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Jenseits des Weges

Wieder zu sich selbst finden, alte Wunden verheilen lassen und neue Kräfte sammeln. Das erhofft sich Liz von ihrer Wanderung auf dem rauen John Muir Trail in Kalifornien. Als ihr Freund darauf besteht, sie zu begleiten, ahnt sie bereits, dass dies keine gute Idee ist. Diesen Pfad will sie allein beschreiten. Aber um Erlösung zu erlangen, muss Liz ihren Blick auch jenseits des Weges schweifen lassen.

Die fesselnde Geschichte einer Selbstfindung


  • Erscheinungstag: 12.09.2016
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676298
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sonja Yoerg

Jenseits des Weges

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Edith Beleites

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Middle Of Somewhere

Copyright © Sonja Yoerg 2015

erschienen bei: NAL Accent, an imprint of New American Library,

a division of Penguin Group (USA) LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München

Redaktion: Anna Hoffmann

Titelabbildung: Gordan, PhotoStock 10, Zack Frank, Izf / shutterstock

ISBN eBook 978-3-95967-629-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Liz hüpfte von einem Fuß auf den anderen und schlang die Arme um den Körper, weil es so kalt war. Auf der Veranda der Parkverwaltung, die für den wilden, streng geschützten Teil des Yosemite Valleys zuständig war, unterhielt Dante sich lebhaft gestikulierend mit anderen Wanderern. Er stand mit dem Rücken zu ihr, aber die anderen sahen ihn so amüsiert an, da er offenbar gerade etwas Witziges erzählte. Um seine Erfahrungen als Rucksacktourist konnte es sich dabei jedoch nicht handeln, denn er hatte keine. Seinen Bedarf an Naturerlebnissen deckte er, indem er beim Work-out im Fitnessstudio aus dem Fenster schaute. Aber es spielte keine Rolle, worüber er redete. Selbst wenn er über die Bigotterie von Autofahrern sprach, die der Umwelt zuliebe regelmäßige Ölwechsel vornahmen, über das Brotbacken oder die neuesten Katzenvideos auf YouTube, war er charmant und geistreich. Liz kannte ihn jetzt seit zwei Jahren und konnte immer noch nicht fassen, mit welcher Mühelosigkeit er wildfremde Menschen in seinen Bann zog. Er war wie schimmernder Samt, alle anderen grobes Leinen.

Ihre prall gefüllten, aufrecht stehenden Rucksäcke auf der Holzbank neben ihr erinnerten an Menschen, die auf den Bus warteten. Liz widerstand dem Impuls, sich ihren einfach zu schnappen und ohne Dante loszugehen. In dessen Rucksack befanden sich Utensilien, die für eine dreiwöchige Wanderung unverzichtbar waren. Dabei hatte sie immer vorgehabt, sich den John Muir Trail allein zu erobern.

Sie stellte den linken Fuß auf die Bank und band den Wanderstiefel fester, stülpte das Bündchen der Socke darüber und machte am Straßenrand ein paar Schritte, um zu prüfen, ob jetzt beide Stiefel gut saßen. Es war kurz vor neun, und das Yosemite Valley erwachte langsam. Zwei Teenager in Jogginghosen, überdimensionalen Sweatshirts und Uggs schlurften über den Asphalt. Übernächtigte Familienväter schoben Kinderkarren. Junge Männer in überteuerter Outdoorkleidung mit kleinen Rucksäcken für höchstens eine Tageswanderung stolzierten zwischen den Gebäuden umher – Restaurants, ein Lebensmittelladen, eine Krankenstation, ein Besucherpavillon, Souvenirshops, eine Feuerwache und sogar ein Viersternehotel. Es war eine Schande, dass der Wanderweg auf so einem Rummelplatz begann. Liz konnte es kaum erwarten, hier wegzukommen.

Sie holte Dantes iPhone aus der Vortasche seines Rucksacks und rief Valerie an. Seit dem ersten Collegejahr vor elf Jahren war sie ihre beste Freundin. Damals war ihr das Leben noch so vielversprechend vorgekommen wie ein Handyvertrag mit jeder Menge Freiminuten.

„Dante?“, meldete sich Valerie.

„Nein, ich bin’s.“

„Hast du dein Handy verloren?“

„Das liegt im Auto. Auf dem Weg hierher gab es meistens keinen Empfang. Sogar hier habe ich nur einen Balken.“

„Wie soll Dante das überstehen? Ohne Handy wird er doch verrückt!“

„Meinst du? Wie geht’s Müsli?“ Valerie hütete Liz’ Kater.

„Sieht er dich auch manchmal an, als hielte er dich für das Letzte?“

„Andauernd.“

„Dann geht es ihm wohl gut.“

„Hast du noch Hausschuhe an?“ Valerie war Webdesignerin und arbeitete meist zu Hause. In ihrem Kleiderschrank hingen zwanzig Pyjamas wie bei anderen berufstätigen Frauen die Businesskostüme.

