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Du und ich und das Meer

Brighton 1954: Mary und ich sind 8 Jahre alt. Nichts kann uns auseinanderbringen. Dank einer Tüte Süßigkeiten haben wir uns kennengelernt - und gemeinsam sind wir unbesiegbar.

Brighton 1963: Mit 17 teilen Mary und ich alles miteinander: Höhen und Tiefen, Familiendramen, Hoffnungen und Träume. Wir arbeiten im selben Kaufhaus, tanzen in unserer Freizeit auf dem Palace Pier und haben uns in zwei miteinander befreundete Männer verliebt … Umso weniger kann ich es fassen, dass Mary mich nun so betrügen konnte - und dass sie mir auf die schmerzhafteste Weise die zwei Menschen genommen hat, die ich am meisten auf der Welt liebe …

"Was ich von diesem Roman halte? Ich liebe ihn! Er ist so wunderbar und so fesselnd, weil so viel Wahrheit in der Geschichte steckt."

The Book Cafe


  • Erscheinungstag: 10.10.2016
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676359
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Brighton 1965

Du betrachtest deine Füße, während du den Krankenhausflur entlanggehst, und deine Absätze klappern über den Boden. Draußen, auf der anderen Seite der schweren Schwingtüren, hast du einen sonnigen Julitag hinter dir gelassen. In der Stadt herrscht fröhliches Treiben. Der Tag ist strahlend hell, es geht ein laues Lüftchen, und in Brighton tummeln sich Urlauber und Leute, die alle die Sonne genießen. Kinder spielen am Strand, Erwachsene sitzen Zeitung lesend auf Liegestühlen, essen Eis und amüsieren sich. Die Verkäufer machen gute Geschäfte. Sie verkaufen bunte Windrädchen, Eimerchen und kleine Schaufeln, Zuckerwatte und Papierschachteln mit Herzmuscheln und Schnecken. Musik dringt aus den Plattenläden und Cafés und vom Rummelplatz am Ende des Piers herüber. Der trockene, intensive Geruch von Zuckerwatte vermischt sich mit dem der salzigen Seeluft und dem von heißem Frittierfett – allein der Gedanke an diesen Duft lässt deinen Magen knurren.

Im Innern des Krankenhauses ist es immer dasselbe; alles ist dunkelbraun, es riecht nach Desinfektionsmittel, Bohnerwachs, nach sterbenden Blumen und Tränen. Dir wird jedes Mal ein wenig schwerer ums Herz, wenn du zu Besuch kommst. Du brauchst nicht mehr zu überlegen, wo du entlanggehen musst; inzwischen bist du so oft hier gewesen, dass du an der Stationstür anlangst, ohne zu wissen, wie du überhaupt da hingekommen bist. Mit den Besuchszeiten nehmen sie es eigentlich sehr genau hier, doch seit ungefähr einer Woche hat sich niemand mehr darüber beschwert, dass du etwas früher kommst. Die gertenschlanke Krankenschwester mit der Bienenkorbfrisur legt ihr Strickzeug weg und lächelt dir zu, als du die Station betrittst. Du nennst sie Audrey Hepburn.

„Sie sind ihre Freundin, nicht wahr?“

Du nickst.

„Bitte warten Sie einen Augenblick hier“, sagt sie.

Du bleibst stehen und senkst den Blick, denn sonst sähest du die Gesichter der Leute in den Betten, und du weißt nie, wie du sie ansehen sollst. Es kommt dir unpassend vor zu lächeln, aber was sollte man sonst tun? Also schaust du nach unten auf die Rosen in deinen Händen. Sie sind gelb mit rötlichen Sprenkeln am äußeren Rand des Blütenblatts.

Du hältst die Blumen hoch, um ihren Duft einatmen zu können. Sie riechen süß, der Duft erinnert dich an zu Hause und deine Eltern.

Und so bleibst du stehen und wartest, die Blumen in der Hand, bis die Krankenschwester zurückkehrt.

Sie legt dir eine Hand auf den Arm.

„Sie hat keinen guten Tag gehabt“, sagt die Krankenschwester sanft. „Sie ist sehr müde. Das verstehen Sie doch sicher?“

Du nickst.

Die Krankenschwester lächelt dich an. Sie beugt sich vor und streicht dir das Haar aus den Augen.

„Sie sind sehr tapfer“, sagt sie. „Sie hat Glück, eine Freundin wie Sie zu haben.“

Doch die Krankenschwester weiß nicht, was du getan hast, wie du deine Freundin verraten hast. Sie kennt die Wahrheit nicht.

ERSTES KAPITEL

1963

Mary Pickles und ich liefen Arm in Arm die Straße entlang und sahen in die Schaufenster. Die Sonne schien und zauberte Lichtreflexe auf die Motorhauben der Ausflüglerautos. Brighton war geschäftig wie stets im Sommer. Wir liefen zügig in perfektem Gleichschritt, und mein Herz schäumte förmlich über beim Gedanken an all das, was wir mit einem freien Tag so alles anfangen konnten. Ab und zu warf mir Mary einen Blick zu und lächelte, und ich lächelte zurück. Ich glaube, wir fühlten beide dasselbe; wir waren beste Freundinnen, und gemeinsam waren wir unschlagbar.

Es war Samstag. Mary Pickles und ich hatten es geschafft, denselben Tag freizubekommen, was schon fast an ein Wunder grenzte. In der Regel musste mindestens eine von uns samstags arbeiten, üblicherweise sogar wir beide, doch unsere Abteilungsleiterin Sally hatte besonders gute Laune, weil sie bei Marks & Spencer angesprochen und gefragt worden war, ob sie bei der Wahl zur Miss Brighton antreten wolle. Deshalb – und weil sie uns mochte – hatte Sally zugestimmt, dass wir beide diesen Samstag im Sommer freinehmen konnten.

Hier waren wir nun also, mitten in Brighton, und hatten weiter nichts zu tun, als uns zu vergnügen. Wir liefen auf der High Street auf und ab, betrachteten die Schaufenster, sahen uns nach Jungs um. Mary begutachtete immer wieder ihr Spiegelbild in den Scheiben und lächelte bei dem, was sie sah. Ihr dunkles Haar war mit einem gelben Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; sie wirkte hübsch und adrett. Vor Woolworths, die das größte Schaufenster auf der High Street hatten, machten wir halt. Hier arbeiteten wir beide.

Ich stand für gewöhnlich in der Kosmetikabteilung und Mary bei den Süßwaren, denn Sally meinte, sie sei zu klein, um in der Kosmetikabteilung zu arbeiten. Mary war mehr als verstimmt darüber, aber ich fand, dass Sally recht hatte. Mary war so klein, dass es aussehen würde, als wäre niemand da, wenn sie hinter dem Tresen der Kosmetikabteilung mit den Gestellen voller Lippenstifte und Lidschatten stünde. Ich hatte es Mary nicht erzählt, denn ihre Körpergröße war ein empfindliches Thema für sie. Sie war noch empfindlicher deswegen als ich wegen meines Gewichts, und das wollte etwas heißen.

Woollies war an diesem Samstag brechend voll, Frauen mit Einkaufstaschen und kleinen Kindern an der Hand und Männer, die Farbe und Zeitungen kauften. Mary schnitt hinter dem Rücken von Mr. Rankworthy, dem Leiter der Heimwerkerabteilung, Grimassen, doch als er ans Schaufenster trat, lächelte sie und winkte ihm zu. Man konnte sehen, wie er dahinschmolz. Sie hatte diese Wirkung auf die Leute.

Mr. Rankworthy kam nach draußen und zündete sich eine Zigarette an.

„Was machst du hier an deinem freien Tag?“, fragte er und schielte Mary auf die Brüste.

Sie trug ein enges, kurzärmliges Oberteil, in dem sie fantastisch aussah.

„Gibt es nichts Besseres für dich zu tun an einem Samstag? Hast du keinen Freund?“

Er sprach zu Mary, als wäre ich überhaupt nicht da. Das war die Wirkung, die ich auf Leute hatte.

Mary lächelte. „Warum wollen Sie wissen, ob ich einen Freund habe, Jeffrey?“, fragte sie. Sie leckte sich mit der Zunge über die Lippen und blickte ihn aus weit geöffneten Augen an. Mr. Rankworthy zerrte am Kragen seines Overalls.

