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Der Duft von Gras nach dem Regen

Georges Lesage lebt fernab der Großstadt auf dem Land. Er achtet darauf, der Natur nur das zu nehmen, was er selbst zum Leben braucht. Er hat keinen Traktor, weil er lieber den Wind in den Bäumen hört als das Rattern eines Motors. Andere Menschen meidet er, weil ihn nur die wenigsten verstehen. Als er der Unternehmerin Annabelle begegnet, spürt Georges, dass der besondere Moment gekommen ist, auf den er sein Leben lang gewartet hat. Mit ihr kann er seine Geheimnisse teilen. Und tatsächlich gibt es etwas, das sie beide auf magische Weise verbindet …

»Ein Buch, das man nicht verpassen sollte.« Presseedition.fr

»Eine Initiationsgeschichte voll poetischer Schlichtheit, die den Leser seine Entscheidungen und seine Widersprüche hinterfragen lässt.« Le Quotidien du Pharmacien


  • Erscheinungstag: 02.05.2019
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678360
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

Alles kippte an einem Sonntag im Juni, während eines Essens bei den Vergnes.

Annabelle wurde den anderen Gästen als der neue Star der Finanzwelt vorgestellt. Der Erfolg ihres Unternehmens, einer Bank, die mit spekulativen Finanzprodukten handelte, machte Schlagzeilen. Bald würde ihr Europa zu Füßen liegen …

Sie erntete bewundernde Blicke. Alle beneideten sie um ihren Erfolg, der sie aller finanziellen Sorgen enthob. Sie stellten ihr Fragen zu ihrer Strategie, der Rentabilität, den Konkurrenten, ihrem Management, ihren Dienstreisen … Annabelle stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Nachdem dieses Thema ausgiebig diskutiert worden war, ging das Tischgespräch über zu Familie, Kindern, Urlaub, Hobbys … Lebhafte Unterhaltungen kamen in Gang, je nach den jeweiligen Interessen bildeten sich Grüppchen, und Annabelle hatte das Gefühl, auf einen Schlag Luft geworden zu sein. Sie versuchte vergebens, sich einzubringen, von der letzten Dummheit ihrer Tochter zu erzählen oder etwas zu einer anstehenden Veranstaltung beizusteuern, doch sie musste sich eingestehen: Sie hatte nichts zu sagen.

Seit ihrer Scheidung ging Annabelle privaten Einladungen meist aus dem Weg. Sie wollte nicht, dass alle, wie an diesem Mittag, merkten, dass sie eigentlich kein Privatleben hatte. Ihr waren nüchterne Empfänge bei Weitem lieber, Cocktailpartys, Preisverleihungen oder große geschäftliche und politische Tischgesellschaften. Dort kam wenigstens keiner auf die Idee, über Gefühle zu reden.

Schon seit zwei Jahren waren François und sie getrennt. Er hatte ihre berufliche Besessenheit nicht mehr ertragen. Seither teilten sie sich das Sorgerecht für Léna, ihre achtjährige Tochter, die an diesem Sonntag und für die ganze nächste Woche bei ihrem Vater sein würde. Und wie jedes Mal, wenn Annabelle sich von ihrer Kleinen trennen musste, fehlte sie ihr.

»Noch etwas Fisch, Annabelle?«, fragte Béatrice.

Sie kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Um sie herum herrschte eine fröhliche Stimmung.

»Gern.«

»Wohin fährst du in den Urlaub? Das hast du uns noch nicht verraten.«

Alle Blicke wandten sich ihr zu.

»Ähm, also … ich habe noch keine konkreten Pläne.«

»Falls du im August mit Léna in der Nähe von Albi bist, komm uns doch besuchen. Wir haben zu mehreren ein Haus gemietet, zusammen mit Manu, Victoria und den Racines.«

»Es gibt sogar einen Pool«, steuerte Manu lächelnd bei.

Und ich, dachte Annabelle, ich werde als Single und einzige Tochter vermutlich wieder mal bei meinen Eltern landen und von meiner Arbeit erzählen.

Béatrice lehnte sich zu ihr und fragte leise: »Und sonst? Hast du in der Zwischenzeit jemanden kennengelernt?«

Mit dieser Frage hatte Annabelle gerechnet.

»Nein …«

»Hör mal, wenn du immer nur wie eine Verrückte arbeitest, kannst du dir das sowieso abschminken … Du wirkst erschöpft, meine Liebe. Kannst du wenigstens schlafen?«

Annabelle schwieg.