„Fahre gerade den Computer hoch. Habt ihr die Wandergenehmigungen bekommen?“

„Hmm.“

„Du klingst ja nicht gerade begeistert.“

Worüber sollte Liz begeistert sein? Das hier war nicht, wovon sie so lange geträumt hatte. Sie wollte den John Muir Trail, kurz JMT, allein wandern. Inmitten Tausender Quadratkilometer offener Landschaft hoffte sie, den Weg zu einem richtigeren Leben zu finden. Bis jetzt kannte sie ihn jedenfalls nicht. Alle Entscheidungen, die sie getroffen hatte – inklusive der vor sechs Monaten, als sie zu Dante gezogen war –, schienen zum jeweiligen Zeitpunkt die richtigen gewesen zu sein, bis sich in schöner Regelmäßigkeit herausstellte, dass sie falsch waren. Sie basierten auf Annahmen, Wunschdenken und kleinen Lügen, die zwar gut gemeint waren, aber von einer zur anderen führten. Am Ende dieses Hirngespinsts hing eine Wahrheit, die Liz immer wieder aus den Fingern glitt, kaum dass sie sie zu fassen geglaubt hatte.

Vielleicht, hatte sie gedacht, könnte sie mit Dante zusammen sein und sogar bei ihm wohnen, wenn sie so tat, als spräche nichts dagegen. Sie liebte ihn genug, um sich das fast einreden zu können. Aber kaum hatte sie die Umzugskartons ausgepackt, überwogen die Zweifel. Sie sehnte sich nach einer Auszeit, um der endlosen Invasion von Freunden zu entkommen, die Dante um sich scharte. Dem Gefühl, von einem Strudel mitgerissen zu werden, der letztlich in eine Ehe münden und sie zu einem kaum noch identifizierbaren Teil eines ominösen „Wir“ machen würde. Das konnte sie Dante aber nicht erklären. Damals so wenig wie heute. Das war die Krux. Stattdessen erzählte sie ihm, schon vor Jahren habe sie den JMT wandern wollen und nun sei es höchste Zeit, wenn sie dieses Vorhaben noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag im November von ihrer To-do-Liste streichen wollte. Eine solche Liste existierte zwar nicht, aber Dante glaubte ihr, und so blieb der wahre Grund für ihre Wanderpläne unentdeckt.

Die Parkverwaltung stellte nur eine limitierte Anzahl Wandergenehmigungen für die verschiedenen Routen im Schutzgebiet aus, und sobald Liz’ Entschluss feststand, hatte sie so eine Genehmigung sofort beantragt. Als die dann per E-Mail eintraf, löste sie die widersprüchlichsten Gefühle aus. Einerseits war sie erleichtert, andererseits fragte sie sich, ob sie diesem Unternehmen gewachsen war. Noch zwei Monate. Dann würde sie die Ruhe genießen, nach der sie sich so sehr sehnte. Es kam ihr vor wie Medizin, wenn auch eine bittere.

Zwei Wochen bevor es losgehen sollte, hatte Dante dann plötzlich verkündet, er würde mitkommen.

„Aber du hattest doch noch nie einen Rucksack auf dem Rücken! Und dann willst du gleich mit einem Marsch von dreihundertfünfzig Kilometern anfangen?“

„Ich würde dich zu sehr vermissen.“ Er öffnete die Hände in einer Unschuldsgeste, als sagte er die reine Wahrheit.

Doch es musste mehr dahinterstecken. Warum sonst sollte er sich auf einen Urlaub einlassen, der für ihn der nackte Horror sein würde? Jedenfalls versuchte sie ihm die Sache auszureden, erinnerte ihn daran, dass er mit Natur nichts anzufangen wusste, dass er die Kälte und Müsliriegel hasste. Dass eine dreiwöchige Wanderung das Letzte war, was er auf sich nehmen wollte. Aber er ließ sich nicht umstimmen und wischte ihre Bedenken vom Tisch, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu kapitulieren.

Jetzt sagte sie zu Valerie: „Natürlich bin ich begeistert. Am liebsten würde ich auf der Stelle loslaufen, aber Dante hält noch vor der Parkverwaltung Hof.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, drei Wochen lang nichts von dir zu hören. Was soll ich bloß ohne dich anfangen? Wen soll ich vollquatschen?“

„Dich selbst. Steck dir Kopfhörer in die Ohren und trage das Telefon wie einen Geigerzähler vor dir her. Wer dich so sieht, hält dich für einen ganz normalen Telefonjunkie.“

„Darauf läuft es wohl hinaus.“ Valerie senkte die Stimme. „Aber mal im Ernst, Liz: Glaubst du wirklich, dass du das überstehst?“

Reflexartig legte Liz eine Hand auf den Bauch. „Es geht mir gut, wirklich. Es ist doch bloß eine Wanderung.“

„Eine Wanderung ist, wenn ich bei Trader Joe’s einkaufen will und erst an der nächsten Straßenecke einen Parkplatz finde. Dreihundertplus Kilometer sind eine andere Liga. Und deine Fehlgeburt liegt erst drei Wochen zurück.“

Aus Sorge, Dante könnte mithören, entfernte sich Liz ein paar Schritte die Straße hinunter. „Es geht mir gut, Val. Wirklich.“

„Und du wirst es Dante bei der erstbesten Gelegenheit erzählen, statt auf den perfekten Moment zu warten?“

Trotz der Kälte waren Liz’ Handflächen schweißnass. Dante wusste nichts von der Schwangerschaft, aber auch Val kannte nicht die ganze Wahrheit. Bei einem ihrer täglichen Telefonate vor drei Wochen hatte Liz nur gesagt, sie sei krank, ohne zu verraten, was ihr fehlte. Valerie wusste, dass Dante an dem Tag nicht in der Stadt war, und hatte kurzerhand bei Liz vorbeigeschaut. Als sie ankam, lag Liz auf der Couch, eine Wärmflasche auf dem Bauch.