„Komm schon“, sagte ich und zog sie am Arm. Ich mochte Mr. Rankworthy. Doch ich mochte es nicht, wie sein Gesicht rot wurde und wie er schwitzte, wenn er Mary ansah. Außerdem war es bescheuert, unseren einzigen freien Tag in der ganzen Woche damit zu verbringen, vor dem Laden herumzustehen, in dem wir arbeiteten.

Ich war nicht etwa undankbar oder so.

Jeder wusste, dass man in Brighton keinen besseren Arbeitsplatz finden konnte als bei Woolworths. Während der Sommermonate gab es in der Stadt jede Menge Jobs in den Spielhallen, in den Süßwarengeschäften und den Verkaufsbuden am Strand. Für die Ferienzeit war das gut, aber im Winter hatten die meisten dieser Läden geschlossen. Woolworths gehörte zu den wenigen Geschäften, die das ganze Jahr über zu tun hatten, die Bezahlung war gut, die Arbeitskleidung in Ordnung, und das Team bestand aus aufgeweckten, meist jungen Mitarbeitern. Auch die Kundschaft waren meist junge Leute, die zum Stöbern und auf einen Schwatz vorbeischauten. Seit wir die Schule verlassen hatten, arbeiteten Mary und ich schon bei Woolworths. Auch wenn wir uns darüber beklagten, dass wir fast unsere ganze Zeit dort verbringen mussten, arbeitete ich doch gerne dort, wenn ich aufrichtig war. Es war so, als würde ich einen Jugendtreff besuchen und noch dafür bezahlt werden. Ich ging sehr gern hin, doch für Mary war Woolworths nie gut genug. Ihr Herz schlug für Paris.

Als wir davonschlenderten, seufzte Mary theatralisch und sagte: „Nun ja. Wenigstens werde ich Mr. Rankworthy nicht mehr lange ertragen müssen.“

„Warum nicht?“, fragte ich. „Geht er weg?“

„Nein“, entgegnete Mary lachend, „er wird hierbleiben, bis er steinalt ist. Nein, ich bin es, die fortgehen wird, zum L’Institut d’Art.“

Sie strahlte mich an, als sie mir diese Freudenbotschaft verkündete, und ich sagte nur: „Aber sicher.“

Mary stemmte die Hände in die Hüften. „Oh, Dottie“, sagte sie, „könntest du nicht vielleicht versuchen, ein wenig mehr Begeisterung zu zeigen?“

„Könnte ich versuchen“, antwortete ich, doch ich wusste, dass mir das nicht gelingen würde, denn davon, dass Mary weggehen wollte, war ich nicht im Geringsten begeistert.

Mary verfolgte einen Plan. Denselben, den sie schon in der Schule gefasst hatte. Sie wollte Künstlerin werden. Sie wollte die Welt bereisen und malen.

Als ersten Schritt sah dieser Plan vor, eine Kunstakademie in Paris zu besuchen. Es war eine besondere Schule; nur die besten jungen Talente wurden dort angenommen – diejenigen, die es ernst meinten. Mary wollte für drei Jahre nach Paris gehen und an dem Institut studieren. Ich verstand nicht, warum sie Brighton verlassen wollte. Schließlich gab es auch hier eine gute Kunsthochschule und jede Menge Motive, die es zu malen lohnte. Aber nein, Mary hatte ihr Herz an Paris verloren. Wir bogen um die Ecke in eine Seitenstraße und wandten uns in Richtung Meer.

Aus den Spielhallen drang Musik, und auf den Gehwegen drängten sich die Leute. Die meisten lächelten, und alle waren sommerlich gekleidet.

„Du musst mitkommen, wenn ich gehe!“, sagte Mary. „Das wird großartig werden! Stell dir vor, wie wir beide am Ufer der Seine sitzen oder auf die Spitze des Eiffelturms klettern. Stell dir vor, wir würden in Paris leben, Dottie, in dieser wundervollen Stadt! Die Welt würde dir zu Füßen liegen!“

„Da müsste ich mich ja bücken!“

„Sehr witzig.“

„Wie auch immer“, sagte ich zu ihr. „Leute wie wir gehen nicht an solche Orte.“

„Was meinst du damit, ‚Leute wie wir‘?“

„Na ja“, erwiderte ich, „Leute, die in Siedlungen mit Sozialwohnungen leben. Leute, die bei Woolworths arbeiten.“

Mary verdrehte die Augen. „Manchmal versteh ich dich einfach nicht.“

„Warum?“

„Wo du wohnst und arbeitest, bestimmt doch nicht, was aus dir wird! Paul McCartney hat schließlich auch nicht aufgehalten, dass er in einer Siedlung mit Sozialwohnungen aufgewachsen ist! Ich bin Mary Pickles, und du bist Dottie Perks, und wir sind genauso gut wie jeder andere auch, und wenn wir auf den Eiffelturm steigen möchten, dann werden wir das gefälligst auch tun.“

Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass Mary eines Tages auf jenen Turm klettern würde. Aber ich würde das wohl nicht tun. Ich wollte nicht aus Brighton weggehen, denn ich fand es schön hier. Die Arbeit bei Woolworths machte mir Spaß, und ich lebte gern in der Siedlung. Ich wollte so sein wie meine Mutter, eines Tages heiraten und Kinder bekommen. Das war alles, was ich wollte.

Mary musste meine Gedanken erraten haben. „Die Welt beginnt und endet nicht in Brighton, weißt du.“

„Ich weiß. Aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wegzugehen. Vielleicht wenn ich älter bin. Nachdem ich geheiratet habe und wenn meine Kinder groß sind.“

Mary schnaubte entrüstet. „Du wirst zu alt sein, um noch Spaß daran zu haben. Bevor ich nicht mindestens dreißig bin, werde ich nicht heiraten, und ich will ganz bestimmt keine Kinder haben.“

„Wie bitte? Du meinst, niemals?“

„Niemals!“

„Liebe Güte“, entfuhr es mir.

„Und du darfst auch keine bekommen.“

„Und warum nicht?“

„Nicht bevor du viel älter bist, weil ich ohne dich nicht berühmt werden kann. Ich brauche dich an meiner Seite.“

„Okay“, sagte ich nur.

„Gut“, sagte Mary zufrieden. Sie drückte meinen Arm. „Und eines Tages werde ich eine weltbekannte Künstlerin sein und mit dem Mann, den ich liebe, auf der Spitze des Eiffelturms stehen.“

„Erst mal musst du ihn finden.“

„Das werde ich“, erwiderte sie lächelnd.

ZWEITES KAPITEL

Nachdem wir die High Street ein paarmal auf und ab gelaufen waren, gingen wir in Richtung Uferpromenade. Wir setzten uns auf das Geländer und sahen zu, wie das Licht sich in den Wellen brach, die die Kiesel am Strand mit einem prasselnden Geräusch aufwirbelten. Hinter uns kamen Busse an. Wir unterhielten uns über die Leute auf der Arbeit. Es machte ganz schön Eindruck auf Mary und mich, dass Sally zu dem Schönheitswettbewerb gehen würde. Das war so ziemlich das Größte, was sich hier bei uns jemals zutrug. Selbst wenn sie nicht gewinnen würde, erschien ihr Bild doch im Argus, und sie würde Ken Dodd treffen, eines der Jurymitglieder. Mädchen, die bei der Wahl zur Miss Brighton gut abschnitten, waren für uns andere so etwas wie Superstars.

„Ken Dodd! Kannst du das glauben?“, fragte Mary. Sie versuchte, den Saum ihres Rocks nach unten zu halten, doch die Brise riss ihn ihr immer wieder aus den Händen und pustete ihn nach oben wie ein Föhn. Ich bedauerte, mich für eine blassrosa Caprihose entschieden zu haben, denn sie war ein wenig eng geschnitten und ließ meine Oberschenkel noch dicker wirken, als sie ohnehin schon waren.

„Wenn sie gewinnt, wird sie zur Wahl der Miss Sussex weiterkommen“, sagte ich zu Mary und zog an meinem Hosenbund, um ihn etwas weiter zu machen.

„Und dann zu den Wahlen zur Miss England, danach zur Miss United Kingdom, schließlich zur Miss Europe und endlich zur Miss World. Stell dir das mal vor! Wir kennen jemanden, der berühmt wird!“

„Pssst …“, zischte Mary und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um. „Hinter dir!“ Ich schielte Mary über meine Sonnenbrille hinweg an.

„Jungs!“, raunte sie mir zu.

Ich spähte über meine Schulter, und tatsächlich lief da eine kleine Gruppe von Jungen auf die Uferpromenade zu. Sie rempelten sich gegenseitig mit den Ellbogen an, rauchten und redeten zu laut, so wie Jungen eben sind.

