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Das Tal der Puppen

Als Buch hier erhältlich:

Schon lange vor Carrie Bradshaw hielt Jacqueline Susann die Welt mit ihren skandalösen Geschichten von drei jungen Frauen in New York in Atem. Als "Das Tal der Puppen" vor über 50 Jahren veröffentlicht wurde, stürmte es augenblicklich alle Bestsellerlisten. Nie zuvor hatte ein Buch so offen über Sex, Drogen und das Show-Business berichtet. Mit mehr als 35 Millionen Exemplaren gilt es als eines der meistverkauften Bücher aller Zeiten.

Anne, Neely und Jennifer haben einen Traum: es als Bühnen- und Filmstars ganz nach oben zu schaffen. Um das zu erreichen, scheint ihnen kein Hindernis zu groß. Doch als der Druck, schön und erfolgreich zu sein, übermächtig wird, greifen sie zu gefährlichen Hilfsmitteln: Appetitzügler, Beruhigungspillen, Schlaftabletten. Nach außen führen sie das perfekte Leben - doch hinter den glitzernden Kulissen wird der Traum zum Albtraum.

»>Das Tal der Puppen< ist auch heute noch ein kultureller Meilenstein.«
The New York Times Style Magazine

»Ich bewundere die rohe Energie, die Detailtreue und die brutale Authentizität der Darstellung von New Yorks Showbiz. Ich habe von Jacqueline Susann gelernt.«
New-York-Times-Bestsellerautorin Anne Rice

»Ein starkes, mutiges, wütendes und ja, definitiv auch ein feministisches Buch.«
The Guardian

»Ein zeitloser Klassiker. Heute wäre Neely eine YouTube-Sensation, Jennifer eine Instagram-Influencerin und Anne eine Snapchat-Königin.«
Paper Magazine

»Welterfolg in frischer Neuübersetzung.« Wilhelmshavener Zeitung


  • Erscheinungstag: 03.12.2018
  • Seitenanzahl: 640
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677974
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR JOSEPHINE,

die zu meinen Füßen saß

und davon ausging,

dass ich ein Sequel schrieb,

aber vor allem für Irving.

DAS TAL DER PUPPEN MIT 50

Simon Doonan

Lallende Soubretten, knallende Champagnerkorken und Blitzlicht, das sich in die Netzhaut einbrennt. Kurvenreiche Tussis, die ohne jegliches Talent Geld einstreichen. Körperbewusste Superstars, die wirklich alles tun, um »den Babyspeck loszuwerden«. Klammheimliches Vögeln, brüchige Egos und lesbische Rendezvous. Klingt ganz nach 2016, oder? Nicht doch, Baby, das war vor einem halben Jahrhundert.

Jacqueline Susann hat 1966, im selben Jahr, in dem das Farbfernsehen populär wurde, ein ahnungsloses Publikum mit dem Tal der Puppen konfrontiert. Sie war ihrer Zeit voraus. Das Buch spricht eher das mit Sex aufgeladene, materialistische Klima von 2016 an als das idealistische Blowing-in-the-Wind-Lebensgefühl der Sechzigerjahre. Es erzählt von der Zeit von 1945 bis 1965, und Tatsache bleibt, dass das Tal in seinem Erscheinungsjahr der Belletristik-Bestseller war und von gierigen Lesern verschlungen wurde. Seit damals wurden mehr als 31 Millionen Exemplare verkauft.

Ruhm, Geld, Macht und Tablettensucht auf Rezept: Die Themen im Tal der Puppen sind absolut aktuell.

»Das sanfte Taubheitsgefühl begann sich in ihrem Körper auszubreiten. Oh Gott! Wie hatte sie jemals ohne diese himmlischen roten Puppen leben können!«

Seite 299, Das Tal der Puppen

Als der Roman erschien, waren Pillen ganz und gar nicht hip. Im selben Jahr brachten die Rolling Stones ihren Hit »Mother’s Little Helper« heraus, eine Satire über Pillen einwerfende depressive Hausfrauen in den Vororten. Szenefrauen im Kaftan – vor meinem geistigen Auge sehe ich Marianne Faithfull und Anita Pallenberg, die sich auf marokkanischen Teppichen rekeln und dabei die Sitar zupfen – erwischte man eher dabei, wie sie einen Joint rauchten, als dass sie Tranquilizer mit Scotch und Soda herunterspülten. Schnitt in die Jetztzeit: Klappernde Pillenfläschchen sind der Soundtrack von heute. Willkommen im Tal der Xanies (Xanax), Rittys (Ritalin), Codies (Codein), Oxys (Oxycodon), Demmies (Demerol), Dillies (Dilaudid) und Mollys (Ecstasy).

Ein weiteres ungewöhnliches Thema im Tal – das ebenfalls heute viel stärker als damals im Fokus steht – ist das Altern von Prominenten.

»Mit gewöhnlichen Menschen ging das Alter gnädiger um, aber für Berühmtheiten – vor allem für weibliche Stars – war es wie eine Axt, die das Kunstwerk verwüstete.«

Seite 122, Das Tal der Puppen

An einem Punkt der Geschichte wird Jennifer, die Sexbombe, in ein künstliches Koma versetzt, um abzunehmen, ohne zu leiden. Wie viele der heutigen Reality-TV-»Stars« versteht sie ihre diversen Körperteile als Einkommensquelle und als das, was ihr Anerkennung bringt.

Man darf zudem nicht vergessen, dass Homosexualität, als der Roman herauskam, trotz Flower-Power noch immer ein Tabuthema war. Aber Jackie war bereits Teil der Regenbogenkoalition. Ein Jahr, nachdem das Buch in die Läden gekommen war, wurde Homosexualität in Großbritannien legalisiert. Mitglieder der Schwulenbewegung fühlten sich von der im Buch verwendeten Bezeichnung »Schwuchtel« keinesfalls beleidigt, sondern waren begeistert, sich endlich wiederzufinden und mit solch einer Wucht auf einer internationalen Bühne zu landen. Aber es ging nicht nur darum, dass es hier eine schwule Romanfigur gab oder generell schwule Männer vorkamen: Letztendlich war die Botschaft des Romans schwulenfreundlich und anerkennend. Dann sind wir eben ein bisschen zickig, na und? Wir sind überall.

Und schließlich ist da noch dieser gnadenlose, zupackende Ehrgeiz:

»Wenn man ein Filmstar ist, wird man auch wie ein Star behandelt. … Wenn man heiß gehandelt wird – und das werde ich –, bekommt man alles! … Wenn ich irgendwo hinmuss – etwa zu einer Premiere –, schickt man mir einen Wagen mit Chauffeur und ich bekomme Pelze und Kleider geliehen.«

Seite 332/333, Das Tal der Puppen

Neely ist eine Romanfigur, die den Seiten der Daily Mail von heute entsprungen zu sein scheint. Es führt eine direkte Linie von Judy Garland durch Neely hindurch bis zu den heutigen Celebrities … nun, Namen braucht man wohl nicht zu nennen.

Gleichzeitig fängt Neelys Freundin Anne als selbstsicheres Ostküstenmädchen mit schlichten, mustergültig strategischen Ambitionen an – in anderen Worten, als perfekte Praktikantin. Als Model für Gillian Cosmetics wird sie dann reich, durch einen Job, der sie ins nationale Bewusstsein katapultiert. Indem sie der arglosen Öffentlichkeit Make-up andreht, wird aus der Tussi ein Markenzeichen: Das Gillian Girl ist geboren.

Henry Bellamy, Annes Agent und Mentor rät ihr:

»Sie waren eine großartige Sekretärin – und wenn Sie jetzt das Gillian Girl werden, seien Sie auch dort die Beste. Was haben Sie denn sonst zu tun?«

Seite 361, Das Tal der Puppen

Würde sie heute arbeiten, wäre Anne (oder in diesem Fall auch Jackie) die Königin von Instagram oder vielleicht auch Jurorin in Die Höhle der Löwen. (Aber es wird Sie trösten, dass auch bei Anne nicht alles nach Plan läuft, und schließlich greift auch sie zu den Puppen. Die Botschaft? Selbst hocheffiziente Wortführerinnen können unter dem Druck zusammenbrechen, den äußeren Schein zu wahren.)

Helen Lawson, die alte Schreckschraube mit den sechs Ehemännern auf dem Konto, ist meine Favoritin unter den verrückten Weibern. Sie ist ein Profi und ein alter Hase und sie bleibt dabei, weil sie die Disziplin hat, wirklich immer wieder da zu sein und es einfach durchzuziehen. #Madonna #Fonda #Streep #Keaton #Tomlin #ich

Diejenigen unter Ihnen, die das Buch noch nicht gelesen, aber den Film gesehen haben, können sich auf eine königliche Belohnung freuen. Es ist äußerst vergnüglich, das Buch mit den bunten Bildern von Barbara Parkins (Anne), Patty Duke (Neely), Sharon Tate (Jennifer) und Susan Hayward (Helen) im Kopf zu verschlingen. Die Figuren wirken ausgesprochen lebendig und die explosiven Ausbrüche knisternder Dialoge geben einem das Gefühl, gerade mit einer Federboa versohlt worden zu sein.

Aber zuvor noch eine Warnung: Hier geht es nicht um den Beginn des Wassermannzeitalters. Das Tal der Puppen ist eine düstere Geschichte. Sie ist so abgründig wie die Romane Thomas Hardys. So trostlos wie die Werke Balzacs. So roh wie die Dostojewskis. Nichts endet gut. Erfolg korrumpiert. Ruhm zerstört. Aus Träumen werden Albträume. Geld korrodiert. Reiche Männer sind Schweine. Solide Mittelklassemänner sind langweilig. Das Landleben ist erdrückend. Große Städte sind Schlangengruben. Niemand ist nett. Alle sind verkorkst.

Es ist, anders gesagt, der perfekte Spiegel für unsere heutige Kultur.

Simon Doonan, 2016

Simon Doonan ist Autor, Kolumnist von Slate und der Creative Ambassador für die Modekette Barneys, New York

VORWORT

Nachlass Jacqueline Susann

Berühmt wurde Jacqueline Susann, weil sie die Lebensläufe von Hollywood-Sternchen aufzeichnete, doch es dürfte viele überraschen, dass sie als Chronistin ihres eigenen Lebens nicht minder versiert war. Im Laufe ihres kometenhaften Aufstiegs zum Erfolg führte Susann Dutzende ledergebundene Notizbücher, in denen sie fast jeden Zeitschriftenartikel und Zeitungsausschnitt sammelte, der sie oder ihre Puppen – sowohl positiv als auch negativ – erwähnte. Welchen besseren Anlass gäbe es also als die Jubiläumsausgabe zum fünfzigjährigen Erscheinen ihres bahnbrechenden Romans Das Tal der Puppen, um einen Teil von Susanns Archiv der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, darunter persönliche Fotos und einen bisher noch nicht veröffentlichten Artikel, den sie 1966 unter der Überschrift »Mein Buch ist nicht obszön!« schrieb.

Jetzt, im Zeitalter des Internets, das keine Hemmungen mehr kennt, mag es bizarr erscheinen, aber als Das Tal der Puppen 1966 erschien, empfand man es als gewagt und diskutierte es kontrovers. Schon bald nach Erscheinen kürte Time den Roman zum »Schundroman des Monats« (ja, so etwas gab es).

Ein Kaufhaus in Chicago verkaufte das Buch sogar unter dem Ladentisch, als wäre es Pornografie. Die Millionen von Menschen, die Das Tal der Puppen kauften, von denen ein Großteil es unter der Bettdecke las, hatten das Gefühl, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. Und in gewisser Weise wurden sie das auch. Susann lüftete den Vorhang und erlaubte ihrem Publikum den allerersten ehrlichen Blick auf die moderne Promimaschinerie von Hollywood, wobei sie darüber hinaus auch etwas noch viel Tiefergehendes zum Vorschein brachte, was die sexuelle DNA ihrer Leser und der Sechzigerjahre insgesamt betraf. Das Beste daran? Sie tat es auf eine Weise, die einem das Gefühl gab, mit der klugen, offenherzigen und lustigen besten Freundin zu sprechen, die einem Dinge erzählte, über die sonst keiner zu sprechen wagte. Wie sie selbst zugab, war eine Menge davon für die allgemeine Öffentlichkeit schockierend, aber obszön war es nicht.

Susann war für ihre Freunde und Fans immer Jackie, und sie war beiden Gruppen gegenüber ausgesprochen loyal. Zusammen mit ihrem Ehemann, dem berühmten Presseagenten und Produzenten Irving Mansfield, erfand sie praktisch die moderne Lesereise, indem sie quer durchs Land von Buchladen zu Buchladen zog, um in direkten Kontakt mit denjenigen zu treten, die ihr zum Erfolg verhalfen. Sie unterhielt eine Kartei mit den Geburtstagen der Ladeninhaber sowie den Namen von deren Kindern und versäumte es niemals, zu besonderen Anlässen eine persönliche Nachricht zu schicken. Angesichts der natürlichen Begabung des Paars im Umgang mit der Öffentlichkeit ist es womöglich kein Zufall, dass Jackie die erste Autorin der Geschichte war, die es mit drei Büchern in Folge auf Platz eins der New York Times-Bestsellerliste schaffte.

Auch wenn sie gerne in der Öffentlichkeit stand, war Jackie doch mehr auf Privatheit bedacht, als ihre Leser ahnten. Vor der Veröffentlichung ihres Romanerstlings Every Night, Josephine! im Jahr 1963 und während der folgenden elf Jahre bis zu ihrem Tod 1974 trug Jackie einen stillen und tapferen Kampf gegen den Krebs aus, verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit. Dennoch verpasste sie während der ganzen Zeit niemals ein Interview oder eine Pressekonferenz. Aber ihre Krankheit verlieh ihrem Leben und Schreiben Dringlichkeit. Die oft zitierten Worte ihrer Romanfigur Lyon Burke aus Das Tal der Puppen geben einen wahrhaftigen Einblick in ihr eigenes Leitprinzip:

»Ich möchte mir der Minuten und Sekunden bewusst sein und dafür sorgen, dass jede zählt. … man erkennt, dass Zeit das Wichtigste ist. Weil Zeit Leben bedeutet. Sie ist das Einzige, was man nie mehr zurückbekommt.«

Jackies Leben war kurz, das ihres Buches jedoch nicht. Fünfzig Jahre später ist es noch immer so provokativ und geistreich, wie es einmal war, und bleibt das Vermächtnis einer einzigartigen Frau.

– Lisa Bishop & Whitney Robinson, 2016

MEIN BUCH IST NICHT OBSZÖN!

Jacqueline Susann

Viele Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, zwischen den Worten schockierend und obszön zu unterscheiden. Die Wahrheit ist oftmals schockierend. Aber obszön ist sie nicht. Das Leben ist manchmal schockierend … obszön ist es nicht.

Gern werden auch die Worte schonungslos und obszön verwechselt. Gewalttätig und obszön. Für mich ist Gedrucktes nur dann obszön, wenn es allein dem Lustgewinn dienen soll … und es weder durch die Entwicklung einer Figur oder des Plots gerechtfertigt ist.

In Das Tal der Puppen findet sich nichts Obszönes. Es gibt viele schonungslose Kapitel. Es gibt Gewalt und manchmal Schockierendes. Aber die Welt des Showgeschäfts gehört zu den härtesten Kampfarenen. Jeder Star ist ein Gladiator des Augenblicks. Ist Ihnen bewusst, dass jeder Film, den Sie sehen, jede Broadwayshow, jeder Schauspieler und jede Schauspielerin, die es schaffen, für zehntausend Darsteller stehen, die sich für dieselbe Rolle beworben und den Kürzeren gezogen haben? Und dann schauen wir uns die wenigen Erwählten an. Kein Oscar ist von Dauer. Es heißt immer: »Was haben Sie zuletzt gemacht?« Es gibt keine normale Mann-Frau-Beziehung zwischen zwei Darstellern; beide kämpfen darum, am besten dazustehen. Im Showgeschäft bleibt keine Zeit dafür, Zweitbester zu sein. Ein Mann arbeitet sich hoch und wird Präsident einer Bank. Dann hat er es geschafft. Ein Anwalt arbeitet sich nach oben und hat eine große Kanzlei. Dann hat er es geschafft. Ein Star spielt in einem großen Film mit. Er oder sie hat es geschafft … für diesen Film. Diese Saison. Zwei schlechte Filme und tschüss. Ein neuer Gladiator wird in die Arena gebracht. Der König ist tot. Lang lebe der neue König.

Es ist ein Geschäft, bei dem jede Kerze auf dem Geburtstagskuchen eines weiblichen Stars zu einem Sargnagel wird. Wir leben im Zeitalter der Jugend. Wir leben in einer Welt, in der eine Frau mit dreißig »ihre beste Zeit hinter sich hat«, in einer Welt der Filme.

Klingt ziemlich brutal … ziemlich schockierend. Stimmt aber. Und in Das Tal der Puppen schreibe ich darüber. Es ist all das: brutal, schockierend, ungerecht, aber nicht obszön!