„Krämpfe?“

„Nein“, hatte Liz mit Blick auf den Teppich gesagt. „Schlimmer.“

Valerie war dann von einer Fehlgeburt ausgegangen, und Liz hatte ihr nicht gestanden, dass es eine Abtreibung war. Gemessen an dem Täuschungsmanöver gegenüber Dante wog das gegenüber Val weniger schwer. Zwar hatte die Freundin versprochen, Dante nichts zu verraten, aber wann immer Liz daran dachte, wurde sie ganz panisch. Sollte Val doch nicht dichthalten, war es besser, wenn sie nicht alles wusste. Dante würde sie mit Sicherheit verlassen, wenn er die ganze brutale Wahrheit erfuhr.

„Ja, ich rede mit ihm. Aber es muss irgendwo sein, wo mir ein Fluchtweg offensteht.“

„Keine Angst. Er wird es verstehen. Schließlich war es nicht deine Schuld.“

Liz’ Brust war wie eingeschnürt. „Hör mal, Val …“

„Verdammt! Ich schaue gerade auf die Uhr. Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Also mach’s gut.“

„Du auch.“

„Und verlauf dich nicht.“

„Hier kann man sich nicht verlaufen.“

„Dann fall nicht von irgendeiner Klippe.“

„Ich versuch’s.“

„Und geh den Bären aus dem Weg.“

„Ich liebe Bären. Und sie lieben mich.“

„Natürlich. Wie konnte ich das vergessen? Aber ich liebe dich auch.“

„Und ich dich. Bye.“

„Bye.“

Liz verstaute das Handy, schloss den Reißverschluss der Vortasche und zurrte die Schnüre beider Rucksäcke noch einmal fest. Sie würden so lange unterwegs sein, dass sie es sich nicht leisten konnten, etwas zu verlieren. Außerdem gaben nachlässig geschnürte Rucksäcke knarzige Geräusche von sich, und Liz hasste jede Art von Knarzen.

Dante war immer noch dabei, sein Publikum zu unterhalten. Als er sich einmal zu Liz umdrehte und sie jungenhaft angrinste, zeigte sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Er machte ein erschrockenes Gesicht, das natürlich reine Show war, beeilte sich aber, seinen neuen Freunden die Hände zu schütteln und zu ihr zu kommen.

„Liiiz!“ Er legte ihr die Hände an die Wangen und strich ihr dann das kurze braune Haar hinter die Ohren. „Ich wusste ja nicht, dass du schon wartest. Tut mir leid.“

Gegen seinen Charme war sie genauso wenig immun wie der Rest der Welt. Es amüsierte sie, wie er ihren Namen aussprach, und sie war sich sicher, dass er seinen Akzent dabei extra dick auftrug. Englisch hatte er an den besten Schulen von Mexico City gelernt, und schon seit sieben Jahren wohnte er in den USA. Es gab also keinen Grund, warum er wie der Chihuahua in den Werbespots von Taco Bell sprechen sollte.

„Schon gut.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Aber wir sollten wirklich losgehen. Hast du den Wetterbericht gehört?“

„Aber ja.“ Er breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. „Es wird ein wunderschöner Tag.“

„Hat der Ranger das gesagt?“

Más o menos. Schau dich doch um!“ Mit einer ausladenden Geste zeigte er in den strahlend blauen Himmel über den Wipfeln der Kiefern.

Das kann sich schnell ändern, dachte Liz. Vor allem um diese Jahreszeit. Ursprünglich hatte sie am letzten Donnerstag im August starten wollen. In den Sierras konnte es jederzeit hageln oder schneien, mit oder ohne Gewitter. Aber Anfang September war es meist trocken. Als Dante sich dann in den Kopf setzte, unbedingt mitzukommen, hatte er natürlich keine Wandergenehmigung, und alles hatte sich um gut zwei Wochen verzögert. Zwei Wochen in Richtung Wintereinbruch.

Heute war der fünfzehnte September. Ein Tag wie ein Postkartenmotiv. Und Dante strahlte, als könne er zwanzig weitere Tage dieser Art garantieren.

Als er das Höhenprofil des John Muir Trails zum ersten Mal sah, sagte er, es erinnere ihn an das EKG eines Infarktpatienten. Steigungen von Hunderten Metern, genauso wie die Abstiege, und das jeden Tag, und zwar mehrfach.

„Der erste Tag wird dir besonders gefallen“, hatte Liz gesagt und in ihrer Wanderkarte erst auf ihren Startpunkt in zwölfhundert Metern Höhe gezeigt und dann, nach zwanzig Kilometern Fußmarsch, auf die Stelle, wo sie das erste Mal übernachten würden, in dreitausend Metern Höhe.