»Wenn du so weitermachst, bist du bald mit deiner Arbeit verheiratet. Das wäre doch wirklich traurig. Die Uhr tickt, Annabelle … Falls du noch ein zweites Kind willst, musst du dich beeilen. Das sage ich dir als gute Freundin, verstehst du?«

Gegen sechzehn Uhr verließ Annabelle die Wohnung der Vergnes. Diese lag in der Nähe des Parc Monceau, in einer kleinen Straße, die jetzt am Sonntag menschenleer war.

Annabelle verspürte ein Gefühl von Leere und fühlte sich hohl, fast so, als sei sie nur eine leere Hülle, ohne Bedeutung und ohne Substanz.

Ihr luxuriöser Wagen war auf dem Boulevard de Courcelles geparkt, im Schatten riesiger Bäume, und Annabelle stieg ein. Eigentlich hätte sie wie üblich ins Büro fahren müssen, aber sie saß reglos da. Trübsinnig starrte sie vor sich hin und ließ sich die Worte ihrer Freundin noch einmal durch den Kopf gehen.

Béa hat gut reden, natürlich muss man ackern, um Erfolg zu haben … Wie also sollte ich da einen Typen kennenlernen? Ich sehe meine Kleine ja schon unter der Woche kaum. Pfff, ich habe für nichts Zeit, das Leben rauscht an mir vorbei …

Sie verspürte ein Brennen im Hals.

Ein Scheißleben!

Ihre Augen wurden feucht, sie kniff sie zu, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen.

Wofür ist es gut, verflixt, dass ich wie eine Kranke schufte? Dass ich von einem Termin zum nächsten hetze? Dass ich Erfolg habe? Wozu das alles?

Sie holte tief Luft und versuchte, die dumpfe Wut in ihrem Inneren zu unterdrücken, doch ihr Verstand brannte lichterloh, und ihr Blut kochte. Der Druck, der sich in ihr angestaut hatte, war plötzlich so stark, dass sie unbedingt Dampf ablassen musste. Sie spannte sämtliche Muskeln an, umklammerte das Lenkrad und zog so heftig daran, als wollte sie es aus der Verankerung reißen. Da es ihr nicht gelang, wurde sie noch zorniger, ballte die Fäuste und begann, wie eine Verrückte auf das Lenkrad einzuschlagen und es wüst zu beschimpfen. Sie ließ einer Flut von Ärger und Hass freien Lauf und stieß einige derbe Flüche aus –, und das für geraume Zeit, ohne Unterlass, ohne Luft zu holen, bis sie fast erstickt wäre – und bis plötzlich ein couragierter Spaziergänger an ihr Wagenfenster klopfte …

Innerhalb einer Sekunde richtete sie sich auf und versuchte, eine würdevolle Haltung einzunehmen. Sie warf dem aufdringlichen Typen einen tränenverhangenen Blick zu und gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass alles in Ordnung war. Doch der Mann blieb hartnäckig, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als das Fenster ein Stück herunterzulassen.

»Madame, haben Sie ein Problem?«

»Nein, nein …«

»Sind Sie sicher?«

»Ja …«

»Weil Sie gehupt haben!«

»Ja, stimmt … aber jetzt geht’s wieder, danke.«

»Sie brauchen vielleicht etwas frische Luft … Das würde Ihnen guttun. Eine kleine Auszeit auf dem Land?«

»Ja, Sie haben recht, danke … Sehr freundlich von Ihnen.«

Als der Mann, augenscheinlich etwas ratlos, endlich weitergegangen war, kauerte Annabelle sich auf ihrem Sitz zusammen und weinte leise vor sich hin.

Frische Luft … auf dem Land …

Schon der Gedanke daran hatte etwas Tröstliches.

Ihr ganzes Leben drehte sich um ihren beruflichen Erfolg. Sie jettete zwischen Paris, New York und Dubai hin und her. Straßen, Häuser, Gebäude, Büros, ständige Anspannung, Hektik, Business und noch mal Business … Ihr drohte geistiges Ersticken. Sie musste dringend einmal durchatmen, sich erholen, ausspannen.

Plötzlich kam ihr eine verrückte Idee: Abhauen! Für einige Tage aus Paris flüchten und die Hauptstadt, die Arbeit und ihre Bekannten, ihre Traurigkeit hinter sich lassen und, wie Annabelle hoffte, auch ihre ständigen Schlafstörungen.

