmst, so lange mit ihm im Hallenbad zu bleiben. Mit dir, Hannes“, betone ich.

Ich werde immer noch wütend, wenn ich daran denke, wie die Leute über Sebastians Kopf hinweg geredet haben. „Wie geht es ihm denn heute?“, erkundigten sich ältere Damen regelmäßig, wenn wir mit Sebastian im Rollstuhl einen Spaziergang machten. Ich hätte bei solchen Gelegenheiten immer am liebsten geantwortet: „Frag ihn selbst, du alte Schachtel, er sitzt direkt vor dir!“ Und irgendwann habe ich das auch einmal gemacht, aber danach gab es Riesenärger.

Die Frau erzählt, dass Hannes momentan nicht zur Schule geht. Das Schulamt wollte, dass er in eine Regelschule geht, „um ihn zu integrieren“. Aber das hat nicht funktioniert, und jetzt kümmert sie sich um ihn, weil sie zurzeit sowieso arbeitslos ist. Ohne dass sie es direkt sagt, entnehme ich ihren Worten, dass sie alleinerziehend ist. Sie muss gar nicht verbittert klingen, ich weiß auch so, dass sie gerade die Hölle durchmacht.

Ich gebe ihr die Hand.

„Caroline“, stelle ich mich vor und betone deutlich das kurze i in meinem Namen, damit ihr nicht entgeht, dass die korrekte Aussprache Carolinn ist.

„Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Bente“, antwortet sie und sieht mich immer noch an.

Dann wuschelt sie Hannes mit einer dieser typischen Mama-Gesten durch die Haare.

Wir schweigen. Als hätte uns jetzt, wo wir unsere Namen kennen, eine plötzliche Schüchternheit überfallen.

Ich überlege, ob meine Mutter und Sebastian wohl jemals zusammen in der Sauna gewesen sind. Ich habe nie gefragt.

4

Ich sitze in der U-Bahn und frühstücke einen Trinkjoghurt. Ein neuer Tag, ich bin auf dem Weg zur Arbeit.

Am liebsten würde ich kündigen.

Vor ein paar Jahren bin ich zwölf Monate lang durch die Welt gereist und habe mal hier, mal dort gejobbt, unter anderem in einem Pub in London. Aber in einer Kneipe zu arbeiten, die einem nicht selbst gehört, hat leider gar nichts mit Kochen zu tun. Der Besitzer war ein alkoholabhängiger Schwede aus Värmland, der jeden Morgen denselben Witz gerissen hat: „Caroline, weißt du, was man als Einziges bereut, wenn man sich morgens ein Gläschen Wein gönnt?“ Ich musste antworten: „Nee, keinen blassen Schimmer.“ Darauf er: „Dass man es nicht schon früher getrunken hat!“ Dann lachte er und goss sich ein Glas ein.

Ich habe auch immer mehr getrunken. Bis ich irgendwann das Gefühl hatte, mich in meinen Vater zu verwandeln. Da bin ich wieder nach Schweden zurückgegangen. Und ehe ich michs versah, war ich wieder in meinem alten Viertel gelandet.

Mein Traum ist es, eines Tages meine eigene Tapas-Bar zu haben: Carolines Tapas. Ich habe irgendwo gelesen, dass man für ein eigenes Restaurant mindestens eine halbe Million Kronen Startkapital braucht. Am besten eine ganze. Und so viel habe ich nicht. Ich glaube, auf meinem Sparkonto sind gerade mal zwölftausend.

Es ist Stoßzeit, und in Menschenmengen bekomme ich schnell Panik. Ein bescheidenerer Traum als die Eröffnung meiner eigenen Tapas-Bar ist eine Vespa, damit ich mich nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abplagen muss.

Ich lausche der heiseren Stimme von Thåström und versuche, in seine Welt einzutauchen.