Sofort schlugen wir die Beine übereinander und setzten entsetzlich gelangweilte Gesichter auf. Ich kaute ausgiebig auf meinem Kaugummi herum, und Mary begutachtete ihre Fingernägel. Wir konnten förmlich spüren, wie uns die Jungs von oben bis unten musterten, als sie vorbeiliefen.

„Morgen, Schätzchen!“, sagte einer von ihnen zu Mary.

„Ich bin nicht dein Schätzchen“, versetzte Mary.

„Du weißt ja nicht, was du da verpasst, Liebling“, entgegnete der Junge.

„Ignorier ihn“, sagte ich zu ihr, doch ich hätte mir die Worte sparen können.

„Was wäre das denn?“, fragte Mary und lächelte zuckersüß. „Dein geistreiches Geplauder oder deinen ungewaschenen Hals?“

„Lass sie“, sagte einer der Jungs, „sie sieht aus, als wäre sie erst zehn.“

Die anderen Jungen lachten.

Mary sprang von dem Geländer.

So elegant ich konnte – also nicht besonders – stieg ich hinab und fasste Mary am Ellbogen.

„Lass gut sein, Mary, das sind doch nur kleine Jungs, die sind’s nicht wert“, sagte ich geringschätzig.

„Gehen wir zum Plattenladen.“

„Ja, gehen wir. Uns könnten dort ein paar Männer über den Weg laufen.“

Wir hakten uns unter und liefen in die Stadt zurück, in Richtung des Plattenladens In-A-Spin. Wann immer wir gemeinsam einen Tag freihatten, gingen wir dorthin. Allein machte es mir einfach nicht so viel Spaß wie mit Mary. Die Jugendlichen kamen nicht nur wegen der Platten, sondern weil sie sich dort gegenseitig beschnuppern konnten. An der Verkaufstheke arbeitete ein ziemlich hipper Junge. Er trug spitze Schuhe und Pullover und war total lässig. Er wirkte immer gelangweilt, es sei denn, er sprach mit anderen jungen Männern über die neuesten Musiktrends. Dann wurde er richtig lebhaft und gesprächig. Er machte den Eindruck, absolut alles zu wissen, was man über die neuesten Bands wissen musste. Im Aschenbecher auf der Theke lag immer eine brennende Zigarette, und er schien ständig eine Tasse Kaffee zu trinken. Die Wände des Ladens waren von Postern bedeckt, und die Platten stapelten sich in den Regalen. Vorne im Laden standen die Top Twenty-Singles, und die Langspielplatten waren nach Interpreten sortiert. Wir hatten nie genug Geld für LPs, aber wir kauften uns gerne Singles. Mary und ich standen total auf eine Band aus Liverpool, die sich The Beatles nannte. Ich schwärmte ziemlich für Paul McCartney, und Mary war verrückt nach John Lennon, die beide in der Band spielten. Meine Schwester Rita hatte mir ein Poster der Beatles geschenkt, das über meinem Bett klebte. Rita mochte The Dave Clark Five lieber. Mary nahm eine Single aus dem Regal, From Me to You. Sie tänzelte zu mir herüber und hielt sie in die Höhe, damit ich sie sehen konnte.

„Die werd ich mir mal anhören!“, kündigte sie an. „Wie sieht’s mit dir aus?“

Ich grinste. „Please, Please Me“, sagte ich zu ihr.

„Okay“, entgegnete Mary. „Wir können ja tauschen, wenn wir mit dem Anhören fertig sind.“

Wir sagten dem Jungen hinter der Theke, welche Platten wir anhören wollten, und gingen in zwei nebeneinanderliegende Kabinen. Sie waren aus Glas, sodass wir uns sehen konnten.

Wir setzten die Kopfhörer auf, und schon hatte Paul mich davongetragen. Auch wenn es in der Band noch drei andere Jungs gab, Pauls Stimme hörte ich immer heraus. Er hatte die verträumteste Stimme der ganzen Welt, und wenn ich die Augen schloss, stellte ich mir vor, dass er nur für mich sang. Ich war so in ihn verschossen – für Paul McCartney hätte ich alles getan, absolut alles.

Als ich die Augen wieder öffnete, schien Mary in der Kabine nebenan eine Art Anfall zu bekommen. Sie wedelte mit den Armen herum, sprang auf und ab, hatte strahlende Augen und war völlig rot im Gesicht. Die Platte schien ihr wirklich Spaß zu machen. Ich winkte und hörte Paul weiter zu. Plötzlich hämmerte Mary an die Scheibe und wedelte eindringlich mit den Händen.

„Was ist?“, formten meine Lippen lautlos. Sie entgegnete etwas, das ich nicht verstand, also nahm ich meine Kopfhörer ab, öffnete die Tür und steckte den Kopf in ihre Kabine.

„Was ist denn los?“

„Sieh mal dort! Im Laden!“, quietschte sie und sprang dabei auf und ab. Sie zeigte in Richtung Theke, wo ein schlaksiger Junge stand. Er wirkte noch hochgewachsener als das letzte Mal, als wir ihn gesehen hatten.

Ich nahm an, dass er für jemanden, der auf Jungs mit langem Hals und engen Hosen stand, gut aussah. Er warf ständig seine Haare zurück und hatte einen leicht überheblichen Blick. Es war tatsächlich Elton Briggs. Als wir noch auf der Schule waren, hatte Mary für ihn geschwärmt. Neben ihm stand Ralph Bennett. Mein Herz schlug schneller, und ich spürte, wie ich rot wurde. Mary hatte die Kabine verlassen, strich sich den Rock glatt und warf ihren Pferdeschwanz nach hinten. Ich griff nach meiner Tasche. Sie hakte sich bei mir unter und flüsterte mir zu: „Sieht er nicht unglaublich gut aus?“

Aber ich sah nicht Elton an, sondern Ralph.

„Geh hin und sag ihm Hallo“, drängte Mary und schubste mich leicht.

„Geh du doch hin und sag Hallo“, entgegnete ich.

„Sei nicht so fies“, sagte Mary. „Du weißt doch, was mir Elton bedeutet!“

„Bedeutete“, korrigierte ich sie. „Als du ihn das letzte Mal gesehen hast, hatte er Beverly Johnson gerade seine Zunge tief in den Rachen geschoben.“

„Damals war nicht die richtige Zeit für uns, Dottie, aber jetzt ist es so weit – ich weiß einfach, dass es so ist!“

Manchmal dachte ich, dass sich Mary gut auf der Bühne machen würde. Sie klang wie einer dieser Filmstars, völlig verzweifelt und zum Äußersten entschlossen.

„Bitte, Dottie“, bettelte sie, und ihr kleines Gesicht sah völlig verzweifelt und traurig aus. Was blieb mir also anderes übrig, als das zu tun, was ich immer tat, wenn Mary traurig war? Ich gab nach.

„Okay“, sagte ich. „Aber ich möchte wetten, dass sie sich nicht einmal an uns erinnern werden.“

„Danke!“, erwiderte Mary, die auf wundersame Weise sofort wieder gute Laune hatte und in ihrer Tasche nach ihrer Puderdose fischte, um zu prüfen, wie sie aussah.

Ich ging zur Theke und stellte mich neben Elton. Ich blickte auf die Haare in seinem Nacken und räusperte mich. Er ließ mich völlig links liegen.

„Hast du Telstar von den Tornados?“, fragte er den Jungen hinter der Theke.

„Eine sehr gute Wahl“, sagte der hippe Junge und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Sie haben diesen Track im Wohnzimmer ihres Produzenten aufgenommen“, ergänzte er, und Elton plusterte sich regelrecht auf, so wichtig fühlte er sich, als ob er es gewesen wäre, der Telstar in seinem Wohnzimmer aufgenommen hatte.

„Hallo“, sagte ich zu ihm.

Langsam drehte Elton sich um und sah mich missbilligend an, als wäre ich eine Kakerlake, die gerade unter einem Brett hervorgekrochen war. Ich lächelte ihn hoffnungsvoll an. Sein Aftershave ließ ihn nach Auto riechen, nach Leder und Benzin. Ganz langsam musterte er mich von oben nach unten, doch er sagte nichts.

„Hallo, Dottie“, sagte Ralph und warf mir um Elton herum einen freundlichen Blick zu.