Wenn das so ist, werden Sie womöglich einwenden, warum machen sich dann so viele junge Mädchen voll hochfliegender Hoffnungen auf den Weg nach Kalifornien? Sie kommen Jahr für Jahr, junge Schönheiten mit wohlgeformten Vokalen, die ihnen ihre Schauspiellehrer zu Hause beigebracht haben. Die Hälfte von ihnen endet als Oben-ohne-Kellnerinnen. Die Hälfte von ihnen landet im Tal der Puppen.

Das ist das Berufsrisiko im Showgeschäft. Ein Sporttaucher weiß, dass er einem Hai begegnen und ein Bein verlieren könnte. Trotzdem gibt es jeden Tag mehr Sporttaucher. Ein Fallschirmspringer weiß, dass sich sein Fallschirm eines Tages nicht öffnen könnte, trotzdem gibt es Fallschirmspringer. Und ein Footballprofi weiß, dass er sich den Rücken kaputtmachen, seine Beine brechen, seine Zähne verlieren und sogar einen Gehirnschaden erleiden könnte. Dennoch kämpfen jedes Jahr gut aussehende junge Männer darum, diese Ehre zu erlangen.

Vielleicht ist alles, was die Chance bietet, ganz nach oben zu kommen, mit einem eigenen Risiko behaftet. Vielleicht lohnt es sich, das Wagnis einzugehen, um den Gipfel des Mount Everest zu erklimmen. Neunundneunzig Prozent der Weltbevölkerung wägen die Chancen und Risiken ab und entscheiden sich für den Mittelweg. Gott sei Dank. Wir brauchen Mütter und Lehrer und nützliche wunderbare Bürger. Sie machen unsere wahre Zivilisation aus. Aber was ist mit diesem einen Prozent? Dem lächelnden Jungen, der Präsident wird und dann in Texas von einer aus unvorstellbar weiter Entfernung abgeschossenen Kugel ausgelöscht wird? Dem amtierenden Präsidenten, dessen Familie sich auf dem Präsentierteller befindet und der seine Gallensteinoperation vor der ganzen Welt öffentlich machen muss, damit der Aktienmarkt nicht ins Wanken gerät? Ein drohender Herzanfall würde Panik auslösen. Eine Gallenblase … na gut … weiter geht’s. Der Filmstar erhält »sofortigen royalen Status« und ist dann auch sofortigen Beleidigungen der Fans ausgesetzt, die Anspruch auf ihn erheben.

Wenn man über Krieg schreibt, über Kämpfe, kann man nicht nur die schmucken Uniformen, den Trommelwirbel, die Siege schildern. Da gibt es Schlamm und Schleim und Amputationen und Wundbrand. Hässlich … schockierend … aber wahr.

Und ich beschrieb in Das Tal der Puppen, wie das für eine Frau ist, im Showbusiness den Gipfel des Mount Everest zu erreichen. Nicht alle Frauen finden dort oben das Tal der Puppen. Nicht alle Präsidenten fallen einem Attentat zum Opfer. Aber einige haben wir verloren.

Gewiss, Das Tal der Puppen ist ein Roman. Und somit Fiktion. Aber in guter Fiktion steckt auch Wahrheit. Und die Wahrheit ist nicht immer hübsch verpackt. Meine Gladiatoren in Das Tal der Puppen sind Menschen, keine Supermänner oder – frauen. Sie haben ihre Misserfolge, ihre Schwächen und manche von ihnen werden im Kampf niedergeschlagen oder verletzt und ich zeige das Blut der inneren Kämpfe. So sieht es aus. So sehe ich es. Gemein, ja. Brutal, mit Sicherheit. Aber nicht obszön …

– Jacqueline Susann, 1966

Du musst den Gipfel des Mount Everest erklimmen,

um in das Tal der Puppen zu gelangen.

Der Aufstieg zu diesem Ort,

den so wenige gesehen haben, ist brutal.

Wie es da oben aussieht, wusstest du nie wirklich,

aber das Letzte, was du dort zu finden erwartet hast,

war das Tal der Puppen.

Du stehst da und wartest auf den Glücksrausch,

den du dir erhofft hast – aber

er kommt nicht.

Du bist viel zu weit weg, um den Applaus des Publikums wahrzunehmen.

Und weiter hinauf geht es nicht mehr.

Du bist allein und

das Gefühl der Einsamkeit ist überwältigend.

Die Luft ist so dünn, dass du kaum atmen kannst.

Du hast es geschafft – und die Welt feiert

dich als Helden.

Aber unten hat es mehr Spaß gemacht,

als du mit nicht viel mehr

als Hoffnung anfingst und

dem Traum auf deren Erfüllung.

Du sahst vor dir immer nur die Spitze des Berges –

keiner hat dir je

vom Tal der Puppen erzählt.

Aber wenn du den Gipfel erreicht hast,

ändert sich alles.

Die Elemente haben dir zugesetzt, du bist

angeschlagen, taub und blind – und zu erschöpft,

um deinen Sieg zu genießen.

Anne Welles hatte nie vorgehabt, aufzusteigen.

Doch unbewusst machte sie den ersten Schritt

an dem Tag, als sie sich umsah

und zu sich selbst sagte:

»Das ist nicht genug –

ich will mehr.«

Und als sie Lyon Burke traf,

war es zu spät, um umzukehren.

ANNE

SEPTEMBER 1945

Zweiunddreißig Grad zeigte das Thermometer an dem Tag, an dem sie ankam. New York dampfte – ein wütendes Betontier, das unversehens in einen heißen Bann geraten war. Aber die für diese Jahreszeit ungewöhnliche Hitze machte ihr genauso wenig aus wie das vermüllte Stadtzentrum, der Times Square. Für sie war New York die aufregendste Stadt der Welt.

Die junge Frau bei der Arbeitsvermittlung meinte lächelnd: »Ach, für Sie ist das ein Klacks. Auch ohne Erfahrung. Die guten Sekretärinnen sind alle weg, in den Verteidigungsjobs, wo viel Geld bezahlt wird. Aber ganz ehrlich, meine Liebe, wenn ich aussehen würde wie Sie, würde ich direkt zu John Powers oder Conover gehen.«

»Und wer sind die?«, fragte Anne.

»Die leiten die besten Modelagenturen der Stadt. Das wäre mein Traumjob, nur dass ich dafür zu klein und nicht dünn genug bin. Aber Sie sind genau das, wonach die suchen.«

»Ich glaube, ich würde lieber in einem Büro arbeiten«, erwiderte Anne.

»Na gut, aber dann müssen Sie verrückt sein.« Sie reichte Anne mehrere Formulare. »Hier, das sind alles gute Empfehlungen, aber gehen Sie als Erstes zu Henry Bellamy. Er ist ein bekannter Theateranwalt. Seine Sekretärin hat gerade John Walsh geheiratet.« Da Anne nicht darauf reagierte, ergänzte das Mädchen: »Nun sagen Sie bloß nicht, Sie haben noch nie von John Walsh gehört! Er hat drei Oscars gewonnen und wird, wie ich gerade gelesen habe, die Garbo aus ihrem vorzeitigen Ruhestand zurückholen und in ihrem Comeback-Film Regie führen.«

Mit einem Lächeln versicherte Anne dem Mädchen, dass sie John Walsh wohl nie mehr vergessen würde.

»Genau so können Sie sich das Umfeld und die Klientel vorstellen, die Sie dort erwarten«, fuhr die junge Frau fort. »Bellamy und Bellows – eine wirklich großartige Kanzlei. Die kümmern sich um all die großen Klienten. Und Myrna, das Mädchen, das John Walsh geheiratet hat, könnte Ihnen in puncto Aussehen nicht das Wasser reichen. Sie werden sich bestimmt gleich was Aufregendes schnappen.«

»Was denn Aufregendes?«

»Einen Kerl … vielleicht sogar einen Ehemann.« Sie warf noch mal einen Blick auf Annes Bewerbung. »Sagen Sie, woher kommen Sie noch mal? Das liegt schon in Amerika, oder?«

Anne lächelte. »Lawrenceville. Es liegt am Anfang von Cape Cod, etwa eine Stunde Zugfahrt von Boston entfernt. Und hätte ich einen Ehemann gewollt, hätte ich gleich dortbleiben können. In Lawrenceville heiraten alle, sobald sie die Schule verlassen. Ich möchte erst mal eine Weile arbeiten.«

»Und so einen Ort verlassen Sie? Hier sucht jede nach einem Ehemann. Mich eingeschlossen! Vielleicht könnten Sie mich mit einem Empfehlungsschreiben in dieses Lawrenceville schicken.«

»Würden Sie denn einfach irgendeinen heiraten?«, hakte Anne neugierig nach.

»Nicht irgendeinen. Einfach jemanden, der mir einen hübschen Bibermantel schenkt, eine Haushaltshilfe bezahlt und mich jeden Tag bis mittags schlafen lässt. Die Kerle, die ich kenne, erwarten nicht nur, dass ich meinen Job behalte, sondern ich soll auch noch im Negligé aussehen wie Carole Landis und gleichzeitig ein paar Gourmetgerichte aus dem Hut zaubern.« Als Anne lachte, meinte sie: »Na, Sie werden ja sehen. Warten Sie, bis Sie mit ein paar der Romeos dieser Stadt Bekanntschaft gemacht haben. Ich wette, Sie nehmen Reißaus und springen in den schnellsten Zug zurück nach Lawrenceville. Aber vergessen Sie nicht, kurz anzuhalten und mich mitzunehmen.«

Niemals würde sie zurück nach Lawrenceville gehen! Sie hatte Lawrenceville nicht einfach verlassen – sie war geflohen. Geflohen vor einer Ehe mit einem bodenständigen Jungen aus Lawrenceville, vor dem bodenständigen, geordneten Leben in Lawrenceville. Vor demselben geordneten Leben, das ihre Mutter geführt hatte. Und die Mutter ihrer Mutter. Im selben wohlgeordneten Haus. Einem Haus, das eine gute New-England-Familie Generation um Generation bewohnt hatte, dessen Bewohnern vor lauter geordneten, ungenutzten Gefühlen die Luft zum Atmen fehlte, weil ein »Manieren« genannter knarrender Eisenpanzer sie erdrückte.

(»Anne, eine Dame lacht niemals laut.« »Anne, eine Dame weint niemals in der Öffentlichkeit.« »Aber das ist doch gar nicht die Öffentlichkeit, ich weine vor dir, Mama, hier in der Küche.« »Aber eine Dame zieht sich zum Weinen zurück, du bist doch kein Kind mehr, Anne, du bist zwölf, und außerdem ist Tante Amy hier in der Küche. Jetzt geh auf dein Zimmer.«)

Und irgendwie hatte Lawrenceville sie auch nach Radcliffe verfolgt. Oh ja, da gab es Mädchen, die lachten und weinten und Klatsch erzählten und die »Höhen« und »Tiefen« des Lebens genossen. Aber sie luden sie niemals in ihre Welt ein. Fast als würde sie ein großes Schild tragen mit der Aufschrift: Finger weg. Kalte, reservierte New-England-Tussi. Und so zog sie sich in die Welt der Bücher zurück und entdeckte auch dort ein Muster, das sich wiederholte: Anscheinend war praktisch jeder Schriftsteller, auf den sie stieß, aus seiner Geburtsstadt geflohen. Hemingway pendelte zwischen Europa, Kuba und Bimini. Auch der arme Fitzgerald, talentiert, aber von Selbstzweifeln geplagt, hatte im Ausland gelebt. Und selbst der rothaarige, pockennarbige Sinclair Lewis hatte in Europa die Liebe und das Abenteuer gefunden.

Sie würde Lawrenceville den Rücken kehren! So einfach war das. Diese Entscheidung traf sie in ihrem letzten Collegejahr und teilte sie ihrer Mutter und Tante Amy während der Osterferien mit.

»Mama … Tante Amy … wenn ich das College beendet habe, werde ich nach New York gehen.«

»Das ist ein schrecklicher Ort, um Urlaub zu machen.«

»Ich habe vor, dort zu leben.«

»Hast du darüber schon mit Willie Henderson gesprochen?«

»Nein. Warum sollte ich?«

»Na ja, du triffst dich mit ihm, seitdem ihr beide sechzehn seid. Da vermutet natürlich jeder …«

»Genau das ist es. Lawrenceville ist eine einzige Vermutung.«

»Du erhebst deine Stimme, Anne«, tadelte ihre Mutter sie ruhig. »Willie Henderson ist ein anständiger Junge. Ich bin mit seinem Daddy und seiner Mutter zur Schule gegangen.«

»Aber ich liebe ihn nicht, Mama.«

»Männer kann man nicht lieben.« Das kam von Tante Amy.

»Hast du Daddy nicht geliebt, Mama?« Das war keine Frage. Es war fast eine Anklage.

»Natürlich habe ich ihn geliebt.« Die Stimme ihrer Mutter klang gereizt. »Aber was Tante Amy meint … na ja … Männer sind anders. Sie denken oder handeln nicht wie Frauen. Nimm deinen Vater. Ihn zu verstehen, war äußerst schwierig. Er war aufbrausend und hat gerne getrunken. Wäre er mit einer anderen Frau als mir verheiratet gewesen, hätte er womöglich ein böses Ende genommen.«

»Ich habe Daddy nie trinken sehen«, verteidigte Anne ihn.

»Natürlich nicht. Es war Prohibition und ich habe nie einen Tropfen im Haus gehabt. Ich habe ihm das abgewöhnt, bevor es sich festsetzen konnte. Ach ja, anfangs hatte er eine Menge wilder Angewohnheiten – seine Großmutter war Französin, weißt du.«

»Die Romanen sind immer ein bisschen verrückt«, stimmte Tante Amy ihr zu.

»An Daddy war nichts verrückt!« Anne wünschte auf einmal, sie hätte ihn besser gekannt. Es schien so lange her zu sein … der Tag, an dem er taumelnd nach vorn gestürzt war, gleich hier in der Küche. Sie war zwölf gewesen. Wortlos und leise war er zu Boden gesackt und lautlos gestorben, noch bevor der Arzt ihr Haus erreicht hatte.

»Du hast recht, Anne. Es war nichts Verrücktes an deinem Vater. Er war ein Mann, aber er war ein guter Mann. Und vergiss nicht, Amy, seine Mutter war eine Bannister. Ellie Bannister ist immerhin mit unserer Mama zur Schule gegangen.«

»Aber Mama, hast du Daddy jemals wirklich geliebt? Ich meine, wenn dich ein Mann, den du liebst, in seine Arme nimmt und küsst, dann sollte das doch wunderschön sein, oder? War es jemals wunderschön mit Daddy?«

»Anne! Wie kannst du deine Mutter so etwas fragen?«, empörte sich Tante Amy.

»Leider sind Küsse nicht das Einzige, was ein Mann nach der Ehe erwartet«, erwiderte ihre Mutter steif, um sich gleich darauf vorzutasten: »Hast du Willie Henderson schon mal geküsst?«

Anne verzog das Gesicht. »Ja … ein paar Mal.«

»Und hat es dir gefallen?«, hakte ihre Mutter nach.

»Ich fand es schrecklich.« Seine Lippen waren weich gewesen – fast schleimig – und sein Atem hatte sauer gerochen.

»Hast du jemals einen anderen Jungen geküsst?«

Anne zuckte die Achseln. »Ja, vor ein paar Jahren, als Willie und ich anfingen, miteinander auszugehen, da haben wir auf Partys Flaschendrehen gespielt. Dabei habe ich wohl die meisten Jungs aus der Stadt geküsst, aber soweit ich mich erinnere, war ein Kuss so widerlich wie der andere.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Ich glaube, Mutter, wir haben in ganz Lawrenceville keinen anständigen Küsser.«

Die gute Laune ihrer Mutter kehrte zurück. »Du bist eine Dame, Anne. Deshalb magst du nicht küssen. Das mag keine Dame.«

»Ach Mama, ich weiß nicht, was ich mag und wer ich bin. Deshalb möchte ich ja nach New York gehen.«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Anne, du hast fünftausend Dollar. Die hat dein Vater dir hinterlassen und du kannst damit machen, was du möchtest. Wenn ich sterbe, wird es noch um einiges mehr sein. Wir sind nicht reich, nicht wie die Hendersons, aber wir leben gut und unsere Familie hat einen guten Stand in Lawrenceville. Mir wäre lieb zu wissen, dass du zurückkommst und dich in diesem Haus niederlässt. Meine Mutter wurde hier geboren. Natürlich wird Willie Henderson vielleicht anbauen wollen – Grund ist ja genug vorhanden –, aber es wird wenigstens unser Haus sein.«

»Ich liebe Willie Henderson nicht, Mama!«

»So etwas wie die Liebe gibt es nicht – nicht, wie du darüber sprichst. Diese Art von Liebe wirst du nur in billigen Filmen und Romanen finden. Liebe ist Kameradschaft, man hat gemeinsame Freunde und gemeinsame Interessen. Du verbindest Sex mit Liebe, aber lass dir gesagt sein, junge Dame, dass diese Art von Liebe, falls und wenn es sie denn gibt, nach der Heirat sehr rasch stirbt – oder sobald dem Mädchen klar wird, worum es dabei eigentlich geht. Aber geh du nur in dein New York. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Ich bin sicher, dass Willie auf dich warten wird. Doch lass es dir gesagt sein, Anne, nach ein paar Wochen wirst du nach Hause gerannt kommen – du wirst froh sein, diese schmutzige Stadt hinter dir zu lassen.«

Sie war wirklich schmutzig – und heiß und überfüllt – am Tag von Annes Ankunft. Seeleute und Soldaten schlenderten über den Broadway und in ihren neugierigen Blicken spiegelten sich ausgelassene Urlaubsstimmung und Begeisterung über das Ende des Krieges. Und diese Erregung sprang über auf Anne, sodass sie sich inmitten dieses Schmutzes, der feuchtschweren Luft und der Fremdheit lebendig fühlte. Was waren schon die Bäume und die reine Luft Neuenglands gegen die zugemüllten und rissigen Gehwege von New York. Der unrasierte Mann, der das Schild mit der Aufschrift »Zimmer zu vermieten« aus dem Fenster nahm, nachdem er die Miete für eine Woche im Voraus kassiert hatte, sah aus wie Mr. Kingston, der Postbote zu Hause, aber sein Lächeln war freundlicher. »Das Zimmer ist nichts Besonderes«, hatte er zugegeben, »aber es hat eine hohe Decke, sodass die Luft zirkulieren kann. Und ich bin immer da, falls es was zu reparieren gibt.« Sie hatte das Gefühl, dass er sie mochte, und sie mochte ihn. In New York akzeptierte man einander vorbehaltlos, als wären alle gerade erst zur Welt gekommen und niemand hätte eine Vergangenheit, die es zu würdigen oder zu verstecken galt.