Aber wohin?

Das Bild von Langres kam ihr in den Sinn – dieser befestigten Stadt auf einem Hügel im Département Haute-Marne, in der sie aufgewachsen war. Ein ruhiges, altes Städtchen, fast ausgestorben, in einer herrlichen Landschaft, voller Erinnerungen … Wie lange war sie nicht mehr dort gewesen? Zehn Jahre?

Plötzlich packte sie ein unbändiges Verlangen, diese Landschaft wiederzusehen, an der Stadtmauer entlangzuspazieren. Allein schon die Bilder, die nun vor ihrem geistigen Auge erschienen, waren ihr ein erster Trost.

2

Annabelle schickte eine Mail an ihre Assistentin, bat sie, ihre Termine zu verschieben, fuhr kurz nach Hause, um ein paar Sachen zu packen, und war wenig später auf der Autobahn.

Sie fuhr durch das Flachland der Brie, das waldreiche Département Aube, die hügelige Landschaft der Haute-Marne und erreichte schließlich die Landstraße, die nach Langres führte.

In den drei Stunden, die vergangen waren, seit sie Paris verlassen hatte, hatte sich ihr Herzschlag nach und nach beruhigt. Sie fuhr nun langsamer und freute sich über die Farbenpracht der Natur, jetzt, Ende Juni. Die Abendluft, die zum Fenster hereinwehte, roch intensiv nach Pflanzen und Erde.

Um diese herrliche Landschaft noch mehr zu genießen, hielt Annabelle irgendwann am Straßenrand, kurz vor der Abzweigung eines Wegs. Sie stieg aus dem Wagen, ging ein paar Schritte und merkte, wie erleichtert sie war, dem Lärm der Großstadt entkommen zu sein.

Eine lichte Hecke säumte den Weg. Dahinter entdeckte Annabelle eine Blumenwiese. Ohne lange zu überlegen, machte sie einen großen Schritt über einen Graben hinweg, ging an den Sträuchern vorbei und betrat die Wiese.

Sie war riesig. In der Ferne verengte sie sich zwischen zwei Wäldern, kam dann aber wieder zum Vorschein und erstreckte sich bis zu einem Hügel in der Ferne. Die Wiese war von einem herrlich satten Grün, mit Kornblumen und Butterblumen übersät; hier und da leuchteten auch ein paar Mohnblumen.

Annabelle bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu, so überwältigt war sie von diesem prächtigen Anblick. Es kam ihr so vor, als würde sie zum ersten Mal die Natur und die Existenz von Wildblumen entdecken.

Wie wunderschön es hier ist!

Bedächtig ging sie über diese Blumenwiese und ließ die Arme hängen, um die hohen Grashalme und Blüten an den Fingerspitzen zu spüren.

Wie zart ihr seid!

Ihre Augen saugten diese blühende Weite auf, die Farben, die Harmonie; sie atmete die Wohlgerüche ganz tief ein, als wollte sie sich daran berauschen.

Wie habe ich vergessen können, dass das Paradies so nah ist?

Vergrabene Erinnerungen ihrer frühen Kindheit erwachten nach und nach: Geräusche, Gerüche, der Schatten von Obstbäumen, das dichte Moos, mit Veilchen durchsetzt.

Plötzlich bekam sie Lust, über diese Wiese zu rennen. Die Pumps in der Hand, lief sie barfuß los. Vor lauter Begeisterung wurde sie schneller, lief hierhin und dorthin, nach links und nach rechts, übermütig wie früher als Kind. Sie genoss das Gefühl von Weite und Freiheit, nicht auf die Uhr schauen zu müssen.

Zu guter Letzt legte sie sich mitten in die Blumen und rollte sich im Gras.

Es ist einfach herrlich!

Auf dem Rücken blieb sie liegen, und ihr Blick fiel auf den lodernden Himmel. Eine Nachtigall sang aus voller Kehle; entzückt lauschte Annabelle den immer gleichen Klängen.

Danach legte sie sich auf den Bauch, betrachtete die Grashalme aus nächster Nähe, strich mit den Fingern an ihnen entlang, schnupperte an ihnen. Und wieder fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Diesmal lag es an der Beschaffenheit der Grashalme. Sie erinnerte sich, wie sie im elterlichen Garten ganze Grasbüschel ausgerissen und sich in die Taschen gestopft hatte, um sie unter ihrem Kopfkissen zu verstecken. Abends im Bett hatte sie die Halme dann gestreichelt, als wären sie ein Kuscheltier.