Dankbar lächelte ich ihn an. Er erwiderte mein Lächeln, und ich lächelte ein wenig stärker. Elton machte ein ziemlich verächtliches Gesicht, und ich erinnerte mich daran, was ich eigentlich tun sollte.

„Ich bin mit Mary hier“, sagte ich. „Mary Pickles.“ Ich warf einen Blick über meine Schulter. Mary versteckte sich hinter einem der Plattenregale außerhalb von Eltons Blickfeld.

Sie hielt beide Hände mit gedrückten Daumen in die Höhe und nickte mir aufmunternd zu.

„Ihr beide wart schon in der Schule immer zusammen“, sagte Ralph. Seine Stimme war sanft und tief, mehr wie die eines Mannes als die des Jungen, an den ich mich erinnerte.

„Genau wie ihr zwei“, erwiderte ich.

„Eine Begegnung mit der Vergangenheit“, sagte Ralph lächelnd.

„Yeah“, antwortete ich und lächelte zurück. Wir konnten nicht aufhören, uns gegenseitig anzulächeln.

Elton verdrehte die Augen, wandte sich ab und begann, die Sonderangebote im Regal neben der Theke durchzusehen. Er schien nicht im Geringsten an der Unterhaltung interessiert zu sein. Ralph mochte sich vielleicht verändert haben, doch Elton war noch genauso arrogant und aufgeblasen wie früher.

Mary schien mich abgeschrieben zu haben. Sie kam zu uns herüber, quetschte sich zwischen Elton und mich und glotzte zu ihm hoch wie ein liebeskrankes Hündchen.

Er nahm nicht die geringste Notiz von ihr, sondern fuhr damit fort, die Platten zu durchforsten.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und kam mir allmählich ein wenig dumm vor, wie ich da so stand.

„Willst du denn keine Platte kaufen?“, fragte Elton Ralph.

„Sicher, gleich“, antwortete dieser. Sein Nacken war leicht gerötet.

„Lust auf einen Kaffee?“, fragte er plötzlich.

„Da gibt es ein gutes Café gegenüber vom Palace Pier“, schlug Mary vor. Sie sprach schnell und mit sehr hoher Stimme und lächelte von einem Ohr bis zum anderen. „Es heißt Dells. Sie haben eine Jukebox dort und einen Kickertisch.“

„Und sie machen wirklich guten Kaffee“, fügte ich hinzu. Ich musste etwas trinken. Mein Mund war trocken und fühlte sich an, wie es im Innern eines Kinderwagens aussah, voller Staubflusen und Kekskrümel.

„Klasse“, sagte Ralph. Er warf Elton, der uns immer noch nicht beachtete, einen Blick zu.

„Warum treffen wir uns nicht dort, so in etwa zwanzig Minuten? Ist das in Ordnung für dich, Elton?“

Elton sah Mary und mich an, als ob er uns erst jetzt bemerken würde.

„Meinetwegen“, sagte er mit gelangweilter Stimme.

Ich konnte spüren, wie Mary neben mir vor Aufregung fast in Ohnmacht fiel.

„Also abgemacht“, sagte Ralph. „Wir sehen uns in zwanzig Minuten.“

Mary und ich bezahlten unsere Platten. Der hippe Junge steckte sie in Papiertaschen und reichte sie uns. Ich war mir die ganze Zeit über bewusst, dass Ralph uns zusah, was seltsam war, denn es war doch nur der Ralph Bennett von früher. Es war ja nicht so, dass wir uns nicht kannten, obwohl – in gewisser Weise vielleicht doch.

Ich war ziemlich erleichtert, als Mary und ich endlich den Laden verließen und in Richtung des Cafés gingen.

DRITTES KAPITEL

Mary und ich hatten Elton und Ralph seit dem Ende unserer Schulzeit vor zwei Jahren nicht mehr gesehen. Und jetzt standen die beiden plötzlich hier in unserem Plattenladen!

„Ich glaub, ich fall in Ohnmacht“, sagte Mary mit theatralischer Geste.

„Aber fall bitte nicht auf mich drauf“, erwiderte ich trocken.

„Hast du mitbekommen, wie er mich angesehen hat?“

„Hab ich tatsächlich. Er hat dich so angesehen, als wärst du eine Kakerlake, die gerade unter dem gleichen Brett hervorgekrochen ist wie ich kurz zuvor.“

„Elton schaut immer so, er ist einfach total cool.“

„Er kommt quasi aus der Antarktis“, sagte ich sarkastisch.

„Dottie, das ist total wichtig für mich. Vielleicht ist das der wichtigste Tag in meinem Leben!“

Ich lächelte. „Ja, vielleicht ist er das ja.“

„Ich möchte jetzt rennen.“

„Wie bitte?“

„Ich möchte rennen und rennen und rennen.“

„Könnten wir nicht einfach zügig laufen?“

„Oh, du Dottie Perks, du!“

„Oh, du Mary Pickles, du!“

„Ich hab Elton nie vergessen, weißt du.“

„Das hab ich jetzt auch kapiert, aber irgendwie hatte ich gehofft, du hättest ihn vergessen. Du hast nicht mehr von ihm geredet, seit wir die Schule verlassen haben.“

„Nur weil ich wusste, dass du ihn nicht magst.“

„Ich kenn ihn doch gar nicht. Alles, was ich von ihm weiß, ist, dass er dich immer völlig aus der Fassung gebracht hat.“

„Das gehört zum Verliebtsein dazu, Dottie. Man verletzt immer denjenigen, den man liebt.“

„Ist das so?“

„Na ja, das sagt zumindest Clarence Frogman Henry.“

„Wer um alles in der Welt ist Clarence Frogman Henry?“

„Er ist der Typ, der das Lied You Always Hurt the One You Love gesungen hat.“

„Also ich finde nicht, dass man denjenigen, den man liebt, verletzen muss. Ich glaube, es ist sinnvoller, nett zu dem zu sein, den man liebt.“

„Du musst noch viel über die Liebe lernen“, sagte sie, ergriff meine Hand und fing an zu rennen.

„Ich glaube, das halte ich nicht für nötig“, rief ich und stolperte hinter ihr her.

Wir waren erst ein kurzes Stück gerannt, als ich ihre Hand losließ und mich an eine Wand lehnte.

Mary lief zu mir zurück.

Ich nahm den Inhalator aus der Hosentasche, atmete die Medizin ein und hielt die Luft an.

„Das hatte ich vergessen“, sagte Mary kleinlaut.

„Ich weiß schon.“

„Ich vergesse das immer.“

„Ich weiß.“

„Wir laufen ganz langsam!“, schlug sie vor. „Wir könnten auch kriechen, und wenn irgendjemand etwas sagt, dann sagen wir zu ihm, dass er Leine ziehen soll!“

„Du bist echt blöd.“

„Ich weiß, ich bin reizend, nicht wahr?“

„So kann man es auch ausdrücken.“

„Geht’s dir besser?“

„Viel besser.“

Langsam liefen wir die West Street hinunter und weiter zur Uferpromenade. Menschenmassen drängten sich um das Aquarienhaus und in den kleinen Läden, deren Schaufenster voll waren von Brighton-Rock in Klarsichtfolie, diesen rosa glänzenden kleinen Zuckerstangen, wie sie in den Küstenstädten verkauft werden, und Plastikrädchen für die Kinder, die sie in den Wind halten konnten. Wir hatten uns an die ganzen Urlauber gewöhnt, die im Sommer mit ihren Regenschirmen, ihren Plastikmatten und ihren lärmenden Kindern herkamen. Die Zuckerstangen in den Süßwarengeschäften waren für sie. Mary und ich hatten nie davon gekauft, und wir waren auch noch nie im Aquarienhaus gewesen. Als ich noch klein war, hatte meine Mutter immer gesagt, wenn ich jemals davon äße, würde ich am Ende keine Zähne mehr haben. Meine Schwester Rita hatte geantwortet, dass das bei mir eher eine Verbesserung darstellen würde. Sehr charmant, meine Schwester, nicht wahr?

„Wie seh ich aus?“, fragte Mary.

„Du siehst hübsch aus.“

„Was meinst du damit, ich sehe hübsch aus? Ich muss mehr als hübsch aussehen, hübsch ist so gewöhnlich. Ich muss besser als gewöhnlich aussehen – außergewöhnlich muss ich aussehen!“

„Du siehst fantastisch aus“, sagte ich zu ihr. „Wirklich.“

„Hast du Lippenstift dabei?“

„Dann hast du also keinen?“, fragte ich zurück.