Ich verleibe mir das Letzte ein

Oh, das Letzte, heb das Letzte für mich auf

Ich verleibe mir das Letzte ein

Oh, das Letzte, heb das Letzte für mich auf

Als die U-Bahn an der Haltestelle Gärdet hält, klopft mir eine ältere Dame auf den Oberschenkel. Sie sieht mich verschmitzt an. Ich nehme meinen Kopfhörer ab und lächele sie fragend an.

„Sie haben Joghurt an der Nase“, sagt sie.

Ich bedanke mich, während sie sich zwischen den Leuten durchzwängt und aussteigt. Ich fahre mir mit dem Finger über die Nase. Wir lachen und winken uns durch die Fensterscheibe noch einmal zu. Ich liebe Menschen, die kein Problem damit haben, sich auch mal außerhalb der sozialen Norm zu bewegen.

Im Personalbereich lasse ich Agda wie vorgeschrieben links liegen und gehe an den persönlichen Fächern der Angestellten vorbei. Mein Fach ist immer leer. Aber heute nicht. Heute liegt dort ein weißer Briefumschlag. Irgendjemand muss ihn falsch einsortiert haben. Nein, auf der Vorderseite steht ein großes, von Hand geschriebenes C. Im Umschlag befindet sich ein DIN-A4-Blatt. Der Text wurde auf dem Computer getippt, normale Schriftart.

Hallo Caroline,

ich weiß, dass du den Laden mit deinen kleinen Tricks um Tausende Kronen prellst.

Was meinst du, was soll ich mit diesem Wissen anfangen?

Ein Kollege

PS: Schreib deine Antwort auf das Blatt und leg es wieder in dein Fach.

Mir wird ganz flau im Magen. Ich lese die Nachricht immer wieder. Soll ich einfach zu Daniella gehen und alles gestehen? Angriff ist die beste Verteidigung, oder so ähnlich.

Nein.

Es gibt nur eine Möglichkeit. Und die ist, seine Frau zu stehen. Ich nehme einen Stift aus meiner Tasche und schreibe mit großen Blockbuchstaben: WER BIST DU, FEIGLING?

Auf dem Weg in Richtung Umkleide fühle ich mich, als würde ich taumeln. Östen und ALS sitzen auf dem blutroten Ecksofa am Pausentisch und unterhalten sich lautstark über irgendeine Kundin. Ich lächele und grüße sie, höre aber nicht, was sie antworten.

In der engen Umkleide ziehe ich mich um. Dann stempele ich bei Agda ein und gehe hinter die Fischtheke, ohne mich nach einem eventuellen Spion umzusehen. Ich fülle eine Frischhaltebox mit ungefähr einem Kilo Jakobsmuscheln im Wert von 595 Kronen, schlage die Dose in Papier ein, rechne sie als Miesmuscheln zu 59,90 ab, schreibe ein großes C auf das Paket und deponiere es im Personalkühlschrank.

Anschließend rufe ich laut und deutlich die nächste Wartenummer auf: „Achtundsechzig!“

„Hier!“, meldet sich ein Mann um die fünfzig.

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundige ich mich mit meiner liebenswürdigsten Stimme, und er strahlt wie ein Honigkuchenpferd, weil er von einer so heißen Verkäuferin bedient wird, obwohl er doch nur ein paar Scheiben Graved Lachs kaufen will.

5

Ich habe mir vorgenommen, tausend Meter zu schwimmen, aber nach zehn, zwölf Bahnen zähle ich nicht mehr. Ich kann nichts dagegen tun. Meine Gedanken fahren Achterbahn.

Was will der Briefeschreiber von mir? Wer steckt dahinter?

Bente und Hannes sind auch im Hallenbad und machen dasselbe wie beim letzten Mal. Wir grüßen uns schüchtern, aber mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte. Am liebsten würde ich sie fragen, ob wir hinterher einen Kaffee trinken oder zusammen mittagessen sollen. Die beiden üben eine angenehme Ruhe auf mich aus. Und seit ich sie letzte Woche kennengelernt habe, denke ich häufiger an meine Mutter und Sebastian, als ich es normalerweise tue.