Und jetzt stand sie vor den imposanten Glastüren mit dem eingravierten Schriftzug Bellamy and Bellows und hoffte, dass auch Henry Bellamy ihr diese Akzeptanz entgegenbringen würde.

Henry Bellamy traute seinen Augen nicht. Sie konnte unmöglich aus Fleisch und Blut sein. Auf ihre Art war sie womöglich eins der schönsten Mädchen, das er je gesehen hatte, und er war an schöne Mädchen gewöhnt. Statt der Pompadourfrisur, die gerade in Mode war, und Plateauschuhen trug das Mädchen die Haare lang und natürlich, und das helle Blond schien tatsächlich echt zu sein. Aber es waren vor allem ihre Augen, die ihn durcheinanderbrachten. Sie waren richtig blau, himmelblau – aber eisig.

»Warum möchten Sie diesen Job, Miss Welles?« Aus unerfindlichen Gründen war er nervös. Verdammt, er war einfach neugierig. Sie trug schlichtes dunkles Leinen und bis auf eine hübsche schmale Armbanduhr keinerlei Schmuck, aber sie hatte irgendetwas an sich, das einem die Gewissheit gab, dass sie keinen Job benötigte.

»Ich möchte in New York leben, Mr. Bellamy.«

Einfach so. Eine direkte Antwort. Warum gab sie ihm dann das Gefühl, dass er herumschnüffelte? Er war dazu befugt, Fragen zu stellen. Und wenn er es ihr zu einfach machte, nahm sie den Job womöglich nicht an. Auch das war verrückt. Sie saß schließlich hier, oder? Sie war nicht einfach zum Tee vorbeigekommen. Warum fühlte er sich dann, als wäre er der Bewerber, und bemühte sich, einen guten Eindruck auf sie zu machen?

Er warf einen Blick auf das Formular, das die Agentur mitgeschickt hatte. »Zwanzig Jahre alt und ein B.A. in Englisch also? Radcliffe College. Aber keine Büroerfahrung. Nun sagen Sie mir, was soll uns dieser tolle Abschluss hier helfen? Können Sie mir damit helfen, ein Biest wie Helen Lawson zu bändigen oder einen betrunkenen Kerl wie Bob Wolfe dazu zu bringen, das wöchentliche Radioskript rechtzeitig abzuliefern? Oder einen schwulen Sänger davon zu überzeugen, dass er bei Johnson Harris kündigen soll, damit ich mich um seine Angelegenheiten kümmern kann?«

»Das soll ich alles machen?«, fragte sie.

»Nein, das mache ich. Aber Sie müssen mir dabei helfen.«

»Aber ich dachte, Sie seien Anwalt.«

Er sah sie nach ihren Handschuhen greifen und setzte ein entspanntes Lächeln auf. »Ich bin Theateranwalt. Das ist was anderes. Ich setzte Verträge für meine Klienten auf. Verträge ohne Hintertürchen, es sei denn zu ihren Gunsten. Ich kümmere mich auch um ihre Steuern, helfe ihnen, ihr Geld anzulegen, hole sie aus allen möglichen Schlamasseln heraus, vermittle bei Eheproblemen, sorge dafür, dass ihre Ehefrauen und Geliebten sich nicht über den Weg laufen, bin Pate ihrer Kinder und halte Händchen, vor allem, wenn sie eine neue Show haben.«

»Ich dachte immer, Schauspieler und Schriftsteller haben Manager und Agenten.«

»Haben sie auch.« Er bemerkte, dass die Handschuhe wieder in ihrem Schoß lagen. »Aber die ›Jumbos‹, die ich betreue, brauchen auch mich als Berater. Ein Agent zum Beispiel drängt sie natürlich dazu, den Job anzunehmen, der am besten bezahlt wird. Ihn interessieren seine zehn Prozent. Aber ich überlege, welcher Job für sie der beste ist. Kurz gesagt, ein Theateranwalt muss eine Kombination aus Agent, Mutter und Gott sein. Und wenn Sie den Job bekommen, haben Sie die Rolle der Schutzheiligen.«

Anne lächelte. »Warum ersetzen die Theateranwälte dann nicht sämtliche Agenten?«

»Würden sie wahrscheinlich, wenn es genügend passionierte Schmocks wie mich gäbe.« Er fing sich rasch wieder. »Entschuldigen Sie die Wortwahl. Wenn ich in Fahrt bin, merke ich oft nicht, was rauskommt.«

»Welche Wortwahl? Schmock?« Sie wiederholte es neugierig.

Aus ihrem Mund hörte es sich so absonderlich an, dass er laut lachen musste. »Es ist ein jüdisches Wort und die wörtliche Übersetzung ließe Sie erröten. Aber es ist Slang für Trottel. … Ach, lassen Sie sich von dem vornehmen Etikett Bellamy nicht täuschen und auch nicht von meinem komischen Bischofsgesicht. Ich bin ein geborener Birnbaum. Als Jugendlicher habe ich im Sommer als Unterhaltungsdirektor auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet – schrieb die Kolumne der Bordzeitung. Und da wollte man nicht, dass über den hochtrabenden Artikeln ›An Bord mit Birnbaum‹ stand, deshalb schlug jemand stattdessen Bellamy vor. Auf diesen Kreuzfahrten lernte ich jede Menge wichtige Leute kennen. Eine Sängerin, die an Bord auftrat, wurde meine erste Klientin. Eine Menge Leute lernten mich als Bellamy kennen und so blieb ich dabei. Aber ich habe immer dafür gesorgt, dass niemand vergisst, dass unter dem Bellamy ein Birnbaum steckt.« Er lächelte. »So, jetzt kennen Sie die ganze Geschichte. Denken Sie, Sie schaffen das?«

Diesmal war ihr Lächeln echt. »Ich würde es gern versuchen. Ich kann recht gut tippen, aber meine Kenntnisse in Stenografie sind eher dürftig.«

Er winkte ab. »Ich habe da draußen zwei Miezen sitzen, die Stenografiewettbewerbe gewinnen könnten. Ich brauche jemanden, der mehr ist als eine Sekretärin.«

Ihr Lächeln verschwand. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«

Mist! Das hatte er damit doch gar nicht gemeint. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich die nächste an. Jesus, die saß vielleicht gerade. Unbewusst richtete er sich in seinem Stuhl auf.

»Hören Sie, Miss Welles, mehr als eine Sekretärin zu sein, bedeutet, dass Sie keinen geregelten Arbeitstag haben. Es kann Tage geben, da müssen Sie vor Mittag gar nicht hier sein. Wenn ich Sie abends brauche, erwarte ich normalerweise nicht, dass sie am nächsten Tag früh kommen. Wenn es allerdings eine Krise gibt, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie, selbst wenn Sie bis vier Uhr morgens gearbeitet haben, hier sind, bevor diese Kanzlei öffnet, und zwar, weil Sie hier sein wollen. In anderen Worten, Sie bestimmen Ihren Zeitplan selbst. Aber Sie werden an einigen Abenden zur Verfügung stehen müssen.«

Er hielt kurz inne, aber da sie nicht reagierte, sprach er rasch weiter. »Sagen wir, ich bin mit einem möglichen Klienten im ›21‹ zum Abendessen verabredet. Wenn ich den richtigen Rahmen und die richtigen Worte wähle, stehen die Chancen gut, dass er bei mir unterschreibt. Aber es kann gut sein, dass ich mit ihm sechs oder sieben Drinks nehmen und mir sein Genörgel über sein momentanes Management anhören muss. Natürlich werde ich bei meinem Leben schwören, dass er bei mir nichts dergleichen zu befürchten hat. Ich werde ihm alles Mögliche versprechen – sogar den Mond mit seinem Namen darauf. Ich kann zwar nicht all die Dinge erfüllen, die ich verspreche. Das könnte keiner. Aber ich würde mich aufrichtig bemühen, die Fehler seines vorherigen Managements zu vermeiden und meine Versprechen zu halten, soweit es mir möglich ist. Nur dass ich mich am nächsten Morgen an kein Wort mehr erinnern werde. Und da kommen Sie dann ins Spiel. Sie werden keinen Kater haben, weil Sie während dieses ganzen spannenden Abends an einem einzigen Sherry genippt haben, und Sie werden sich an jedes meiner Worte erinnern. Am folgenden Tag werden Sie mir eine Liste all meiner Versprechungen vorlegen, die ich dann mit klarem Kopf studieren kann.«

Sie lächelte. »Ich wäre also eine Art menschliches Diktafon?«

»Ganz genau. Trauen Sie sich das zu?«

»Nun, mein Gedächtnis ist ausgezeichnet und ich hasse Sherry.«

Diesmal lachten sie beide.

»Okay, Anne. Möchten Sie morgen anfangen?«

Sie nickte. »Werde ich auch für Mr. Bellows arbeiten?«

Sein Blick ging ins Leere und er sagte leise: »Es gibt keinen Mr. Bellows. Nun, da ist natürlich George, sein Neffe, aber George ist nicht der Bellows von Bellamy und Bellows. Das war Georges Onkel – Jim Bellows. Ich habe Jim seine Anteile abgekauft, bevor er in den Krieg zog. Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber nein, er fuhr nach Washington und wurde in der Navyuniform und mit einem Offizierspatent losgeschickt.« Er seufzte. »Der Krieg ist was für die Jungen. Jim Bellows war dreiundfünfzig. Zu alt für den Krieg … aber zu jung, um zu sterben.«

»Kam er in Europa oder im Pazifik ums Leben?«

»Er starb an einem Herzanfall in einem U-Boot, dieser verdammte Narr!« Aber sein schroffer Ton unterstrich nur die Zuneigung, die er für den Toten empfunden hatte. Gleich darauf schlug seine Stimmung um und er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Also gut, Anne, ich denke, wir haben uns genug über unsere Lebensgeschichten unterhalten. Ich kann Ihnen für den Anfang fünfundsiebzig die Woche bieten – sind Sie damit einverstanden?«

Das war mehr, als sie erwartet hatte. Ihr Zimmer kostete achtzehn, für Essen musste sie etwa fünfzehn veranschlagen. Sie sagte ihm, dass sie damit recht zufrieden sei.

OKTOBER 1945

Der September war ein guter Monat gewesen. Sie hatte einen Job gefunden, der ihr Spaß machte, eine Freundin namens Neely und einen sanften, umgänglichen Begleiter namens Allen Cooper.

Im Oktober kam Lyon Burke.

Sowohl die Empfangsdame als auch die beiden Sekretärinnen hatten sie sofort akzeptiert und freundlich aufgenommen. Sie verbrachte ihre Mittagspause jeden Tag mit ihnen im Drugstore um die Ecke. Lieblingsthema beim Essen war Lyon Burke, und Miss Steinberg, die Chefsekretärin, war die Expertin dafür. Sie arbeitete bereits seit zehn Jahren für Henry Bellamy. Sie hatte Lyon Burke gekannt.

Lyon hatte zwei Jahre in der Kanzlei gearbeitet, als der Krieg erklärt wurde. Am Tag nach Pearl Harbor war er aufgebrochen, um sich zu verpflichten. Jim Bellows hatte schon oft vorgeschlagen, seinen Neffen in die Kanzlei aufzunehmen. Obwohl Henry nichts gegen George Bellows hatte, fand er, dass »Geschäft und Verwandtschaft nicht zusammenpassen«, und hatte sich deshalb immer dagegen ausgesprochen. Aber nachdem Lyon weg war, blieb Henry kaum eine Wahl.

Gegen George war nichts einzuwenden. Er war ein fähiger Anwalt, doch ihm fehlte die Ausstrahlung, über die Lyon Burke verfügte – jedenfalls in Miss Steinbergs Augen. Was Lyon im Krieg erlebte, war von der gesamten Belegschaft der Kanzlei begierig verfolgt worden, und nach seiner Ernennung zum Captain hatte Henry den halben Tag freigenommen, um zu feiern. Sein letzter Brief war im August aus London gekommen. Lyon war am Leben, ließ alle grüßen, verlor aber kein Wort über seine Rückkehr.

Anfangs hatte Henry jeden Tag die Post durchgesehen. Als der September ohne weitere Nachricht verstrich, versuchte er, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass Lyon wohl nie wieder in die Kanzlei zurückkehren würde. Aber Miss Steinberg wollte so schnell nicht aufgeben. Und Miss Steinberg hatte recht. Das Telegramm traf im Oktober ein.

Ohne Umschweife kam es zur Sache:

LIEBER HENRY: NUN IST ES ALSO VORBEI UND ICH BIN IMMER NOCH GANZ. HAB VERWANDTE IN LONDON BESUCHT UND IN BRIGHTON DAS MEER UND ERHOLUNG GESUCHT. BIN IN WASHINGTON UND WARTE AUF MEINE OFFIZIELLE ENTLASSUNG. SOBALD SIE MICH IHRE UNIFORM GEGEN MEINEN ALTEN BLAUEN ANZUG TAUSCHEN LASSEN, KOMME ICH ZURÜCK. HERZLICH. LYON.

Henry Bellamy begann übers ganze Gesicht zu strahlen, als er das Telegramm las. Er sprang auf. »Lyon kommt zurück! Mein Gott, ich wusste es!«

Während der folgenden zehn Tage herrschte Chaos in der Kanzlei – alle waren aufgeregt, es wurde viel spekuliert, Innenausstatter stellten die Räume auf den Kopf.

»Ich kann es gar nicht erwarten«, seufzte die Empfangsdame. »Es klingt so, als wäre er genau mein Typ.«

In Miss Steinbergs Lächeln zeigte sich ihr geheimes Wissen. »Er ist jedermanns Typ, meine Liebe. Wenn sein Aussehen Sie nicht umhaut, dann erledigt sein englischer Akzent den Rest.«

»Er ist Engländer?« Anne war überrascht.

»Hier geboren«, erklärte Miss Steinberg. »Seine Mutter war Nell Lyon. Das war lange vor Ihrer Zeit. Auch vor meiner. Aber sie war ein berühmter englischer Operettenstar. Sie spielte hier in einem Stück und heiratete einen amerikanischen Anwalt, Tom Burke. Sie gab ihre Karriere auf und Lyon wurde hier geboren und ist somit amerikanischer Staatsbürger. Aber seine Mutter hielt an der britischen Staatsbürgerschaft fest, und als Lyons Vater starb – Lyon muss etwa fünf gewesen sein –, nahm sie ihn mit nach London. Sie kehrte auf die Bühne zurück, und er ging dort zur Schule. Als sie starb, kam er zurück und studierte hier Jura.«

»Ich weiß, dass ich mich schrecklich in ihn verlieben werde«, meinte die jüngere Sekretärin.

Miss Steinberg zuckte die Schultern. »Jedes Mädchen hier im Büro hat für ihn geschwärmt. Aber ich bin unglaublich gespannt, wie er reagieren wird, wenn er Sie sieht, Anne.«

»Mich?«, fragte Anne verdutzt.