Dante hatte den Kopf geschüttelt. „Unmöglich.“

„Schwierig, ja. Aber absolut machbar.“

Daraufhin hatte er dafür plädiert, auf die Kletterpartie der ersten Etappe zu verzichten und stattdessen zu ihrem zweiten Etappenziel, Tuolumne Meadows, zu fahren und die Wanderung dort zu beginnen.

„Das wäre geschummelt“, meinte Liz.

„Es könnte unser schmutziges Geheimnis bleiben.“

„Ich will aber den ganzen John Muir Trail wandern!“

Unwillig hatte er das Gesicht verzogen, aber nicht weiter insistiert.

Jedenfalls nicht bis sie zwei Stunden Anstieg hinter sich hatten. Keuchend löste er den Hüftgurt seines Rucksacks und ließ diesen zu Boden gleiten. Schweißflecken durchtränkten sein grünes T-Shirt. Liz trat zur Seite, um eine Gruppe Tagestouristen vorbeizulassen. Dann stützte sie sich auf ihre Wanderstöcke, nahm den Rucksack aber nicht ab. Schon zweimal hatten sie Rast gemacht und noch nicht mal die Höhe des Nevada Wasserfalls erreicht, der nur knapp vier Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt lag.

Dante ließ sich auf einen Felsbrocken fallen, nahm seine Cap ab und wischte sich mit den Ärmeln den Schweiß von der Stirn. „Es ist noch nicht zu spät, um umzukehren und nach Tuolumne zu fahren.“

Liz ließ den Blick über das Tal schweifen. Die Aussicht als atemberaubend zu bezeichnen wäre noch untertrieben. In gut einem Kilometer Entfernung schoss der Wasserfall über eine Granitklippe, als gösse jemand schwungvoll einen Krug Milch aus. Ein Stück tiefer krachten die Wassermassen auf einen Felsvorsprung, der sie bündelte und in den schäumenden Fluss stürzen ließ. Nahe der Abbruchkante zeichneten sich bunte Silhouetten von Menschen ab, die das Spektakel aus der Nähe bestaunten. Dieser erste Vorgeschmack auf die unermessliche vor ihr liegende Weite minderte ein wenig das Gefühl, jemand habe ihr die Brust zugeschnürt. Über dem Wasserfall ragte der Liberty Cap wie ein riesiger Granitzahn in den Himmel, dahinter lag der Half Dome – sechshundert Meter senkrechte Felswand mit abgerundeter Kuppe, als habe eine unvorstellbare Kraft den riesigen Berg in der Mitte durchgesägt und die vordere Hälfte einfach verschwinden lassen. Aber Liz wusste es besser: Ein Gletscher hatte hier ganze Arbeit geleistet, Millimeter für Millimeter.

Mit dem Rücken zu Dante sagte sie: „Lass uns wenigstens bis zum Wasserfall weitergehen. Dann machen wir Mittagspause und sehen weiter. Okay?“

Hinter dem Wasserfall wurde das Gelände ebener, oder zumindest hatten sie nicht mehr das Gefühl, eine ebenso endlose wie steile Treppe vor sich zu haben. Nach etlichen Kurven passierten sie die Abzweigung zum Half Dome, wo die meisten Tagestouristen die Hauptroute verließen. Es war früher Nachmittag, und die Sonne erhitzte ihre Rücken wie eine Infrarotlampe. Schon um kurz nach zwei hatten sie die drei Liter Wasser ausgetrunken, die sie aus dem Tal mitgeschleppt hatten. Als der Weg zum ersten Mal den Sunrise Creek kreuzte, packte Liz den Trinkwasserfilter aus. Zu Hause hatte sie Dante sicherheitshalber gezeigt, wie er funktionierte, aber Technik war nicht gerade sein Fachgebiet. Wahrscheinlich konnte er Bakterien, Viren und Parasiten mit einem Augenzwinkern und seinem unwiderstehlichen Lächeln aus verunreinigtem Wasser locken, aber sie war Gerätetechnikerin. Sie und Dante arbeiteten für dieselbe Firma; Liz konstruierte myoelektrische Arm- und Beinprothesen, die mit noch vorhandenen Muskeln interagierten, Dante war im Vertrieb tätig.

Am Ufer des Creeks hockte sie sich ins Gras, stöpselte die Schläuche an die Handpumpe und ließ den Auffangbehälter zu Wasser. In nur fünf Minuten hatte sie drei Liter gefiltert. Eine der Flaschen reichte sie Dante mit den Worten: „Kalt und köstlich!“ Gierig trank er davon.

Sie baute das Gerät wieder auseinander und steckte den Ansaugschlauch in eine Plastiktüte, die sie bereits vor der Wanderung mit SCHMUTZIG! beschriftet hatte.

„Komischerweise schmeckt jedes Gewässer anders“, sagte sie. „Manche nach Flusskieseln, andere süßlich und wieder andere einfach nur … rein.“

Sie verstaute den Wasserfilter in der dafür vorgesehenen Seitentasche ihres Rucksacks und zog den Reißverschluss zu. Dann sah sie zu Dante auf. Er schaute mit dem besonderen Blick auf sie herab, der exklusiv für sie reserviert war. Seine dunkelbraunen Augen waren ganz sanft, und in seinen Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. Es war der Blick von jemandem, der wusste, er würde gleich ein lang ersehntes Geschenk erhalten. Einen Moment lang ließ sie sich von der Liebe durchströmen, die in diesem Blick lag, dann stand sie auf, um die Hinterlassenschaften ihres Imbisses einzupacken und den Rucksack zu verzurren.