Ich kraule ein paar Bahnen und versuche, mich auf die Technik zu konzentrieren. Achte darauf, regelmäßig zu atmen, damit ich nicht aus dem Rhythmus komme, aber auch nicht aus der Puste gerate. Meine Hüfte ist gestreckt, der Po hängt nicht zu tief im Wasser. Die Knie sind beim Beinschlag leicht angewinkelt.

Als ich zum zehnten Mal an Bente und Hannes vorbeischwimme, frage ich sie einfach: „Darf ich euch zum Mittagessen einladen, wenn wir hier fertig sind?“

„Oh, aber klar, gerne“, sagt Bente erstaunt.

„Toll, in der Cafeteria gibt es supereklige Hamburger und labbrige Pommes“, erwidere ich.

Bente lacht.

„Ich liebe supereklige Hamburger, und, Hannes, du isst doch sowieso nichts anderes als labbrige Pommes. Perfekt also, danke! Da sagen wir nicht Nein, oder, Hannes?“, fragt sie und sieht ihren Sohn an.

Hannes planscht weiter im Wasser. Er trägt seinen Gehörschutz und kann seine Mutter wahrscheinlich gar nicht hören.

„Hannes ist dabei“, sagt Bente und zwinkert mir fröhlich zu.

„Dann bis später“, entgegne ich und schwimme weiter.

Wir sitzen in der Cafeteria, und Hannes lutscht akribisch an jeder einzelnen Pommes in seiner Tüte. Bente erzählt, dass er wirklich nichts anderes als Pommes isst und nur Milch trinkt.

„Apropos Ursprung“, fügt sie hinzu, und ich freue mich, weil sie an unser erstes Gespräch anknüpft. „Es gibt Menschen mit Asperger-Syndrom, die nur Fleischwurst essen. Hannes isst nur Pommes.“

Bente verschlingt ihren Hamburger, als hätte sie seit Wochen nichts mehr gegessen.

Genau wie ich trägt sie kaum Make-up, nur ein bisschen Mascara. Mädchen oder Frauen wie Daniella, die sich zu stark schminken, verunsichern mich. Ansonsten sehen Bente und ich uns überhaupt nicht ähnlich. Sie ist klein und zierlich, ich bin dunkler und ein bisschen fülliger. Aber ihre Haut ist ebenso klar und rein wie meine. Wir kommen ohne viel Make-up aus.

Ich frage nach Hannes’ Vater, und Bente scheint ihre Antwort sorgfältig abzuwägen.

„Ehevertrag. Wenn ich dir einen Rat geben darf, Caroline: Falls du irgendwann vorhast zu heiraten, schließ einen Ehevertrag ab.“

„Okay“, sage ich. „Ich glaube, ich bin im Bilde.“

„Aber uns geht es gut. Stimmt’s, kleiner Mann?“ Sie wischt Hannes den Mund ab. „Na ja“, seufzt sie dann. „Es ist eben, wie es ist.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Bente streichelt ihrem Sohn über seine akkurat gekämmte Frisur. Er hat mittelblonde Haare und trägt einen Seitenscheitel. In diesem Punkt erkenne ich meine Mutter wieder. Sebastians Frisur musste immer tadellos sein. Sie hat ihm jeden Tag die Haare gewaschen und sie anschließend geföhnt und gekämmt. Mindestens einmal im Monat war sie mit ihm beim Friseur. Sie hat das kontrolliert, was sie kontrollieren konnte. Im Nachhinein empfinde ich ihr Verhalten als rührend und liebevoll. Aber als Kind habe ich es gehasst, dass sie so einen Aufstand wegen seiner Frisur gemacht hat.

