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Ihr letzter Sommer

Als Buch hier erhältlich:

Im Sommer 2003 verschwindet die 16-jährige Rebecca Winter spurlos. Elf Jahre später greift die Polizei eine Rumtreiberin auf, die behauptet, Rebecca zu sein - und der Gesuchten tatsächlich so täuschend ähnlich sieht, dass deren Familie sie mit offenen Armen aufnimmt. Die vermeintliche verlorene Tochter genießt die ungewohnte Zuwendung und schlüpft in Rebeccas Kleider und Leben. Doch je mehr sie sich mit ihrer Rolle identifiziert, desto tiefer dringt sie in Rebeccas Welt vor. Und kommt der tödlichen Wahrheit um ihr Verschwinden immer näher ...

"Geschickt springt Autorin Anna Snoekstra in diesem abgründigen Psychothriller zwischen den Zeitebenen und Perspektiven hin und her und treibt die Spannung damit auf die Spitze." - Buchjournal


  • Erscheinungstag: 15.08.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679640
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Anna Snoekstra

Ihr letzter Sommer

Thriller

Aus dem Englischen von Jan Schönherr

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Only Daughter

Copyright © 2016 by Anna Elizabeth Snoekstra

erschienen bei: HQN

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Arcangel

ISBN eBook 978-3-95967-964-0

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

ERSTES KAPITEL

2014

Mit gesenktem Kopf sitze ich in einem Verhörraum und ziehe fest die Jacke zu. Kalt hier drin. Ich warte schon fast eine Stunde, mache mir aber keine Sorgen. Bestimmt habe ich für ganz schönen Aufruhr auf der anderen Seite dieses Spiegels gesorgt. Wahrscheinlich telefonieren die grade mit dem Vermisstendezernat, suchen Fotos von Rebecca raus und gleichen sie penibelst mit mir ab. Das dürfte sie überzeugen – die Ähnlichkeit ist verblüffend.

Mir ist sie vor ein paar Monaten aufgefallen. Ich hatte mich mit Peter zu Hause eingeigelt. Normalerweise werde ich von einem Kater immer depri, verkrieche mich den ganzen Tag in meinem Zimmer und höre traurige Musik. Aber nicht mit Peter. Wir schliefen bis mittags und hingen dann einfach auf der Couch ab, aßen Pizza und rauchten Zigaretten, bis es uns besser ging. Damals glaubte ich noch, das Geld meiner Eltern spiele keine Rolle und ich bräuchte zum Leben nichts als Liebe.

Irgendwann lief so eine Trashsendung namens Wanted, in der über eine grausige Mordserie in einem Altersheim berichtet wurde, im Holden Valley Aged Care in Melbourne. Ich suchte nach der Fernbedienung. Abgeschlachtete Omas heben schließlich nicht unbedingt die Laune. Gerade als ich umschalten wollte, fing die nächste Story an und ein Foto von einem Mädchen wurde eingeblendet. Sie hatte meine Nase, meine Augen, mein kupferrotes Haar. Sogar meine Sommersprossen hatte sie.

„Am 17. Januar 2003 kam Rebecca Winter von der Spätschicht bei McDonald’s in Manuka, einem Vorort im Norden von Canberra“, kommentierte eine dramatische Männerstimme. „Doch irgendwo auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause ist sie verschwunden und wurde nie wieder gesehen.“

„Scheiße, bist das du?“, fragte Peter.

Die Eltern des Mädchens erzählten, ihre Tochter werde nun schon seit über einem Jahrzehnt vermisst, sie hätten die Hoffnung aber nicht aufgegeben. Die Frau schien den Tränen nahe. Noch ein Foto: Rebecca Winter in einem hellgrünen Kleid, den Arm um eine Blondine in ihrem Alter gelegt. Einen bescheuerten Moment lang fragte ich mich, ob ich irgendwann mal so ein Kleid gehabt hatte.

Ein Familienporträt: die dreißig Jahre jünger wirkenden Eltern, zwei grinsende Brüder, in der Mitte Rebecca. Idyllisch. Fehlte nur noch der weiße Gartenzaun im Hintergrund.

„Fuck, ist das deine verschollene Zwillingsschwester oder so?“

„Hättest du wohl gern!“

Wir machten Witze über Peters abartige Zwillingsfantasien und er vergaß die Sache bald. In Peters Kopf hielt sich nie irgendwas sehr lange.

Ich versuche, mich an so viele Einzelheiten wie möglich aus der Sendung zu erinnern. Rebecca kam aus Canberra, verschwand mit fünfzehn, sechzehn Jahren. Nun kam mir mein verschrammtes und geschwollenes Gesicht doch zugute: Die kleinen Unterschiede zwischen uns waren dadurch gut maskiert. Bis das abgeheilt ist, bin ich längst über alle Berge. Ich muss nur genügend Zeit gewinnen, um es aus dem Revier zu schaffen – und weiter zum Flughafen vielleicht. Kurz drängt sich die Frage auf, was ich dann tun soll. Dad anrufen? Seit ich gegangen bin, habe ich kein Wort mit ihm gesprochen. Ein paarmal stand ich in einer Telefonzelle, hatte sogar schon seine Handynummer gewählt. Doch dann hallte mir plötzlich das abscheuliche Geräusch einer weichen Masse durch den Kopf, die mit Wucht auf Metall kracht, und ich hängte mit zitternden Händen den Hörer ein. Er will garantiert nicht mit mir sprechen.

Die Tür geht auf und die Polizistin steckt lächelnd den Kopf durch den Spalt.

„Dauert nicht mehr lange. Möchtest du vielleicht was essen?“

„Ja, gern.“

Der Anflug von Scham in der Stimme. Die Art, wie sie mich ansieht, bevor sie schnell den Blick abwendet.

Sie haben’s geschluckt, bis auf den letzten Krümel.