Sie hatte die Wanderkarte studiert, als sie sich zur Rast niederließen, und wusste, bis zum heutigen Etappenziel lagen noch achteinhalb Kilometer und fast fünfhundert Höhenmeter vor ihnen. Ihre Füße taten weh, und ihre Waden protestierten, als sie sich und ihren dreißig Pfund schweren Rucksack – fast ein Viertel ihres Körpergewichts – bergan schleppte. Sie war genauso fit wie Dante, aber dieser erste Tag verlangte ihrem Körper deutlich mehr ab als gewohnt. Sie wusste, dass ihr das Wandern leichter fallen würde, wenn ihre Muskeln mit der fortgesetzten Beanspruchung stärker wurden, aber Fakt war: Dieser erste Tag war eine Zumutung.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, während ihre Füße kleine Staubwolken aufwirbelten. Der Creek blieb eine Weile in ihrer Nähe. Bis er verschwand und nur noch Kiefern, Felsen und der Weg zu sehen waren. Nach etwa einer Stunde erreichten sie eine Anhöhe. Der Weg führte ein Stück auf dem Kamm entlang, dann senkte er sich wieder zum Creek ab, der sich plätschernd zwischen den Steilhängen ins Tal ergoss. Wo das Ufer etwas flacher war, machten zwei Wanderer Rast – die ersten, denen sie seit der Abzweigung zum Half Dome begegneten. Es waren zwei Männer, beide angelehnt an einem Kiefernstamm. Einer von ihnen war sogar im Sitzen von imposanter Größe. Er hatte sich Stiefel und Socken ausgezogen und saß mit gekreuzten Füßen da. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Als sich der andere, kleinere, zu ihnen umdrehte und winkte, erkannte Liz die Ähnlichkeit sofort. Das gleiche sandfarbene Haar, das gleiche kantige Kinn, die gleichen fleischigen Lippen. Brüder. Sogar ihre Rucksäcke waren gleich. Kobaltblau.

„Hey“, sagte sie.

Der Große schlug die Augen auf und massierte sich das Kinn. „Hallo.“

Im Näherkommen schätzte Liz die beiden auf Mitte zwanzig. Der Große war offensichtlich der Ältere – nicht nur wegen seiner äußeren Erscheinung, er benahm sich auch so.

„Hallo“, sagte Dante und stellte sich neben Liz. „Alles im Lot?“

„Alles bestens. Wir machen nur eine kurze Verschnaufpause.“

„Verstehe. Ich bin auch total erledigt. Bis zu Petrus’ Himmelstor kann es nicht mehr weit sein.“

Der Große grinste und griff zu einer Zwei-Liter-Limoflasche, die inzwischen aber mit Wasser aus dem Bach gefüllt war. „Ist das euer Ziel?“

Liz sah Dante von der Seite an, neugierig auf seine Reaktion. Er grinste gutmütig und sagte: „Irgendwann schon, wenn wir Glück haben. Aber heute geht’s erst mal nur zum … Wie heißt das noch mal, Liz?“

„Sunrise Camp.“

„Genau. Zum Sunrise Camp“, sagte Dante.

Der Mann nickte. „Seid ihr nur übers Wochenende unterwegs, oder macht ihr die ganze JMT Enchilada?“ Er zog eine Grimasse, als er „Enchilada“ sagte, und sprach das Wort mit spanischem Akzent aus.

Liz zuckte zusammen, weil sie fürchtete, dass es ein Seitenhieb auf Dantes südländisches Erscheinungsbild sein sollte. Aber eigentlich machte der Große einen freundlichen Eindruck, und so sagte sie nur: „Den ganzen JMT. Jedenfalls ist das der Plan.“

„Dann nehmt ihr euch ja ’ne Menge Zeit für eure Beziehung.“

Liz wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

Dante übernahm, indem er fragte: „Und was ist euer Plan?“

Die Brüder tauschten einen Blick. Dann sagte der Jüngere: „Kommt drauf an, wie wir drauf sind. Vielleicht wird’s eine längere Wanderung, vielleicht ein Kurztrip.“

Dante nickte, als wünschte er, selbst so viel Entscheidungsfreiheit zu besitzen.

„Okay dann“, sagte Liz und wollte das Ganze so schnell wie möglich beenden. „Viel Spaß bei … was auch immer.“

„Den haben wir immer“, sagte der Jüngere.

Liz setzte sich in Bewegung, und Dante folgte ihr. Nach wenigen Metern gabelte sich der Weg, und sie blieb stehen. Ein Weg führte quer durch den Creek und dann bergauf, der andere folgte dem Wasserlauf ein Stück bergab, bevor er vom Wald verschluckt wurde.

Sie drehte sich zu den Männern um, zeigte mit den Wanderstöcken auf die beiden Wege und rief: „Wisst ihr, welchen wir nehmen müssen?“

Der Ältere zeigte bergauf.