„Ich hatte ein paar Bedenken, dass Hannes vielleicht nicht in der Cafeteria essen will. Meistens ist es hier ja ziemlich laut. Aber es scheint ihm zu gefallen. Ich glaube, das liegt daran, dass er dich mag.“ Vorsichtig hebt sie eine Kapsel an. „Du magst Caroline doch, oder, Hannes?“

Hannes lächelt, zieht die Nase kraus und sieht dabei so goldig aus, dass ich sterben könnte.

Ich riskiere es und hebe die andere Kapsel hoch.

„So etwas verrät man doch nicht gleich beim ersten Date, oder, Hannes?“, sage ich. „Das sollte Mama eigentlich wissen.“

Hannes fängt an zu lachen und bewegt den Kopf hin und her. Er findet es also lustig, wenn jede von uns in eins seiner Ohren spricht – ein riskantes Experiment, aber es ist geglückt. Wir wiederholen das Spiel noch einige Male, aber als Bente ihre Kapsel wieder auf Hannes’ Ohr setzt, mache ich es auf meiner Seite ebenso. Sie weiß, wo seine Grenzen sind.

Hannes lutscht wieder an seinen Pommes, sodass sie noch labbriger werden als ohnehin schon. Bente und ich sehen ihm schweigend zu. Ich würde ihn am liebsten umarmen, tue es aber nicht. Ich weiß, dass er mich mag, und ich weiß auch, warum.

Er spürt, dass ich nicht verunsichert bin, weil er anders ist.

„Jetzt zu dir, Caroline. Wer bist du?“, beendet Bente die Stille nach einer Weile. „Das Einzige, was ich von dir weiß, ist, dass du Möpse hast, für die so manche einen Mord begehen würden.“ Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

Dann prusten wir beide wie auf Kommando los. Natürlich bin ich geschmeichelt, aber vor allem ist es einfach eine urkomische Bemerkung. Neben uns sitzt eine ganze Schulklasse, die uns verwundert anstarrt. Wie kriegen uns gar nicht mehr ein. Bentes Gesicht ist ganz rot, und sie sagt, dass sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wann sie das letzte Mal so gelacht hat.

Mir geht es genauso.

6

Ich stehe vor meinem Fach im Personalraum und öffne einen neuen Brief, der genauso aussieht wie der erste und auf dem wieder ein mit der Hand geschriebenes C steht. Der Umschlag ist zugeklebt und enthält ebenfalls ein DIN-A4-Blatt. Ein Satz, der mit dem Computer getippt wurde: Ich habe zuerst gefragt.

Ohne nachzudenken, kritzele ich meine Antwort auf den Zettel.

Was verlangst du? Geld? Sex? Was willst du von mir?

Natürlich ist das nicht die Antwort, die der Briefeschreiber haben will, aber ich brauche ein paar Hinweise, wer dahintersteckt.

Ich tippe auf einen Mann, aber man kann ja nie wissen. Bis ich genauere Anhaltspunkte habe, ist jeder verdächtig. Jeder, der hier arbeitet.

Die Einzigen, die ich mit Sicherheit ausschließe, sind die beiden finnischen Urgesteine Liisa und Sirpa, die schon seit dem Winterkrieg an der Kasse sitzen. Und Daniella.

Ich glaube auch nicht, dass es Sonja ist, die blonde Kassiererin, die aussieht wie ein Engel und häufig leise vor sich hin summt. Kaum hörbare schöne Melodien. In einer gemeinsamen Mittagspause habe ich sie mal gefragt, ob sie nicht etwas für mich singen könne. Ihre Antwort kam freundlich, aber bestimmt: „Nein, tut mir leid, ich singe nur für mich selbst.“

Könnte ALS die Briefeschreiberin sein? Wenn sie betrunken ist, bezeichnet sie sich selbst als „die widerwärtigste Krankheit“. Sie ist lesbisch, hat aber einen zweijährigen Sohn, den sie über alles liebt. Wenn ihr Sohn bei seiner anderen Mutter ist und ALS ihr Single-Dasein auslebt, geht sie auf die Piste, „trinkt Kurze und reißt Bräute auf“.