Die Polizistin bringt mir eine Portion dampfend heißer Nudeln vom Asia-Imbiss nebenan. Ölig sind die und ein bisschen schleimig, aber ich weiß nicht, ob mir schon mal irgendwas so gut geschmeckt hat. Schließlich betritt ein Detective den Raum. Er wirft eine Akte auf den Tisch und zieht sich einen Stuhl ran. Brutal sieht er aus, hat kleine Augen und einen dicken Hals. An der Art, wie er sich hinsetzt, erkenne ich, dass sein Ego mein bester Trumpf ist. Er scheint sich so breit machen zu wollen, wie er nur kann, legt den Arm über den Stuhl neben sich und spreizt die Beine. Über den Tisch hinweg lächelt er mich an.

„Tut mir leid, dass das so lange dauert.“

„Schon okay“, antworte ich, die Augen groß, die Stimme klein. Ganz leicht drehe ich den Kopf, damit er die Blessuren auch gut sieht.

„Wir bringen Sie gleich ins Krankenhaus, ja?“

„Es tut nicht weh, ich will nur nach Hause.“

„Ist Vorschrift. Wir haben bei Ihren Eltern angerufen, aber bisher ging keiner ran.“

Ich stelle mir vor, wie in Rebecca Winters leerem Haus das Telefon klingelt. Vermutlich besser so. Ihre Eltern würden alles nur verkomplizieren. Der Detective deutet mein Schweigen als Enttäuschung.

„Keine Sorge, wir erreichen sie sicher bald. Sie müssen herkommen, für die Identifizierung. Dann könnt ihr zusammen nach Hause.“

Das fehlte mir grade noch, vor einem Haufen Cops als Hochstaplerin entlarvt zu werden. Meine Zuversicht schwindet. Ich muss das verhindern.

Mit hängendem Kopf murmle ich: „Ich will einfach nur heim.“

„Ich weiß, das können Sie ja bald.“ Als tätschelte er mir mit Worten den Kopf. „Hat’s denn geschmeckt?“ Er blickt auf die leere Nudelschachtel.

„Ja, sehr lecker. Sie sind alle so nett zu mir“, sage ich, immer noch ganz das verschüchterte Opfer.

Er öffnet den Umschlag. Rebecca Winters Akte. Zeit fürs Verhör. Meine Augen huschen über die erste Seite.

„Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„Rebecca.“ Ich halte den Blick gesenkt.

„Und wo haben Sie so lange gesteckt, Rebecca?“, fragt er und beugt sich vor, um mich zu verstehen.

„Ich weiß nicht“, flüstere ich. „Ich hatte solche Angst.“

„War da noch jemand? Andere Gefangene?“

„Nein. Bloß ich.“

Er beugt sich noch weiter vor, bis sein Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt ist.

„Sie haben mich gerettet“, sage ich und blicke ihm direkt in die Augen. „Danke.“

Ihm schwillt die Brust. Canberra ist bloß drei Stunden entfernt. Nur noch ein kleiner Schubs. Jetzt, wo er sich wie der große Held vorkommt, wird er nicht Nein sagen können. Meine einzige Chance, hier rauszukommen.

„Bitte, darf ich nach Hause?“

„Wir müssen Sie wirklich erst vernehmen und zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen. Das ist wichtig.“

„Geht das nicht auch in Canberra?“

Ich lasse die Tränen raus. Männer ertragen nicht, wenn Mädchen weinen. Irgendwie ist ihnen das unangenehm.

„Wir bringen Sie ja bald nach Canberra, aber wir müssen uns an die Vorschriften halten, okay?“

„Aber Sie sind doch hier der Chef, oder?“ Wenn Sie sagen, dass ich gehen darf, dann müssen die Ihnen gehorchen. Ich will einfach nur zu meiner Mom.“

„Na gut.“ Er springt vom Stuhl auf. „Nicht weinen. Ich sehe mal, was ich tun kann.“

Kurz darauf kommt er zurück und sagt, er habe alles für mich geregelt. Die Cops, die mich eingesackt haben, sollen mich nach Canberra fahren. Dort übernimmt der Detective von der Abteilung für Vermisstenfälle, der für Rebecca Winters Fall zuständig war. Ich nicke und lächle, blicke zu ihm auf, als wäre er mein neuer Held.

Canberra werde ich nie erreichen. Ein Flughafen wäre leichter, aber irgendwie entwische ich denen schon. Jetzt, wo sie mich als Opfer sehen, wird das nicht schwer.

Als wir aus dem Verhörraum kommen, drehen sich alle nach mir um. Eine Frau hat einen Hörer am Ohr.

„Da kommt sie grade, ich frage mal.“ Die Frau drückt sich den Hörer an die Brust und blickt den Detective an. „Mrs. Winter ist dran, wir haben sie endlich erwischt. Sie möchte Rebecca sprechen, geht das?“

„Na klar“, sagt der Detective und lächelt mich an.

Die Frau streckt mir den Hörer hin und ich blicke mich um. Niemand sieht her, aber ich weiß, dass sie zuhören. Ich greife nach dem Hörer.

„Hallo?“

„Bist du das, Becky?“

Ich öffne den Mund, muss irgendwas sagen, habe aber keinen blassen Schimmer, was. Da redet die Mutter einfach selbst drauflos.

„O Liebling, Gott sei Dank! Ich kann’s noch gar nicht fassen. Geht’s dir gut? Die behaupten, es geht dir gut, aber ich glaube es nicht. Ich hab dich so furchtbar lieb. Geht es dir gut?“

„Ich bin okay.“

„Bleib, wo du bist, dein Vater und ich holen dich ab.“

Verdammt.

„Wir sind schon auf dem Sprung“, sage ich fast flüsternd. Sie soll nicht merken, dass meine Stimme völlig anders klingt.

„Nein, bitte, geh nicht vor die Tür. Bleib in Sicherheit.“

„So geht’s schneller, ist alles schon geregelt.“

Ich höre sie schlucken, dick und schwer.

„Wir brauchen nicht lang.“ Sie klingt erstickt.

„Ich muss los“, sage ich und dann, mit einem Blick auf die gespitzten Ohren um mich herum: „Bis gleich, Mom.“

Ihr Schluchzen dringt noch aus dem Hörer, als ich ihn zurückgebe.