„Danke.“

Mit den Blicken der beiden im Rücken überquerte Liz den Creek besonders vorsichtig und benutzte ihre Wanderstöcke zum Balancieren, wenn sie auf die teils überspülten Steine trat. Ihr Rucksack war so schwer, dass schon ein kleiner Ausrutscher zum Sturz führen konnte. Aber sie erreichte das andere Ufer unbeschadet, wartete auf Dante und schlug dann den Weg ein, der nach links bergan führte.

Eine Zeit lang verlief der Weg parallel zum Creek, dann stieg er steil an, und ihr Rucksack schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Das Gelände wurde immer unebener, und sie musste ganz genau schauen, wo sie hintrat. Hinter sich hörte sie Dante schnaufen. Zwanzig Minuten nach der Creeküberquerung blieb sie keuchend stehen.

„Meinst du, wir sind hier richtig?“

Dante war die Anstrengung anzusehen. „Woher soll ich das wissen?“

„Irgendwie kommt es mir hier verkehrt vor. Der Weg war doch sonst nicht so schlecht.“

„Vielleicht ist es nur eine unwegsame Stelle.“

Sie kämpften sich weiter bergan, aber der Weg wurde immer unebener. Nach einer Viertelstunde verlor er sich ganz.

„Verdammt!“, sagte Liz und rammte einen Stock in den Boden.

Sie gingen zu der Abzweigung zurück. Die Brüder saßen immer noch da und blickten Liz und Dante vom anderen Ufer des Creeks entgegen.

Liz versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend sie war, als sie auf den Weg zeigte, der bergab führte. „Da geht’s lang.“

„Wirklich?“, sagte der ältere Bruder. „Ich war mir ganz sicher, dass es bergauf geht.“

Der Jüngere sagte: „Da habt ihr uns was erspart. Danke.“

„Kein Problem“, sagte Dante.

Dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Bevor der Weg nach links abbog, schaute Liz sich noch einmal um. Der ältere Bruder sah ihnen nach. Auf diese Entfernung konnte sie sich nicht sicher sein, aber sie hatte den Eindruck, dass er schadenfroh grinste.

2. KAPITEL

Um halb sieben berührte die Sonne den Horizont, und sie erreichten ihr Ziel. Das Camp lag oberhalb von Long Meadow, einer weiten Lichtung zwischen den Kiefern. In der Ferne ragten die Echo Peaks und Matthes Crest wie Wächter in die Höhe. Das gelbliche Gras sehnte sich nach dem ersten Regen seit Anfang Mai. Sogar der Schnee auf den Berggipfeln war geschmolzen.

Ächzend schnallte Dante sich den Rucksack ab und stellte ihn auf den Boden, dann setzte er sich auf einen umgestürzten Baum und zog die Stiefel aus. Liz packte das Zelt aus und begann, den Lagerplatz von Tannenzapfen und Steinchen zu säubern.

„Wie geht es deinen Füßen?“

Dante legte einen Knöchel aufs Knie und begutachtete seine Blessuren. Genau wie der Rest seiner Ausrüstung waren seine Stiefel neu, aber im Gegensatz zu den anderen Sachen hatte er sie gekauft, ohne auf Liz’ Rat zu hören. Zugegebenermaßen waren italienische Zamberlans eine gute Wahl, aber sie mussten extra geliefert werden, und Liz hatte bezweifelt, ob ihm genug Zeit bleiben würde, um sie einzulaufen. Deswegen hielt sie es für klüger, in ein Geschäft zu gehen und leichtere und modernere Stiefel zu kaufen, die er zudem noch anprobieren könnte. Aber Dante hatte die Zamberlans bestellt, woraufhin sie vorsorglich reichlich Verbandwatte einpackte.

„Ein paar Zehen sind wund, aber längst nicht alle.“ Er zeigte auf die geröteten Stellen, dann bewegte er den Fuß nach oben. „Und das da auf der Hacke sieht wie eine Blase aus.“

Liz breitete die Bodenplane für das Zelt aus. Blasen am ersten Tag. Kein guter Start. „Morgen packst du deine Füße in Watte. Und das meine ich wörtlich.“

„Okay, Mama.“ Dante schnüffelte an seinen Achseln. „Ich stinke wie ein Otter.“

„Keine Sorge. Ich habe gelesen, dass die Feuerwehr eine Trinkwasserleitung für das High Sierra Camp gelegt hat. So brauchen wir nicht extra Wasser zu filtern, und wenn du ein bisschen mehr holst, kannst du dich sogar waschen. Luxus pur, was?“

„Großartig! Nach der Plackerei ein Bad in einer Pfütze!“

„Ein kaltes Bad in einer Pfütze.“

„Selbstverständlich.“

Liz steckte die Zeltplane an der geschwungenen Mittelstange fest, führte die Abspannleinen durch die entsprechenden Ösen, und das Zelt stand. „Ta-da!“ Sie hoffte, Dante würde sie beglückwünschen, aber er rieb sich weiter die Zehen.

Ein Stück entfernt kam ein Wanderer aus dem Wald. Obwohl es schon dunkel wurde, trug er eine Sonnenbrille. Offenbar hatte er sich verirrt, denn er befand sich nicht auf dem Wanderweg.