»Ja, Sie. Sie beide verbindet eine ganz besondere Eigenschaft. Eine gewisse Unnahbarkeit. Nur dass Lyon einen mit seinem Lächeln blendet und anfangs täuscht. Man denkt, er ist freundlich. Aber man kommt nicht richtig an ihn heran. Keiner schafft das. Nicht einmal Mr. Bellamy. Insgeheim empfindet Mr. B. ein wenig Ehrfurcht vor Lyon, und das nicht nur wegen seines Aussehens oder Auftretens. Lyon hält, was er verspricht. Passen Sie auf, eines Tages wird diese Stadt Lyon Burke gehören. Ich habe Mr. B. einige ziemlich brillante Geschäfte an Land ziehen sehen, aber er muss dabei um jeden Zentimeter kämpfen, weil alle wissen, dass er klug ist, und auf ihn vorbereitet sind. Lyon spaziert da einfach rein mit seinem englischen Charme und dem Aussehen eines Filmschauspielers und Peng! bekommt er alles, was er will. Aber nach einer Weile wird einem klar, dass man gar nicht weiß, wie er wirklich ist – und was er von einem denkt oder von allen anderen. Ich meine, er scheint alle gleichermaßen zu mögen. Und dadurch bekommt man das Gefühl, dass ihm die Menschen oder Dinge im Grunde genommen nicht wirklich etwas bedeuten – abgesehen von seiner Arbeit. Für die tut er alles. Aber was auch immer man von ihm halten mag, am Ende bewundert man ihn doch.«

Das zweite Telegramm traf zehn Tage später an einem Freitagmorgen ein:

LIEBER HENRY: HAB DEN BLAUEN ANZUG. TREFFE MORGEN ABEND IN NEW YORK EIN. KOMME DIREKT ZU IHRER WOHNUNG. RESERVIEREN SIE MIR BITTE EIN HOTEL. GEDENKE AM MONTAG ANZUFANGEN. HERZLICH. LYON.

Henry Bellamy machte mittags Schluss, um zu feiern. Anne war gerade mit der Post fertig, als George Bellows vor ihrem Schreibtisch stehen blieb.

»Warum gehen wir nicht auch irgendwohin und feiern?«, fragte er beiläufig.

Sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Ihre Verbindung zu George Bellows hatte sich bis dahin auf ein offizielles »Guten Morgen« und ein gelegentliches Zunicken beschränkt.

»Ich lade Sie zum Mittagessen ein«, erklärte er.

»Tut mir wirklich leid, aber ich habe den Mädels versprochen, sie im Drugstore zu treffen.«

Er half ihr in den Mantel. »Schade«, meinte er. »Das wird womöglich unser letzter Tag auf Erden sein.« Mit einem reumütigen Lächeln kehrte er in sein Büro zurück.

Beim Mittagessen hörte sie dem endlosen Geplapper über Lyon Burke nur halbherzig zu und fragte sich, warum sie Georges Einladung ausgeschlagen hatte. Aus Angst vor Komplikationen? Wegen eines Mittagessens? Wie dumm. Aus Loyalität gegenüber Allen Cooper? Gut … Allen war der einzige Mann, den sie in New York kannte, und er war sehr nett. Vielleicht hatte er deswegen Loyalität verdient.

Sie erinnerte sich an den Tag, als er in die Kanzlei gestürmt kam, entschlossen, ein Geschäft zu machen – eine Versicherung zu verkaufen, wie Anne später herausfand. Henry war ungewöhnlich abweisend gewesen und hatte ihn rasch abgefertigt. Tatsächlich so rasch, dass Annes Mitgefühl geweckt war. Als sie ihn zur Tür brachte, flüsterte sie ihm zu: »Viel Glück beim nächsten Versuch.« Auf ihren warmherzigen Ton hatte er fast überrascht reagiert.

Zwei Stunden später klingelte ihr Telefon. »Hier ist Allen Cooper. Sie erinnern sich – der dynamische Vertreter? Nun, ich wollte Sie wissen lassen, dass mein Gespräch mit Henry ein unglaublicher Erfolg war, verglichen mit meinen anderen Anläufen. Bei Bellamy bin ich immerhin Ihnen begegnet.«

»Sie meinen, Sie haben nichts verkauft?« Er tat ihr wirklich leid.

»Nee. Überall Absagen. Ist wohl einfach nicht mein Tag … es sei denn, Sie sorgen für einen glücklichen Ausgang, indem Sie mit mir was trinken gehen.«

»Nein, ich …«

»Sie trinken nicht? Ich auch nicht. Dann lassen Sie uns stattdessen essen gehen.«

So fing es an – und so ging es weiter. Er war sympathisch und hatte Humor. Sie sah in ihm eher einen Freund als ein Date. Oft machte sie sich nicht mal die Mühe, sich nach der Arbeit umzuziehen. Ihm schien nie aufzufallen, was sie trug. Und er war allem Anschein nach äußerst dankbar für ihre Gesellschaft. Sie speisten in kleinen unbekannten Restaurants, wo sie jedes Mal das günstigste Gericht auf der Speisekarte wählte. Am liebsten hätte sie ihm angeboten, ihren Anteil selbst zu bezahlen, ließ es aber sein, weil sie befürchtete, er könnte sich dann noch mehr als Versager fühlen.

Als Vertreter war Allen eine hoffnungslose Fehlbesetzung. Für diesen Beruf war er viel zu nett und sanftmütig. Er fragte sie über Lawrenceville aus, über ihre Schulzeit und wollte wissen, was in der Kanzlei passierte. Und gab ihr damit das Gefühl, das interessanteste und faszinierendste Mädchen der Welt zu sein.

Sie traf sich weiterhin mit ihm, weil er keine Forderungen stellte. Im Kino hielt er manchmal ihre Hand. Er unternahm keinen Versuch, ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Doch in ihre Erleichterung darüber mischte sich ein seltsames Gefühl der Unzulänglichkeit. Es war fast beschämend, dass sie im armen Allen offenbar keinerlei Leidenschaft entfachen konnte, doch sie ließ es gern auf sich beruhen. Der Gedanke, ihn zu küssen, erfüllte sie mit demselben Ekel, den sie empfunden hatte, als sie Willie Henderson zu Hause in Lawrenceville geküsst hatte, und wieder stellte sie ihre eigene Liebesfähigkeit infrage. Vielleicht stimmte etwas nicht mit ihr – oder womöglich hatte ihre Mutter doch recht damit, dass Leidenschaft und romantische Liebe nur in Filmen und Romanen existierten.

Am späteren Nachmittag blieb George Bellows erneut vor ihrem Schreibtisch stehen. »Ich bin gekommen, um einen neuen Versuch zu unternehmen«, sagte er. »Wie wäre es am sechzehnten Januar? So weit im Voraus können Sie noch nicht verabredet sein.«

»Aber bis dahin sind es doch noch fast drei Monate.«

»Also ich würde sehr gern auch jede frühere Premiere nehmen. Aber Helen Lawson hat gerade angerufen und nach Henry geschrien, und das hat mich daran erinnert, dass ihre Show am sechzehnten Premiere hat.«

»Das stimmt, für Hit the Sky beginnen nächste Woche die Proben.«

»Also werden Sie nun mit mir hingehen oder nicht?«

»Sehr gern, George. Ich finde Helen Lawson wundervoll. Sie hat mit allen ihren Shows in Boston gastiert. Als kleines Mädchen habe ich sie zusammen mit meinem Vater in Madame Pompadour gesehen.«

»Okay, dann sind wir verabredet. Ach und Anne, wenn die Proben für die Show anfangen, wird Helen wahrscheinlich ziemlich oft hier hereingeschneit kommen. Sollten Sie beide miteinander ins Gespräch kommen, vermeiden Sie am besten diese ›Ich-mochte-Sie-schon-als-ich-noch-ein-kleines-Mädchen-war‹-Floskel. Sie würden dafür büßen.«

»Aber ich war ein kleines Mädchen. Und so lächerlich es klingt, das ist erst zehn Jahre her. Aber selbst damals war Helen Lawson bereits eine reife Frau. Sie war mindestens fünfunddreißig.«

»Wir tun hier alle so, als wäre sie achtundzwanzig.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, George! Wieso das denn, Helen Lawson ist alterslos. Sie ist ein berühmter Star. Ihre Anziehungskraft beruht auf ihrer Persönlichkeit und ihrem Talent. Mit Sicherheit ist sie zu intelligent, um zu glauben, dass sie wie ein junges Mädchen aussieht.«

George zuckte die Achseln. »Ich sag Ihnen was. Ich werde Sie in zwanzig Jahren anrufen und Sie fragen, wie Sie sich fühlen. Auszusehen wie achtundzwanzig scheint eine ansteckende Krankheit zu sein, die die meisten Frauen befällt, wenn sie die Vierzig erreichen. Um ganz sicherzugehen, sollten Sie das Thema Alter bei Helen aussparen. Und bitte machen Sie sich einen Vermerk in Ihren Kalender. Sechzehnter Januar. Bis dahin ein schönes Wochenende und entspannen Sie sich ein bisschen. Am Montag wird es hier ziemlich hektisch werden – wenn der siegreiche Held nach Hause zurückkehrt.«

Die Empfangsdame trug einen engen neuen Rock mit Karomuster. Die Tolle der Juniorsekretärin war fünf Zentimeter höher als sonst. Selbst Miss Steinberg hatte ihr blaues Kostüm vom letzten Frühjahr hervorgeholt. Anne saß in ihrem Kabuff vor Henrys Büro und versuchte, sich auf die Post zu konzentrieren. Aber wie die anderen konnte auch sie ihre Aufmerksamkeit nicht von der Tür wenden.

Um elf Uhr kam er dann. Trotz all des Büroklatsches und der Spekulationen war sie nicht darauf vorbereitet, wie umwerfend Lyon Burke tatsächlich war.

Henry Bellamy war ein groß gewachsener Mann, aber Lyon Burke überragte ihn um gut sieben Zentimeter. Er hatte tiefschwarzes Haar und seine Haut schien dauerhaft gebräunt zu sein. Henry strotzte vor unverhohlenem Stolz, als er Lyon herumführte und allen vorstellte. Die Empfangsdame errötete sichtlich, als er ihre Hand schüttelte, die Juniorsekretärin lächelte einfältig und Miss Steinberg wurde vor Aufregung ganz kokett.

Zum ersten Mal war Anne dankbar für ihre eiserne New-England-Reserviertheit. Doch als Lyon Burke ihre Hand ergriff, wusste sie, dass die Ruhe, die sie ausstrahlte, nicht echt war.

»Henry hat unentwegt von Ihnen gesprochen. Jetzt, da wir uns begegnen, kann ich das nur allzu gut verstehen.« Der englische Akzent war definitiv ein Pluspunkt. Anne gelang eine höfliche Antwort, doch sie war dankbar, als Henry Bellamy Lyon in sein frisch renoviertes Büro führte.

»Kommen Sie doch mit uns, Anne«, befahl Henry.

»Es ist überwältigend«, erklärte Lyon. »Fast wird einem ein wenig bange vor der Arbeit, die dafür von einem erwartet wird.« Er setzte sich in einen Stuhl und lächelte träge. Plötzlich verstand Anne, was Miss Steinberg meinte. Lyon Burke lächelte jeden an, und dieses mühelose Lächeln war undurchdringlich.

Henry strahlte väterlich. »Seien Sie einfach derselbe Faulpelz wie vor Ihrem Weggang, und ich werde es jedes Jahr neu für Sie gestalten. Aber jetzt lasst uns zur Sache kommen. Anne, Lyon braucht eine Wohnung. Er wohnt bei mir, bis er was gefunden hat«, erklärte Henry. »Ist das nicht unglaublich? Wir konnten kein Hotelzimmer für ihn finden.«

Sie glaubte es. Aber sie fragte sich, was sie damit zu tun hatte.

»Ich möchte, dass Sie eine Wohnung für ihn finden«, sagte Henry.

»Sie möchten, dass ich für Mr. Burke eine Wohnung finde?«

»Das werden Sie schon schaffen. Das gehört dazu, wenn man mehr als eine Sekretärin ist.«

Diesmal lachte Lyon herzhaft. »Sie ist eine Schönheit, Henry. Sie ist genauso, wie Sie gesagt haben. Aber sie ist kein Houdini.« Er zwinkerte Anne zu. »Henry hat ein sehr bequemes Leben geführt. Er weiß nicht, wie schwer es ist, in New York eine Wohnung zu finden.«

Henry schüttelte den Kopf. »Hören Sie, dieses Mädchen ist vor zwei Monaten hier angekommen und konnte die Seventh Avenue nicht vom Broadway unterscheiden. Sie hat nicht nur gleich am ersten Tag eine Wohnung gefunden, sondern auch diesen Job an Land gezogen und mich dazu gebracht, ihr aus der Hand zu fressen.«

»Also Wohnung kann man meine Bleibe nicht wirklich nennen. Es ist ein sehr kleines …«

Sein direkter Blick war verstörend. »Meine liebe Anne, nach den ausgebombten Häusern, in denen ich während des Krieges geschlafen habe, kommt für mich alles mit einer Zimmerdecke dem Ritz gleich.«

»Anne wird sicher was finden«, beharrte Henry. »Versuchen Sie es an der East Side. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Küche, möbliert, um die hundertfünfzig im Monat. Gehen Sie hoch auf hundertfünfundsiebzig, wenn es sein muss. Fangen Sie gleich an, noch heute Nachmittag. Nehmen Sie sich morgen frei, lassen Sie sich Zeit … aber kommen Sie erst wieder, wenn Sie eine Wohnung haben.«

»Dann dürften wir dieses Mädchen wohl nie mehr wiedersehen, Henry«, warnte Lyon ihn.

»Ich baue auf Anne. Sie wird was auftreiben.«

Ihr Zimmer lag im zweiten Stock des Stadthauses. Heute kamen ihr die beiden Treppen plötzlich unüberwindlich vor. Sie stand auf dem Treppenabsatz, in der Hand die zerlesene New York Times. Den ganzen Nachmittag hatte sie damit zugebracht, sämtliche darin aufgelisteten Wohnungen abzuklappern, aber alle waren bereits weg gewesen. Ihr taten die Füße weh. Sie hatte sich am Morgen fürs Büro gekleidet und nicht für die Wohnungssuche. Morgen würde sie zeitig anfangen – in flachen Schuhen.

Bevor sie die nächste Treppe erklomm, klopfte sie an Neelys Tür. Keine Antwort. Sie stapfte die wackeligen Stufen hinauf, schloss ihr Zimmer auf und war dankbar, als sie den Dampf durch den alten Heizkörper zischen hörte.

Trotz Lyon Burkes »Ich-nehme-alles«-Ansage konnte sie ihn sich in einem Zimmer wie diesem nicht vorstellen. Nicht dass es ein schlechtes Zimmer gewesen wäre. Es war sauber und lag günstig. Verglichen mit ihrem geräumigen Schlafzimmer in Lawrenceville war es natürlich schrecklich! Das durchgelegene Einzelbett sah aus, als würde es kein Jahr mehr halten. Manchmal fragte sie sich, wie viele Menschen darin wohl schon geschlafen hatten – Hunderte vielleicht. Aber sie kannte sie nicht, und vielleicht war es diese Anonymität, die es zu ihrem Bett machte. Solange sie die Miete zahlte, gehörte alles im Zimmer ihr. Der kleine ramponierte Nachttisch, der von Kratzern und alten Brandflecken übersät war, die Kommode mit den drei Schubladen, die man ein wenig offenstehen lassen musste, weil sie klemmten, wenn man sie ganz schloss, und deren Knöpfe abgingen, wenn man zu fest zog, der dickbauchige Sessel, auf dessen Sitzfläche sich die Spiralfedern abzeichneten, als wollten sie gleich herausspringen.

Man könnte es hübsch herrichten, aber am Ende der Woche war nie genug Geld übrig. (Sie war entschlossen, die Fünftausend, die sie auf der Bank hatte, nicht anzurühren.) Außerdem zahlte sie noch immer die Rechnung von Bloomingdale für das gute schwarze Kleid und den guten schwarzen Abendmantel ab.

Sie hörte das vertraute Klopfen und rief: »Bin da«, ohne aufzublicken.

Neely trat ein und ließ sich in den Sessel sinken, dessen Ächzen das Schlimmste befürchten ließ. »Was willst du mit den Annoncen in der Times? Überlegst du umzuziehen?«

Als Anne ihr erklärte, worin ihre neue Aufgabe bestand, fing Neely an, laut zu lachen. »Du meinst, er braucht nicht unbedingt eine Terrasse zu den ungefähr vier begehbaren Kleiderschränken?« Doch nachdem sie das Unterfangen als unmöglich abgetan hatte, kam sie auf die wichtige Angelegenheit zu sprechen. »Hattest du denn heute Gelegenheit, es bei ihm anzusprechen, Anne?«

»Es« war ein Gefallen, um den Neely Anne gebeten hatte und mit dem sie ihr bereits seit zwei Wochen in den Ohren lag.

»Wie denn, Neely? Ausgerechnet heute … der Tag, an dem Lyon Burke zurückkommt.«

»Aber wir müssen es schaffen, in Hit the Sky zu kommen. Aus irgendeinem verrückten Grund scheint Helen Lawson unsere Nummer zu gefallen. Wir wurden schon dreimal zum Vortanzen bestellt und sie war jedes Mal da. Es bräuchte nur ein Wort von Henry Bellamy und die Sache wäre geritzt.«

Mit »wir« meinte Neely sich und ihre beiden Partner. Neely hieß eigentlich Ethel Agnes O’Neill (»Ist das nicht ein Knaller?«, waren ihre Worte), aber der Spitzname Neely hatte sich schon in ihrer Kindheit festgesetzt, und da sie ein Drittel einer Tanzgruppe mit dem Namen The Gaucheros war, bestand keine Notwendigkeit, sich mit sperrigen Namen zu befassen.