Nein, der Hauptverdächtige ist garantiert ein Mann. Ralf zum Beispiel. Dieser Typ hat allen Grund, extrem verbittert zu sein, weil er nach der Übernahme durch Maxfood vom Marktleiter zum stellvertretenden Marktleiter degradiert wurde, da Maxfood „jemand Neutralen“ haben wollte. Als das Chaos am größten war, verkündete Ralf mindestens einmal pro Stunde: „Veränderungen sind Teil des Lebens.“ Ein grauhaariger, alter Griesgram, der vermutlich auf seiner Position bleiben wird, bis er das Zeitliche segnet. Er ist garantiert Freizeit-Alkoholiker, und die tiefgründigste Literatur, die er liest, sind Traber-Magazine.

Oder Östen Carlsson. Außer dass er ständig Blondinenwitze erzählt, ist er ein untersetzter Mann mit Glatze, der zum Krafttraining geht. Warum müssen eigentlich alle untersetzten Männer Eisen stemmen? Okay, wenn es in der Höhe nichts mehr zu holen gibt, kann ich verstehen, dass Männer an ihrer Breite arbeiten wollen, aber kann ihnen nicht mal jemand verklickern, dass das nicht im Entferntesten sexy ist? Es ist lächerlich.

Doch ich will niemanden zu früh verurteilen. Ich werde diesen Briefwechsel weiterführen, die Nachrichten analysieren und wachsam sein.

Erpressung ist die kindischste Methode, die man sich aussuchen kann. Zumindest wenn man kein gestandenes Mafia-Mitglied ist.

Mit siebzehn habe ich versucht, einen Mann zu erpressen, der mich beinahe vergewaltigt hätte und tausend Liebhaberinnen und eine Ehefrau hatte. Ich habe seinen Computer geklaut, auf dem seine Pornofilme waren, und habe 250 000 Kronen Lösegeld verlangt. Am Ende bin ich vor Gericht gelandet. Ich hatte Glück und musste nicht ins Gefängnis. Ich habe Bewährung bekommen, allerdings mit der Auflage, wieder zu Hause bei meiner Mutter zu wohnen, was schlimmer als Knast war, aber immerhin. Außerdem musste ich zu einer Psychologin gehen. Sie hieß Agneta, und eigentlich fand ich die Sitzungen mit ihr ganz interessant. Aber ich weiß noch, dass ich mich immer aufgeregt habe, weil sie nie über sich selbst sprechen wollte. Wer will denn schon einen Seelen-Striptease vor einer Person machen, von der man lediglich weiß, dass sie verheiratet ist, zwei Kinder hat, in Nacka wohnt und Agneta heißt? Allerdings hat sie mir auch ein paar nützliche Dinge beigebracht. Zum einen, dass man von sich selbst nicht als „man“ sprechen soll, wenn man über persönliche Dinge redet. Man soll „ich“ sagen. Das macht wirklich einen Unterschied. Ich bin darin schon besser geworden.

Zum anderen habe ich ein gutes Wort von ihr gelernt: Projektion. „Du projizierst, Caroline“, sagte sie, wenn ich ihr zum Beispiel erzählt habe, wie meine Mutter mir das Autofahren beigebracht hat und ich sie angeschrien habe, obwohl ich diejenige war, die nicht den richtigen Gang einlegen konnte.

„Du glaubst, du bist nicht gut genug, und wenn du deinen Misserfolg nicht verarbeiten kannst, projizierst du ihn auf deine Mutter.“ Und dann hat sie mir erklärt, was der Ausdruck genau bedeutet, nämlich dass man, „um sein Selbstbild zu verteidigen, seine eigenen Schwächen anderen Menschen zuschreibt“.