„Hallo!“ Liz winkte ihm zu. „Vom Weg abgekommen?“

„Sieht so aus.“ Er machte einen Schritt auf Liz zu und stieß dabei mit dem Fuß an einen Baumstumpf, sodass er sich bemühen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und hinzufallen. Liz hatte den Eindruck, er orientierte sich eher mit den Ohren als mit den Augen. „Ich will zum High Sierra Camp.“

„Glückspilz! Das Camp soll ja eine ganz große Nummer sein.“

Vorsichtig kam der Mann mit kleinen Schritten näher. „Das will ich hoffen. Ich habe erst heute davon gehört.“

Dante schaute von seiner Fußinspektion auf und fragte Liz: „Warum übernachten wir da eigentlich nicht?“

„Weil uns die harte Tour lieber ist.“ Schmollend blickte Dante sie an.

„Jedenfalls einigen von uns. Außerdem muss man da Monate im Voraus reservieren.“

Wie angewurzelt blieb der Mann stehen. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Er öffnete den Hüftgurt seines Rucksacks und streifte die Schultergurte ab, als seien es die Arme eines wild gewordenen Orang-Utans, der ihn strangulieren wollte. Der Rucksack stieß daraufhin an einen vorstehenden Felsen, und man hörte Metall und Glas klirren.

„War das eine Kamera?“, fragte Liz.

Der Mann ignorierte sie, und sie sah ihn besorgt an. Sie fragte sich, warum er seine Sonnenbrille nicht absetzte. Genauso wenig konnte sie verstehen, warum jemand, dem Komfort so wichtig war, wandern ging, und dann noch allein. Dante hatte wenigstens einen guten Grund, hier zu sein, auch wenn ihm immer noch nicht klar zu sein schien, worauf er sich eingelassen hatte. Sie hatte ihn zu warnen versucht, aber das hatte er als Desinteresse an ihm gedeutet, und von da an hatte sie lieber den Mund gehalten. Bei dem Sonnenbrillenmann war es etwas anderes. Warum tat er sich das an? Ob er vielleicht eine Wette verloren hatte?

Er trat mehrfach gegen seinen Rucksack und schrie bei jedem Tritt: „Ich bringe ihn um! Ich bringe ihn um!“ Erschöpft taumelte er einige Schritte, stolperte über einen Stein und fiel krachend auf seine Hüfte. „Diese verfluchten Steine überall!“

Dante sprang auf, um ihm zu helfen, aber als er merkte, dass er noch barfuß war, setzte er sich wieder. Barfuß gehen war nicht seins. „Alles in Ordnung?“

Bei seinem Ausbruch hatte der Mann seine Sonnenbrille verloren. Jetzt tastete er auf Händen und Knien nach ihr.

„Kannst du nicht gut sehen?“, fragte Liz und dachte, es könnte sich dabei um eine mentale Störung handeln.

Aus irgendeinem Grund schien ihn diese Frage zu beruhigen, und er schaute zu Liz auf.

„Oh!“ Aufgeregt sprang sie auf und ab und zeigte auf ihn. „Du bist das!“ Sie drehte sich zu Dante um, um zu sehen, ob er den Mann auch erkannt hatte. Doch Dante blickte nicht einmal in ihre Richtung, sondern kramte in seinem Rucksack. „Dante!“

„Was denn?“, fragte er, ohne aufzuschauen. „Ich suche meine normalen Schuhe.“

„Das ist der Typ aus diesem Film!“

„Da sind sie ja.“ Dante zog sich die Schuhe an. „Meine Füße bringen mich um. Welcher Film?“

Liz deutete weiterhin auf den Mann, in der Hoffnung, Dante würde begreifen, wen sie meinte, sobald er sich nicht mehr mit seinen Schuhen beschäftigte. Der Mann saß mittlerweile in Denkerpose auf einem Felsbrocken, rieb sich die Hüfte und machte ein Gesicht, als erwartete er, dass alles noch schlimmer kommen würde.

„Der Film, den wir uns letzte Woche angesehen haben. Er hat den einfältigen Polizisten gespielt.“ Kaum hatte Liz das gesagt, entschuldigte sie sich bei dem Mann mit einem Schulterzucken.

Er hob eine Hand, um zu zeigen, dass er nicht beleidigt war. „Matthew Brensen“, sagte er resignierend. „Was soll das Versteckspiel?“

„Genau“, sagte Liz. „Du wusstest, dass wir dich erkennen würden.“

Dante ging auf Brensen zu, schüttelte ihm die Hand und stellte sich und Liz vor. Der Schauspieler war kein großer Star. Einen Oscar würde er bestimmt nie gewinnen, aber immerhin war er berühmt genug, um seine peinlichen Momente eines Tages in Entertainment Tonight wiederzufinden.

Jetzt fragte er: „Wollt ihr gar nicht wissen, was ich hier mache?“

„Den Tag verfluchen“, vermutete Liz. Inzwischen hatte sich ihre Aufregung gelegt. Außerdem war sie müde und hungrig, und es war ratsam, etwas zu essen, bevor es noch dunkler und kälter wurde.