Annes und Neelys Bekanntschaft hatte mit einem gelegentlichen Zunicken im Hausflur begonnen, und daraus hatte sich dann rasch eine herzliche Freundschaft entwickelt. Neely sah aus wie ein quirliger, ausgelassener Teenager. Sie hatte eine Stupsnase, große braune Augen, Sommersprossen und braune Locken. Und Neely war tatsächlich noch ein Teenager – und seit ihrem siebten Lebensjahr durch die Varietés getingelt.

Es war schwer, sich Neely auf der Bühne vorzustellen. Aber eines Abends hatte sie Anne in ein Hotel in der Innenstadt mitgeschleppt, wo sie einen Klubauftritt hatte. Dort wurde Anne Zeugin einer seltsamen Verwandlung. Die Sommersprossen verschwanden unter einer dicken Schicht Theaterschminke und die kindliche Figur reifte mithilfe eines aufreizenden Paillettenkleids. Es war eine passable, recht unspektakuläre Darbietung. Zwei Männer in ausgefransten Sombreros und engen Hosen wirbelten über die Bühne, begleitet vom unvermeidlichen Fußstampfen und Fingerschnalzen, das als Flamenco durchgehen sollte. Ähnliche Aufführungen hatte Anne zu Hause im Varieté gesehen. Aber jemanden wie Neely hatte sie noch nie gesehen. Sie war sich nicht sicher, ob Neely außergewöhnlich gut oder unglaublich schlecht war. Man hatte nicht den Eindruck, dass sie und die Gaucheros eine Einheit bildeten, auch wenn sie im Takt mit ihnen tanzte und herumwirbelte und sich mit ihnen verneigte. Man sah nur Neely.

Doch wie sie ohne Kostüm und Make-up in dem durchgesessenen Sessel hockte, war Neely einfach nur eine erwartungsvolle Siebzehnjährige. Die erste richtige Freundin, die Anne je hatte.

»Ich würde dir ja gern helfen, Neely, aber ich kann Mr. Bellamy nicht mit privaten Angelegenheiten behelligen. Unsere Beziehung ist rein geschäftlicher Natur.«

»Na und? Jeder in der Stadt weiß, dass er früher mal Helen Lawsons Liebhaber war und sie immer noch auf alles hört, was er sagt.«

»Er war was?«

»Ihr Liebhaber. Ihr Kerl. Jetzt sag bloß nicht, das hast du nicht gewusst.«

»Wo hast du denn so was Albernes aufgeschnappt, Neely?«

»Du Dummerchen. Willst du damit sagen, dir hat keiner davon erzählt? Es ist lange her und sie hatte seitdem drei Ehemänner, aber sie waren jahrelang das heißeste Paar. Warum, glaubst du, liege ich dir ständig in den Ohren, dass du mit Bellamy sprechen sollst? Kannst du es nicht morgen mal erwähnen?«

»Morgen werde ich auf Wohnungssuche sein. Und außerdem, Neely, habe ich es dir schon mal gesagt: Es ist einfach nicht gut, Privates ins Büro zu tragen.«

Neely seufzte. »Dir stehen deine vornehmen Manieren im Weg, Anne. Wenn man was will, muss man es direkt angehen. Ohne Umwege darum bitten.«

»Und was passiert, wenn man eine Abfuhr bekommt?«

»Was soll’s? Dann bist du nicht schlechter dran, als hättest du gar nicht erst gefragt. Wenigstens räumst du dir so eine Fifty-Fifty-Chance ein«, erwiderte Neely mit einem Achselzucken.

Neelys Logik entlockte Anne ein Lächeln. Neely hatte keinerlei Ausbildung genossen, verfügte jedoch über die angeborene Intelligenz eines Straßenköterwelpen und dazu über den einen Funken, der den einen Welpen aus dem restlichen Wurf hervorstechen ließ. Dieser Welpe war tapsig, offen und neugierig und bei aller Unschuld mit einem unerwarteten Schuss Weltläufigkeit ausgestattet.

Die ersten sieben Jahre ihres Lebens hatte Neely in Pflegefamilien verbracht. Dann lernte ihre zehn Jahre ältere Schwester Charlie, einen der Gaucheros, kennen und heiratete ihn. Sie machten aus der Nummer ein Trio, und die Schwester rettete Neely sofort aus der Monotonie von Pflegefamilie und formaler Schulbildung und zeigte ihr das Leben einer drittklassigen tingelnden Vaudevilletruppe. Damit war ihre Schulzeit zu Ende, aber unter den Schauspielern fand sich immer jemand, der bereit war, Neely beim Lesen und Rechnen zu helfen. Geografie lernte sie beim Blick durchs Zugfenster und Geschichte brachten ihr die europäischen Darsteller näher. Und es gab immer einen freundlichen Türsteher, der sie alarmierte, wenn ein Ermittlungsbeamter vom Erziehungsministerium im Anmarsch war.

Als Neely vierzehn war, verabschiedete sich ihre Schwester aus dem Showgeschäft, um ein Baby zu bekommen, und da Neely die Nummer in- und auswendig kannte, übernahm sie ihren Part. Und jetzt hatten die Gaucheros nach all den mageren Jahren endlich die Chance, in einer Broadwayshow mitzuwirken.

»Vielleicht kann ich es bei George Bellows ansprechen«, meinte Anne nachdenklich, als sie ihr Make-up auffrischte. »Er hat mich zur Premiere von Hit the Sky eingeladen.«

»Das ist zwar ein Umweg«, meinte Neely, »aber besser als gar nichts.« Sie sah zu, wie Anne in ein Tweedkostüm schlüpfte. »Oh, triffst du dich heute Abend mit Allen?«

Anne nickte.

»Hab ich mir gedacht. Bei Mr. Bellamy ist es das schwarze Kleid. Meine Güte, ist er das immer gleiche schwarze Kleid nicht langsam leid?«

»Mr. Bellamy nimmt mich gar nicht wahr, wenn ich mit ihm ausgehe. Es ist rein geschäftlich.«

»Pah!«, schnaubte Neely. »Junge, Junge, in diesem Büro zu arbeiten, scheint echt aufregend zu sein. Dagegen ist das Showbusiness richtig langweilig. Mit George gehst du zur nächsten Premiere, mit Mr. Bellamy zu den schicken Abendessen im ›21‹, und selbst Allen hast du im Büro kennengelernt. Und jetzt auch noch Lyon Burke! Oh Mann, Anne, du hast gleich vier Männer, ich hingegen keinen einzigen!«

Anne lachte. »Mr. Bellamy ist kein Date, die Premiere ist erst im Januar und für Lyon Burke bin ich nichts weiter als eine Wohnungsvermittlerin. Und Allen … na ja … Allen und ich gehen einfach miteinander aus.«

»Das ist dennoch viermal mehr Action als bei mir. Ich hatte noch nie eine richtige Verabredung. Die einzigen Männer, die ich kenne, sind mein Schwager und sein Partner Dickie. Und Dickie ist schwul. Mein großartiges Sozialleben beschränkt sich darauf, rüber in Walgreen’s Drugstore zu gehen und mich mit den anderen arbeitslosen Schauspielern zu unterhalten.«

»Hast du denn noch nie einen Schauspieler kennengelernt, der dich ausführen könnte?«

»Ha! Wenn du so etwas fragst, kennst du die Schauspieler aber schlecht. Ausführen? Die würden dir nicht mal eine Fünf-Cent-Cola ausgeben. Was nicht heißen soll, dass Schauspieler an sich knausrig sind, aber sie sind so oft ohne Job, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Und die meisten arbeiten nachts – als Hilfskellner, Liftboys, Nachtportiers, damit sie tagsüber Zeit haben, auf Arbeitssuche zu gehen und Manager zu treffen.«

»Glaubst du, dass du bald auf Tournee gehen wirst?« Anne wurde plötzlich klar, wie sehr sie Neely vermissen würde.

»Hoffentlich nicht. Meine Schwester sagt, das Baby fängt gerade an, seinen Vater wahrzunehmen. Deshalb reißt Charlie sich ein Bein aus und nimmt all diese Klubtermine an. Dickie beschwert sich allerdings schon. Auf Tournee könnten wir mehr Geld verdienen. Man möchte uns für eine Nachtklubtour durch Buffalo, Toronto und Montreal engagieren. Deshalb müssen wir diese Sache bei Hit the Sky an Land ziehen. Die Shows von Helen Lawson sind immer ein Hit. Dann könnten wir die ganze Saison über in New York bleiben, vielleicht sogar länger. Und vielleicht lerne ich dann auch einen anständigen Jungen kennen und heirate.«

»Ist das der Grund, weshalb du in die Show möchtest? Um jemanden kennenzulernen und zu heiraten?«

»Aber ja, denn dann wäre ich jemand. Ich wäre eine Mrs. Soundso. Ich hätte einen festen Wohnort. Ich hätte Freunde. Die Leute im Block wüssten, wer ich bin.«

»Aber was ist mit der Liebe? Es ist nicht leicht, jemanden zu finden, den man wirklich liebt.«

Neely rümpfte die Nase. »Weißt du – wenn jemand mich liebt, liebe ich ihn auch. Ach Anne, wenn du doch nur mit Mr. Bellamy sprechen würdest …«

Anne lächelte. »Ist ja gut, Neely, ich mache es. Sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Wer weiß, vielleicht wirst du die nächste Pawlowa.«

»Wer ist das?«

»Sie war eine berühmte Tänzerin.«

Neely lachte. »Das ist doch für die Katz. Dieses Berühmtsein. Oh ja, ich denke, ich könnte ein Star sein. Nicht mit dieser Nummer. Aber wenn ich vor ein Publikum trete, passiert in mir etwas ganz Seltsames. Ich tanze ganz gut, aber ich habe das Gefühl, wenn nur laut genug applaudiert wird, könnte ich fliegen. Ich habe keine wirklich gute Stimme, aber ich glaube, wenn das Publikum mich mag, könnte ich in einer Oper singen. Es ist dieses Gefühl, wenn ich da draußen stehe … als würden mich alle in ihre Arme schließen oder so. Ich habe darüber auch mit Dick und Charlie gesprochen, aber sie halten mich für verrückt. Sie empfinden gar nichts.«

»Vielleicht solltest du studieren, Neely, Schauspielunterricht nehmen. Vielleicht schaffst du es dann an die Spitze.«

Neely schüttelte den Kopf. »Die Wahrscheinlichkeit ist zu gering. Ich habe zu viele alte Hasen getroffen, die mir erzählt haben, wie sie es fast geschafft hätten.«

»Aber du sprichst von Leuten, die einfach nicht gut genug waren«, wandte Anne ein.

»Weißt du, keiner bleibt im Showgeschäft, weil die Arbeitszeiten gut sind und die Knete stimmt. Jeder, der sich darauf einlässt, denkt, dass er es schaffen kann. Aber auf jede Mary Martin, Ethel Merman oder Helen Lawson kommen Tausende Kleindarsteller, die es beinahe geschafft hätten und nun in drittklassigen Gastspieltruppen am Hungertuch nagen.«

Anne schwieg. Gegen Neelys Logik kam sie nicht an. Sie gab ihrem Make-up den letzten Schliff. »Also gut, Neely, ich werde bei Mr. Bellamy tun, was ich kann. Aber wer weiß, vielleicht bekommt ihr den Job auch so. Denn offenbar ist eure Nummer gut angekommen, sonst hätten sie euch nicht dreimal kommen lassen.«

Neely lachte laut. »Genau das kapier ich nicht. Warum haben sie uns noch mal kommen lassen? Wie kann es sein, dass Helen Lawson unsere blödsinnige Nummer gefällt? Es sei denn, alle anderen Tanzgruppen in der Stadt haben Windpocken oder so. Weißt du, wenn ich davon überzeugt wäre, dass unsere Nummer gut ist, würde ich dir nicht ständig in den Ohren liegen. Ich begreife einfach nicht, warum Helen Lawson sich dafür interessiert – es sei denn, sie ist scharf auf Charlie. Angeblich steht sie auf alles, was Hosen anhat, und obwohl Charlie nicht allzu helle ist, sieht er doch gut aus.«

»Aber was würde Charlie tun, wenn es so wäre? Schließlich ist da noch deine Schwester.«

»Ach, wenn es sein müsste, würde er Helen Lawson flachlegen«, erwiderte Neely völlig emotionslos. »Er würde sich sagen, dass er es gewissermaßen für meine Schwester tut. Denn aus freien Stücken würde er Helen bestimmt nicht bumsen. Sie ist nicht gerade eine Schönheit.«

»Neely, heißt das, du würdest einfach stillhalten und es geschehen lassen? Das würde deine Schwester dir nie verzeihen.«

»Anne, du redest nicht nur wie eine Jungfrau, du denkst auch noch wie ein Priester. Pass auf, ich bin Jungfrau, aber ich weiß, dass Sex und Liebe für einen Mann zwei völlig verschiedene Dinge sind. Charlie hat immer das billigste Zimmer genommen, wenn er unterwegs war, und meiner Schwester drei Viertel seiner Gage geschickt, damit sie und das Baby gut leben können. Aber das heißt nicht, dass er nicht hin und wieder mit einem hübschen Mädchen aus der Truppe eine schnelle Nummer geschoben hat. Er brauchte einfach Sex. Und das hatte nichts zu tun mit seiner Liebe für Kitty und das Baby. Ich habe mir meine Jungfräulichkeit bewahrt, weil ich weiß, dass das den Männern wichtig ist, und ich wünsche mir einen Mann, der mich so liebt, wie Charlie Kitty liebt. Aber bei einem Mann ist das was anderes. Man erwartet von ihm nicht, dass er noch Jungfrau ist.«

Der Türsummer ertönte in Annes Zimmer. Das bedeutete, dass Allen an der Eingangstür stand. Sie drückte auf den Knopf, um ihm zu signalisieren, dass sie auf dem Weg nach unten war, und griff nach Mantel und Handtasche. »Mach schon, Neely, ich muss los. Vielleicht ist Allen mit dem Taxi gekommen.«

»Warte – hast du noch ein paar von diesen himmlischen Schoko-Marshmallow-Keksen übrig?« Neely fing an, in dem kleinen Schrank herumzuwühlen.

»Nimm die ganze Schachtel«, sagte Anne und hielt die Tür auf.

»Oh, köstlich!« Neely folgte ihr, die Schachtel liebevoll im Arm haltend. »Ich hab mir aus der Bücherei Vom Winde verweht ausgeliehen, dazu einen Viertelliter Milch und all diese Kekse. Oh Mann! Was für ein Gelage!«

Sie gingen in ein kleines französisches Restaurant. Allen hörte ihr aufmerksam zu, als sie ihm von ihrer neuen Aufgabe berichtete. Als sie zu Ende erzählt hatte, stürzte er den Rest seines Kaffees hinunter und bat um die Rechnung.

»Ich denke, Anne, die Zeit ist gekommen.«

»Die Zeit wofür?«

»Die Zeit für einen Moment der Wahrheit. Es ist Zeit, dass du Henry Bellamy mit Glanz und Gloria verlässt.«

»Aber ich möchte Mr. Bellamy gar nicht verlassen.«

»Das wirst du.« Sein Lächeln war merkwürdig. Selbstsicher. Sein ganzes Auftreten hatte sich verändert. »Ich nehme an, dass es ein großer Triumph wäre, für Lyon Burke eine Wohnung zu finden.«

»Du meinst, du weißt von einer?«

Er nickte und lächelte geheimnisvoll wie über einen Scherz, den nur er selbst verstand. Draußen winkte er ein Taxi herbei und nannte dem Fahrer eine Adresse am Sutton Place.

»Wohin fahren wir, Allen?«

»Wir sehen uns Lyon Burkes neue Wohnung an.«

»Um diese Uhrzeit? Wessen Wohnung ist das überhaupt?«

»Das wirst du schon sehen«, wich er ihr aus. »Hab einfach Geduld.« Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Das Taxi hielt vor einem modernen Gebäude in der Nähe des East Rivers. Der Portier öffnete ihnen eilfertig die Tür. »Guten Abend, Mr. Cooper.« Der Mann im Aufzug nickte ihnen zu und fuhr sie automatisch in den zehnten Stock. Lässig steckte Allen einen Schlüssel in die Wohnungstür. Er schaltete die Beleuchtung an, in deren Schein sich ein kunstfertig eingerichtetes Wohnzimmer präsentierte. Er drückte einen weiteren Knopf und leise Musik schwebte durch den Raum. Die Wohnung war perfekt. Eine Wohnung wie geschaffen für Lyon Burke.