Bei dieser Erinnerung lächelte sie selig vor sich hin. Sie versuchte, die Bilder festzuhalten, doch die Vision löste sich auf. Da schloss sie die Augen und schlief, vom warmen Abendwind gestreichelt, inmitten der Wildblumenpracht ein.

Ein Frösteln ließ sie die Augen eine ganze Weile später wieder aufschlagen. Zuerst noch etwas benommen, streckte sie sich und stand dann auf. Es dämmerte bereits. Ihr elegantes Kleid, dessen Weiß sich von ihren rot lackierten Fingernägeln abhob, war übersät mit Grasflecken und Erde.

Annabelle wollte zurück zu ihrem Wagen. Suchend sah sie sich um und merkte, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, aus welcher Richtung sie gekommen war. So weit das Auge reichte, umgaben sie ringsum nur Wiesen und Felder, Bäume und Hecken, eine Landschaft, die sanft in die Dunkelheit glitt.

Instinktiv wollte sie nach ihrer Handtasche und ihrem Smartphone greifen, doch dann fiel ihr ein, dass sie beides im Wagen gelassen hatte.

Mist!

Sie versuchte, sich zu konzentrieren, und sah sich erneut um, bis sie in der Ferne etwas erspähte, was ein Weg zu sein schien. Sie griff nach ihren Schuhen und marschierte zügig los. Doch als sie bei dem Weg ankam, blieb sie ratlos stehen. In welche Richtung musste sie nun gehen?

Verdammt, ich erkenne gar nichts wieder.

Sie zögerte, schlüpfte in ihre Schuhe und entschied sich, dem Pfad nach links zu folgen. Als sich der Weg gabelte, blieb ihr erneut nichts anderes übrig, als sich auf ihren Instinkt zu verlassen. So auch die darauffolgenden Male. Erst bei Einbruch der Nacht gestand sie sich ein, dass sie sich restlos verlaufen hatte.

Na klasse, und jetzt?

Von der Dunkelheit überrascht und ohne die leiseste Ahnung, wohin sie gehen sollte, geriet sie nun doch in leichte Panik. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und lief dann mit hastigen Schritten und auf gut Glück los. Obwohl sie bald außer Atem war, redete sie sich gut zu: Es ist ja ganz schön auf dem Land, aber wenn man sich hier verläuft, ist es weniger cool … Ach, irgendwann werde ich schon etwas finden … Los, behalte dieses Tempo bei … verlier nicht die Hoffnung … Wir sind schließlich nicht in der Sahara … Je weiter ich gehe, desto größer die Chance, bald wieder in die Zivilisation zu kommen … Scheiße, was für unbequeme Schuhe!

Der Weg war nun mit hohem Gras überwuchert, was das Gehen um einiges anstrengender machte. Im Halbdunkel wäre sie mehrmals beinahe gestolpert. Schließlich, nach einer Kurve, konnte sie hinter einer Hecke in der Ferne endlich einen Lichtschein sehen, dann die Umrisse eines niedrigen, lang gezogenen Gebäudes. Ein Pfad schien darauf zuzuführen.

Annabelle blieb kurz stehen, um nach Luft zu schnappen, stieß einen erleichterten Seufzer aus und ging dann entschlossen auf das Licht zu; sie würde dort um Hilfe bitten.

Es waren sowohl Zufall als auch die Verkettung ihrer Entscheidungen, die sie zu etwas höchst Ungewöhnlichem führten, doch das ahnte sie zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

3

Georges Lesage, ein siebzigjähriger Landwirt, lag bereits im Bett. Er hatte sein Buch weggelegt und wollte gerade das Licht löschen, als jemand an seine Haustür klopfte.

Unerwarteten Besuch hatte er schon lange nicht mehr bekommen. Er zuckte zusammen, stand auf, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Unten im Halbdunkel hörte er eine weiche und etwas ratlose weibliche Stimme.