Der letzte Rest Abendsonne ist verglüht, der Himmel blassgrau. Nach etwa einer Stunde Fahrt ist uns der Gesprächsstoff ausgegangen. Die Cops juckt es offensichtlich in den Fingern, mich zu fragen, wo ich so lange war, doch sie halten sich zurück.

Zum Glück. Sehr wahrscheinlich haben sie eine viel bessere Vorstellung als ich davon, wo Rebecca Winter das letzte Jahrzehnt verbracht hat.

Im Radio schmachtet Paul Kelly. Regen prasselt aufs Autodach, zieht Streifen an den Fenstern. Ich könnte problemlos einschlafen.

„Soll ich die Heizung aufdrehen?“, fragt Thomson mit Blick auf meine Jacke.

„Geht schon“, sage ich.

In Wahrheit kann ich sie gar nicht ausziehen, auch wenn mir langsam etwas heiß wird. Unterhalb der Armbeuge habe ich ein Muttermal, einen kaffeebraunen Fleck, etwa so groß wie eine 20-Cent-Münze. Als Kind hab ich es gehasst. Meine Mutter sagte immer, da hätte mich ein Engel geküsst. Das ist eine der wenigen Erinnerungen, die ich noch an sie habe. Mit den Jahren ist mir das Ding irgendwie ans Herz gewachsen, vielleicht weil es mich an sie erinnert oder weil es eben so sehr zu mir gehört. Zu Bec gehört es jedoch nicht. Zwar dürften die beiden Trottel die Vermisstenakte kaum gründlich genug studiert haben, um das Wörtchen „keine“ unter Besondere Kennzeichen zu bemerken, aber das Risiko gehe ich besser nicht ein.

Krampfhaft versuche ich, meine Flucht zu planen, kann aber an nichts anderes denken als an Rebeccas Mom. Daran, wie sie sagte: „Ich hab dich lieb.“ Bei ihr klang das anders als bei meinem Dad früher, der das nur sagte, wenn jemand dabei war oder er wollte, dass ich brav bin. Es klang so ungekünstelt, so kehlig, als käme es von ganz tief drin. Diese Frau, auf die wir da zurollen, hat mich wirklich lieb. Oder wenigstens die, für die sie mich hält. Was sie wohl grade macht? Ruft sie ihre Freundinnen an, um ihnen die gute Nachricht zu überbringen? Wäscht sie Bettwäsche für mich, rast zum Supermarkt, um die Vorräte aufzustocken, oder sorgt sich, vor Aufregung später nicht schlafen zu können? Ich male mir aus, wie die Cops sie anrufen, um zu beichten, dass sie mich unterwegs verloren haben. Die beiden kriegen sicher einen Riesenärger. Das wär mir ja wurst, aber was ist mit ihr? Was ist mit dem frisch bezogenen Bett, das mich erwartet? Dem Essen im Kühlschrank? Und all der Liebe? Alles für die Katz.

„Ich muss mal aufs Klo“, sage ich, als ich das Schild zu einem Rastplatz sehe.

„Alles klar, Süße. Aber willst du nicht lieber auf eine Tankstelle warten?“

„Nein.“ Ich hab keinen Bock mehr auf Höflichkeit.

Das Auto biegt auf die Schotterpiste und hält vor dem gemauerten Klohäuschen. Daneben stehen ein alter Grill und zwei Picknicktische, dahinter liegt nichts als Buschland. Wenn ich genügend Vorsprung kriege, finden die mich dort nie.

Die Polizistin schnallt sich ab.

„Ich bin kein Baby, ich kann alleine pinkeln, danke.“

Ohne ihr Gelegenheit zum Einspruch zu lassen, steige ich aus und schlage die Tür hinter mir zu. Eisig klatscht der Regen mir auf die verschwitzte Haut. Tut gut, aus diesem Brutkasten von Auto raus zu sein. Bevor ich das Klohäuschen betrete, werfe ich einen Blick zurück. Die Scheinwerfer bohren sich durch den Regen, hinter den Scheibenwischern rutschen die Cops auf ihren Sitzen herum und reden.

Das Klo ist ekelhaft. Der Betonfußboden ist überflutet und zusammengeknülltes Toilettenpapier treibt darauf herum wie Minieisberge. Es stinkt nach Bier und Kotze. Neben der Toilette steht eine Flasche Carlton Draught, auf das Blechdach prasselt der Regen. Ich stelle mir die Nacht durchnässten Versteckspiels vor, die mir bevorsteht. Irgendwie muss ich mich zur nächsten Stadt durchschlagen. Und dann? Bald werde ich wieder hungrig sein, aber noch immer pleite. Die vergangene Woche war die schlimmste meines Lebens. Ich musste irgendwelche Typen in Bars aufreißen, nur um irgendwo schlafen zu können, und in einer Nacht, der schlimmsten von allen, blieb mir nichts übrig, als mich in einem Klo im Park zu verkriechen. Jedes Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein. Ich malte mir Gott weiß was aus. Diese Nacht, die nicht zu Ende gehen wollte, so als würde es nie wieder hell. Ein bisschen wie hier sah es dort aus. Auf gar keinen Fall will ich hier übernachten müssen.

Nur einen Augenblick werde ich schwach, denke an die Alternative: das warme Bett, der volle Magen, die Küsse auf die Stirn. Und das genügt.

An der Klobrille bricht die Flasche mühelos. Ich hebe eine große Scherbe auf. In der Hocke sitzend nehme ich den Arm zwischen die Knie. Ich höre mich wimmern, doch Schwäche kann ich mir jetzt nicht erlauben. In spätestens einer Minute sieht Cop-Girl nach mir. Ich drücke die Scherbe auf den braunen Fleck. Der Schmerz ist überwältigend. Es blutet stärker, als ich dachte, aber ich lasse nicht nach. Meine Haut schält sich ab wie die einer Kartoffel.

Als ich die Jacke wieder anziehe, reibt das Futter über die offene Wunde. Ich werfe die blutigen Beweise in den Mülleimer und wasche mir die Hände. Alles um mich verschwimmt, die öligen Nudeln wirbeln mir durch den Magen. Ich halte mich am Waschbecken fest und atme ganz ruhig durch. Kriege ich schon hin.

