×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Familie und andere Trostpreise«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Familie und andere Trostpreise« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Familie und andere Trostpreise

Sonny hat eine Menge Neurosen, und es erscheint ihm völlig normal, die Flucht zu ergreifen, wenn Menschen in seiner Gegenwart diese seltsamen Knutsch- und Sauge-Geräusche mit ihren Mündern machen. Und dann ist da noch seine Umschlagophobie, die Riesenangst vor Briefumschlägen! Leider erbt Sonny an seinem 21. Geburtstag nicht nur ein Vermögen, sondern bekommt auch fünf geheimnisvolle Briefe. Nur sie können ihm helfen, endlich mehr über sich und seine merkwürdige Familie herauszufinden. Doch wie soll er anfangen, wenn er sich noch nicht einmal traut, die Umschläge zu öffnen?

"Urkomisch und herzzereißend!" ok-magazin.de

"Höchst unterhaltsam und damit ideal für den Sommerurlaub!" Laviva

"Die perfekte Urlaubslektüre für Strand, Park oder Balkonien." idee-fuer-mich.de

"Ich habe es geliebt, diesen verrückten Helden auf seinem Trip zu begleiten. Und McDonaghs Beschreibung des Gurus trifft genau den Nerv der Zeit, jetzt wo ein Narzisst im Weißen Haus sitzt."
Goodreads Leserstimme/ Bookish Beck Blog

"Eine klassische Coming of Age-Geschichte über Identität, Abhängigkeit, Narzissmus und Neurotik."
Big Issue

"Hoffnungsvoll und unterhaltsam."
Elizabeth Enfield, Autorin von "Ivy und Abe"


  • Erscheinungstag: 02.07.2018
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677608
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ben

MEIN MAKING-OF

Als ich einundzwanzig wurde, veränderte sich, was mich betraf, nicht viel, zumindest nicht in physischer Hinsicht. Ich bin nicht größer geworden. Ich bin nicht dicker geworden. Zwick mich ruhig mal, Du wirst kein zusätzliches Gramm Fleisch auf diesen Knochen finden. Selbst wenn wir die einzigen Überlebenden in dem Wrack eines abgestürzten Flugzeugs wären, würdest Du mich nicht zum Abendessen verspeisen wollen.

Aber trotzdem ist nichts mehr so, wie es war. Mein Name ist länger geworden, wenigstens offiziell, und mein Kontostand hat zugelegt – stark zugelegt. Ich habe jetzt einen britischen Bona-fide-Pass und weiß nicht mehr genau, wo ich eigentlich zu Hause bin.

Wer ich bin? Gute Frage. Erst war ich Sonny Anderson. Jetzt heiße ich von Amts wegen Sonny Anderson Agelaste-Bim, aber ich bleibe lieber erst mal bei Sonny Anderson. Dein Sohn. Ein einundzwanzigjähriger Ex-Drogenabhängiger und seit Neuestem Multimillionär. Sehr erfreut, Dich (nicht) kennenzulernen.

Vor fast genau einem Monat habe ich die magische Altersgrenze überschritten, ich bin jetzt einundzwanzig. Damals – denn es fühlt sich bereits an, als sei es eine verdammte Ewigkeit her – war Redondo Beach in Südkalifornien, auch RB/SoCal genannt, mein Zuhause, wo ich, wie Du ja schon weißt, seit meinem elften Lebensjahr unter der Vormundschaft eines Thomas Hardiker gelebt habe. Bei dem englischen Wort für Vormund, guardian, das auch Wächter bedeuten kann, muss ich immer an diese Wachposten vor den Toren des Buckingham-Palasts denken, wie sie unter dem Gewicht ihrer großen Bärenfellmützen hervor ins Leere starren. Sie halten die Realität außen vor und denken an Pizza oder Fußball, oder vielleicht messen sie auch die Zeit anhand des Sonnenstands. Wie auch immer. Möglicherweise tun sie das ja tatsächlich. Von außen betrachtet sehen sie wie Männer aus, die versuchen, eine ganz Welt voller Mist fernzuhalten, indem sie einfach stillstehen. Und das ist gar keine so leichte Aufgabe, oder? Tja, diese Aufgabe hat Thomas auf sich genommen, als er die Verantwortung für mich übernahm. Du solltest ihm dafür dankbar sein.

In der Schule wusste niemand, dass Thomas nicht mein Dad ist. Wahrscheinlich ist es einfach niemandem eingefallen zu fragen, obwohl wir ein Erwachsener und ein Junge mit ganz unterschiedlichen Namen waren, die zusammen unter einem Dach lebten. Hätten sie gefragt, dann hätte ich, um das Rätsel aufrechtzuerhalten und um es kurz zu machen, wahrscheinlich gesagt, dass Anderson der Nachname meiner Mutter ist, was ja auch der Wahrheit entspricht, nicht wahr? Wenn sie dann direkt nach Dir gefragt hätten und warum Du nicht da bist – was sie natürlich nie getan haben –, hätte ich ihnen aufgetischt, dass Du schon gestorben wärst, als ich noch klein war. Ich hielt das für eine prima Methode, um jedes Gespräch im Keim zu ersticken. So lange, bis meine Freundin am College, dem USC – nennen wir sie Anna –, ständig alles wissen wollte, über alles Mögliche, das ich selbst nicht einmal wusste. Ich musste mit ihr Schluss machen, damit sie mit der Fragerei aufhörte.

Mein Einundzwanzigster wurde natürlich keine dieser üblichen Sauftouren, bei denen man in einer Limousine von Kneipe zu Kneipe zieht und feierlich seine falschen Ausweise, mit denen man bisher seine Volljährigkeit »nachgewiesen« hatte, verbrennt. So einen Blödsinn habe ich vor langer Zeit mal mitgemacht, aber inzwischen halte ich mich aus so was heraus. Auf die Mehrheit meiner Mitschüler am College trifft das allerdings nicht zu. In der Abschlussklasse an der University of Southern California (USC) wurde einer nach dem anderen einundzwanzig, und das Jahr war eine einzige, nicht enden wollende Geburtstagsparty, gesponsert von den (*Nichtzutreffendes bitte streichen) *schuldbewussten, *nostalgischen, *allzu nachsichtigen Eltern derjenigen, die sich für meinesgleichen hielten.

In einem seiner Bücher schreibt Malcolm Gladwell (Du weißt doch sicher, wen ich meine), dass im Oktober geborene Kids in der Schule besser sind als diejenigen aus derselben Jahrgangsstufe, die später geboren wurden. Für dieses Phänomen liefert er verschiedene Erklärungen, an die ich mich nicht mehr erinnere (mein Gedächtnis hat etwas gelitten), aber ich habe eine eigene Theorie dafür, auf die er nicht gekommen ist. Meine Theorie lautet: Die von September bis Oktober geborenen Babys sind später in der Schule besser, weil sie diesen ganzen »Hurra! Ich bin volljährig«-Mist gleich zu Beginn des Abschlussjahres hinter sich bringen. Bis Thanksgiving sind sie von dem Ganzen bereits so übersättigt, dass sie beschließen, sich aus dem anhaltenden Chaos einfach herauszuhalten. Dadurch halten sie die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns während ihres letzten Semesters auf einem Maximum und zeigen zur geeigneten Zeit eine gute Leistung. – Keine Ursache, Malcolm, gern geschehen.