„Ich würde dich ja nicht fragen, wenn ich welchen hätte“, entgegnete sie.

„Na ja, auch wenn du welchen dabei hast, fragst du immer.“

„In Gottes Namen – hast du nun welchen oder nicht?“

„Ein wenig, aber du musst ihn mit einem Streichholz herausbefördern.“

„Hast du ein Streichholz?“

„Ich glaube nicht.“

„Weißt du eigentlich, wie anstrengend du manchmal sein kannst?“

„Hat man mir gegenüber gelegentlich erwähnt. Ich habe da eine Haarklammer, damit sollte es gehen.“

„Welche Farbe?“, fragte sie.

„Was, die Haarklammer?“

„Nein, Dummkopf, der Lippenstift natürlich.“

„Die Farbe heißt Corn Silk, eine Art Aprikosenton. Er passt gut zu deinem Pulli.“

Bevor wir das Café betraten, gingen wir noch zum Frisiersalon Flick ’n’ Curl auf der anderen Straßenseite, weil sie dort diesen großen Spiegel im Schaufenster hatten. Hier konnte Mary sich den Lippenstift auftragen. Ich fand die Haarklammer, brachte es fertig, etwas von dem Lippenstift herauszubekommen, und verteilte es auf Marys Lippen. Sie presste sie aufeinander und bewegte sie hin und her, um den Lippenstift zu verteilen. Wie ein Kind stand sie vor mir und hielt ihr Gesicht hoch. Mit der Zunge befeuchtete ich einen Zipfel meines Taschentuchs und säuberte ihr die Mundwinkel.

„Kann ich mich so sehen lassen?“, fragte sie.

„Du siehst fantastisch aus!“, bestätigte ich lächelnd.

In Dells Café drängten sich die Leute. Die Fenster hingen voller Aushänge, Konzertankündigungen und Filmplakate des Regent-Kinos. Ein köstlicher Duft hing in der Luft, es roch nach Kaffee und heißen, zuckrigen Doughnuts. Wir gingen hinein, und die erste Person, die wir erblickten, war Christine Smith, die an der Musikbox lehnte. Ihre beste Freundin, Angie Brown, stand an der Theke an. Beide arbeiteten in der Sackfabrik und hatten ständig diesen Fischgeruch an sich. Ich habe keine Ahnung, warum sie von der Arbeit in der Sackfabrik nach Fisch rochen, aber es war so.

„Alles klar bei euch?“, fragte Christine, als wir hineingingen. Bei der Hitze hatte sie ein rotes und feuchtes Gesicht. Sie steckte sich das letzte Stück eines Hotdogs in den Mund und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab.

„Ja, uns geht’s gut, danke“, antwortete ich.

„Arbeitet ihr noch bei Woollies?“

Ich nickte. „Und ihr in der Sackfabrik?“ Als ob dir das nicht anzumerken wäre, dachte ich.

„Klar tun wir das“, erwiderte Christine, als wäre das eine besonders alberne Frage.

„Was zahlen sie bei Woollies jetzt?“

„Drei Pfund und fünf Schillinge“, sagte ich.

„Ihr seid ja verrückt“, befand Christine. „Angie und ich bringen jede Woche fünf Pfund nach Hause.“

„Fünf Pfund!“, entfuhr es Mary.

„Liebe Güte!“, sagte ich. Wir waren beide ziemlich beeindruckt. Für fünf Pfund konnte man eine Menge Klamotten, Make-up und Platten kaufen.

„Und samstags haben wir frei“, fügte Christine hinzu.

„Was du nicht sagst!“ Jetzt begann sie, ein bisschen zu prahlen, aber was machte das schon, dachte ich. Zumindest stinken Mary und ich nicht nach geräuchertem Schellfisch.

Christine winkte Angie heran. Sie trank mit einem Strohhalm aus einer Coca-Cola-Flasche.

„Ich hab den beiden grade gesagt, dass sie verrückt sein müssen, bei Woollies zu arbeiten. Sie kriegen nur drei Pfund fünf die Woche und müssen samstags arbeiten.“

„Ich käme nie darauf, an einem Samstag zu arbeiten“, sagte Angie mit Entschiedenheit.

„Es ist gar nicht so schlimm“, entgegnete ich. „Heute zum Beispiel haben wir beide freibekommen.“

„Es würde mir nicht einfallen, an einem Samstag zu arbeiten.“

Das hast du gerade schon mal gesagt, dachte ich.

„Ihr solltet bei uns in der Sackfabrik arbeiten“, schlug Angie vor. „Wir amüsieren uns gut dort.“

„Macht dir der Gestank nichts aus?“, fragte Mary mit unschuldigem Gesichtsausdruck. Manchmal konnte sie ziemlich unhöflich sein, auch wenn sie es gar nicht so meinte.

„Was für ein Gestank?“, fragte Christine. Sie sah aufrichtig irritiert aus, kräuselte die Nase und schnupperte an ihrem Arm.

„Dieser fischige Geruch“, sagte Mary.

„Willst du damit sagen, wir stinken nach Fisch?“, brauste Christine auf.

„Nein“, warf ich schnell ein. „Ihr riecht nicht nach Fisch, es riecht nur ein bisschen fischig, wenn man hinter der Fabrik vorbeiläuft.“

„Das ist mir noch nicht aufgefallen“, sagte sie. „Hast du was davon bemerkt, Angie?“

„Was bemerkt?“

„Dass die Fabrik nach Fisch riecht.“

„Finde ich nicht.“

„Egal“, sagte Christine, „Mary würden sie dort sowieso nicht einstellen. Sie ist viel zu klein, um die Säcke zu stapeln. Da ist eine Mindestgröße vorgeschrieben.“

„Davon hab ich noch nie was gehört“, sagte Angie und runzelte die Stirn.

„Doch, das stimmt“, sagte Christine und funkelte sie an.

„Aber was ist dann mit Brenda Cooper?“, fragte ich. „Sie ist nicht viel größer als Mary, und sie …“

„Lust auf eine Runde Tischfußball?“, fragte Christine Angie und unterbrach mich.

„Wenn du magst“, sagte Angie.

Christine flüsterte Angie etwas ins Ohr, und sie gingen kichernd davon.

„Was für eine Frechheit“, sagte Mary entrüstet. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. Ich setzte mich neben sie. Die Tischplatte reflektierte Lichtstrahlen. Mary nahm ein Päckchen Zuckerwürfel aus der Schale auf dem Tisch und packte sie aus. Dann schob sie sich beide Zuckerwürfel in den Mund und begann, wütend darauf herumzukauen.

„Du solltest dir keine Gedanken darüber machen“, sagte ich.

„Tu ich auch nicht“, erwiderte sie.

Doch ich wusste, dass sie das tat. Es war Mary peinlich, wenn sich jemand über ihre Körpergröße ausließ. Ich saß da und wusste nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich meine Platte aus der Tasche. Eine neue Platte gab einem so ein besonderes Gefühl, es war wie damals, als ich als Kind in der Bücherei einmal ein Buch über die Fünf Freunde entdeckt hatte, das ich noch nicht kannte. Auf der Plattenhülle stand Parlophone. Ich fuhr mit dem Finger über den Schriftzug. Ich wünschte, die Jungs würden sich beeilen.

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf und knallte gegen den Mülleimer. Elton und Ralph betraten das Café. Wir befanden uns mehr oder weniger neben der Tür, sodass sie uns auf Anhieb sahen. Mary setzte sich aufrecht hin. Sie gab sich Mühe, den Zucker herunterzuschlucken und gelassen auszusehen. Elton blinzelte ihr zu, glättete sein Haar mit den Fingern und lief geradewegs an ihr vorbei. Mary sah mich an, um festzustellen, ob ich das Blinzeln bemerkt hatte, doch ich hatte jetzt keine Zeit für sie, da Ralph direkt vor mir stand. Ich nahm zum ersten Mal richtig wahr, wie groß er jetzt war, wie breitschultrig und wie erwachsen er wirkte.

„Nochmals hallo“, sagte Ralph und lächelte. Mir war so, als lächelte er nur mich an. Ich wand mich ein wenig auf meinem Stuhl und probierte, die Beine meiner Caprihose etwas länger zu ziehen.

„Hallo“, erwiderte ich und versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr ich mich freute. Danach fiel mir nichts mehr ein, das ich hätte sagen können. Mein Kopf war so leer gefegt wie der Strand an einem Schultag. Er war wie ein hohler Raum, durch den der Wind pfeifen konnte. Wie die Straßen unserer Siedlung, wenn alle zu Bett gegangen waren.