»Guten Abend, Monsieur!«, rief Annabelle. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie zu so später Stunde noch störe, aber ich habe mich verlaufen … Mein Wagen muss ganz in der Nähe stehen, aber ich weiß nicht mehr genau, wo. Könnten Sie mir bitte helfen? Ich weiß, es ist schon spät, und es tut mir sehr leid, aber jetzt, wo es dunkel ist, weiß ich mir nicht mehr zu helfen …«

Überrascht zog der Bauer die grauen Augenbrauen hoch. Im Gegenlicht des Fensters war nicht viel mehr von ihm zu sehen als die Umrisse seines stämmigen Körpers. Mit seiner tiefen Stimme antwortete er: »Hm, ich würde Ihnen ja gern helfen, Madame, aber ich habe weder ein Auto noch einen Traktor. Ich habe nur meine Ochsen.«

»Ach je. Was nun? Könnten Sie mir vielleicht eine Taschenlampe ausleihen?«

»Gut, warten Sie kurz. Ich komme runter.«

Der Bauer, der Annabelle einige Zeit später die Tür öffnete, hatte sich in Schale geworfen: Das weiße Hemd wies noch Bügelfalten auf, die schwarze Hose war nicht zerknittert, und die Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Fehlte nur noch das Sonntagssakko.

Annabelle wurde in den Eingangsbereich einer Longère gebeten, die aus einem einzigen großen Raum bestand, was typisch für diese Art Haus war. In der Mitte führte eine Treppe nach oben. Vor einem imposanten steinernen Kamin stand ein Couchtisch, der von einem cremefarbenen Sofa und wuchtigen Sesseln umgeben war. Ein Stück dahinter, im Halbdunkel, konnte Annabelle einen langen Esstisch und eine Anrichte ausmachen. Es gab mehrere Sprossenfenster, unter denen sich alte Futterkrippen befanden, die mit Büchern gefüllt waren. Überall sah Annabelle Bücher, in Stapeln auf dem Boden, auf dem Kaminsims, auf den Tischen, entlang der Wände – einfach überall.

»Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, wiederholte sie verlegen.

»Aber das macht doch nichts, Madame.«

Nun, da sie im Licht standen, konnte sie sehen, dass ihr Gegenüber ein groß gewachsener, breitschultriger älterer Mann war. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, von Wind und Wetter gegerbt und vom Alter gezeichnet. Dichte Brauen schirmten die kleinen Augen ab, die tief in den Höhlen lagen. Seine grau melierten Haare waren zerzaust. Er roch gut, nach Eau de Cologne.

Es gab nur wenig, was den Landwirt Georges Lesage aus der Fassung bringen konnte, doch diese charmante, hübsche, in seinen Augen noch junge Frau vermochte es. Er war kein Eremit, aber er lebte wie ein Mönch zurückgezogen auf dem Land, abgeschieden von den schlechten Manieren der Leute und der Anmut bezaubernder Frauen. Diese elegante Dame, die ihn unverfroren musterte, machte ihn deshalb ziemlich befangen.

»Wollen Sie ein Glas Wasser?«, brachte er schließlich über die Lippen.

»Oh nein, danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte sie, die es kaum erwarten konnte, wieder zu ihrem Wagen zu kommen.

Er hatte bereits eine Taschenlampe in der Hand.

»Wären Sie so freundlich, mich bis zur Straße zu begleiten?«, fragte sie und deutete auf die Lampe.

»Selbstverständlich. Aber welche Straße meinen Sie?«

»Ähm … die kleine Straße ganz in der Nähe«, sagte sie, als sei es offensichtlich.

»Es gibt drei Straßen, die nicht allzu weit weg sind.«

»Ach je …«

Annabelle merkte, dass sie in Panik geriet und ihr Tränen in die Augen stiegen, was dem Bauern natürlich nicht entging.

»Keine Angst, Madame«, sagte er zuversichtlich, »wir werden Ihr Auto finden … Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?«

»Paris«, antwortete sie mit zittriger Stimme.

»Und wohin wollten Sie?«

»Nach Langres.«

Sie blickte auf den Boden, denn sie wollte nicht, dass er ihre feuchten Augen sah.

»Aha, dann muss es die Straße nach Langres sein!«, rief er triumphierend, um sie zu trösten. »Die liegt hier am nächsten.«

Sie lächelte schwach und tupfte sich die Wangen ab.

»Alles wird gut, Madame. Ich bringe Sie gleich hin!«

Was für ein einfühlsamer Mann.

Wenig später marschierten sie los. Der Duft von Geißblatt begleitete sie.

4

Anfangs schwiegen beide. Der Bauer leuchtete vor ihnen auf den Weg, und ihre Augen konnten den dunklen Horizont, dem sie entgegenschritten, mehr erahnen als sehen.

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