Mein Geburtstag ist der sechste Juni (wie Du Dich erinnern wirst oder vielleicht auch nicht), was bedeutet, dass ich erst nach dem College-Abschluss einundzwanzig wurde; nach Gladwells Theorie sollte mein Prüfungsergebnis im Vergleich zu den überragenden Ergebnissen der Oktobergeborenen also genau am anderen Ende angesiedelt sein, doch ich wich von dieser Norm ab. Ich hatte inzwischen den ganzen Narcotics-Anonymous-Kram durchexerziert und hielt mich zusammen mit meinen leistungsorientierten Mitschülern von dem ganzen Party-Unfug fern. Infolgedessen schnitt ich ganz gut ab. Klar bin ich stolz auf meinen Notendurchschnitt, aber ich werde ihn Dir nicht verraten, denn das wäre angeberisch und unbritisch.

Hier noch ein paar Hintergrundinformationen zu meiner Person. Laute Geräusche lassen mich zusammenfahren, und viele andere, leisere Geräusche, wie schmatzende Kussgeräusche zum Beispiel, erwecken in mir den Wunsch, die Faust gegen die Wand oder in die Gesichter zu schmettern, die diese Geräusche erzeugt haben. Es macht mich nervös, wenn Fremde an der Tür sind. Zufällig auf der Straße angesprochen zu werden ist mir höchst suspekt. Selbst die kleinste Veränderung in meinem Tagesablauf muss – vielleicht sollte ich lieber sagen musste, denn ich nehme mal an, dass mich die jüngsten Offenbarungen verändert haben – ganz langsam eingeführt werden, über Tage oder Wochen hinweg, und im Idealfall überhaupt nicht. Thomas, mein bereits erwähnter Vormund, weiß besser als jeder andere, wie sehr ich jegliche Veränderung hasse, und ganz besonders Überraschungen. Doch selbst Thomas mit der Bärenfellmütze – die stelle ich mir zumindest immer an ihm vor – konnte den gewaltigen Tsunami nicht aufhalten, der an dem Tag, an dem ich einundzwanzig wurde, über mich hereinbrach. Ganz im Gegenteil – Thomas war es sogar, der ihn in Gang gesetzt hatte.

An diesem schicksalhaften Tag weckte mich wie üblich der Geruch von Bacon, der gerade in der Pfanne schmorte. Ich wälzte mich in T-Shirt und Shorts aus dem Bett und torkelte zombiemäßig in die Küche. Man muss nicht weit torkeln, um in die Küche zu gelangen. Unser Haus ist klein und einstöckig, ein dem Meer zugewandter Bungalow, der mit Schindeln aus Holz verkleidet ist und nicht mit diesen grässlichen Vinylschindeln, wie Thomas die Außenverkleidung des Nachbarhauses nennt. Der Bungalow gehört uns nicht, wir haben ihn nur gemietet, aber wir wohnen nun schon so lange darin, dass die Eigentümer wahrscheinlich vergessen haben, dass er ihnen gehört. Vielleicht sind sie auch schon gestorben und niemand ist auf die Idee gekommen, uns zu benachrichtigen. Ob sie nun tot sind oder lebendig, auf jeden Fall haben wir inzwischen seit ungefähr acht Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Wir mussten zwar nie so eine Termitenausräucher-Aktion mit Zelt machen lassen, aber wenn ein Holzstück aus einem Fensterrahmen bricht oder sich an einem Regentag zeigt, dass das Dach undicht ist, wirft sich Thomas in seinen Arbeitsoverall, flickt die betreffende Stelle selbst und zieht das, was es gekostet hat, von der Monatsmiete ab. Für das, was er an Miete zahlt, hätte er das Haus wahrscheinlich schon dreimal kaufen können; eigentlich sollte es inzwischen uns, besser gesagt: ihm, gehören, dachte ich damals. Na gut, das könnte etwas übertrieben sein, damals hatte ich schließlich noch keine Ahnung, was Häuser so kosten. (Wenn ich »damals« sage, dann meine ich damit vor einem Monat, okay? – Nur um das klarzustellen.) Inzwischen weiß ich, was alles kostet.

Im Gegensatz zu Dir haben wir von unserem Haus eigentlich keinen richtigen Blick aufs Meer, aber wenn man zwei Blöcke weiter nach Westen geht, ist da schon der Pazifik. Wenn die Bojen draußen beim Pier auf den Wellen schaukeln und wir in einer ruhigen Nacht auf unserer Terrasse seitlich vom Haus sitzen, trägt der Wind das Bellen der Seehunde und die Glockengeräusche vom Hafen zu uns herüber. Thomas spricht Boje wie Boy aus (Du wahrscheinlich auch). Ich habe die amerikanische Aussprache übernommen und sage wie alle hier in RB immer »Buu-i«, aber hauptsächlich, um Thomas zu ärgern. Auch wenn er schwört, dass er den Atlantik nie wieder überqueren wird, gibt er sich doch ziemlich viel Mühe, unseren britischen Akzent wenigstens zu Hause beizubehalten. Laut zu sprechen ist in unserem Haus verboten. Die gefährlichste Drohung, die Thomas seit Jahren von sich gegeben hat, besteht in einem Schild, das er über unserer Tür angebracht hat, auf dem steht: Du sollst nicht die Stimme erheben in diesem Haus der Läuterung.

Aber ich schweife ab.

Zurück zu den Enthüllungen. An jenem Morgen meines einundzwanzigsten Geburtstags roch es überall im Haus nach gebratenem Bacon. Der Mann am Herd, der das Schwein in der Pfanne wendete (hört sich das für Dich obszön an?) und dabei seinen guten Anzug für Meetings und besondere Anlässe mit einer geblümten Schürze – die er nebenan von Milly-Anna geliehen und nie zurückgegeben hatte – vor Fettspritzern schützte, war ebenjener Thomas Hardiker, Vormund und Leitwolf. Ihm folgte ich stets genauso wie der Große Dudini, unser Hund, der neben der Tür saß und ein Nasenloch auf den Bacon richtete und das andere wegen der Stinktiere in Alarmbereitschaft hatte.

»Du siehst aus wie ein Transvestit«, sagte ich zu Thomas. Wir sind nicht immer so supernett zueinander, wie es in SoCal die ganze Zeit von einem erwartet wird. Zu Hause werfen wir uns Dinge an den Kopf, die wir uns in der Öffentlichkeit nicht zu sagen trauen würden. Und ungeachtet des Namens, den Du für mich ausgesucht hast, habe ich kein sonniges Gemüt. Wir haben kein sonniges Gemüt. Thomas sagt, das liegt daran, dass wir Briten sind. Wir haben es ganz gern, wenn ab und zu eine nette dunkle Wolke über uns schwebt. Und das ist auch gut so, denn es hat, bildlich gesprochen, bereits einige gegeben.

Aber selbst diese metaphorischen Wolken haben sich an meinem einundzwanzigsten Geburtstag ein wenig verzogen.

»Guten Morgen und alles Gute zum Geburtstag«, begrüßte mich Thomas. Mit dem fettigen Pfannenwender tippte er eindringlich auf die Uhr am Herd und fügte hinzu: »Vielmehr zu dem, was davon noch übrig ist.« Die Zeiger dieser Uhr stehen seit unserem Einzug auf zwanzig vor acht. In der Küche im Haus der Läuterung ist es immer morgens. Oder abends. Selbst eine stehen gebliebene Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an, sagt Thomas. Zweimal täglich. Haha! Er hasst diese Uhr, es nervt ihn höllisch an, dass er es nicht geschafft hat, sie zu reparieren, und er hat sich echt Mühe gegeben, das kannst Du mir glauben.