»Wessen Wohnung ist das, Allen?«

»Meine. Komm und sieh dir den Rest an. Das Schlafzimmer ist ziemlich groß … genügend Platz im Schrank.« Er zog die Schiebetüren auf. »Hier das Badezimmer, die Küche dort drüben. Klein, aber sie hat ein Fenster.«

Sie folgte ihm wortlos durch die Wohnung. Es war unfassbar. Hier also wohnte der sanftmütige kleine Allen?

»Jetzt zeige ich dir noch den einzigen Wermutstropfen.« Er ging ins Wohnzimmer, zog die bodenlangen Vorhänge beiseite und gab damit den Blick frei auf die Nachbarwohnung und ein Fenster, das so nah war, dass man glaubte, es berühren zu können.

»Das ist das Traurige«, meinte er. »Dieses Traumhaus hat alles, aber keine Aussicht. Obwohl ich zugeben muss, dass der dicke Typ von gegenüber mich fasziniert. Er lebt allein, und in zwei Jahren habe ich ihn nie einen Bissen anrühren sehen. Er ernährt sich von Bier – Frühstück, Mittag, Abendessen. Sieh nur!« Und wie aufs Stichwort kam schwerfälligen Schrittes ein stämmiger Mann im Unterhemd in die Küche und öffnete eine Flasche Bier.

Allen zog die Vorhänge zu. »Anfangs habe ich mir Sorgen um ihn gemacht. Ich war mir sicher, dass er irgendwann an Vitaminmangel leiden würde. Aber es scheint ihm gut zu gehen.« Er führte sie zur Couch. »Nun, was meinst du, ist das die passende Wohnung für Mr. Burke?«

»Ich finde sie ganz wunderbar, sogar trotz des dicken Mannes. Aber warum solltest du eine so zauberhafte Wohnung aufgeben, Allen?«

»Ich habe eine bessere gefunden. Ich kann gleich morgen einziehen. Aber du sollst sie dir erst ansehen. Mir ist es wichtig, dass sie auch dir gefällt.«

Gütiger Gott! Gleich würde er sie bitten, ihn zu heiraten! Der nette, süße, unscheinbare Allen? Sie wollte ihn nicht verletzen. Vielleicht könnte sie so tun, als verstünde sie ihn nicht.

Sie zwang sich, mit distanzierter Unbekümmertheit zu sprechen. »Allen, nur weil man mich dazu auserkoren hat, für Lyon Burke eine Wohnung zu finden, heißt das noch lange nicht, dass ich mich damit auskenne. Das wurde mir nur übertragen, damit es in der Kanzlei weitergehen kann, denn Lyon Burke kann sich nicht einfach freinehmen. Nachdem du diese Wohnung ganz allein gefunden hast, benötigst du sicherlich keinen Rat von mir …« Ihr war klar, dass sie zu schnell sprach.

»Du sagst, er kann hundertfünfzig zahlen. Aber du könntest bis hundertfünfundsiebzig gehen. Weißt du was – wir geben sie ihm für hundertfünfzig. Du wirst als Heldin dastehen. Er kann meinen Vertrag übernehmen. Denn genau das zahle ich, unmöbliert, aber ich gebe ihm die Möbel als Bonus dazu.«

Plötzlich war sie in Sorge. »Aber die wirst du doch in deiner neuen Wohnung brauchen«, protestierte sie. »Außerdem müssen sie ein Vermögen gekostet haben …«

»Das ist egal«, erwiderte er fröhlich. »Kann Lyon Burke gleich hier einziehen?«

»Nun, ich denke schon.«

»Sicher kann er das«, sagte Allen. »Komm mit, ich zeige dir meine neue Wohnung.« Er scheuchte sie hinaus in den Aufzug und ließ ihre Proteste wegen der späten Stunde nicht gelten.

Als sie wieder auf der Straße standen, kam der aufmerksame Portier auf sie zu. »Taxi, Mr. Cooper?«

»Nein, Joe, wir gehen nur die Straße runter.«

Er führte sie am nächsten Häuserblock vorbei zu einem weiteren Gebäude, das über dem Fluss zu hängen schien.

Die neue Wohnung glich einem Filmset. Im Wohnzimmer lag ein riesiger weißer Teppich. Der Barbereich war mit italienischem Marmor gefliest. Eine geschwungene Treppe führte offenbar zu weiteren Räumen im Obergeschoss. Aber was einem wirklich den Atem verschlug, war die Aussicht.

Durch Glastüren trat man auf eine ausladende Terrasse mit Blick auf den Fluss. Er führte sie hinaus. Der kalte Wind blies ihnen die Feuchtigkeit ins Gesicht, aber die Schönheit der Szenerie war überwältigend. Hell wölbte sich die filigrane Brückenbeleuchtung über den Fluss, und winzige Diamanten schienen darunter auf dem Wasser zu tanzen. Gebannt starrte sie darauf, ohne Allen wahrzunehmen.

»Sollen wir auf die neue Wohnung trinken?«, schlug er vor.

Sie tauchte aus ihrer Träumerei wieder auf und nahm die Cola, die er ihr reichte.

»Wessen Wohnung ist das, Allen?«, fragte sie ihn leise.

»Meine, wenn ich sie haben möchte.«

»Aber wem gehört sie jetzt?«

»Einem Mann namens Gino. Aber er sagt, sie sei zu groß für ihn. Er wohnt im Waldorf Astoria – ihm gefällt es da besser.«

»Aber Allen, du kannst dir doch so etwas niemals leisten!«

»Du wärst überrascht, was ich mir alles leisten kann.« Wieder umspielte dieses seltsame Lächeln seine Lippen.

Sie trat zur Tür, um hineinzugehen. »Ich denke, ich sollte jetzt lieber gehen, Allen. Ich bin sehr müde … und sehr durcheinander.«

»Anne …« Er nahm ihren Arm. »Ich bin reich, Anne – sehr, sehr reich.«

Sie starrte ihn schweigend an. Und wusste auf einmal, dass er die Wahrheit sagte.

»Ich liebe dich, Anne. Anfangs konnte ich gar nicht glauben, dass du die ganze Zeit mit mir zusammen warst, ohne es zu wissen.«

»Was zu wissen?«

»Wer ich bin.«

»Wer bist du?«

»Oh, ich bin noch immer Allen Cooper. Das ist das Einzige, was du von mir weißt. Meinen Namen. Nur dass er bei dir nichts klingeln lässt. Du hast mich als erfolglosen kleinen Versicherungsvertreter angenommen.« Er grinste. »Du weißt gar nicht, was diese letzten paar Wochen mit mir gemacht haben, als ich mich mit dir in diesen billigen Restaurants versteckt habe, zusah, wie du immer das günstigste Gericht auf der Speisekarte bestellt hast, und wusste, dass du dir Sorgen um meine Geschäfte machst. Um mich hat sich noch nie jemand gesorgt, Anne. Anfangs dachte ich, es sei ein Scherz, dass du es wusstest und mich reinlegen wolltest. Oh, das wäre nicht das erste Mal. Deshalb habe ich dir auch so viele Fragen gestellt – woher du kommst, alles über Lawrenceville. Dann habe ich alles von einem Detektiv überprüfen lassen.«

Er sah, wie ihre Augen schmal wurden, und nahm ihre Hände. »Nicht böse sein, Anne. Du warst zu perfekt, um echt zu sein. Gino konnte es nicht glauben. Aber als die Berichte eintrafen und sich alles als wahr herausstellte – das Familienanwesen, die verwitwete Mutter, die Tante und dein guter New-England-Hintergrund – du hast Klasse, Anne, wirkliche Klasse. Lieber Himmel, als ich es erfuhr, hätte ich am liebsten ein Feuerwerk gezündet. Ich war so sicher, dass mir so etwas niemals passieren könnte – dass jemand, den ich anbete, mich um meiner selbst willen mögen könnte! Verstehst du, was das für mich bedeutet?« Er tanzte mit ihr durchs Zimmer. »Du sorgst dich. Ich bedeute dir etwas! Nicht mein Besitz, sondern ich selbst!«

Sie löste sich von ihm und schnappte nach Luft. »Woher hätte ich denn wissen sollen, wer du bist, Allen – oder irgendwas hiervon ahnen –, wenn du es mir nicht gesagt hast?«

»Ich weiß nicht, wie du es nicht wissen konntest. Es stand ständig etwas über mich in den Zeitungskolumnen. Ich dachte, dass eine deiner Freundinnen es dir sagen würde. Und ganz bestimmt Henry Bellamy.«

»Ich lese keine Kolumnen und habe außer Neely keine Freundinnen. Sie liest nur Variety. Und mit Mr. Bellamy spreche ich nie über mein Privatleben – auch nicht mit sonst jemandem in der Kanzlei.«

»Nun, jetzt kannst du ihnen große Neuigkeiten unterbreiten. Über uns!« Er schloss sie in die Arme und küsste sie.

Sie ließ es geschehen – dann entriss sie sich abrupt seiner Umarmung. Oh Gott, es war wieder passiert! Während des Kusses war eine Welle des Ekels in ihr aufgestiegen.

Er sah sie zärtlich an. »Meine süße kleine Anne. Mir ist klar, dass dir der Kopf schwirrt.«

Sie trat vor den Spiegel und zog ihre Lippen nach. Ihre Hand zitterte. Etwas stimmte nicht mit ihr. Warum empfand sie eine derart kalte Abscheu vor dem Kuss eines Mannes? Viele Mädchen hatten Spaß daran, Männer zu küssen, die sie gar nicht liebten. Das sollte normal sein. Und sie mochte Allen, er war kein Fremder. Es lag also nicht nur an Willie Henderson und den Jungs aus Lawrenceville. Das Problem musste bei ihr liegen.

Er stand hinter ihr. »Ich liebe dich, Anne. Mir ist bewusst, dass das alles ein bisschen viel auf einmal ist. Das würde jeden verwirren. Aber ich möchte dich heiraten. Und ich möchte, dass du Gino kennenlernst – meinen Vater.«

Er gab ihr einen Schlüssel. »Gib den morgen Lyon Burke. Sag ihm, er soll mich in meinem Büro anrufen. Ich werde den Mietvertrag sofort umschreiben lassen. Und Anne, sollte dir diese Wohnung zu überladen sein, kannst du alles rauswerfen. Sie neu einrichten. Gino hat ein Vermögen in die Einrichtung gesteckt, aber irgendwie passt sie wohl nicht richtig zu dir. Wenn du möchtest, können wir auch ein Stadthaus kaufen – alles, was du willst.«

»Allen … ich …«

»Für eine Nacht haben wir genug geredet. Ich liebe dich. Und du wirst mich heiraten. Das ist erst mal das Wichtigste.«

Auf der Heimfahrt hing sie ihren Gedanken nach. Jetzt kannte sie die Wahrheit. Sie war frigide. Jenes fürchterliche Wort, das die Mädchen in der Schule nur im Flüsterton ausgesprochen hatten. Es gab Mädchen, die waren so geboren – niemals bekamen sie einen Orgasmus und echte Leidenschaft war ihnen fremd. Und sie gehörte zu ihnen. Mein Gott, sie konnte nicht mal einen Kuss genießen! Vielleicht sollte sie sich glücklich schätzen, jemandem wie Allen begegnet zu sein. Er war freundlich, er könnte ihr womöglich helfen. Sie könnte ihn einfach heiraten. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Dieses großartige Gefühl – das gab es für eine »Dame« nicht, die sich vor einem Kuss ekelte. Aber wenigstens war sie Willie Henderson und Lawrenceville entkommen. Für manch andere Leute wurden ihre Träume nicht mal zur Hälfte wahr.

Als sie ihr Stadthaus erreichten, ließ er das Taxi anhalten. »Versuch von mir zu träumen, Anne.« Er neigte sich zu ihr he­rüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht.«

Sie sah dem Wagen hinterher, bis er verschwunden war, dann rannte sie hinein und trommelte an Neelys Tür. Neely öffnete, den Kopf über Vom Winde verweht gebeugt. Ohne das Buch herunterzunehmen, winkte sie Anne herein und setzte ihre Lektüre fort.

»Nun leg doch das Buch mal für eine Minute weg, Neely. Es ist wichtig.«

»Jetzt gerade würde ich Rhett Butler für nichts in der Welt verlassen.«

»Hast du jemals von Allen Cooper gehört, Neely?«

»He, das soll wohl ein Scherz sein?«

»Es war mir noch nie so ernst. Wer ist Allen Cooper? Sagt der Name dir irgendwas?«

Neely gähnte und klappte das Buch zu, nachdem sie sorgfältig die Ecke der Seite umgeklappt hatte, um Rhett an seinem Platz zu halten. »Na gut, wenn du Spielchen spielen möchtest: Allen Cooper ist ein sehr netter Junge, der drei- bis viermal in der Woche mit dir ausgeht. Nach allem, was ich vom Fenster aus von ihm sehen konnte, würde ich sagen, dass er nicht gerade Cary Grant ist, aber er scheint doch vertrauenswürdig. So. Kann ich jetzt zurück zu Rhett? Er ist weitaus interessanter und Scarlett scheint ihn überhaupt nicht zu schätzen.«

»Dann hast du also noch nie von Allen Cooper gehört?«

»Nein. Sollte ich? Hat er in einem Film mitgespielt oder so? Ich kenne Gary Cooper und Jackie Cooper, aber Allen Cooper …« Sie zuckte mit den Achseln.

»Na gut, dann geh zurück zu Rhett Butler.« Anne ging zur Tür.

»Du benimmst dich seltsam heute Abend«, murmelte Neely. »Du hast doch nichts getrunken oder so, oder etwa doch?«

»Nein. Wir sehen uns morgen.«

Neely nickte abwesend. Sie war bereits wieder bei Rhett und Scarlett.

Anne lag im Dunkeln wach und ordnete die Fakten. Allen war kein armer kleiner Versicherungsvertreter – Allen war reich. Aber warum hätte sie von ihm gehört haben sollen? Gab es da etwas, das sie wissen sollte? Wie konnte sie mehr über ihn in Erfahrung bringen? George Bellows! Natürlich. Wenn es etwas über Allen oder sonst jemanden zu wissen gab, dann wüsste es George Bellows.

George Bellows blickte überrascht auf, als sie sein Büro betrat. »Hey, sollten Sie nicht unterwegs auf Wohnungssuche sein?«

»Kann ich Sie kurz sprechen, George? Es ist was Persönliches.«

Er stand auf und schloss die Tür. »Jederzeit. Setzen Sie sich. Und machen Sie es ruhig so persönlich, wie Sie möchten. Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Er schenkte ihr eine Tasse aus einer Thermoskanne ein. »Na dann mal los. Bedrückt Sie etwas?«

Sie starrte in den Kaffee. »Kennen Sie Allen Cooper, George?«

»Wer kennt den nicht?« Er sah sie aufmerksam an. »Hey … nun erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie sich mit ihm eingelassen haben!«

»Ich kenne ihn. Er soll ziemlich reich sein.«

»Reich!« Er kicherte in sich hinein. »Für das Geld, das er besitzt, müsste man ein neues Wort erfinden, Baby. Natürlich war es sein Vater, Gino, der das Imperium begründet hat. Ihnen gehört die Hälfte aller Immobilien dieser Stadt. Es geht das Gerücht, dass sie Partner dieser millionenschweren griechischen Reedereitycoons sind. Im Time Magazine gab es vor ein paar Jahren einen Artikel über Gino. Vielleicht kann ich in der Bibliothek noch eine Ausgabe für Sie ausgraben. Dort hieß es, man könne seinen Reichtum nicht annähernd schätzen. Auch ein Foto von Allen war abgedruckt. Alleinerbe des gesamten Imperiums. Sie können sich sicher vorstellen, was das für eine Werbung für die beiden war. Seitdem müssen sie sich die Mädchen mit Elefantengewehren vom Hals halten. Wenn Sie Allen also wirklich begegnet sind, dann gebe ich Ihnen einen guten Rat – nehmen Sie ihn ja nicht ernst. Er ist ein Lump.«

»Er scheint sehr nett zu sein«, widersprach sie.

George lachte. »Oh, er ist aalglatt – aber ich denke, hinter der glänzenden Fassade ist er genauso ein harter Brocken wie sein Vater. Er hat übrigens auch selbst ein paar ziemlich gerissene Geschäfte eingefädelt. Ich glaube, er hat sich aus der Armee freigekauft, indem er eine Fabrik erwarb, die Fallschirme herstellt.«

Sie erhob sich. »Danke, George.«

»Gern geschehen, meine Liebe. Ich kann Ihnen zu jedem Schürzenjäger in dieser Stadt etwas sagen – bei Ihrem Aussehen haben Sie gute Chancen, sie alle kennenzulernen.«

Henry Bellamy klappte vor Enttäuschung die Kinnlade herunter, als er sie sah. »Nun erzählen Sie mir bloß nicht, Sie haben schon aufgegeben! Ich weiß ja, dass es nicht einfach ist, Anne. Ich habe heute selbst ein paar Makler angerufen. Aber Sie müssen es weiter versuchen.«

»Ich habe die Wohnung für Mr. Burke.«

»Nein! Gütiger Gott, Sie sind eine Sensation!« Er rief Lyons Büro an und ließ ihn kommen.