Ich bin der Meinung, dass jeder zweite Mensch projiziert. Erst gestern habe ich einen Mann im Designeranzug bedient, der sich darüber beschwerte, dass das Steak trocken war. Er hat sein Selbstbild, ein guter Koch zu sein, dadurch verteidigt, dass er dem Fleisch schlechte Eigenschaften zuschrieb. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ihm das auseinanderzusetzen, sondern habe ihm ein neues Steak gegeben und ihm erklärt, wie er es zubereiten muss, damit es perfekt rosa wird. Zum Glück hat Daniella nichts gemerkt.

Ansonsten hatte Agneta nur Floskeln zu bieten, zum Beispiel, dass mein Sexleben ein Zeichen von autoaggressivem Verhalten sei, weil ich mich im Grunde selbst nicht leiden könne und irgendein Ventil bräuchte, durch das ich mich schlecht fühle. So wie ein Teenager, der sich ritzt, um Druck und Angstgefühle abzubauen.

Ich war siebzehn und habe versucht, ihr zu erklären, dass Sex doch wohl allemal besser sei, als sich zu ritzen, aber sie hat es mir nicht abgenommen.

Ich ziehe mich um.

Ich stempele ein.

7

„Willst du nachher mit zum Grab gehen?“, fragt mich meine Mutter.

„Nein, ich muss arbeiten“, antworte ich automatisch, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht habe.

Wir schweigen.

Ich sitze im Möjavägen in Nacka am Küchentisch und sehe aus dem Fenster: der Inbegriff einer Reihenhaussiedlung, Konformität pur. Jacob, der Lebensgefährte meiner Mutter, und ihr gemeinsamer Sohn August spielen Tennis. Aber ich weiß, wie das bei ihnen abläuft. Wenn in der Zwischenzeit kein Wunder geschehen ist, spielt Jacob Tennis, während August umhereiert und mit seinem Schläger herumfuchtelt.

Ich habe mir vorgenommen, mit meiner Mutter über Sebastian zu reden. Zum Beispiel darüber, was sie den lieben langen Tag im Hallenbad gemacht haben und warum sie mir nie beim Training zugesehen hat. Im Bus ist mir das noch als berechtigte Frage erschienen. Jetzt habe ich das Gefühl, erst einen Berg verschieben zu müssen, bevor ich Sebastians Namen überhaupt aussprechen kann.

Gleich gibt es Dinch, eine Mischung aus Dinner und Lunch. Die perfekte Lösung für mich. Für Lunch ist es schon zu spät, und Dinner erscheint mir zu förmlich. Außerdem findet meine Mutter, dass Dinch ein lustiges Wort ist. „Dinch, ich liebe Dinch“, kichert sie.

Eigentlich koche ich immer, aber heute hat meine Mutter sich in den Kopf gesetzt, eine Quiche zu machen. Ich glaube, sie nennt ihre Kreation Spinat-Feta-Quiche, aber der Käse kommt aus Dänemark, der Spinat ist tiefgefroren und der Teig ein Fertigprodukt.

Aber ich beschwere mich nicht. Mir macht das nichts aus. Ich habe größere Probleme.

Gestern habe ich mich bei der Arbeit anderthalb Stunden hinter dem Kopierer versteckt und mein Fach im Auge behalten. Aber niemand ist aufgetaucht, und irgendwann war Ladenschluss.

Ich zermartere mir die ganze Zeit das Gehirn, wer der anonyme Briefeschreiber ist und was er oder sie mit diesen Botschaften bezwecken will.

Jacob und August kommen gerade die Einfahrt hoch. Jacob winkt und lächelt. Ich winke zurück. August starrt unverwandt auf sein Handy. Er trägt keine Mütze, und ich warte darauf, dass meine Mutter das beanstandet.

August würdigt mich auch drinnen kaum eines Blickes und geht sofort die Treppe rauf.

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