Es gab keine Pläne für den Geburtstag. Pläne ändern sich, sind austauschbar – fungibel. Im Haus der Läuterung bevorzugt man Rituale und gleichbleibende Routine. Das Geburtstagsritual besteht aus einem Brunch um zwölf mit Bacon-Avocado-Tomaten-Butties ohne Mayo (Butties nennen wir die Sandwiches, aber nur zu Hause), dem Anschauen eines Films, den sich das Geburtstagskind ausgesucht hat und der während des Brunchs und des Auspackens der Geschenke läuft (ich wähle immer Shaun of the Dead), einer Wanderung in der Gegend – auch hier hat das Geburtstagskind die Wahl (Topanga Canyon) – und dann einem Abendessen in einem vom Geburtstagskind gewünschten Restaurant (Nelson’s) an dem Tisch, der von allen anderen am weitesten weg steht – und zwar wegen des Problems mit den schmatzenden Kussgeräuschen, das ich vorhin schon mal erwähnt habe. Meine Wahl traf ich diesmal genauso wie letztes und vorletztes Jahr. Davor war ich noch nicht in der Lage gewesen, mir irgendetwas auszusuchen. Wenn ich einmal etwas ausgewählt habe, ist es nicht mehr austauschbar; es ist nicht fungibel.

Bei einem gewöhnlichen Geburtstag bringt man das Geschenkeauspacken ohne großes Brimborium ruckzuck hinter sich, schließlich werden materielle Werte im Haus der Läuterung nicht hochgehalten – und bis Shaun zum ersten Mal die Straße überquert hat, um zu Nelson’s Laden zu gelangen, bin ich meistens schon damit durch. (Mal im Ernst: Solltest Du Shaun of the Dead noch nicht gesehen haben – der Film wird auch SOTD genannt, ausgesprochen SOD, das T ist stumm –, dann solltest Du das jetzt vielleicht besser mal tun, denn ich werde häufig darauf Bezug nehmen.)

Der einzige Hinweis darauf, dass dies kein gewöhnlicher Geburtstag war, bestand darin, dass Thomas’ abgenutzte alte quietschgelbe Tragetasche mit dem Logo von Amoeba Records von ganz allein aufrecht auf dem Küchentisch stehen blieb, statt wie sonst halb leer über dem Stuhl zu hängen. Das konnte nur bedeuten, dass sich darin erheblich mehr Geschenke befanden als in den letzten Jahren. Ich schätzte, dass das Geschenkeauspacken dieses Jahr mindestens bis zu der Stelle dauern würde, an der Ed Shaun erzählt, dass da ein Mädchen in ihrem Garten herumstolpert. (Übrigens ist Amoeba von allen Geschäften in L. A. Thomas’ und mein Lieblingsladen. Wir spielen immer ein Spiel, wenn wir dort hingehen – vielleicht magst Du es ja mal ausprobieren, wenn Du in der Gegend bist; ich gehe davon aus, dass sie dort eine Abteilung für Religiöses haben. Es geht so: Erstens sucht man sich eine Musikrichtung aus, zweitens geht man zu den entsprechenden Kisten mit der reduzierten Ware aus dem besagten Genre, sucht sich dort drittens drei Schallplatten aus, deren Cover einem gefallen – eine Platte darf nicht mehr als fünf Dollar kosten –, kauft sie viertens und nimmt sie mit nach Hause. Fünftens hört man sich von jeder Platte jeweils den ersten, dritten und fünften Song an und wirft sechstens die Platten weg, die man nicht mag. Diejenigen, die einem gefallen, behält man. So viel Zufall kann ich noch bewältigen, den organisierten Zufall. Die Musik ist meistens wenig überzeugend, aber hin und wieder findet sich etwas ganz Nettes darunter, und wenn’s auch nur die Covergestaltung ist. Ein paar der coolsten Hüllen hab ich mir zu Hause in RB an die Schlafzimmerwand gepinnt: Die der Soundtracks von The Boys from Brazil – dreimal darfst Du raten, warum gerade das – und von Die Möwe Jonathan, weil das das erste Buch war, das mir Thomas geschenkt hatte, nachdem wir nach RB gezogen sind.)

Außer der Tatsache, dass der Schlüssel zum Universum in meine Obhut überging, unterschied sich dieser Geburtstag nicht wirklich von einem normalen Geburtstag. Einundzwanzig ist ja einfach nur irgendeine Zahl, oder? Aber ziemlich bald lief der ganze Tag völlig aus dem Ruder. Genauer gesagt kam Shaun erst weit nach acht Uhr abends dazu, sein Haus zu verlassen, um sich ein Cornetto-Eis und Limo zu besorgen. Tatsächlich ging an dem Tag alles dermaßen drunter und drüber, dass ich noch nicht mal dazu kam, mein Bacon-Butty aufzuessen, ganz zu schweigen von der Wanderung und dem Abendessen bei Nelson’s.

Ich habe keine Ahnung, was Thomas während der ganzen Stunden gemacht hat, in denen ich auf meinem Zimmer war. Es war nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches für mich, mal eben für ein paar Stunden in meinem Zimmer zu verschwinden. Wahrscheinlich hat er sich aus seinem guten Anzug für besondere Anlässe geschält und sich in die Arbeitsklamotten geworfen, um den Rasen zu mähen oder in seinem Gemüsegarten eingebildetes Unkraut zu jäten. Anders als der durchschnittliche Einwohner von RB halten wir nichts davon, Immigranten als billige Arbeitskräfte anzuheuern.

»Die Sklaverei wurde 1833 abgeschafft«, sagt Thomas. »Ich bin kein Sklavenhalter. Wir können unsere Gartenarbeit selbst erledigen.« Vielleicht hat er auch vorm Haus gesessen und ein Buch gelesen, den Großen Dudini zu seinen Füßen, oder er ist nach draußen gegangen, um über die Mauer hinweg sein Schwätzchen mit unseren Nachbarn Milly-Anna (was, nebenbei bemerkt, wie Millionär ausgesprochen wird – aber nur in SoCal) und ihrem Mann Silent Ike fortzuführen. Ganz sicher aber hat er den Großen Dudini ausgeführt, mindestens einmal, wahrscheinlich eher zweimal. Wie ich bereits sagte, Rituale und Routine. Wie auch immer, er hat den Tag zugebracht wie üblich, bis er schließlich fand, dass es Zeit für den Pizzatest war. Das ist Thomas Hardikers Pendant dazu, ein Stinktier mit Rauch aus seiner Höhle zu treiben. Der Geruch von Pizzateig, der gerade im Ofen gebacken wird, schafft es in der Regel, mich aus meiner Trübsal zu reißen. Wenn das nicht funktioniert, weiß er, dass etwas ernstlich nicht in Ordnung ist mit mir.

Thomas gehört zu den Leuten, die wirklich Bescheid wissen. Er hat eine Menge durchgemacht. Damals wusste ich nicht die Hälfte davon, und wahrscheinlich weiß ich auch jetzt noch nicht alles. Thomas war es, der mir vorgeschlagen hatte, ich solle doch Kreatives Schreiben als Hauptfach am College belegen. »Damit hast du dann etwas, das dir als Ventil dienen kann, um nicht in Depressionen zu versinken«, sagte er. Er wusste wohl schon lange vor meinem Einundzwanzigsten, dass mir das immer noch passierte.

Kommen wir zurück zu MEINEM GEBURTSTAG. (Falls Du’s schon wieder vergessen hast: ICH BIN EINUNDZWANZIG GEWORDEN. Okay, Schluss jetzt mit den Großbuchstaben oder majuscules, wie die Franzosen sie nennen, was viel cooler klingt.) Was hat eigentlich das ganze Tohuwabohu verursacht (meinen interessanten Wortschatz habe ich übrigens Thomas zu verdanken), dessentwegen ich auf mein Zimmer gerannt bin und mich im Bett verkrochen habe? Augenscheinlich der Kram, der sich in der Amoeba-Records-Tasche befand, also fangen wir am besten dort an.