Eine Autotür schlägt zu, dann Schritte.

„Alles in Ordnung?“, fragt die Polizistin.

„Mir wird im Auto manchmal schlecht“, erwidere ich, während ich nachprüfe, ob im Waschbecken noch Blut ist.

„Ach Süße, wir sind fast da. Sag einfach Bescheid, wenn du dich übergeben musst.“

Der Regen ist jetzt stärker, der Himmel tiefschwarz. Aber die eiskalte Luft hilft gegen die Übelkeit. Ich klettere auf den Rücksitz und ziehe mit dem heilen Arm die Tür hinter mir zu. Dann fahren wir wieder auf den Highway. Ich strecke den pochenden Arm neben der Kopfstütze aus, damit mir das Blut nicht zum Ärmel rausläuft, und lege den Kopf ans Fenster. Übel ist mir nicht mehr, nur irgendwie schwummrig. Das gleichmäßige Prasseln des Regens, die leise Musik aus dem Radio und die Hitze im Auto lassen mich eindösen.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir so schweigend gefahren sind, als die Cops anfangen, sich zu unterhalten.

„Ich glaub, sie schläft.“ Die Stimme des Kerls.

Leder quietscht, als die Frau sich nach mir umdreht. Ich mache keinen Mucks.

„Sieht so aus. Bestimmt anstrengend, so ’ne kleine Zicke zu sein.“

„Was glaubst du, wo sie all die Jahre war?“

„Ganz ehrlich? Mit irgendeinem Kerl durchgebrannt, verheiratet wahrscheinlich. Der hatte jetzt die Schnauze voll und hat sie rausgeworfen. Außerdem wette ich, dass er stinkreich war, so wie die auf alle runterschaut.“

„Sie behauptet doch, man hätte sie entführt.“

„Ich weiß. Aber so benimmt sie sich nicht, oder?“

„Eher nicht, nein.“

„Außerdem wirkt sie dafür ziemlich gut in Form. Ich meine, wenn sie echt entführt wurde, muss der Typ ganz schön in sie vernarrt gewesen sein. Was meinst du denn?“

„Mir ist das ehrlich gesagt scheißegal. Aber für uns könnte ’ne Auszeichnung drin sein.“

„Schon möglich. Müsste die nichts ins Krankenhaus oder so? Ich weiß ja nicht, ob das alte Arschgesicht sie echt hätte gehen lassen sollen, bloß weil die Kleine mit den Fingern geschnipst hat …“

„Wie sind denn die Vorschriften? Ich weiß schon, was wir machen, wenn diese Kids verschwinden, aber was ist, wenn sie wiederkommen?“

„Keine Ahnung. Als das durchgenommen wurde, hatte ich wohl ’nen Kater.“

Sie lachen und es wird wieder still im Auto.

„Weißt du was?“, sagt die Polizistin plötzlich. „Ich hab mich schon die ganz Zeit gefragt, an wen sie mich erinnert. Grade ist’s mir eingefallen. An dieses Mädchen in der Highschool, die erzählt hat, sie hätte einen Hirntumor. Bekam ’ne ganze Woche schulfrei für die OP. Ein paar von uns haben sogar Geld für sie gesammelt. Ich glaube, wir dachten alle, sie müsste sterben. Aber am Montag kam sie putzmunter zurück und war ein paar Stunden lang das beliebteste Mädchen der Schule. Dann fiel irgendwem auf, dass ihr Kopf gar nicht rasiert war, nicht mal ein winziges bisschen. Die ganze Geschichte war erstunken und erlogen.

Jedenfalls hat die einen genauso angeschaut wie unsere kleine Prinzessin da hinten, als wir sie in dem Laden zum ersten Mal gesehen haben. Wie die einen taxiert, mit diesen kalten Augen abcheckt, als ob ihr Hirn dabei mit Höchstgeschwindigkeit nach der besten Weise sucht, einen aufs Kreuz zu legen.“

Nach einer Weile höre ich einfach nicht mehr hin. Mir fällt wieder ein, dass ich in Canberra mit dem Detective sprechen muss, aber mir ist zu schwindlig, um meine Antworten vorzubereiten. Das Auto fährt von der Hauptstraße ab.

Ich wache auf, als es ruckartig zum Stehen kommt und das Licht angeht, weil die Polizistin ihre Tür aufmacht.

„Aufwachen, kleine Lady“, sagt sie.

Ich will mich aufsetzen, doch meine Muskeln fühlen sich an wie Wackelpudding.

Dann eine unbekannte Stimme.

„Sie müssen die Constables Seirs und Thompson sein. Ich bin Senior Inspector Andopolis. Danke für die Überstunden, um sie herzubringen.“

„Kein Problem, Sir.“

„Wir sollten gleich loslegen. Ich weiß, dass ihre Mutter außer sich vor Freude ist, aber ich habe eine Menge Fragen.“

Ich höre, wie er die Tür neben mir öffnet.

„Rebecca, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, Sie zu sehen“, sagt er. Dann kniet er sich neben mich. „Geht es Ihnen gut?“

Ich will ihn ansehen, aber sein Gesicht dreht sich unablässig im Kreis.

„Ja, alles okay“, murmle ich.

„Wieso ist sie so blass?“, blafft er. „Was ist passiert?“

„Alles in Ordnung, ihr ist nur übel geworden“, antwortet die Polizistin.

„Rufen Sie einen Krankenwagen!“, fährt Andopolis sie an, beugt sich über mich und schnallt mich ab.

„Rebecca? Hören Sie mich? Was ist passiert?“

„Ich hab mich am Arm verletzt, als ich abgehauen bin“, höre ich mich sagen. „Geht schon, tut nur ein bisschen weh.“

Er zieht meine Jacke weg. Bis rauf zum Schlüsselbein ist alles voller getrocknetem Blut. Von dem Anblick trübt sich mein Blick noch mehr.

„Ihr Hohlköpfe! Ihr verdammten Vollidioten!“ Er klingt ganz weit weg. Ich kann nicht sehen, wie die Cops reagieren, sehe sie nicht bleich werden. Aber ich kann es mir vorstellen.