Nachdem ich nahezu anderthalb Minuten nichts herausgebracht hatte, räusperte sich Ralph und fragte: „Eine Runde Milchkaffee für alle?“

„Oh ja, gern“, erwiderte ich dankbar.

„Ja, danke“, sagte Mary.

Ralph ging zum Tresen, um Getränke zu bestellen, und ich folgte Marys Blick, der zu Elton zurückgewandert war. Er stand beim Kickertisch und plauderte mit Christine. Entweder befand er sich auf ihrer windabgewandten Seite, oder er hatte keinen Geruchssinn. Christine trug ein Vichy-Karokleid mit Knöpfen vorne und dazu passende Sandalen, und eigentlich sah sie ziemlich hübsch aus.

„Ist Elton nicht traumhaft?“, schwärmte Mary.

„So wird es wohl sein“, erwiderte ich. Besonders begeistert kann ich nicht geklungen haben, denn Mary fragte umgehend: „Was meinst du damit: Es wird wohl so sein?“

Ich musterte Elton. Er sah gut aus mit seinen spitzen Stiefeln, den engen Hosen und seinem modischen Haarschnitt, aber das war auch schon alles an ihm. Ich hatte nicht wirklich viel Erfahrung, aber Jungs wie ihn sah man öfter mal bei Woolworths. Sie flirteten immer, lächelten und sagten etwas Nettes zu einem. Sie gaben einem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein – doch einen Augenblick später hatte schon ein anderes Mädchen ihr Interesse geweckt, und ohne noch einen weiteren Gedanken an einen zu verschwenden, waren sie auch schon wieder weg. Meine Tante Brenda sagte immer, solche Jungs hätten alle „eine große Klappe und nichts dahinter“.

Mary starrte mich an und wartete auf eine Antwort.

„Elton ist einfach nicht mein Typ“, nuschelte ich. „Wir können schließlich nicht alle auf den gleichen Typ Jungs stehen, oder?“

„Aber Dottie, er sieht aus wie Mick Jagger!“

„Der ist auch nicht mein Typ.“

Sie sah mich an, als wäre ich verrückt.

„Und was ist dann dein Typ? Etwa Ralph Bennett?“

Das war als Scherz gedacht.

„Warum nicht?“, erwiderte ich.

„Ralph Bennett!!!“, schnaubte Mary und rümpfte die Nase so stark, als ob sie etwas Schlechtes riechen würde.

Ich warf einen Blick auf Ralph. Er stand am Tresen und bezahlte gerade unseren Kaffee. Ich war erleichtert, dass er mit dem Rücken zu uns stand.

„Er ist nett“, sagte ich. „Wenigstens spricht er mit uns! Zumindest zeigt er Interesse!“

„Er spricht mit dir“, korrigierte mich Mary. „Und außerdem hat er rotblonde Haare!“

„Dieser Typ aus der Westernserie Wagon Train hat auch rotblondes Haar, und du warst sogar in seinem Fanclub! Außerdem gibt es nichts auszusetzen an rotblondem Haar!“

„Ich weiß“, lenkte Mary ein. „Aber Ralph Bennett!“

„Also ich finde, dass er sich ganz gut gemacht hat. Pssst!“, zischte ich, „er kommt zurück.“

„Bitte schön, hier ist euer Milchkaffee“, sagte Ralph und stellte ein Tablett mit vier Tassen Kaffee vor uns auf den Tisch.

Elton merkte, dass Ralph zurückgekommen war. Er sagte etwas zu Christine, das sie sehr laut und auf ziemlich eindeutige Weise auflachen ließ, und schlenderte zu uns hinüber. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, dann streckte er die Beine lang vor sich aus und legte die Füße auf Höhe der Knöchel übereinander, sodass er ziemlich viel Platz beanspruchte. Wahrscheinlich wollte er zeigen, wie dünn und lang seine Beine waren. Mich ließ das ziemlich kalt, aber ich sah, wie es Mary auffiel. Elton sah tatsächlich ein wenig nach Mick Jagger aus, und er hatte die gleiche prahlerische Art.

Er nahm eine rote Schachtel Embassy aus seiner Jacke und knallte sie auf den Tisch. Dann schnippte er den Deckel auf und klopfte eine Zigarette heraus. Als er Mary und danach mir eine anbot, schüttelten wir beide den Kopf. Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel, zündete ein Streichholz an und hielt es in der hohlen Hand ans Ende der Zigarette. Er zog so lange daran, bis sie aufglimmte. Mary versuchte, nicht hinzustarren, doch er fing ihren Blick auf, und ich sah, wie er sie ein paar Sekunden lang sehr intensiv anschaute. Obwohl ich es gar nicht war, die er ansah, wurde mir warm, und ich begann, mich unwohl zu fühlen. Mary errötete und wandte sich ab. Sie spielte mit dem Ende ihres Pferdeschwanzes.

„Also erzählt doch mal …“, sagte Ralph, „was habt ihr so angestellt seit der Schule?“

Ich konzentrierte mich darauf, in meinem Kaffee zu rühren.

„Wir arbeiten bei Woollies“, sagte ich. „Und du?“

„Na ja, ich hab ’ne Weile bei der Eisenbahn gearbeitet, aber jetzt mache ich eine Ausbildung zum Klempner“, antwortete Ralph mit einem gewissen Stolz. „In der Ausbildung bekommt man nicht viel, aber sobald ich meinen Abschluss habe, sollte die Bezahlung ganz ordentlich sein. Dann werde ich mir einen Transporter besorgen und mich selbstständig machen.“

„Wenn bei euch also mal was leckt, dann ist Ralph euer Mann“, sagte Elton.

Mary kicherte, und Elton grinste sie an. „Mir würde im Traum nicht einfallen, den Kopf unter eine Spüle zu stecken!“, sagte er.

Weil dein dicker Kopf gar nicht unter eine Spüle passen würde, dachte ich.

Ich nippte an meinem Kaffee. Er war schön milchig und süß, köstlich.

„Was machst du jetzt, Elton?“, fragte Mary. Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen und blinzelte Elton an. Über der Oberlippe hatte sie einen ganz leichten Bart vom Milchschaum.

„Ich arbeite im Büro der Backfabrik, aber nur zum Überbrücken.“

„Unser Elton will Rockstar werden“, erklärte Ralph.

„Rockstar!“, rief Mary aus, wobei ihr die Augen fast aus dem Kopf fielen. Ihr schwappte etwas Kaffee über den Tassenrand und auf den Tisch, doch sie merkte es nicht einmal.

Elton achtete nicht darauf. Er versuchte, cool auszusehen, aber man sah ihm an, dass er die Aufmerksamkeit genoss.

„Ich spiele in einer Band“, sagte er. „Wir heißen Brainless.“

Na, das passt ja, dachte ich.

„Ich kann mich noch daran erinnern, wie du im Dome bei der Talentshow gewonnen hast“, sagte Mary ehrfurchtsvoll.

„Er wurde Dritter“, merkte ich an.

„Aber er hätte eigentlich gewinnen müssen“, entgegnete Mary und wandte sich wieder an Elton. „Du warst mit Abstand der Beste.“

Manchmal sagte Mary Dinge, die mich verletzten. Ich versuchte, es ihr nachzusehen, da ich wusste, dass es keine Absicht war, aber es fiel mir nicht immer leicht. Heute schien sie vergessen zu haben, dass auch ich an dem Wettbewerb teilgenommen hatte – und zwar nur, weil Mary Elton damals hatte besser kennenlernen wollen. Er war tatsächlich ziemlich gut gewesen, aber The Betty Bounce Dance Academy mit dem Titel Woodland Frolics und ein dickes Mädchen, das Jesus Wants Me for a Sunbeam trällerte, verdrängten ihn auf den dritten Platz. Meine unbegleitete Interpretation von The Merry Merry Pipes of Pan wurde sehr gelobt.

„Stimmt“, meinte Elton, „ich hätte gewinnen müssen. Eigentlich hatte ich geglaubt, den Sieg schon fest in der Hand zu haben.“

„Du warst großartig!“, lobte ihn Mary.

„Danke“, erwiderte Elton. Jetzt, da Mary ihm erzählte, wie toll er war, entspannte er sich und lächelte ihr zu. Beim Versuch, ihm nicht zu zeigen, wie angetan sie davon war, fiel sie fast in Ohnmacht. Unter ihrem Pony heraus warf sie mir immer wieder Blicke zu, um festzustellen, ob ich bemerkt hatte, dass er sie ansah.