Thomas war gerade dabei, auf seiner Sandwich-Konstruktion die Tomaten, die er in seinem Garten selbst gezogen hatte, über Bacon und Avocados zu drapieren, also öffnete ich den Kühlschrank, um mir den Ketchup zu greifen. »Was ist da drin?«, fragte ich möglichst beiläufig und meinte natürlich die Amoeba-Records-Tasche. Ich bekam einen von Thomas Hardikers sarkastischen Sprüchen zurück.

»Darin bewahren wir Lebensmittel auf. Man nennt es Kühlschrank.«

Schon klar.

Selbst die echten Wolken hatten sich verzogen; es war ein glitzernder südkalifornischer Morgen, wie er im Juni eigentlich ziemlich selten ist. Um diese Jahreszeit ist das Wetter hier sonst eher trübe, daher ist der Juni auch automatisch unser Lieblingsmonat, Geburtstag hin oder her. Thomas schlug also vor, dass wir mit der Tradition brechen und zum Frühstücken auf die Terrasse hinter dem Haus hinausgehen sollten. Das war eine gewagte Aufforderung, wo doch SOTD schon wartete und startklar war, aber er hatte wohl mitbekommen, dass ich ganz guter Dinge war, entspannt, locker, unaufgeregt, und jetzt ist mir klar, dass er ausprobieren wollte, wie weit er gehen konnte. Ich hatte die Tragetasche gesehen und wie voll sie war und glaubte zu wissen, was da auf mich zukam (Bücher, nahm ich an), also erlaubte ich ihm, vom Gewohnten abzuweichen.

Ich würde dies ja nur zu gern als Beispiel dafür anführen, wie das Leben lawinenartig außer Kontrolle geraten kann, wenn man auch nur die kleinste Änderung im Ablauf zulässt, aber diese Abweichung von unserer üblichen Routine hatte keinerlei Einfluss auf das, was noch kommen sollte. Es wäre ohnehin passiert.

Der Große Dudini lief uns in den Garten nach und schnüffelte in der Hoffnung, ein paar heruntergefallene Krümel zu finden, hinter uns auf der Erde herum. Ich steckte ihm ein winziges Stück Geburtstagsbacon zu, als Thomas noch mal reinging, um die Tasche mit den Geschenken und den Ketchup zu holen. Übrigens, falls Du jetzt denkst, mir sei hier eben ein Fehler im logischen Zusammenhang unterlaufen – nein, ich meine nicht den normalen Ketchup, sondern seinen Ketchup, die Flasche mit dem braunen Zeugs, für die Thomas bis nach Burbank runterfährt, um sie im britischen Laden für den zehnfachen Preis von herkömmlichem Ketchup zu kaufen. Es sieht aus wie Barbecuesoße, doch es schmeckt wie eine Salatsoße, die nur aus Essig und schwarzem Pfeffer besteht. Damit »hebt« Thomas den Geschmack von allem, das er als Junkfood einstuft: Bacon, Pommes, Pizza. Fish ’n’ Chips sind für ihn kein Junkfood, weil sie etwas Britisches sind. In Gegenwart anderer zieht Thomas bei Eiscreme die Grenze, aber ich möchte wetten, dass selbst sein Lieblings-Bioeis mit Bourbon-Vanille eine ordentliche Ladung von dem braunen Zeugs abbekommt, wenn ich nicht da bin. Jeder muss schließlich seine kleinen Geheimnisse haben, oder?

An diesem Wochentag stand ein Y im Kalender, das hieß, dass Milly-Anna in ihrem Garten hinter dem Haus zum Soundtrack von Grease trainierte. (Ich mochte den Film, als ich noch klein war – Du hast ihn sicher gesehen. Milly-Anna hat ihn sich immer zusammen mit mir angesehen, wenn sie rüberkam, um hier ein bisschen abzuhängen, während Thomas bei einem seiner Meetings war.) Wegen der Mauer zwischen den Gärten konnten wir sie von unserer Terrasse aus zwar nicht sehen, doch wir konnten hören, wie sie laut und ziemlich falsch mitsang und ihr Atem dabei wegen ihrer Bewegungen stoßweise ging. Einmal – das war noch bevor wir sie richtig kennengelernt hatten, also vermutlich ziemlich bald nachdem wir nach Redondo gezogen waren – kletterte ich auf einen Gartenstuhl, um hinüberzuspähen, da ich wissen wollte, was sie da tat. Ich musste so lachen, dass ich gleich wieder runterfiel. (Und das, obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon die schrägsten Sachen gesehen hatte.) Sie macht kein normales Training, sie tanzt detailliert die Figuren aus dem Film nach, bis hin zum Austreten eines Zigarettenstummels. Manchmal schreit sie Silent Ike zu, er solle doch mitmachen, und zwar an der Stelle, bei der er ihr die Stufen zur Veranda hinauffolgen, darüberkriechen und auf der anderen Seiten hinter ihr wieder herunterkriechen muss. Wenn nicht gerade ihr Geburtstag ist, tut er meistens so, als hätte er ihr Geschrei wegen der lauten Musik nicht gehört. Wir kichern gelegentlich immer noch leise vor uns hin, aber wir haben uns inzwischen so daran gewöhnt, dass es schon zu unserer eigenen Routine gehört.

Wie ich bereits erwähnt habe, war Thomas also reingegangen, um sich seinen besonderen Ketchup zu holen. Als er zurückkam, legte ich mein Sandwich beiseite und griff in die Geschenketasche. (Wusstest Du, dass es im Deutschen ein Wort gibt, das genau wie das englische Wort für Geschenk geschrieben wird – Gift – nur dass das übersetzt poison heißt …?) Die Tasche war ziemlich vollgestopft, und als Erstes zog ich Thomas’ Geschenk heraus. Es war offensichtlich ein Buch, was mich in meiner Vermutung bestätigte, dass es alles Bücher waren. Man sollte niemals Vermutungen anstellen, nicht wahr? Thomas reichte mir eine Serviette, damit ich mir die Hände abwischen konnte, bevor ich es auspackte, denn dies war nicht irgendein Buch, es war die gebundene Erstausgabe meines absoluten Lieblingsbuchs Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck aus dem Jahr 1944, mit einem Autogramm des Autors. Versandt von einem Buchladen in Paris namens Shakespeare & Company, dem Laden, in den alle berühmten Schriftsteller gegangen waren, die in den 1920ern und 1930ern in Paris lebten – Hemingway und die ganze Bande. Hemingway hat diesen Buchladen sogar in Paris, ein Fest fürs Leben thematisiert. Vielleicht hat er ja dort sein Exemplar von Die Straße der Ölsardinen verkauft, um Geld fürs Saufen zu bekommen, und jetzt gehört es mir.

»In West Hollywood wollte noch jemand ein Exemplar verkaufen«, erzählte Thomas, »aber ich dachte, du würdest dich über das aus Paris mehr freuen.« Verdammt richtig! Vorn im Einband steckte noch eine Karte, auf der das Logo des Ladens mit Shakespeares Kopf eingeprägt und an die ein Scheck über dreitausend Dollar, unterschrieben von Thomas Hardiker, geheftet war.

»Was ist das?«, entfuhr es mir. Ich war völlig baff.