»Ich habe den Schlüssel«, verkündete sie. »Mr. Burke kann sie sich heute Nachmittag ansehen.«

»Was spricht gegen heute Vormittag?«, sagte Lyon, als er eintrat. »Ich will nicht, dass der Vermieter es sich anders überlegt. Sie sind ein Phänomen, Anne! Wie ist die Adresse?«

Er notierte sie sich. »Tolle Gegend. Kann ich mir das leisten?«

»Es kostet hundertfünfzig im Monat.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind eine Magierin. Aber warum haben Sie den Schlüssel? Ist der Mieter nicht da?«

»Nein. Er ist vermutlich in seinem Büro.«

»Und wie heißt er?«

»Allen Cooper«, sagte sie leise.

Lyon schrieb sich nur den Namen auf, aber Henry sah sie neugierig an. »Wie haben Sie diese Wohnung gefunden, Anne? Durch eine Anzeige?«

»Nein. Allen Cooper ist ein Freund von mir.«

Henrys Miene entspannte sich. »Wenn er ein Freund von Ihnen ist, dann kann er nicht der Allen Cooper sein, den ich kenne.«

»Ich habe ihn in diesem Büro kennengelernt, Mr. Bellamy.«

»Hier?« Henry wirkte erstaunt. »Bei Gott, das stimmt, er war hier!« Er sprang derart ungestüm auf, dass sein Stuhl gegen die Wand prallte. »Anne! Sie und Allen Cooper! Nein …« Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Als ich ihn kennenlernte, dachte ich, er sei Versicherungsvertreter«, sagte sie.

»Dieser Mistkerl war hier und hat versucht, sich eine Revuetänzerin vom Hals zu schaffen. Eine unserer unbedeutenderen Klientinnen. Er wollte, dass ich sie ausbezahle und ihr Angst mache. Ich habe ihn schnell hinausgeworfen, aber offenbar nicht schnell genug«, ergänzte er und sah Anne dabei finster und verärgert an.

»Henry!« Lyons Stimme war schneidend. »Anne ist gewiss in der Lage, sich ihre Freunde selbst auszusuchen.« Dann lächelte er dem älteren Mann kurz zu und fuhr fort: »Sie sind nicht fair. Sie schicken Anne mit einem unmöglichen Auftrag los, und nachdem sie diesen erfüllt hat, bombardieren Sie sie mit Anschuldigungen und mischen sich in ihr Privatleben ein, anstatt sie mit Lob zu überhäufen.«

»Allen Cooper …« Ungläubig wiederholte Henry den Namen. »Wenn Sie diesen Allen Cooper kennen würden, Lyon …«

Lyon lächelte. »Ich möchte ihn gar nicht kennen. Ich will nur seine Wohnung.«

»Haben Sie schon mal von ihm gehört?«, hakte Henry nach.

Lyon überlegte. »Denke schon. Ich glaube, er ist schrecklich reich. Aber das sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen.«

»Aber Anne passt nicht zu einem Kerl wie ihm. Sie spielt nicht in seiner Liga. Sie wird dabei zugrunde gehen«, beharrte Henry.

Anne stand reglos da und war ein wenig verärgert, dass man über sie sprach, als wäre sie gar nicht anwesend.

»Okay!« Henry kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Das geht mich nichts an. Ich gebe nur zu Protokoll, wie ich das sehe. Von jetzt an ist es ihre Sache.«

»Und ich bin mir sicher, dass sie weiß, was sie tut«, warf Lyon ein und wandte sich dann lächelnd an Anne: »Ich würde mir sehr gern die Wohnung ansehen. Haben Sie was dagegen, Henry, wenn Anne mich begleitet?«

Henry winkte abwehrend und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Als sie das Büro verließen, hörte Anne ihn schwer seufzen.

Als sie die Stadt im Taxi durchquerten, konzentrierte sie sich auf den Blick durchs Fenster. Es war einer jener letzten wunderbaren Oktobertage mit milder Luft und einer schwächer werdenden Sonne, die einem dennoch Frühling vorzugaukeln versuchte.

»Seien Sie nicht sauer«, meinte Lyon leise. »Henry ist nur so aufgebraust, weil er Sie gernhat, er meint es nur gut. Er möchte Ihnen Enttäuschungen ersparen.«

»Ich bin nicht sauer – nur verwirrt.«

»Da anscheinend jeder glaubt, Ihnen ungebetene Ratschläge erteilen zu müssen, gebe ich meinen noch dazu. Beurteilen Sie nie jemanden nach der Meinung anderer. Wir haben alle verschiedene Seiten, die wir verschiedenen Menschen zeigen.«

Lächelnd meinte sie: »Sie meinen wohl, sogar Hitler konnte Eva Braun gegenüber sanftmütig und lustig sein.«

»So in der Art. Und König Heinrich hat ja nicht alle seine Frauen umgebracht. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte seine letzte ihn ziemlich unter dem Pantoffel.«

»Aber Allen ist wirklich sehr nett«, verteidigte sie ihn.

»Dessen bin ich mir sicher. Und wenn das hier sein Haus ist, dann ist es ziemlich beeindruckend.«

Das Taxi hatte angehalten. Ein anderer Portier hatte Dienst. »Wir sind gekommen, um uns Mr. Coopers Wohnung anzusehen«, sagte Anne.

Er nickte. »Mr. Cooper hat mich informiert. Zehnte Etage.«

Sie reichte Lyon den Schlüssel. »Ich werde in der Lobby warten.«

»Wie? Keine Wohnungsführung? Kommen Sie, mein Mädchen, ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir alle Vorzüge der Wohnung präsentieren. Mir zeigen, wo die Wäsche verstaut wird, wie ich den Herd bediene, wo der Sicherungskasten versteckt ist …«

Sie spürte, dass sie rot wurde. »Ich war erst einmal hier, um mir für Sie die Wohnung anzusehen.«

»Dann wissen Sie darüber immer noch mehr als ich«, erwiderte er lässig.

Ihm gefiel alles an der Wohnung. Er meinte sogar, dass ihm der Blick hinüber zu dem dicken Mann gefalle. »Das vermittelt so was Nachbarschaftliches. Ich werde Allen Cooper heute Nachmittag anrufen und mich bei ihm bedanken. Aber erst mal muss ich Ihnen gegenüber meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Ich schlage vor, wir genehmigen uns auf Henrys Kosten ein teures Mittagessen.«

Sie gingen in den Barberry Room. Ihr gefiel die schummrige Atmosphäre mit dem weichen bläulichen Licht, den künstlichen Sternen, die an der Decke funkelten, und den ausladenden Sesseln. Sogar zu einem Sherry ließ sie sich überreden. Während der vergangenen vierundzwanzig Stunden war viel zu viel in viel zu kurzer Zeit passiert. Sie fühlte sich ausgelaugt und aus der Bahn geworfen.

Lyon drängte sie nicht zu einem Gespräch. Er plauderte ganz locker über die wunderbare neue Wohnung, den Luxus zivilisierten Essens, seine neue Wertschätzung für das bürgerliche Leben. Nach und nach entspannte sie sich. Sie mochte seine abgehackte Art zu sprechen, die ruhige Stimmung im Raum. Und sie beobachtete fasziniert sein Gesicht … die Veränderungen in seinem Ausdruck … sein rasches Lächeln.

»Sie werden es ertragen müssen, dass Henry sich in Ihr Leben einmischt«, meinte er, als er sich ihr zuneigte, um ihr Feuer zu geben. »Aber das tut er nur, weil er das Beste für Sie will. Er hat Sie ein bisschen auf ein Podest gehoben.«

»Der auf dem Podest sind doch wohl Sie«, widersprach sie. »Und zwar auf einem, das an die zwanzig Meter hoch ist. Sie sind die Zukunft von Bellamy und Bellows.«

»Das hat er vor vier Jahren geglaubt«, wandte Lyon ein. »Menschen verändern sich in vier Jahren.«

»Seine Meinung über Sie hat Mr. Bellamy nicht geändert.«

Er nahm ihre Hand. »Können wir das mit dem ›Mister‹ nicht sein lassen, Anne? Ich bin Lyon. ›Mister‹ Bellamy ist Henry.«

Sie lächelte. »Also gut … Lyon. Sie sollten aber wissen, wie ungeduldig Henry auf Ihre Rückkehr gewartet hat.« Sie bremste sich. Das ging sie nichts an. Nie zuvor hatte sie sich in das Privatleben anderer eingemischt. Aber sie verspürte den Drang, Henry zu schützen. Und plötzlich verstand sie auch, warum Henry sich so ablehnend über Allen geäußert hatte – das gehörte für ihn zu einer Freundschaft. Auch die Logik hinter Neelys Argument sah sie mit neuen Augen. Man konnte nicht wirklich befreundet sein und auf höfliche Weise unpersönlich bleiben. Sie nahm sich vor, mit Henry über Neely und Hit the Sky zu sprechen. Dabei verspürte sie ein neues Gefühl der Freiheit, als hätte sie eine weitere der Fesseln abgeworfen, die sie an Lawrenceville banden.

»Ich kenne natürlich Henrys Hoffnungen und Pläne«, erwiderte Lyon. »Und vielleicht werde ich ihn nicht enttäuschen. Aber du liebe Güte, dieses Geschäft ist bestenfalls ein Zwitterding, man ist weder Anwalt noch Agent.«

»Aber alle meinten, Sie seien ein – ein echtes Energiebündel. Und um eine Sache mit so viel Energie anzupacken, muss man sie doch lieben.«

»Ich habe die Auseinandersetzungen geliebt … die Herausforderung … selbst die Kungelei.«

Sie war verwirrt. Jedes seiner Worte stand im Widerspruch zu dem Ruf, der ihm vorausgeeilt war.

Er interpretierte ihr Schweigen als Sorge um Henry. »Nun machen Sie sich keine Sorgen. Vermutlich habe ich einfach einen Anflug von Kampfmüdigkeit.«

»Aber Sie sind doch froh, wieder zurück bei Henry zu sein?«

»Ich bin zurück, oder?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Sie sagen das so, als würden Sie in Wirklichkeit lieber etwas anderes machen.«

»Kann sich denn irgendwer den Luxus leisten, genau das zu tun, was er tun möchte?«

»Ich tue das, was ich tun möchte.«

Er strahlte sie an. »Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Ich meine, indem ich für Henry arbeite. In New York lebe. Aber was würden Sie denn gerne tun, Lyon?«

Er streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus. »Zunächst mal würde ich gerne schrecklich reich sein. An einem hübschen Ort auf Jamaika sitzen, umgeben von wunderschönen Mädchen, die alle genauso aussehen wie Sie und sich um mich kümmern, und einen Bestseller über den Krieg aus dem Ärmel schütteln.«

»Sie würden gern schreiben?«

»Natürlich. Hat nicht jeder, der die Armee verlässt, das sichere Gefühl, den einzig wahren Kriegsroman mit sich herumzutragen?«, erwiderte er mit einem Achselzucken.

»Warum schreiben Sie ihn dann nicht?«

»Erstens ist die Arbeit für Henry ein Vollzeitjob. Und diese reizende Wohnung, die ich übernehme, ist nicht mietfrei. Ich fürchte, dieser Verlust für die Literatur wird ein Gewinn für Henry sein.«

Sie erkannte, dass man Lyon Burke nicht einfach in eine Schublade packen und ordentlich abheften konnte. Er hatte Gefühle, würde diese aber immer mit einem Lächeln oder einer widersprüchlichen Aussage maskieren.

»Es ist merkwürdig, aber Sie wirken gar nicht wie ein Drückeberger auf mich.«

Seine Augen wurden schmal. »Wie bitte?«

»Jemand, der aufgibt, ohne es überhaupt versucht zu haben. Ich meine – wenn Sie schreiben wollen, wenn Sie allen Ernstes spüren, dass sie etwas zu sagen haben, dann tun Sie es doch. Jeder sollte wenigstens versuchen, das zu tun, was er tun möchte. Später im Leben zwingen Situationen und Verantwortlichkeiten die Menschen zu Kompromissen. Aber sie jetzt schon einzugehen … das ist, als würde man aufhören, bevor man überhaupt angefangen hat.«

Er beugte sich über den Tisch und legte seine Hand an ihr Kinn. Ihre Blicke begegneten sich und er sah sie forschend an. »Henry kennt Sie offenbar gar nicht. Sie können nicht das Mädchen sein, über das er gesprochen hat. Das Einzige, womit er bisher recht hatte, ist Ihre unglaubliche Schönheit. Bei Gott, Sie sind eine Kämpferin, jawohl.«

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Das heute bin nicht wirklich ich.« Sie fühlte sich leer. »Ich bin ein wenig aus dem Gleichgewicht. Es ging alles viel zu schnell, die Ereignisse haben sich überschlagen. Und vermutlich reagiert man dann seltsam, wenn in den zwanzig Jahren davor gar nichts passiert ist. Ich meine … diese ganze Sache mit Allen Cooper. Bis gestern Abend wusste ich noch nicht einmal, wer er wirklich ist.«

»Nehmen Sie sich Henrys Meinung nicht so zu Herzen. Er ist nicht sonderlich erpicht darauf, jemand Neuen einzuarbeiten. Falls nötig, wird er Ihre Verehrer mit Handgranaten bekämpfen.«

»Allen ist nur ein Freund …«

»Das ist eine ausgezeichnete Nachricht.« Diesmal sah er sie an, ohne zu lächeln.

Das machte sie nervös. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, sagte sie: »Meine Worte von vorhin, dass man versuchen sollte, das zu tun, was man wirklich tun möchte – die waren ernst gemeint. Ich habe das getan, indem ich nach New York gekommen bin. Keiner sollte einen Traum aufgeben, ohne diesem vorher die Chance gegeben zu haben, wahr zu werden.«

»Ich habe keine Träume, Anne. Hatte ich nie. Die Idee zu schreiben kam mir einfach so nach dem Krieg. Vor dem Krieg hatte ich mich dem Erfolg verschrieben und wollte einen Haufen Geld machen. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das noch möchte. Eigentlich weiß ich nicht, ob es irgendetwas gibt, was ich mir besonders wünsche.« Gleich darauf folgte einer seiner raschen Stimmungswechsel und er lächelte. »Doch, es gibt etwas, was ich mir wünsche. Ich möchte mir der Minuten und Sekunden bewusst sein und dafür sorgen, dass jede zählt.«

»Das kann ich verstehen. Das möchte wahrscheinlich jeder, der im Krieg gewesen ist.«

»Oh? Ich habe mich schon langsam gefragt, ob sich die Frauen hier überhaupt daran erinnern, dass es einen Krieg gegeben hat.«

»Also ich bin mir sicher, dass jeder den Krieg bemerkt hat.«

»Dem kann ich nicht zustimmen. Wenn man dort drüben ist, mittendrin, dann kann man sich nicht vorstellen, dass es noch etwas anderes im Leben gibt. Man kann nicht glauben, dass irgendwo Menschen in bequemen Betten schlafen oder in einem Restaurant wie diesem sitzen. In Europa ist es anders. Überall, wohin man auch geht, sieht man ausgebombte Gebäude – man wird dort ständig an den Krieg erinnert. Aber als ich dann hierher zurückkam, schienen der Tod und das Blutvergießen plötzlich sehr weit weg zu sein. Es kam mir fast vor, als könnte das alles gar nicht wirklich geschehen sein – als wäre es nur ein schrecklicher Albtraum gewesen. Ich war in New York, das Paramount Building stand noch immer, seine Uhr lief noch genauso, wie sie es immer getan hatte. Die Gehwege hatten noch dieselben Risse, die gleichen Tauben oder ihre Verwandten verschmutzten das Plaza und vor dem Copacabana standen wie immer Schlangen, um die immer noch gleichen Stars zu sehen.

Gestern Abend war ich mit einem bildhübschen Geschöpf aus, und das Mädchen hat mir stundenlang von den Entbehrungen erzählt, unter denen es während des Krieges leiden musste. Keine Nylonstrümpfe, Lippenstifthüllen aus Plastik, keine Haarnadeln … es war schrecklich. Ich denke, die Verknappung der Nylonstrümpfe hat sie besonders getroffen. Sie war Model und ihre Beine waren ihr wichtig. Sie sagte, sie sei wahnsinnig froh gewesen, dass wir schließlich die Atombombe entdeckt hätten – als sie einschlug, habe sie nur noch sechs Paar übriggehabt.«

»Wenn man mittendrin ist, zählt vermutlich nur, dass man lebend wieder herauskommt«, sagte sie leise.

»Man wagt es nicht einmal, so weit vorauszudenken«, erwiderte er. »Man denkt von einem Tag zum nächsten. Wenn man sich erlaubt, an die Zukunft zu denken – irgendeine persönliche Zukunft –, verliert man die Nerven. Und plötzlich erinnert man sich an all die sinnlosen Dinge, mit denen man seine Zeit vergeudet hat … die vergeudeten Minuten, die man nie mehr zurückholen kann. Und man erkennt, dass Zeit das Wichtigste ist. Weil Zeit Leben bedeutet. Sie ist das Einzige, was man nie mehr zurückbekommt. Man kann ein Mädchen verlieren und vielleicht wieder zurückgewinnen – oder ein anderes finden. Aber eine Sekunde – diese Sekunde – wenn sie verstreicht, ist sie unwiderruflich vergangen.« Dies sagte er mit leiser, nachdenklicher Stimme und sie bemerkte die feinen Fältchen in seinen Augenwinkeln.