„Die Band spielt am Samstag im Whisky A Go Go“, sagte Ralph. „Habt ihr Lust, hinzukommen und sie euch anzuhören?“

„Wahnsinnig gern“, rief Mary begeistert aus, „nicht wahr, Dottie?“

Ich wollte Ralph gern wiedersehen, so viel war sicher, aber meine Mutter würde nicht wollen, dass ich abends in einen Nachtclub ging – und dann auch noch ausgerechnet ins Whisky A Go Go, das keinen allzu guten Ruf hatte. Gewisse Vorfälle wurden hin und wieder in der Zeitung erwähnt. Vor einem Jahr hatte der Clubbetreiber tatsächlich seine Frau getötet. Ich musste ihr ja nicht sagen, dass ich hinging, doch ich verstand mich sehr gut mit meiner Mutter und wollte nichts hinter ihrem Rücken tun.

Ralph bemerkte mein Zögern.

„Lass es dir doch noch mal durch den Kopf gehen, Dottie“, schlug er vor. „Du musst dich nicht gleich entscheiden.“

„Sie muss es sich nicht durch den Kopf gehen lassen“, sagte Mary. „Wir kommen!“

Ich bedachte sie mit einem finsteren Blick, und sie zog eine Grimasse in meine Richtung.

„Seid ihr Mods oder Rocker?“, fragte Elton und lehnte sich so in seinem Stuhl zurück, dass dieser unsicher auf zwei Beinen wippte.

„Weder noch“, antwortete Mary.

„Na ja, ihr müsst doch entweder das eine oder das andere sein“, sagte Elton.

„Warum?“, entgegnete Mary.

Elton ließ den Stuhl wieder nach vorne kippen, und als er wieder auf seinen vier Beinen landete, knallte er gegen den Tisch, sodass unsere Kaffees überschwappten und in die Unterteller liefen.

Man sah Elton an, dass er die richtigen Worte suchte.

„Das tut doch jeder“, nuschelte er dann.

„Genau das ist es ja“, erklärte Mary. „Wir wollen nicht sein wie jeder andere. Dottie und ich sind Individualisten.“

Das war mir neu, aber die Vorstellung, Individualist zu sein, gefiel mir. Ich war wirklich stolz auf Mary, dass sie das gesagt hatte, statt zu versuchen, Elton zu beeindrucken.

„Was bist du denn?“, fragte Mary.

„Rocker natürlich. Nie im Leben würde ich diese tuntigen Mods-Klamotten anziehen oder etwa einen von diesen armseligen Rollern fahren, so ein Möchtegern-Bike!“

Ich blickte Ralph an. „Und du?“

„Oh, ich kann mir beides nicht leisten.“

„Im Herzen ist er Rocker“, sagte Elton und legte Ralph den Arm um die Schulter.

„Ich kann mir die Klamotten einfach nicht leisten“, meinte Ralph, schob seine Unterlippe nach vorn und versuchte, mitleiderregend dreinzuschauen. Wir mussten alle lachen, sogar Elton, was ihn gleich freundlicher aussehen ließ.

„In welche Clubs geht ihr so?“, fragte Elton.

„In gar keine“, erwiderte ich. „Wir gehen nur hier ins Café.“

„Das ist aber nicht wirklich angesagt.“

„Das muss es auch gar nicht sein“, entgegnete Mary.

„Aber du versuchst, am Samstag ins Whisky zu kommen?“, fragte Elton sie.

„Klar, warum nicht?“, antwortete Mary.

„Und du, Dottie?“, fragte Ralph. „Bist du bereit, mal etwas Neues zu wagen?“

„Sicher ist sie das“, sagte Mary. „Wenn es jemand nötig hat, mal etwas Neues zu wagen, dann ist das Dottie.“

„Gut“, sagte Ralph und lächelte mich an.

Ich lächelte zurück, und mein Herz zuckte ein wenig. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und starrte angestrengt in meine Tasse, aber ich konnte das Glücksgefühl nicht unterdrücken, das in mir hochkochte.

„Findet ihr auch, dass es irgendwie nach Fisch riecht?“, fragte Elton.

VIERTES KAPITEL

Seit wir kleine Mädchen waren, war ich Marys beste Freundin und sie meine. Die Leute lachten über uns – das große, dicke Kind mit der Brille und das winzig kleine Mädchen, das aussah, als könne es kein Wässerchen trüben. Von mir wurde üblicherweise gesagt, ich sei „keine Schönheit“, Mary hingegen war so hübsch, dass völlig Fremde auf sie zukamen, um ihr in die Wangen zu kneifen und sie dabei „kleiner Engel“ nannten.

Es hatte uns nie gekümmert, dass wir so unterschiedlich waren. Wir verschwendeten keinen Gedanken daran. Das war so seit dem ersten Mal, als wir uns getroffen hatten.

Die Sommerferien hatten gerade begonnen. Mein Dad hatte mir eine Handvoll Münzen gegeben und mich losgeschickt, um ihm in der Ladenzeile an der Ecke der Siedlung eine Packung Woodbines zu besorgen. Er hatte gesagt, ich dürfe mir von dem Wechselgeld ein paar Süßigkeiten oder ein Comic kaufen. Ich klimperte mit den Münzen in meiner Hosentasche, hüpfte ein bisschen und dachte darüber nach, was ich von dem unerwarteten Geldsegen kaufen würde. Gerade war ich oben an dem schmalen Gässchen angelangt, das zwischen unserer Straße und der Straße entlangführte, die hinten an unsere angrenzte. Da sah ich das Mädchen kopfüber am Geländer hängen. Ich konnte ihr Gesicht nicht wirklich sehen, da es von ihrem Rock bedeckt wurde; alles, was ich sehen konnte, waren zwei dünne Beinchen und ein marineblaues Höschen.

„Was glotzt du so?“, fragte sie mich. Als ich mich umblickte, um festzustellen, mit wem sie sprach, stellte ich fest, dass außer mir niemand da war.

„Redest du mit mir?“

„Na ja, ich kann nur ein einziges Paar Schuhe sehen, es sei denn, du versteckst noch ein paar andere Kinder hinter dir.“

„Nein, ich bin allein“, sagte ich.

Sie schwang sich plötzlich von der Stange hinunter, und als sie wieder richtig herum dastand, sah ich in die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Ich hatte schon immer in der See Saw Lane gewohnt und sie noch nie zuvor gesehen. Das Mädchen rieb sich mit dem Finger den Nasenrücken und sagte: „Ich bin Mary Pickles, und wie heißt du?“

„Dorothy Perks“, antwortete ich. „Meine Mum hat mich nach der Dorothy aus dem Zauberer von Oz genannt, aber alle sagen Dottie zu mir.“

Das Mädchen fixierte mich mit seinem Blick und fragte dann: „Wollen wir beste Freundinnen sein?“

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich eine beste Freundin gehabt. Ich stand meist eher abseits herum und hoffte darauf, dass mich jemand fragen würde, ob ich mitspielen wolle, was meistens nicht passierte. Jede Nacht betete ich um eine beste Freundin. Gut, darum und um ein Schaukelpferd. Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden, dass ich niemals ein Schaukelpferd bekommen würde – aber hier stand nun dieses hübsche kleine Mädchen und sagte, wir könnten beste Freundinnen sein.

„Ja, gerne“, antwortete ich.

„Auf welche Schule gehst du?“

„Auf die Whitehawk“, sagte ich.

„Da gehe ich auch hin“, stellte sie fest. „Dann gehen wir bestimmt in die gleiche Klasse.“

„Wie alt bist du?“, fragte ich sie.

„Achteinhalb“, antwortete sie, nahm zwei Dauerlutscher aus ihrer Rocktasche und reichte mir einen. „Ich hab nur ein paarmal dran gelutscht, da ist noch eine Menge übrig.“

„Danke“, sagte ich und steckte ihn in den Mund. Ich lutschte eine Weile daran herum und sagte dann: „Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

„Das liegt daran, dass wir gerade erst hergezogen sind.“

„Oh.“

„Wie ist es so?“, fragte sie.

„Wo, hier in der Gegend?“

„Nein, die Schule.“

Ich wusste nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Für mich war es schließlich einfach Schule, man musste jeden Tag hingehen, ob man wollte oder nicht.