»Der Scheck ist nur symbolisch«, erklärte er. »Ich gebe dir das Geld in bar. Ich dachte, vielleicht hast du ja Lust dazu, damit die Reise nach London zu machen, von der du immer geredet hast, um zu sehen, wo SOTD gedreht worden ist.«

Eins möchte ich klarstellen, denn ich möchte nicht undankbar erscheinen: Man hat mich nicht mit dem gleichen widerwärtigen Anspruchsdenken großgezogen wie meine zuvor erwähnten College-Kollegen – ganz im Gegenteil. Thomas hätte mir keine größere Überraschung, kein wertvolleres Geschenk machen können als mit einem Exemplar der Erstauflage von Die Straße der Ölsardinen und damit, mir eine Reise nach London zu ermöglichen, und ja, jetzt wäre eigentlich der richtige Moment für Umarmungen und High Fives gewesen. Zu meiner Verteidigung – und um meine Reaktion beziehungsweise meine nicht erfolgte Reaktion ins rechte Licht zu rücken – sollte ich erwähnen, dass allein der Schock normalerweise schon ausgereicht hätte, um mich dazu zu bringen, mich für den restlichen Tag ins Bett zu flüchten. Aber als ich an jenem Morgen meines einundzwanzigsten Geburtstags aufgewacht war, hatte ich beschlossen, dass es jetzt wohl allmählich an der Zeit war, mich zusammenzureißen und ein paar Eier, Cojones, zu entwickeln. Statt auf mein Zimmer zu eilen, lehnte ich mich also zurück, atmete ein paarmal tief ein und nahm noch ein paar Bissen von meinem Butty (wenn ich das sage, stellst Du Dir dann vor, wie ich in jemandes butt beiße? Ich mir schon!), um mein Gleichgewicht wiederzufinden und alte Gewohnheiten über Bord zu werfen. Dann steckte ich meine Hand wieder in die gelbe Tasche und zog das nächste Geschenk heraus. Es war ein Umschlag. Ein schlichter alter brauner Umschlag (klingt gruselig, oder?).

Die Absenderadresse lag in Zürich, in der Schweiz. Ich kannte niemanden dort, und um ganz ehrlich zu sein, wusste ich kaum, wo dort überhaupt war. Ich wusste, dass es in Europa lag, aber wo genau, hätte ich nicht sagen können. Obwohl Thomas sich alle Mühe gegeben hat, war ich Amerikaner geworden. Als ich dann später auf dem Bett lag und über meine Lage nachdachte, sah ich nach, wo die Schweiz liegt. Sie ist ungefähr ein Viertel so groß wie Kalifornien und hat halb so viele Einwohner wie die Metropolregion Los Angeles. In Amerika wäre die Schweiz gerade mal ein Ski-Resort, aber dort ist es ein ganzes Land.

In dem Umschlag befanden sich zwei zusammengeheftete Bögen Papier. Der obere war ein Brief von der Anwaltskanzlei Binggeli, Birchmeier & Geisert, unterschrieben von einem Herrn Philipp Binggeli. Er war an mich adressiert, wobei ich mit dem Nachnamen meines Vaters angeschrieben wurde, Mr. Sonny Anderson Agelaste-Bim. Diesen Nachnamen habe ich niemals verwendet, auch nicht, als ich bei meinem Dad lebte. Angesichts der Namen der Absender kam er mir plötzlich gar nicht mehr so albern vor.

Übertragung des Nachlasses Agelaste-Bim.

Ich starrte auf die Worte auf dem Dokument und begriff erst mal gar nichts. Ich reichte Thomas den Brief. Er las ihn und drehte die Seite um. »Shit«, entschlüpfte ihm dann, und er sah mich an, als ob er mich noch nie zuvor gesehen hätte.

»Was ist?«

Er hielt mir das zweite Blatt unter die Nase und deutete aufs Seitenende. Der Ausdruck war aufgebaut wie ein Kontoauszug, und unten auf dem Blatt standen neben den Worten Gesamtvermögenswert zwei Zahlenangaben. Vor der einen stand USD, vor der anderen SF. Es waren so viele Zahlen mit so vielen Punkten und Kommas, dass mein Gehirn regelrecht erstarrte und mir die Sicht verschwamm. Was ich sehen konnte, war, dass es eine unglaubliche Menge war, in beiden Währungen, aber kapieren konnte ich es immer noch nicht. Also sprach Thomas es laut aus – es war noch mehr als eine Menge, es waren Millionen von Dollar, und sie gehörten jetzt alle mir, weil ich, der kleine Sonny Anderson Agelaste-Bim, der Letzte in der Familienlinie Agelaste-Bim war.

»Willkommen im Land der Trustafarier«, sagte Thomas.

Auch Thomas ist ein Trustafarier. Ich hatte keine Ahnung, was das sein soll, bis mir Thomas erklärte, dass ein Trustafarier jemand ist, der von den Einkünften aus einem Erbe oder einem Treuhandfonds oder was auch immer lebt (üblicherweise sind das Typen, nicht Mädchen, da der alte Geldadel noch immer an die Vorherrschaft des Mannes glaubt). Definition aus dem Wörterbuch: Ein reicher junger Mensch, der eine Art Künstlerleben führt und nicht in einer wohlhabenden Gegend lebt. Übrigens sollte ich besser sagen, dass Thomas ein Trustafarier war, weil er schon vor Jahren aufgehört hat, Geld von seinem Fonds zu verwenden. Soweit ich damals wusste, hatte Thomas für jeden Cent gearbeitet, den er bekam und ausgab. Und wir lebten nicht das Leben von Bohemiens, die nicht wohlhabend sind, sondern das von normalen Leuten, die nicht wohlhabend sind, mit all ihren Schwierigkeiten. Umso großzügiger von ihm, mir diesen Scheck zu schenken.

Rückblickend nehme ich an, dass Thomas die ganze Zeit über gewusst hat, dass mich irgendwann ein Geldsegen erwarten würde; aber sein Gesichtsausdruck, als es dann so weit war – er schaute, als ob er auf einen Bus gewartet hätte und stattdessen eine vergoldete Limousine, gezogen von Flugsauriern, vor ihm gelandet wäre –, ließ eindeutig darauf schließen, dass er keine Ahnung gehabt hatte, wie protzig mein Anteil am Planeten Trustafaria tatsächlich sein würde. Und an dieser Stelle kapitulierte ich, suchte mein Zimmer auf und brach die Zeremonie meines Überganges zum Mannesalter ab.

Thomas sagte mir später, er sei so erschüttert gewesen, dass er nicht einmal wahrgenommen hatte, wie der Große Dudini die Reste unseres Essens verschlang. Das beweist, dass Thomas keine Vorstellung davon gehabt hatte, wie viel Geld da auf mich zukommen würde – und außerdem hätte nur ein Idiot einem Multimillionär dreitausend Dollar geschenkt. Thomas weigerte sich, sein Geschenk zurückzunehmen, selbst als wir uns beide wieder gefangen hatten. »Vielleicht willst du ja die Reise nach London unternehmen und erst danach entscheiden, was du mit deinem Erbe anfängst«, meinte er. Er hatte recht, wie üblich. Es konnte ja sein, dass ich mich dazu entschloss, das Erbe auszuschlagen (ich hab mich tatsächlich immer noch nicht entschieden, aber das braucht Dich nicht zu kümmern), so wie er das seine ausgeschlagen hatte – wie ich immer geglaubt habe.