Lächelnd verliere ich endgültig das Bewusstsein.

ZWEITES KAPITEL

BEC 10.01.03

Schon vor Monaten hatte Bec beschlossen, ihr Leben so zu führen, als würde sie pausenlos beobachtet. Nur für den Fall, dass um die Ecke eine Filmcrew lauerte oder ihr Spiegel von hinten durchsichtig war. Gähnen ohne Hand vor dem Mund oder Nasebohren auf dem Klo kam nicht mehr infrage. Sie wollte stets so aussehen, wie man es von einer fröhlichen, hübschen Sechzehnjährigen erwartete.

Diesmal war es aber anders. Diesmal war da dieses merkwürdige Prickeln am Nacken. So als würde wirklich jemand sie beobachten. Ein paar Tage ging das nun schon so, aber wenn sie sich umdrehte, um nachzusehen, war nie einer da. Vielleicht wurde sie langsam verrückt.

Eine schreckliche Vorstellung, seine schlimmsten Albträume wahr werden zu sehen und von allen bloß als wahnsinnig abgestempelt zu werden. Max von nebenan hatte früher oft die ganze Nacht gebrüllt. Becs Mom hatte dann immer gesagt, er streite sicher mit jemandem am Telefon. Aber als Bec mal um vier Uhr morgens davon aufgewacht war, hatte sie durch die Vorhänge gelinst und gesehen, wie er im Dunkeln das Nichts anschrie. Ein paar Wochen darauf hatte er einen Stein durch ihr Küchenfenster geworfen. Einen Anruf von Becs Dad später wurde Max abgeholt. Als er wiederkam, brüllte er nicht mehr. Er saß nur noch auf der Treppe vor dem Haus, starrte ins Leere und wurde langsam fett.

War es besser, permanent Angst zu haben oder gar nichts zu empfinden? Bec war sich da nicht ganz sicher.

Grell schien die Sonne durch milchige Wolken auf sie herab. Wenn sie noch länger hier draußen blieb, würde sie einen Sonnenbrand bekommen. Doch ihr gefiel dieses Bild von sich selbst, wie sie auf dem Rücken in Lizzies Pool lag. Grüner Bikini, die sommersprossigen Arme ausgestreckt, und ihr Bauchnabel füllte sich beim Atmen mit Wasser. Ob man sie jetzt gerade wohl beobachtete? Aus den Zimmern von Lizzies Bruder und ihrem Vater konnte man den Pool sehen. Beide hatte Bec während des letzten Jahres schon beim Glotzen erwischt. Sie sollte das wohl abstoßend finden, tat es aber nicht.

Füße patschten über den Beton, gefolgt von einer ausgedehnten Stille, dann explodierte die Wasseroberfläche unter Lizzies Arschbombe. Wie verrückt kichernd tauchte sie wieder auf. Das nasse Haar klebte ihr auf dem Gesicht.

„Fast hätt ich dich erwischt!“

„Du bist so blöd“, rief Bec und versuchte lachend, Lizzie zu tunken. Die packte sie an der Taille, und kreischend und kichernd rangen sie miteinander, die rutschigen Glieder wie sich ineinander windende Aale verschlungen. Bec tunkte Lizzie kräftig und sie kam prustend wieder hoch.

„Friede?“

Hustend streckte Lizzie ihr den kleinen Finger hin. Bec hakte den ihren ein und schwamm dann schnell in Sicherheit, falls Lizzie es sich anders überlegte. Über den gekachelten Poolrand gebeugt, kam sie wieder zu Atem. Die Sonne brannte ihr auf den Rücken, Lizzies Arm drückte angenehm gegen ihren. Sie wünschte, sie wäre hier zu Hause und Lizzie ihre Schwester, auch wenn sie sich kein bisschen ähnelten. Bec war schlank und eher flachbrüstig, Lizzies Körper war an genau den richtigen Stellen weich und kurvig. Wenn Lizzie roten Lippenstift auflegte, fand Bec manchmal, dass sie aussah wie Marilyn Monroe, doch das sagte sie ihr nie.

„Aaah, jetzt dreht sich wieder alles.“ Mit kleinen Tropfen an den Wimpern sah Lizzie Bec angestrengt an.

„Selber schuld.“ Bec legte den Kopf auf den Arm. Langsam ließ der Kater nach. Ihr war nicht mehr schwindlig und ihr Magen beruhigte sich zusehends.

„Gestern war Hammer, oder?“ Ein schelmisches Schmunzeln kroch Bec bei diesen Worten übers Gesicht. Das Beste hatte Lizzie ja nicht mal mitbekommen.

„Wir haben echt Schwein“, seufzte Lizzie und stieß sich ab. „Du solltest los, sonst gibt’s ’nen Anschiss von Ellen.“

„Fuck! Wie spät?“ Bec kletterte aus dem Pool und hopste über den glühend heißen Beton zum Wohnzimmer. Von der Küchenbank schnappte sie ihr Handy. Halb drei; wenn sie sich sputete, konnte sie es knapp schaffen. Sie hatte eine SMS bekommen. Von ihm. GRADE AUFGEWACHT. MIT DIR IST ECHT JEDER ABEND DER WAHNSINN.

Zum Glück konnte Lizzie das dämliche Grinsen nicht sehen, das Bec auf dem Gesicht klebte, während sie die Treppe raufrannte, um die Arbeitsklamotten zu holen. Wieder und wieder ging ihr die Nachricht durch den Kopf. Das konnte nur bedeuten, dass er sie gut fand. Jetzt war sie ganz sicher. Auf dem Absatz rannte sie fast Lizzies Bruder Jack über den Haufen, aus dessen offener Zimmertür eine seiner nervtötenden Metal-Platten plärrte. Instinktiv hatte er eine Hand ausgestreckt und die lag Bec nun brennend über dem Steiß. Eine Viertelsekunde standen sie so dicht beieinander, als würden sie sich küssen. Bec spürte Jacks Atem, roch ihn. Ruckartig zog er die Hand zurück.