„Und?“

„Es ist ganz okay, glaub ich.“

„So schlimm, hm?“

„Na ja, ich werde gehänselt.“

„Warum?“

„Weil ich dick bin.“

„Pass auf, bald werden sie dich nicht mehr hänseln, Dottie Perks“, sagte sie und grinste.

„Werden sie nicht?“

„Weil sie es sonst mit mir zu tun kriegen.“

Wir lächelten uns an, und in diesem Augenblick war es uns beiden, als ob gerade etwas Wunderbares und Besonderes geschehen wäre.

„Ich hole jetzt besser mal die Kippen für meinen Dad“, sagte ich.

„Okay“, erwiderte sie. „Bis gleich.“

Ich rannte zu dem Laden, um Dads Zigaretten zu besorgen und meine Süßigkeiten auszusuchen. Ich hatte drei Pence zum Ausgeben, und dafür bekam man eine ganze Menge Süßigkeiten. Ich überlegte hin und her, was ich kaufen sollte. Black Jacks machten die Zunge ganz klebrig und schwarz, aber an Dauerlutschern hatte man ewig. Die Leute in der Schlange hinter mir fingen an, unmutig zu tuscheln, doch Mr. Orme sagte zu ihnen: „Das Mädchen ist genauso zahlender Kunde wie Sie, meine Damen, und es ist sein gutes Recht, sorgfältig zu wählen, was es kaufen möchte.“

Ich grinste ihn breit an und entschied mich für eine Mischung aus Black Jacks und Dauerlutschern.

„Könnten Sie sie bitte in zwei Tütchen packen“, bat ich Mr. Orme.

„Aber gewiss, gnädiges Fräulein“, antwortete er und zwinkerte mir zu.

Ich stopfte Dads Kippen in meine Hosentasche und ging zurück zum Gässchen, wo Mary wieder am Geländer hing.

„Ich habe dir ein paar Süßigkeiten gekauft“, sagte ich verlegen. Mary schwang sich nach oben und setzte sich auf die oberste Stange.

„Danke“, sagte sie. Sie fischte in der Tüte herum, holte einen Black Jack heraus und wickelte ihn aus. Eine Weile war sie ganz aufs Kauen konzentriert, dann fragte sie: „Möchtest du dich auch mal neben mir kopfüber dranhängen? Es ist reichlich Platz, wenn ich ein wenig rüberrutsche.“

Ich betrachtete das Geländer und versuchte, mir vorzustellen, wie das wohl wäre.

„Nein, danke“, antwortete ich dann.

„Warum nicht?“

„Meine Beine sind zu fett, ich würde herunterfallen.“

„Du solltest es versuchen.“

„Warum?“

„Weil es so ist, als würde man die Welt irgendwie auf den Kopf gestellt betrachten.“

„Ich würde sie lieber gleich richtig herum betrachten“, entgegnete ich.

„Du weißt nicht, was du verpasst.“

Ich hüpfte ein wenig auf dem Gehweg herum, um das Thema zu wechseln.

„Ich geh dann mal lieber“, sagte ich schließlich. „Mein Dad wartet bestimmt schon auf seine Kippen.“

„Ich komme später bei dir vorbei, wenn du magst. Wo wohnst du?“

„See Saw Lane fünfzehn.“

„Ich wohne in der Sechsundvierzig.“

„Dann bis nachher“, sagte ich und rannte den Durchgang entlang. Ich spürte die Aufregung in meinem Bauch. Plötzlich wirkte die Welt viel heiterer und fröhlicher und versprach mehr Spaß. Ich war schon halb durch das Gässchen gelaufen, als ich hörte, wie Mary meinen Namen rief.

„Dottie!“

Ich rief zurück: „Mary!“, und wir riefen uns unsere Namen so lange zu, bis ich am Ende des Gässchens angekommen war.

„Dottie!“

„Mary!“

„Dottie!“

„Mary!“

„Dottie!“

So würden wir uns einander für den Rest unseres Lebens nachrufen.

FÜNFTES KAPITEL

Mary Pickles ging nicht gern zur Schule. Auch ich ging nicht besonders gern hin, und ich kannte wirklich niemanden, der das gern tat, außer vielleicht Betty Baxter, aber die aß auch Sandwichs, bei denen die Kruste abgeschnitten war. Sie war das Lieblingskind der Lehrer. Mary war ziemlich gut in Kunst, doch sie mochte die Kunstlehrerin nicht. Miss Philips brachte einen schäbigen alten Krug von zu Hause mit und steckte ein bisschen Unkraut hinein. Das ließ sie uns dann zeichnen, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, las eine Zeitschrift und aß von den Süßigkeiten, die sie in ihrer Schublade aufbewahrte. Jeden November mussten wir ein Bild von der Bonfire Night anfertigen.

Eines verregneten Nachmittags war ich also fröhlich ins Malen vertieft und setzte alle Farben ein, die in den Töpfen waren, um etwas zustande zu bringen, das entfernt einem Bonfire, einem großen Lagerfeuer, ähnelte. Ich war sehr darauf konzentriert, die richtige Farbmischung für das Feuer hinzubekommen, das in den Nachthimmel emporschoss.

Als ich damit fertig war, gefiel es mir gar nicht mal so schlecht. Vielleicht hatte ich es mit dem Rot etwas übertrieben, aber Mary hatte das Orange in Beschlag genommen, also hatte ich nicht viel Auswahl gehabt.

„Wie findest du es?“, fragte ich sie und schob mein Meisterwerk über den Tisch.

„Wie oft hast du genau dieses Bild schon einmal gemalt?“, fragte Mary zurück.

„Wovon redest du?“

„Von diesem Bild. Wie viele Male hast du es schon gemalt?“

„Ich weiß nicht.“

„Aber ich“, sagte sie. „Du hast es zu jedem verdammten Bonfire Night-Gedenktag in den letzten vier Jahren gemalt.“

„Das wird wohl so gewesen sein“, sagte ich kichernd. „Was hast du denn gemalt?“

Sie schob ihr Blatt zu mir hinüber.

Ich starrte auf das Bild und dann auf Mary.

„Das ist ein Teller mit Baked Beans auf Toast“, stellte ich verwundert fest.

„Den hatte ich an der Bonfire Night zum Abendessen.“

Das erklärte das mit dem Orange.

„Sie wird dich umbringen.“

„Ich glaube nicht, dass sie sich die Bilder überhaupt ansieht. Ich wette, dass sie alles samt und sonders in die Tonne wirft, sobald wir den Klassenraum verlassen haben.“

„Nicht das von Betty Baxter, das wird sie an die Wand hängen“, warf ich ein.

„Betty Baxter hat nicht für zehn Pennys Talent zum Malen.“

Marys Aussage überraschte mich, denn eine Wand in unserem Klassenzimmer sah aus, als wäre es eine private Kunstsammlung von Betty Baxters Werken.

Ich schielte Mary durch meine farbverspritzten Brillengläser hindurch an.

„Du bist ein sehr seltsames Mädchen, weißt du das?“

„Oh, das will ich doch hoffen“, entgegnete Mary lächelnd.

Und dann war da noch Erdkunde, Marys zweitliebstes Fach.

Eines Tages saßen Mary und ich nach einer besonders langweiligen Stunde an unserer Lieblingsstelle unter dem großen Baum auf dem Pausenhof. Mary hatte schlechte Laune.

„Ich möchte etwas über die Länder erfahren“, sagte sie missmutig. „Nicht über irgendwelche Felsen.“

„Wovon redest du?“

„Ich rede von verfluchten Felsen, das ist alles, worüber sie dauernd spricht. Große Felsen, kleine Felsen, schwarze Felsen, rote Felsen, bla, bla, bla. Eines Tages werde ich um die Welt reisen, Dottie, und ich will mehr über die Länder wissen als nur, welches Felsgestein es dort gibt.“

Ich hatte mir noch nie allzu viele Gedanken um den Unterricht gemacht. Ich ging einfach in die Klasse und tat, was auch immer man mich zu tun hieß, und dann vergaß ich es wieder. Kein einziges Mal hatte ich gedacht: „Oh, ich wünschte, sie hätte uns über dies oder jenes etwas beigebracht.“ Jemanden wie Mary hatte ich nie zuvor getroffen. Sie fuhr fort: „Also, wenn ich so etwas wie ein Gesteinsforscher werden wollte, dann wäre ich wahrscheinlich im Vorteil. Und in meinem ersten Buch über Steine würde ich sie dann lobend erwähnen und schreiben, dass ich das ohne sie nie geschafft hätte.“ Mary drehte sich eine Haarsträhne um die Finger.

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