Ein paar Tage später erinnerte mich Thomas daran, dass da noch immer Päckchen in der Tragetasche waren, die ich nicht geöffnet hatte. Es waren alles keine richtigen Geschenke mehr, sondern eher irgendein Scheißkram, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und der jetzt mir gehörte. »Hat keine Eile«, sagte er, »es kommt nicht weg.«

Ich brauchte noch ein paar Tage, bis ich so weit war, mir die Tasche zu greifen und sie auf mein Zimmer zu bringen. Dort saß ich dann davor und starrte hinein, als wäre sie ein Bergsee, in den ich mitten im Winter mit nacktem Oberkörper springen sollte. Wie allgemein bekannt ist, prüft man vorher besser die Wassertemperatur mit den Extremitäten; also tauchte ich zuerst meine Hand hinein und tastete mich vor. Ganz tief unten befand sich eine Schachtel von der Größe eines Schuhkartons für Kinderschuhe. Seitlich steckte eine dieser Plastikmappen, wie sie Studentinnen aus dem zweiten Collegejahr benutzen, wenn sie den Professoren, mit denen sie schlafen wollen, eine Nachricht zukommen lassen wollen, nur dass die üblicherweise pink sind und nicht weiß wie diese hier. In der Mappe befand sich ein Haufen Umschläge. Ich nahm einen heraus, auf dem mein richtiger Name stand, Sonny Anderson, das machte ihn weniger furchteinflößend. Außerdem war er schon geöffnet worden; Thomas hatte also bereits gesehen, was drin war, wodurch ich mich etwas sicherer fühlte. Mal ganz im Ernst, ich habe Umschlägen gegenüber eine Art Paranoia entwickelt, eine Umschlagphobie; bitte mich also niemals darum, einen Oscar zu präsentieren. Ich zog ein Papier heraus. Es war meine Geburtsurkunde – dort drüben nennt man so was Auszug, mit »dort drüben« meine ich Schottland. Ich wusste schon, dass ich in Schottland geboren worden bin, Thomas hatte mir das vor ein paar Jahren erzählt, und natürlich wusste ich, dass ich eine Mutter und einen Vater hatte, selbst wenn ich keine besonders liebevollen Erinnerungen (an meinen Vater) beziehungsweise überhaupt keine (an Dich) hatte.

Name des Vaters: unbekannt. (Bekannte Namen: Robin Agelaste-Bim alias Agelaste Bim alias Guru Bim.) Beruf des Vaters: unbekannt. (Bekannter Beruf: Guru.) Wohnsitz des Vaters: unbekannt. (Bekannter Wohnsitz: Hölle – vermute ich mal.) Name der Mutter: Sarah Anderson. Beruf der Mutter: Hausfrau. Wohnsitz der Mutter: Drongnock.

Es war schon irgendwie aufregend, das alles schriftlich vor mir zu haben. Plötzlich war es so, als ob es Dich wirklich gäbe, was hieß, dass auch ich wirklich – also amtlich – existierte. Ich war nicht mehr ein so großer Schlag ins Wasser – und wenn es uns beide gab, war es schließlich auch möglich, dass wir uns eines Tages vielleicht mal sahen, oder?

Ich hatte keine Ahnung, wo Drongnock lag. Wenn da stattdessen Hintertupfing gestanden hätte, wäre das auch prima gewesen, vielleicht sogar noch besser, denn das hätte Dich noch ein wenig normaler erscheinen lassen, noch hausfraulicher und mütterlicher.

Ich nahm meinen Mut zusammen und öffnete einen weiteren Umschlag. Darin war eine Liste mit Namen und Adressen, alle in England. Ich ging damit zu Thomas, der mich gleich beruhigte, dass das alles harmlos sei. Dies seien alles Leute, die entweder Dich oder meinen Dad oder Euch beide gekannt haben und sich sehr freuen würden, mich zu sehen, falls ich meine Reise machen sollte, und mir helfen würden, falls ich in Schwierigkeiten geriete. An Marsha Ray konnte ich mich noch aus der Zeit in Brasilien erinnern, und ich erklärte Thomas, dass sie die letzte Person wäre, an die ich mich wenden würde, wenn ich Hilfe bräuchte.

»Okay, kann ich verstehen«, meinte er, »aber vielleicht an jemanden von den anderen.« Und dann erklärte er mir, wer diese ganzen Leute waren: Andrew Harrison, der Typ, mit dem Du zusammengelebt hast, als ich auf die Welt kam; Ruth Williams, die Dich und meinen Dad kannte, aber Dich besser als ihn; und Doris Henry, die meinen Dad betreut hatte, als er noch ein Junge war. Dann war da noch eine Adresse, bei der kein Name stand. Thomas sagte, sie gehöre zu dem Haus, in dem er und mein Dad gewohnt hatten, bevor wir nach Brasilien gingen. »Wir haben nicht lang dort gewohnt, also ist es nicht so wichtig, aber ich dachte, dass du vielleicht dort Station machen und es sehen willst, wenn du auf dem Weg nach Schottland bist, um Andrew zu besuchen.«

Okay, gehen wir noch mal zurück.

Bevor Thomas mit mir vor zehn oder elf Jahren nach RB gekommen ist, lebten wir mit meinem Dad und Marsha Ray in Brasilien. An mein Leben vor dieser Zeit konnte ich mich damals gar nicht erinnern.

»Moment – du meinst also, ich soll diese ganzen Leute treffen?«

»Das liegt ganz bei dir. Sie würden dich alle gern sehen.«

»Sogar Marsha Ray?«

Thomas zuckte die Schultern und nickte dann entschuldigend.

Ich wusste, worauf er hinauswollte. Thomas sagt immer, die Vergangenheit sei wichtig. Ohne die Vergangenheit hätten wir keine Gegenwart … und ohne Erinnerung keine Vergangenheit. Ich wusste, warum er fand, dass ich dorthin reisen sollte. Ich habe eine Menge durchgemacht und versucht, das Ganze zu vergessen, doch ich komme (kam) nicht weiter; ich war an einem Scheideweg angelangt. Es ist ganz offenkundig wichtig, zu wissen, woher man kommt, wer einen zu dem gemacht hat, der man ist, das mussten wir nicht mehr diskutieren. Ich kam mir vor wie Shaun in SOTD, als Liz ihm den Laufpass gibt und sein Mitbewohner Pete ihn anbrüllt: »Sieh zu, dass du dein verdammtes Leben in Ordnung bringst!«

Ich zog einen Stapel Fotos aus der Mappe. Vor zwanzig Jahren, als ich noch ein Baby war, musste man für den Abzug von jedem Foto zahlen, das man gemacht hatte, aber nur so konnte man es sich ansehen. Vermutlich hat man sogar für die misslungenen Fotos bezahlt, über die man gelacht und sie dann aussortiert und weggeschmissen hat, so wie man es mit einer zweibeinigen Möhre auf dem Markt tun würde (wobei eine zweibeinige Möhre für Thomas einen wertvollen Besitz darstellen würde, vor allem, wenn er sie selbst gezogen hätte. Ich glaube nicht, dass er ein Fotoalbum besitzt, und sollte er doch eines haben, werde ich es niemals sehen wollen). Ein paar der Bilder aus der Mappe hatte ich schon mal in der Hand gehabt, aber ich könnte nicht sagen, wann. Das von meinem Vater, auf dem er in seinem pinkfarbenen Guru-Outfit mit überkreuzten Beinen in Olinda im Garten sitzt, habe ich inzwischen wahrscheinlich zigmal gesehen.

Ein Guru ist jemand, der selbst niemandem auf Twitter folgt, der in den sozialen Netzwerken aber Tausende von Deppen als Follower hat. Das musst Du Dir mal vorstellen.

Unter den Fotos war eines von mir als Baby, das ich noch nie gesehen hatte. Zumindest sagte Thomas, dass ich das war, aber es hätte genauso gut irgendjemand anders sein können. Auf dem Foto war niemand sonst zu sehen, der seine Behauptung hätte bestätigen können, und selbst wenn da jemand gewesen wäre: Woher hätte ich wissen sollen, wer dieser Jemand war? Dann gab es ein weiteres Foto von einem Kind, das ein paar Jahre älter war und deutlich mehr Haare hatte, die so dunkel waren wie meine. Es hatte richtige Kindersachen an und saß in einer Schubkarre. Dieses Kind sah tatsächlich aus wie ich, und die zwei Hände, die die Griffe der Schubkarre umfassten, ließen darauf schließen, dass da noch jemand anders war. Wem auch immer diese Hände und Unterarme gehörten, sie waren ihm von demjenigen, der das Foto gemacht hatte, am Ellbogen amputiert worden.