„Sorry!“

Er blickte betreten zu Boden, wurde rot. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie praktisch nackt war, und sie rannte mit belustigtem Kreischen in Lizzies Zimmer. Sie schleuderte den Bikini in einem nassen grünen Klumpen auf den Teppich und schlüpfte in die Uniform. Das nach Frittierfett stinkende Ding pappte ihr an der nassen Haut. Hätte sie sich doch nur genug Zeit zum Duschen und Haarewaschen genommen. Normalerweise ging Bec nie aus dem Haus, ohne sich vorher die Haare zu glätten. Sie griff in ihr Schminktäschchen, trug Abdeckstift auf, kleisterte Foundation ins Gesicht und legte Rouge und Mascara darüber. Seit einiger Zeit benutzte sie gern flüssigen Eyeliner, aber in der Eile konnte das zu leicht in die Hose gehen. Einmal war sie wie ein Pandabär in die Schule gekommen – das brauchte sie nicht noch einmal. Im Gehen streifte sie sich die Ballerinas über, schnappte sich ihre Tasche und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe runter.

„Bis später, Bitch!“, rief sie Lizzie zu, die ihr aus dem Pool den Mittelfinger zeigte.

Sie rannte schon die Straße entlang, als das Gartentor scheppernd hinter ihr ins Schloss fiel. Zwei Uhr dreiundvierzig. Müsste reichen. Sie ging langsamer. Es war zu heiß zum Rennen. Die Luft war schwer, schien sie zu Boden zu drücken. Ein fieser Sommer war das. Kein Tag unter vierzig Grad. Bec fuhr sich mit den Fingern durchs Haar – fast schon trocken. Hoffentlich kräuselte es sich nicht.

Sonntags hatte er frei. Bec hoffte, er wäre trotzdem da. Dann könnten sie ihren Kater vergleichen, sich von gestern Abend erzählen und miteinander lachen. Ihre Daumen huschten über die Tastatur: AUF DEM WEG ZUR ARBEIT. WÜNSCHTE, DU WÄRST DA, SÜSSER. image Sie las die Nachricht wieder und wieder, blieb jedoch unsicher. Zu direkt wollte sie nicht sein, obwohl sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, das sei gut: Man muss ihnen genügend Sicherheit geben, von sich aus aktiv zu werden. Aber der Smiley musste weg. Zu kindisch. Becs Finger zauderte über der Senden-Taste, ihr Herz raste. Mit geschlossenen Augen zwang sie sich zum Drücken. Das heimliche Schmunzeln kroch ihr wieder übers Gesicht, und sie fragte sich, ob Lizzie etwas ahnte. Es war schön, dieses Geheimnis zu haben. Gefährlich fühlte sich das an, wie ein Spiel mit dem Feuer.

Kurz schoss ihr das andere Geheimnis in den Kopf. Eine Erinnerung wie glühend heißer Stahl, brennend und brutal. Sie versuchte, sie wegzuschieben; daran durfte sie nicht denken.

Eukalyptusblätter knirschten ihr unter den Füßen, als sie auf die Hauptstraße bog. Vom stechenden Geruch des verdorrenden Laubs tränten ihr die Augen. An den Rändern war es trocken und schwarz, als hätte die heiße Luft es verbrannt. Plötzlich fürchtete sie, das Bier von gestern Abend könnte sich doch noch einmal blicken lassen. Sie blieb stehen und stützte sich an einen Ast, kniff die Augen zu.

Gestern Abend war lustig gewesen; ein bisschen Übelkeit war dafür ein annehmbarer Preis. Die besten Abende kamen immer, wenn man am wenigsten damit rechnete. Bec hatte grade zugemacht, wischte den Boden und spülte mit zugehaltener Nase die Fritteuse aus, Matty kümmerte sich um den Grill. Seine dicken Finger waren schwarz vom Fett. Warum er nie Handschuhe trug, war ihr schleierhaft. Früher hatte sie etwas Angst vor Matty gehabt, dem Schrank mit den tätowierten Armen, doch dann hatte sie gemerkt, dass er einer der liebsten Männer war, die sie je kennengelernt hatte. Eher ein Teddybär als ein Biker.

„Ich treff gleich noch Ellen und Luke im Pub, kommst du mit?“

„Meinst du, wir können Lizzie auch reinschmuggeln?“ Er sagte Ja, aber Bec wäre auch so mitgegangen.

Sie spielten Pool, wobei Matty und Luke ihr abwechselnd Bier besorgten. Bier schmeckte ihr eigentlich nicht, aber sie wollte trotzdem nicht um Cider bitten; sie fand toll, sich als einer der Jungs zu fühlen. Das Pub war düster und roch nach Moschus. Als sie die Toilette betrat, sah sie im Spiegel ihre geweiteten Pupillen, die sich noch an das helle Neonlicht gewöhnen mussten. Sie schminkte sich nach und wünschte, sie hätte Wechselklamotten mitgebracht. Doch davon ließ sie sich den Abend nicht verderben.

Bec versuchte, Luke nicht zu oft anzustarren. Gleichzeitig brannte sie darauf, dass er zu ihr rüber, dass er näher käme. Irgendwann setzte sie ein Spiel aus und er tat es ihr gleich.

„Wie läuft’s, Kumpel?“ Bec hatte es gern, wenn er sie so nannte, so als wären sie völlig gleichberechtigt. Nichts fand sie schlimmer, als behandelt zu werden wie ein kleines Mädchen.

Er setzte sich neben sie, sodass Bec seine Körperwärme spürte. Sie rissen schmutzige Witze, während sie den anderen beim Spielen zusahen, und Becs Herz hüpfte jedes Mal, wenn sie ihn zum Lachen brachte. Er erzählte ihr Geheimnisse. Sie lauschte aufmerksam. Sie wünschte, er würde sie küssen. Er tat es nicht. Einmal nahm er allerdings ihre Hand und drückte sie, blickte Bec eindringlich an. Sagen musste er nichts; sie erriet auch so, was er dachte. Es lag an ihrem Alter. Sie war zu jung. Während einer Spätschicht hatte er ihr mal von der Regel eines Freundes erzählt: Man durfte mit Leuten ausgehen, die mindestens halb so alt wie man selbst plus sieben Jahre waren. Alles darunter war daneben.