»Ich habe einen Corporal getroffen … wir verbrachten die Nacht in den Überresten einer Scheune. Keiner von uns war müde. Immer wieder ließ der Corporal Erde durch seine Finger rinnen. Dabei sagte er: ›Das ist hervorragende Erde.‹ Offenbar hatte er eine Farm in Pennsylvania. Und er fing an, mir von den Problemen zu erzählen, die er mit seinen Pfirsichbäumen hatte, und von seinen Plänen, die Farm nach seiner Rückkehr zu erweitern. Er wollte seinen Kindern, wenn sie erwachsen waren, eine gut laufende Farm hinterlassen. Aber der Boden bereitete ihm Sorgen. Er war nicht fruchtbar genug. Er sprach von nichts anderem. Und bald schon ertappte ich mich dabei, wie auch ich mir Gedanken um seinen schlechten Boden machte – ich gab ihm sogar Ratschläge. Ich glaube, ich bin dann eingeschlafen und habe von Dünger und vielen Hektar Pfirsichbäumen geträumt. Der nächste Tag war übel. Wir stießen auf Landminen … Heckenschützen, das Wetter war scheußlich. Am Abend musste ich die vermissten Männer melden. Ich überprüfte die Blechmarken. Eine davon gehört dem Corporal. Ich saß da und starrte auf die Erkennungsmarke … In der vergangenen Nacht war das noch ein Mann gewesen – ein Mann, der seine letzte Nacht auf Erden damit vergeudet hatte, sich Gedanken über Dünger und Erde zu machen. Und jetzt düngte sein Blut fremde Erde.«

Er sah sie an und lächelte unvermittelt. »Und hier sitze ich und vergeude Ihre Zeit, indem ich davon erzähle.«

»Nein, reden Sie bitte weiter.«

Er sah sie seltsam an. »Ich habe heute Abend viel erzählt … Dinge, die ich vermutlich besser für mich behalten hätte.« Er gab dem Kellner ein Zeichen, dass er zahlen wollte. »Aber jetzt habe ich Ihnen genug Ihrer Zeit gestohlen. Machen Sie den Rest des Nachmittags etwas Sinnvolles. Kaufen Sie sich ein neues Kleid, gehen Sie zum Friseur – tun Sie irgendeins dieser wundervollen Dinge, die ein schönes Mädchen tun sollte.«

»Dieses Mädchen geht zurück ins Büro.«

»Das kommt nicht infrage. Und das ist ein Befehl. Henry hat damit gerechnet, dass Sie mehrere Tage wegbleiben würden. Da haben Sie sich zumindest einen halben Tag Urlaub verdient. Und zwei Wochenlöhne als Bonus. Ich werde mich darum kümmern.«

»Aber ich wüsste gar nicht –«

»Unsinn. Ich habe erwartet, dass ich einem Makler eine ganze Monatsmiete zustecken muss. Nennen wir dies meine erste offizielle Amtshandlung bei Bellamy and Bellows. Sie bekommen zwei Wochenlöhne als Bonus und den Nachmittag frei.«

Sie nahm den freien Nachmittag an, kam aber keinem seiner Vorschläge nach. Sie lief die Fifth Avenue hoch und sah sich die neue Wintermode an. Sie setzte sich auf den Platz vor dem Plaza Hotel. Und dachte an Lyon Burke. Er stellte jeden, den sie je gekannt hatte, in den Schatten. Der lächelnde, undurchschaubare Lyon hatte sie überfordert, aber der Lyon, der mit ihr über den Krieg gesprochen hatte – der schien zugänglich und einfühlsam zu sein. Das hatte er gegenüber dem Corporal bewiesen. Wer war Lyon Burke wirklich?

Sie verließ den Platz und lief die Fifth Avenue hinunter. Es war schon spät. Sie musste nach Hause und sich umziehen. Allen würde sie abholen. Allen! Sie konnte Allen unmöglich heiraten! Damit würde sie ihren eigenen Worten zuwiderhandeln. Das käme einer Selbstaufgabe gleich! Es war zu früh, um einen Kompromiss zu schließen, selbst wenn er nur einen Teil ihres Traums betraf.

Beim Abendessen würde sie es ihm sagen. Aber auf vorsichtige, taktvolle Weise. Sie konnte nicht einfach damit herausplatzen: »Hallo, Allen, ich werde dich nicht heiraten.« Aber während des Abendessens würde sie sich langsam vorarbeiten und es ihm dann locker, aber bestimmt beibringen. So einfach war das.

Aber das war es dann doch nicht. Kein kleines ruhiges französisches Restaurant diesmal. Allen brauchte seine Identität nicht länger zu verbergen. Sie gingen ins »21«. Die Kellner verneigten sich vor ihm und alle sprachen ihn mit Namen an. Er schien die meisten Leute im Lokal zu kennen.

»Ach übrigens, Anne, magst du das Landleben?«, erkundigte er sich unvermittelt. »Wir haben da ein Haus in Greenwich …«

Das war ein guter Einstieg. »Nein, davon hatte ich genug in Lawrenceville. Es gibt da außerdem etwas, was ich dir sagen möchte, Allen … etwas, das du verstehen musst …«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und winkte plötzlich nach der Rechnung.

»Allen!«

»Sprich weiter, ich hör dir zu.« Er unterschrieb den Scheck.

»Es geht um das, was du gestern Abend gesagt hast. Und deine Frage zum Landleben gerade eben. Ich hab dich wirklich gern, Allen, aber –«

»Oh, ich bin froh, dass du mich daran erinnerst. Ich habe den Vertrag an Lyon Burke geschickt. Und am Nachmittag mit ihm gesprochen. Scheint ein netter Kerl zu sein. Engländer, nicht wahr?«

»Er ist in England aufgewachsen. Hör mir zu, Allen.«

Er stand auf. »Du kannst es mir im Taxi erzählen.«

»Bitte setz dich wieder. Ich würde es dir lieber hier sagen.«

Lächelnd hielt er ihr den Mantel hin. »Im Taxi ist es dunkel – viel romantischer. Außerdem sind wir spät dran.«

Sie stand hilflos auf. »Wohin gehen wir?«

»Ins Morocco.« Auf dem Weg nach draußen drückte er Trinkgelder in mehrere verstohlen wartende Hände. Im Taxi lehnte er sich dann selbstgefällig zurück. »Mein Vater ist im Morocco. Ich habe ihm gesagt, dass wir vorbeikommen. Also was möchtest du mir sagen?«

»Was du für mich empfindest, Allen, schmeichelt mir. Ich bin außerdem sehr dankbar, dass Lyon Burke die Wohnung bekommen hat. Das hat mir eine Menge Ärger und viele Wege erspart. Ich halte dich für einen der nettesten Menschen, denen ich je begegnet bin, aber –«, sie konnte schon die Leuchtreklame von El Morocco sehen und die Worte stürzten aus ihr heraus – »aber heiraten … wovon du gestern Abend gesprochen hast … es tut mir leid Allen, ich …«

»Guten Abend, Mr. Cooper!« Mit dieser melodiösen Begrüßung riss der Türsteher des El Morocco die Tür des Taxis auf. »Ihr Vater ist drinnen.«

»Danke, Pete.« Ein weiterer Schein wechselte den Besitzer. Allen führte sie in den Klub. Sie hatte es versäumt, ihren Standpunkt klarzumachen – oder hatte Allen sich bewusst bemüht, sie nicht zu verstehen?

Gino Cooper saß zusammen mit einer Gruppe von Männern an einem großen runden Tisch neben der Bar. Er winkte Allen zu und gab ihm ein Zeichen, dass er gleich zu ihnen komme. Der Kellner führte Allen an einen Tisch an der Wand. Es war halb elf, noch früh für das El Morocco. Anne war zum ersten Mal in diesem bekannten Klub, aber sie hatte in Zeitschriften und Magazinen Bilder von diversen Prominenten gesehen, die vor dem berühmten Zebramuster saßen. Sie sah sich um. Das Muster zog sich durch den ganzen Klub, aber abgesehen davon war es einfach ein großer Raum, in dem ein ziemlich gutes Orchester bekannte Songs spielte.

Gino kam sofort an ihren Tisch. Ohne eine Vorstellung abzuwarten, packte er Annes Hand und schüttelte sie kräftig.

»Das ist sie also?« Er pfiff leise. »Du hattest recht, Junge. Diese Frau war das Warten wert. Sie hat wahre Klasse. Das erkenne ich, ohne dass sie den Mund aufmachen muss.« Er schnippte mit den Fingern und wie aus dem Nichts tauchte ein Kellner auf. »Bringen Sie uns Champagner«, bestellte er, ohne seine Augen von Anne abzuwenden.

»Anne trinkt nicht«, wandte Allen ein.

»Heute Abend wird sie trinken«, entgegnete Gino herzlich. »Zu einem solchen Anlass.«

Anne lächelte. Ginos Herzlichkeit war ansteckend. Er war stämmig, hatte einen dunklen Teint und sah dank seiner blühenden Ausstrahlung gut aus. Sein schwarzes Haar war von Grau durchzogen, aber seine immense Vitalität und Begeisterung verliehen ihm fast etwas Jungenhaftes.

Als der Champagner eingeschenkt war, sprach er einen Toast auf sie aus. »Auf die neue Lady in unserer Familie.« In einem Zug trank er das halbe Glas leer. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und fragte: »Sind Sie katholisch?«

»Nein, ich –«, begann Anne.

»Nun, Sie müssen konvertieren, wenn Sie Allen heiraten. Ich werde einen Termin mit Father Kelly im Paulist Center vereinbaren. Er kann die Sache mit privatem Unterricht beschleunigen.«

»Mr. Cooper –« Es kostete sie fast körperliche Anstrengung, ihre Stimme zu finden.

Allen kam ihr rasch zuvor. »Über Religion haben wir noch nicht gesprochen, Dad. Und es besteht auch kein Grund für Anne, zu konvertieren.«

Gino dachte darüber nach. »Also, nein … nicht, wenn sie strikt dagegen ist. Solange sie in der Kirche heiratet und verspricht, die Kinder katholisch zu erziehen –«

»Ich werde Allen nicht heiraten, Mr. Cooper!« So! Jetzt hatte sie es gesagt, laut und deutlich.

Er kniff die Augen zusammen. »Warum? Sind Sie so anti-katholisch?«

»Ich bin nicht anti-irgendwas.«

»Was ist dann das Problem?«

»Ich liebe Allen nicht.«

Erst war Ginos Blick ausdruckslos. Dann wandte er sich verwundert an Allen. »Was zur Hölle sagt sie da?«

»Sie sagt, dass sie mich nicht liebt«, erwiderte Allen.

»Sag mal, soll das ein Witz sein oder so was? Hast du nicht gesagt, du würdest sie heiraten?«

»Habe ich. Und das werde ich auch. Aber erst muss ich sie dazu bringen, mich zu lieben.«

»Seid ihr beide verrückt oder was?«, herrschte Gino sie an.

Mit einem freundlichen Lächeln erwiderte Allen: »Ich habe es dir doch erklärt, Dad – bis gestern Abend dachte Anne, ich sei ein kleiner Versicherungsvertreter, der sich nur mühsam über Wasser hält. Sie muss sich erst an die neue Situation gewöhnen.«

»Was gibt es da zu gewöhnen?«, entgegnete Gino. »Seit wann ist Geld denn ein Nachteil?«

»Über Liebe haben wir nie gesprochen, Dad. Ich denke nicht, dass Anne mich überhaupt ernst genommen hat. Sie hat zu viel Zeit damit verbracht, sich zu sorgen, ich könnte meinen Job verlieren.«

Gino sah Anne neugierig an. »Sie sind wirklich all die Wochen mit ihm in diese billigen Lokale gegangen, von denen er mir erzählt hat?«

Anne lächelte zaghaft. Sie hatte langsam das Gefühl, aufzufallen. Bestimmt ergötzte sich dank Ginos tragender Stimme der halbe Raum an ihrem Gespräch.

Gino klopfte sich auf den Schenkel und lachte laut. »Das ist wirklich gut!« Er schenkte sich Champagner nach. Ein Kellner sprang ihm zur Hilfe. Gino scheuchte ihn weg. »Früher habe ich diese Flaschen mit meinen Zähnen geöffnet. Jetzt fühlen sich sechs Lakaien berufen, mir beim Einschenken zu helfen.« Er wandte sich an Anne. »Ich mag Sie! Willkommen in der Familie.«

»Aber ich werde Allen nicht heiraten.«

Er winkte ab. »Hören Sie – wenn Sie sechs Wochen lang schlechtes Essen ertragen und ihn als Versager akzeptiert haben, werden Sie ihn jetzt lieben. Trinken Sie Ihren Champagner. Kultivieren Sie Ihren Geschmack, Sie können es sich leisten. Hi, Ronnie.« Ein dünner junger Mann war plötzlich aufgetaucht und stand still vor ihrem Tisch.

»Das ist Ronnie Wolfe«, erklärte Gino ihr. »Setzen Sie sich, Ronnie.« Gino schnippte mit den Fingern und rief in den Raum: »Bringen Sie Mr. Wolfe das Übliche.« Und schon kam ein Kellner und stellte einen Becher Kaffee vor den Fremden.

»Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten noch nie von Ronnie gehört – seine Kolumne liest wirklich jeder«, erklärte Gino stolz.

»Anne ist neu in New York«, warf Allen rasch ein. »Sie kennt nur die Times

»Gute Zeitung«, erwiderte Ronnie knapp. Er zog ein abgegriffenes Büchlein mit schwarzem Ledereinband hervor. Seine dunklen Augen wanderten von Allen zu Gino. »Also gut, dann sagt mir mal ihren Namen – und wer meldet hier Ansprüche an? Vater oder Sohn?«

»Diesmal wir beide«, sagte Gino. »Dieses kleine Mädchen wird bald mit mir verwandt sein. Anne Welles. Schreiben Sie den Namen richtig, Ronnie – sie wird Allen heiraten.«

Ronnie pfiff anerkennend. Er sah Anne mit neugierigem Respekt an. »Dann also eine große Geschichte. Model, neu in der Stadt, angelt sich großen Fisch. Oder Schauspielerin? Sagen Sie nichts – mal sehen, ob ich es errate. Aus Texas?«

»Ich bin aus Massachusetts und arbeite in einer Kanzlei«, erwiderte Anne frostig.

Ronnies Augen funkelten. »Jetzt werden Sie mir gleich noch erzählen, dass Sie auch tippen können.«

»Ich denke kaum, dass das für Ihre Kolumne von Interesse ist. Außerdem sollten Sie wissen, dass Allen und ich –«

»Nicht doch, Anne«, unterbrach Gino sie schnell. »Ronnie ist ein Freund.«

»Nein, lassen Sie sie ausreden.« Ronnie betrachtete sie beinahe mit Respekt.

»Ah, trinken Sie noch etwas Champagner.« Gino schenkte ihr nach.

Sie griff nach ihrem Glas und trank, um ihre Verärgerung in den Griff zu bekommen. Sie wollte darauf beharren, dass sie Allen nicht heiraten würde, aber ihr war klar, dass Gino ihr absichtlich ins Wort gefallen war und es vermutlich wieder tun würde. Widerspruch in der Öffentlichkeit wäre peinlich für ihn. Sobald Ronnie Wolfe gegangen war, würde sie Gino zu verstehen geben, dass er keine weiteren Behauptungen aufstellen sollte. Schließlich hatte sie beiden – Vater und Sohn – erklärt, dass sie Allen nicht heiraten würde. Machte Geld die Menschen blind? Und taub dazu?

»Für wen arbeiten Sie?«, erkundigte sich Ronnie.

»Henry Bellamy«, antwortete Allen für sie. »Aber nur vorübergehend.«

»Allen!« Wütend wandte sie sich an ihn, aber Ronnie unterbrach sie.

»Sehen Sie, Miss Welles – es ist mein Job, Fragen zu stellen.« Er lächelte sie offen und freundlich an. »Ich mag Sie. Es ist erfrischend, mal ein Mädchen zu treffen, das nicht nach New York gekommen ist, um Schauspielerin oder Model zu werden.« Er sah sie eindringlich an. »Fantastische Wangenknochen. Sie könnten ein Vermögen machen, wenn Sie wollten. Wenn Powers und Longworth Sie je zu Gesicht bekämen, könnten Sie sogar reicher werden als Ihr Freund.« Er zwinkerte Gino zu.

»Wenn sie arbeiten möchte, würden wir ihr eine Modelagentur kaufen«, blaffte Gino. »Aber sie wird sich häuslich niederlassen und sich um die Kinder kümmern.«

»Mr. Cooper –« Annes Gesicht brannte.

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