Aber ein bestimmtes Foto macht mir immer noch Angst, keine Ahnung, warum. Als ich es zum ersten Mal sah, hab ich es zunächst eine Zeit lang betrachtet und musste mich dann erst mal für eine ganze Weile aufs Bett legen und darüber nachdenken. Auf dem Foto sind ein Mann und eine Frau zu sehen, die nebeneinanderstehen. Der Typ ist mein Dad mit Bart in seinen Guru-Klamotten, und die Frau bist wohl Du. Man kann Dein Gesicht nicht sehen, weil Du nach unten auf seine Hand blickst, die er flach über Deinen Bauch gespreizt hat, und da, wo Dein Gesicht sein müsste, sieht man nur einen glänzenden Vorhang aus schwarzem Haar. Er schaut direkt in die Kamera und lächelt. Nicht mit einem fröhlichen und glücklichen Lächeln, sondern selbstgefällig und wichtigtuerisch. Ein Ich-bin-ein-Guru-der-in-die-Kamera-lächelt-Lächeln. Das ist das einzige Lächeln von ihm, das ich kenne. Immer wenn ich mir vorgestellt habe, wie ich in das Foto hineinlange und Dir die Haare aus dem Gesicht streiche, habe ich da, wo Dein Gesicht sein sollte, mein eigenes gesehen. Und das, ohne dabei high zu sein.

Für eine Weile hatte ich erst mal genug von den Dingen aus der Tasche.

Irgendwann stand ich wieder auf, und in den nächsten Tagen lief das Leben ganz normal. Als ob nichts geschehen wäre, gingen die Sommerferien weiter, die nach der College-Abschlussprüfung begonnen hatten, bloß dass ich ursprünglich vorgehabt hatte, mir für den Sommer einen Job zu suchen. Aber jetzt, da ich Multimillionär war und so, wusste ich gar nicht, ob ich das überhaupt noch nötig hatte.

Ich musste einfach nur ein paar Formulare ausfüllen, um Anspruch auf mein Erbe zu erheben, und würde nie mehr einen Job brauchen.

Ich füllte die Formulare nicht aus. Ich suchte mir keinen Job. Stattdessen tat ich Dinge, die ich seit Jahren nicht getan hatte, wie zum Beispiel Fahrrad fahren. Meistens radelte ich auf dem Marvin-Braude-Rundweg die Strecke nach Santa Monica und zurück, insgesamt circa fünfzig Kilometer. Außerdem hab ich mir Filme angesehen. Okay, einen Film, Shaun of the Dead. Ich verputzte Unmengen Trader-Joe’s-Schokolinsen mit Liebesperlen und mied die wichtigen Themen. Thomas führte sein Leben weiter wie gewohnt, Routine – Ritual – Routine, aber ich spürte, wie er mich ansah und nachdachte und sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis ich so weit war, darüber zu sprechen (Thomas war immer bereit zu reden, doch wie üblich ließ ich ihn warten). Vielleicht dachte er aber auch einfach nur darüber nach, ob der Große Dudini bei seinem heutigen Spaziergang auf der Straße lieber nach links oder nach rechts abbiegen mochte. Jetzt, da ich Thomas’ Briefe gelesen habe, bin ich ziemlich sicher, dass auch er den wichtigen Themen aus dem Weg ging. Sie waren sogar ihm eine Nummer zu groß.

Aber ich bin schon wieder zu schnell.

Eines Abends unterhielten wir uns beim Abendessen über meine Radtour. Ich zeigte Thomas die Videos, die ich mit meinem Smartphone gemacht hatte. Es war das Übliche: Ein Pelikan, der sich vom Pier kamikazeartig ins Meer stürzte, ein Delfin, der sich recht nah am Strand von Hermosa bei den Surfern herumdrückte und in den Wellen Loopings machte, zwei Palmen beim Flughafen Los Angeles, die aus dem richtigen Winkel so aussahen, als würden sie sich auf einer kleinen, verlassenen Insel befinden, und der dicke silberfarbene Bauch eines Flugzeuges, das direkt über mir abhob, während ich gerade dabei war, den richtigen Bildausschnitt für die beiden Palmen hinzubekommen. Mann, das war vielleicht laut gewesen!

Das Flugzeug war es schließlich, das Thomas dazu brachte, eines der wichtigen Themen anzuschneiden.

»Hast du dir eigentlich inzwischen überlegt, ob du nach England reisen willst?«, fragte er mich.

Genau genommen hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, aber ich antwortete: »Ja, ich glaube, ich werde hinfliegen.« Und so war just in diesem Moment die Entscheidung gefallen, obwohl ich wusste, dass Thomas nicht mitkommen würde, wie ich bis dahin immer angenommen hatte. Seitdem ich aus Brasilien hierhergekommen war, hatte ich den Bundesstaat Kalifornien nicht mehr verlassen, und bis ich aufs College ging, war ich so gut wie nie allein zur Schule gefahren. »Hab ich überhaupt einen Pass?«, fragte ich.

Es stellte sich heraus, dass ich einen hatte. Thomas hatte ihn vor fünf Jahren sicherheitshalber in Großbritannien beantragt, für den Fall, dass ich ihn brauchen würde. Er hatte dafür meine Geburtsurkunde und eines der Fotos verwendet, die wir für meinen Junior-Highschool-Ausweis gemacht hatten. Mann, blicke ich auf dem Bild grimmig drein! Kennst Du das, dass man manchmal ein älteres Bild von sich betrachtet und noch genau weiß, was man in dem Augenblick dachte, als das Foto aufgenommen wurde? Man weiß es, aber man kann es nicht richtig ausdrücken; man erinnert sich daran, welche Gedanken man hatte, findet aber nicht die geeigneten Worte, um sie zu beschreiben. Ich glaube, das fällt dann in die Kategorie Gefühl, stimmt’s? Wenn ich der Beamte auf der Einwanderungsbehörde gewesen wäre, der meinen Antrag bearbeitet hat, hätte ich ihn abgelehnt. Mit sechzehn war ich schon vier Jahre dabei, mich regelmäßig volllaufen zu lassen, und die Gedanken, die ich zu jener Zeit im Kopf hatte, waren das genaue Gegenteil der lebensbejahenden südkalifornischen Grundhaltung. Ich glaube, dass ich heute nicht viel anders aussehe, vielleicht ein wenig gesünder. Wie ich bereits sagte, da ist kein Gramm Fleisch auf diesen Knochen.

Ich nahm die gelbe Tragetasche und holte den letzten Gegenstand heraus, die Schachtel. Ich stellte sie auf den Tisch. Thomas schob Salz- und Pfefferstreuer und die Guacamole aus dem Weg, die schon braun und unappetitlich geworden war, weil er vergessen hatte, den Kern drin zu lassen, und dann öffnete ich die Schachtel inmitten von Pizzakrusten und welken Salatblättern. »Das ist die Autobiografie deines Vaters«, erklärte Thomas, als ich den Deckel aufklappte. Es war kein Buch darin, nicht einmal ein Manuskript, sondern eine Menge kleiner Tonbandkassetten und ein spezielles Gerät, auf dem man sie abspielen konnte, ungefähr so groß wie ein altmodisches Handy. »Dein Vater hat immer gesagt, dass Schreiben nicht sein Medium sei«, erklärte Thomas. »Ich hab mir die Kassetten noch nicht angehört.«

Schreiben ist nicht mein Medium. Wer, verfickt noch mal, sagt denn so was?