„Wann wirst du eigentlich siebzehn?“, hatte er gesagt, als wäre es nur ein Witz. Damals waren es noch drei Monate gewesen. Jetzt war es nur noch einer. Sie musste nur Geduld haben.

Becs Foundation begann zu zerfließen. Sie zwang sich, etwas schneller zu gehen. Bei McDonald’s lief eine Klimaanlage. Im Drive-In-Schalter nutzte die allerdings nicht viel – also Daumen drücken, dass sie heute am Haupttresen eingeteilt würde. Plötzlich spürte sie wieder dieses Prickeln. Sie drehte sich um. Niemand da. Die Straße war merkwürdig leer. Alle hatten sich zu ihren Klimaanlagen verkrochen. Sie ging noch schneller, doch das Prickeln ließ nicht nach.

Als Bec nach der Arbeit aus dem Bus stieg, war der Himmel schwarz. Die Luft war noch immer heiß und schwer. Wenn sie spät nach Hause kam, lag ihr Viertel immer ganz still da. Lizzies Straße kam ihr abends vor, als würde sie atmen – Lichter, offene Fenster, lachende Menschen, Musik. Für gewöhnlich wehte der einladende Duft warmer Abendessen durch die Fliegengitter.

In Becs Viertel zogen alle die Vorhänge so dicht zu, dass man nur das blaue Licht der Fernseher an den Rändern durchschimmern sah.

Sie konnte kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Die Tür zum klimatisierten Haus zu öffnen. Ihre Familie vor dem Fernseher anzutreffen, wie sie über irgendeine blöde Sitcom lachten. Die Erleichterung zu spüren, sich behaglich, zugehörig und sicher zu fühlen. Daheim zu sein.

Zumindest wünschte sie sich das. Aber das war eine andere Familie, nicht ihre.

Beim Anstieg ihre Straße rauf schmerzten ihr die Glieder. Die Schicht hatte sich ganz schön gezogen. Ellen war sauer gewesen – Bec war doch noch zehn Minuten zu spät gekommen. In der Spiegelung im Edelstahl hatte sie ihr zerlaufenes Make-up und das gekräuselte Haar gesehen und nicht mehr das Geringste dagegen tun können. Im Drive-In-Schalter hatten ihr dann die Unterarme gebrannt, denn sie hatte sich nicht einmal mit Sonnencreme eingerieben.

Wieder überkam sie dieses Gefühl, als ginge die Welt unter. Diese Erschöpfung, durch die sich alles falsch anfühlte. Sie versuchte, nicht an Luke zu denken, denn sie wusste, dass sie sonst nur alles kaputtanalysieren würde. Ins Grübeln käme. Einsähe, dass er sie gar nicht leiden konnte, sie sich zum Affen machte und alle nur über sie lachten.

Langsam ging sie auf das Haus zu. Es war dunkel. Alle Fenster pechschwarz.

DRITTES KAPITEL

2014

Eine weiße Lichtröhre taucht aus dem dichten Schwarz auf. Ich schließe wieder die Augen. Zu hell. Mein Hals ist trocken, der Schädel brummt. Ächzend reibe ich mir die Augen. Irgendwas kratzt mich dabei an der Wange. Ich blinzle den Schleier weg und blicke mir aufs Handgelenk. Ein Plastikbändchen hängt daran, auf dem fett „Winter, Rebecca“ steht. Mit schwerem Kopf sehe ich mich um. Auf einem Stuhl am Fuß des Betts schläft der Officer von gestern Abend.

O Mann. Das wird eine ganze Nummer schwieriger als gedacht.

In dem finsteren Klohäuschen kamen mir Kälte, Angst und Erschöpfung noch wie das größere Übel vor. Jetzt, wo ich in einem Krankenhausbett aufwache und ein Detective die Tür versperrt, wird mir klar, dass ich womöglich einen Fehler gemacht habe. Ich war tatsächlich so dämlich gewesen zu glauben, ich könnte einfach so mir nichts, dir nichts ein ganz neues Leben anfangen.

Im Zimmer ist es still. Nichts als die Atmung des schlafenden Cops und gedämpfte Stimmen ein paar Zimmer weiter. Rechts von mir ist ein Fenster. Vielleicht kann ich das schaffen.

So leise es geht, setze ich mich auf. Mein Arm ist bandagiert und stinkt nach Desinfektionsmittel, tut aber kaum weh. Bestimmt wegen dem Zeug in dem Tropf, der mir in der Hand steckt. Ein Blick an mir herab zeigt nichts als Unterwäsche und das dünne Krankenhaushemd. Jemand hat mich ausgezogen. Fast muss ich lachen – wie oft bin ich wohl schon nackt in einem fremden Bett aufgewacht?

Mit einem grunzenden Schnarchen reißt der Detective sich selbst aus dem Schlaf.

„Bec“, sagt er und reibt sich lächelnd die Augen.

Ich sehe ihn an. Die Tür kann ich vergessen.

„Erinnern Sie sich noch an mich? Von gestern Abend? Vincent Andopolis.“ Er sieht mich besorgt an. Das geht alles zu schnell, ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.

„Alles ist irgendwie verschwommen.“ Meine Stimme ist noch von Schlaf und Schmerzmittel belegt. Besser, ich sage nicht zu viel, bis ich weiß, was, zur Hölle, ich tun soll.

Aber ich erinnere mich: Er ist der Detective aus der Abteilung für vermisste Personen, der meine beiden Cop-Chauffeure als „Hohlköpfe“ bezeichnet hat. Gestern Abend konnte ich ihn nicht gut erkennen und im kalten, sterilen Licht des Krankenhauses wirkt er ganz anders. Die grauen Augen und breiten Schultern lassen den gut aussehenden Mann erahnen, der er mal gewesen sein muss, aber der Bauch spannt ordentlich das Hemd und das Haar ist mehr Salz als Pfeffer.

„Waren Sie die ganze Nacht hier?“, frage ich.