Thomas hat also den ganzen Mist zu meinem Geburtstag zusammengestellt, damit ich nach England reisen und etwas über meine abhandengekommene Vergangenheit herausfinden konnte. So würde ich mich dann unbelastet ins Erwachsenenleben aufmachen können. Auch wenn wir so taten, als wäre es eine Pilgerreise zu den Schauplätzen von Shaun of the Dead, wusste ich tief im Herzen, dass ich nach Dir suchen würde, und im Grunde seines Herzens wusste Thomas das auch. Wir konnten es uns nur einfach nicht eingestehen. Ich vermutete, dass er das Thema gemieden hatte, weil er nicht wollte, dass ich die Reise vor lauter Panik nicht antrat.

Wie ich schon sagte: Man sollte besser keine Vermutungen anstellen.

Ehe ich mich’s versah, saß ich schon im Flugzeug nach London. Im Rucksack hatte ich das ganze wichtige Zeug, das Thomas mir in eine Plastikhülle gesteckt hatte: die Liste mit den Namen und Adressen, die Fotos und einen Ausdruck mit den ganzen SOTD-Drehorten in London von der Website der Internetfilmdatenbank IMDb, nur zur Sicherheit für den Fall, dass ich mein Telefon oder das Tablet verlor. Dann war da noch die verdammte Schachtel mit Dads Kassetten, die ich mit mir herumschleppte, weil ich nicht die Eier gehabt hatte, sie vor meiner Abreise anzuhören, und es nicht über mich gebracht hatte, sie einfach zurückzulassen.

Milly-Anna weinte, als wir uns verabschiedeten, obwohl sie schon seit ungefähr einer Woche wusste, dass ich verreisen und nur ein paar Wochen oder so weg sein würde, wie wir damals dachten. Sie gab mir einen Bottich Schokolinsen mit Liebesperlen als Wegzehrung mit, denn sie fand »dieses Essen im Flugzeug so eklig«, und Silent Ike schenkte mir ein Wörterbuch für britischen Slang und schüttelte mir die Hand. Ein bisschen komisch, so etwas von jemandem geschenkt zu bekommen, der nie spricht. Es war ziemlich eindeutig, dass das Wörterbuch auf Thomas’ Mist gewachsen war. Er fand es viel interessanter als ich, zumindest bis es ihn enttäuschte. Seiner Meinung nach war es veraltet, und dabei war er doch der Mann, der seit zwanzig Jahren keinen Fuß auf britisches Gebiet gesetzt hat. So sahen wir uns also ein letztes Mal zusammen SOTD an und überschrien die ganzen Schimpfworte aus dem 21. Jahrhundert mit »Tölpel« und »verdammter Knilch« aus dem Wörterbuch. Eindeutig veraltet.

Dann, als gehörte es zu unserem üblichen Tagesablauf, fuhren wir zum Los Angeles International Airport. Einen Augenblick lang war ich verwirrt und bildete mir ein, wir wären zu meinem NA-Meeting unterwegs, dem Treffen der Narcotics Anonymous, der Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige, in Hermosa, obwohl es dafür die falsche Tageszeit war. Außerdem war ich schon seit drei Jahren nicht mehr dort gewesen. Doch wir fuhren den Pacific Coast Highway weiter und durch Hermosa Beach, Manhattan Beach und El Segundo hindurch.

Als wir den Terminal betraten, sah Thomas aus, als sei auch er ziemlich nervös. Mir fiel ein, dass er schon seit Jahren nirgendwo mehr hingeflogen war. Wahrscheinlich hatte er gerade stellvertretend für mich Flugangst, doch bis wir den Flugsteig erreicht hatten, war er wieder entspannt genug, um mir einen High Five zu geben, so als seien wir es gewohnt, uns am Flughafen voneinander zu verabschieden. Ein zufälliger Beobachter hätte vielleicht gedacht: »Oh, dieser Sonny, wo fliegt er wohl diesmal hin?«

Seitdem ich das letzte Mal in einem Flugzeug saß, bin ich offenbar gewachsen; ich benötige mehr Platz, als ich auf meinem Sitz zur Verfügung habe. Aber ich habe Glück. Der Typ am anderen Ende der Reihe bekommt ein Upgrade und darf sich umsetzen, und ich kann mir alle drei Sitzplätze krallen. Die Frau, die auf der anderen Seite des Gangs sitzt, scheint der Ansicht zu sein, dass ich ihr mein Glück hätte abtreten sollen, und schielt missbilligend in meine Richtung. Wenn ich nicht befürchten würde, mein Privileg wieder zu verlieren, würde ich ihr und ihrem Anspruchsdenken einfach sagen, dass sie sich gefälligst zum Teufel scheren sollen. Stattdessen schenke ich ihr das schaurige Lächeln der Südkalifornier, wie um ihr zu sagen: »Hey, Lady, Sie sollten sich für mich freuen, nächstes Mal könnte es Sie treffen!«, und lehne mich gemütlich zurück, um das Filmangebot zu prüfen.

Nacheinander sehe mir drei Filme an: Einen über einen Typen, der gern Frauen in seinem Keller anbindet und sie damit zum Weinen bringt, dass er ihnen CDs von Whitney Houston vorspielt, dann einen Schwarz-Weiß-Film über ein nettes Mädchen in New York, das nicht wirklich etwas draufhat, aber am Ende doch alles auf die Reihe bekommt, und als Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren, zeigen wir Ihnen aus unserer Auswahl von Filmklassikern Shaun of the Dead. (Das kann ja wohl nur eine Botschaft des Universums sein!) Ich strecke mich über die drei Sitze aus und denke daran, dass ich in ein paar Stunden über genau dieselben Straßen und Gehsteige laufen werde, die in dem Film zu sehen sind.

Irgendwann mitten im ersten Film kommt meine Mahlzeit, und sie ist überhaupt nicht eklig, denn Thomas hat im Voraus das vegane asiatische Menü bestellt. Ich beschließe, statt der rehydrierten Melone Milly-Annas Schokolinsen zum Nachtisch zu essen. Dann erlöschen alle Lampen. Bis auf die vielen kleinen Rechtecke mit blauem Licht, deren Schein auf die Gesichter der Leute fällt, liegt das Flugzeug in totaler Dunkelheit. Ich finde es eigentlich ganz behaglich und nicke wie zu Hause gleich nach Philips Tod bei SOTD ein.

Als mich die Stewardess zum Frühstück weckt, ist es wieder hell im Flugzeug. Mein Körper fühlt sich leer an, als hätte man mir alles Blut aus den Venen gesogen. Kein gänzlich unbekanntes Gefühl. Ich öffne die Frühstücksbox, fange an zu essen und stiere dabei geistlos wie ein Zombie auf die animierte Landkarte mit dem kleinen Flugzeug, das sich ruckweise mit 800 und ein paar zerquetschten Stundenkilometern auf London zubewegt. Noch eine Stunde bis zur Landung.

Cool, wie die Zahlen bis null runtergezählt werden, als die Nase des Zeichentrickflugzeugs den schwarzen Punkt erreicht, der London darstellt. Als die Räder des echten Flugzeugs auf der Landebahn auftreffen, beginnt ein Typ in der Sitzreihe hinter mir zu klatschen. Thomas hatte mich schon vorgewarnt, dass das passieren könne. Außer schmatzenden Kussgeräuschen ertrage ich nämlich auch das Geräusch von aufeinanderklatschenden Handflächen nicht, ob sie jetzt trocken oder schweißig oder sonst was sind. Ich halte mir die Ohren zu, aber weil jetzt noch andere mitklatschen, wird es immer lauter. Wahrscheinlich tun sie das, damit der Typ, der damit angefangen hat, nicht so belämmert dasteht – nur eine Witzfigur oder ein Affe klatscht bei einer Routinelandung. Ich komme mir vor wie Shaun am Anfang von SOTD, als er in einem Bus sitzt, dessen Fahrgäste sich alle nicht von Zombies unterscheiden, und dann – Wahnsinn! – bin ich in London.

Autor