„Ich konnte ja schlecht zulassen, dass Sie wieder verschwinden. Ihre Mutter steht sowieso kurz vor einer Klage.“ Ein schiefes Grinsen. „Wie geht’s?“ Er deutet auf meinen Arm.

„Ganz gut“, sage ich, obwohl die Wunde schmerzhaft pulsiert, und bemerke dann ein Häufchen Sachen auf dem Stuhl neben ihm. Er folgt meinem Blick.

„Ihre Eltern sprechen grade mit meinem Partner.“ Er räuspert sich. „Ein paar Dinge sind noch zu erledigen, bevor Sie sich wiedersehen können.“

Eine Schlafanzughose, ein T-Shirt und etwas Unterwäsche liegen sauber gefaltet auf dem Stuhl, obenauf eine Haarbürste.

„Waren sie schon hier?“ Ganz bestimmt nicht.

„Sie konnten es nicht fassen, bis sie Sie gesehen haben.“

Mir schwirrt der Kopf. Die waren hier drin. Haben mich schlafen sehen. Und trotzdem halten sie mich immer noch für ihre Tochter. Also haben die Blessuren im Gesicht sogar sie getäuscht. Die größte Hürde hab ich schon genommen und war nicht mal bei Bewusstsein. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Andopolis strahlt zurück.

„Ehrlich gesagt bin ich selber überglücklich, Sie zu sehen. Ein wahres Wunder.“

Ein Wunder? Was für ein Trottel. Wie kann so einer für Vermisstenfälle verantwortlich sein? Die Panik von vor ein paar Sekunden verfliegt. Vielleicht wird das doch nicht so schwer.

„Ein Wunder, ja“, sage ich und schenke ihm mein bestes Arschkriecherlächeln.

Er sagt nichts, sieht mich nur an. Wahrscheinlich denkt er, wir hätten grade irgendeine Verbindung oder so.

„Wann darf ich hier raus?“, frage ich.

„Vermutlich heute Abend, wir müssen nur ein paar Dinge abwickeln, dann können Sie los.“

„Was für Dinge?“

„Na ja, ich habe noch ein paar dringende Fragen. Dann müssen ein paar Tests gemacht werden, um sicherzustellen, dass Sie gesund sind.“

Ich versuche, nicht zu blinzeln. Ich bin am Arsch.

Er zieht einen Notizblock aus der Tasche. „Die Polizei von New South Wales hat mir mitgeteilt, Sie hätten angegeben, dass Sie entführt wurden.“

Ich nicke. Je weniger ich sage, desto besser.

„Und kannten Sie den oder die Entführer? Vor der Entführung, meine ich?“ Er blickt mich erwartungsvoll an.

Ich schüttle den Kopf.

„Wissen Sie noch, wo man Sie gefangen hielt? Jede Kleinigkeit kann helfen.“

„Nur ganz verschwommen. Ich kann mich nicht richtig erinnern“, sage ich langsam. Er sieht ruhig zu, als erwarte er, dass noch was kommt. Die Stille zwischen uns schwillt an.

Endlich wendet er sich ab, klappt den Block zu und schiebt ihn zurück in die Tasche. „Ich lasse Sie erst mal in Ruhe, und wir machen weiter, wenn die Tests durch sind.“

„Dann kann ich nach Hause?“

Er fixiert mich, als ob er auf etwas wartet.

„Möchten Sie das denn?“, fragt er schließlich.

„Ja, klar.“

Ich versuch mich an einem beruhigenden Lächeln und bald ist sein schiefes Grinsen zurück.

„Die Schwester kommt gleich.“

Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, springe ich aus dem Bett. Mein Kopf ist schwammig, aber das ignoriere ich. Der Tropf rollt mir zum Fenster nach. Die Scheibe ist ringsum versiegelt, lässt sich nicht öffnen. Bestimmt haben die Schiss, dass einer rausspringt. Die drei Stockwerke könnten immer noch allerhand anrichten. Draußen drängen sich Menschen vor dem Eingang. Ärzte und Sanitäter kommen rein, Kranke humpeln hinaus. Autos, Taxis, Krankenwagen. Selbst mit den Klamotten, die Rebeccas Eltern gebracht haben, könnte ich kaum einfach hier rausspazieren.

Ich gehe rüber zum Stuhl und halte das rosa T-Shirt und die mit Katzen bedruckte Schlafhose vor mich. Sieht aus, als hätten Rebecca und ich in etwa dieselbe Größe. Glück gehabt. Ich nehme die Bürste in die Hand. Kupfern glänzende Haare haben sich in den Borsten verfangen.

Als die Schwester kommt, um mich für die Tests abzuholen, liege ich wieder im Bett, unschuldig wie ein Lämmchen. Wenn ich das durchstehe, bekomme ich eine neue Identität. Es gibt bei diesem Spiel zu viel zu gewinnen, um einfach aufzugeben.

Mit geballten Fäusten lasse ich den Arzt an mir herumdrücken. Auf der Suche nach Verletzungen hat er sich von oben meinen Körper hinabgearbeitet. Jetzt spricht er laut aus meinem Schritt zu mir.

„Das wird jetzt ein bisschen kalt.“

„Das tut vielleicht etwas weh.“

„Gleich fertig.“

Ich setze eine beschämte Miene auf, doch in Wahrheit bin ich gewohnt, dass Kerle da unten blind herumstochern.

„Danke, Rebecca, gut gemacht“, sagt er. „Sie können jetzt aufstehen.“

Er zieht den Vorhang hinter sich zu, als bliebe mir noch irgendwelche Würde zu bewahren. Ich schlüpfe in die Unterwäsche und lausche, wie er mit der Schwester spricht.

„Können Sie schon mal den Abstrich vorbereiten? Außerdem brauchen wir drei Röhrchen für die Blutprobe.“

Nichts da! Auf keinen Fall kriegen die meine DNA oder mein Blut. Und nicht bloß, weil sie dann erfahren, dass ich nicht Rebecca Winter bin, sondern auch, weil sie rausfinden könnten, wer ich wirklich bin. Der Vorhang geht wieder auf.

„Sind Sie so weit, Rebecca?“, fragt der Arzt.

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