Brensen nickte niedergeschlagen. „Mein Manager, dieser Idiot, hat mir eine Rolle in einem dieser beschissenen Wanderfilme verschafft. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hat der Regisseur auch noch verlangt, dass ich mich mit der Materie erst mal vertraut mache. Horizonterweiterung und so ein Scheiß.“ Er klang wieder so sauer wie am Anfang ihrer Begegnung. Dann breitete er die Arme aus und sagte bitter: „Da bin ich also. Und soll ich euch noch was verraten? Es stinkt mir gewaltig.“

Dante nickte verständnisvoll. Brensen griff nach seinem Handy und fluchte, als er erkannte, dass er kein Netz hatte. Der Himmel war inzwischen blaugrau und wurde zum Horizont hin blassrosa. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die fernen Gipfel in ein bernsteinfarbenes Licht. Ein paar Rehe betraten die Lichtung, um zu grasen.

„Weißt du was?“, sagte Liz zu Brensen. „Dante will gerade ein kaltes Bad in einer Pfütze nehmen. Bestimmt hat er nichts dagegen, wenn du dich ihm anschließt.“

Als Liz am nächsten Morgen glaubte, es sei hell genug, kroch sie aus dem Zelt, während Dante noch im Tiefschlaf lag. Ihre gemeinsame Körperwärme hatte das Zelt so aufgeheizt, dass Liz nun beinahe einen Kälteschock erlitt. Sie holte ihre Vliesmütze aus der Tasche ihrer Daunenjacke, setzte sie auf und zog sie sich über die Ohren.

Dann goss sie Wasser aus ihrer Trinkflasche in den einzigen Kochtopf, den sie mitgenommen hatten, und zündete den Brenner an. Als kleine blaue Flammen aufzüngelten, schaute sie sich lächelnd um. Ein Morgen in den Bergen. Sie erklomm einen nahen Granitüberhang, um eine bessere Aussicht zu bekommen, obwohl ihre Beine nach den gestrigen Anstrengungen protestierten.

Die Frage, woher das Sunrise Camp seinen Namen hatte, stellte sich nicht. Die grasbewachsene Lichtung erstreckte sich über gut drei Kilometer und lag noch fast im Dunkeln, aber die ersten Sonnenstrahlen trafen bereits auf die Cathedral Peaks und ließen sie in einem warmen Orange erstrahlen. Es würde wieder ein wunderschöner Tag werden. Kein Lüftchen regte sich. Das einzige Geräusch, das sie vernahm, war ihr eigener Atem. Es war ein Bilderbuchmorgen. Die ganze Welt lag klar und still da, und die Sonne war ihr einziger Zeuge. Liz empfand diesen verzauberten Moment als etwas, das so alt war wie die Welt selbst, und zugleich fühlte es sich neu und nie da gewesen an. Dieser Moment gehörte nur ihr und sie ihm.

Vor lauter Überwältigung musste sie schlucken und begann zu zittern. Sie klopfte sich warm und stieg wieder zum Zelt hinab. Das Wasser würde inzwischen kochen, und sie hatte Kaffeedurst.

Dante schlief immer noch, und sie bereitete sich auf den Tag vor. Zuerst holte sie die sogenannten Bärendosen hervor – bärensichere Plastikzylinder, die von der Parkverwaltung zur Aufbewahrung von Lebensmitteln, Waschzeug und Abfall vorgeschrieben waren. Liz und Dante hatten jeder eine, und mit sorgfältiger Planung reichten die Essensvorräte darin für zehn Tage. Laut Dante konnte man auf die Lebensmittel jedoch gut verzichten, weil sie sowieso nicht schmeckten, und den Rest konnte man seiner Meinung nach auch vergessen.

Mit klammen Fingern nestelte Liz am Schnappverschluss der Deckel, aber ihr war so kalt, dass sie keine Kraft hatte; also nahm sie einen Löffel zu Hilfe. Dann verflüssigte sie genug Milchpulver für das Frühstücksmüsli und holte schon mal die Lebensmittel heraus, die sie tagsüber benötigen würden – Müsliriegel, Studentenfutter, Käse mit Wachsrinde und Vollkornbrot. Dieser Vorgang hatte den Vorteil, dass sie nicht bei jeder Rast in ihrem Gepäck herumwühlen müssten. Sie trank eine Ration Wasser und ging dann zu der extra verlegten Trinkwasserleitung, um die Flaschen aufzufüllen. Brensens Rucksack lehnte an einem Baum. Daneben lag etwas, das an eine gigantische Schmetterlingslarve erinnerte: Brensen in seinem Schlafsack. Nur Stirn und Haare schauten heraus. Am Vorabend hatte er, wie er sagte, dermaßen die Schnauze voll, dass er sich nicht die Mühe machte, sein Zelt aufzubauen. Solange es nicht regnete, war das gar keine schlechte Idee, fand Liz.

Sie kehrte zum Zelt zurück, rollte ihren Schlafsack zusammen und ließ die Luft aus ihrer Matratze. Während sie damit beschäftigt war, wanderte die Grenze zwischen Licht und Dunkelheit immer weiter über die Lichtung in ihre Richtung. Liz schaute auf die Uhr. Halb acht. Zeit, Dante aus seinem Schönheitsschlaf zu wecken.

Er sei nie ein Morgenmensch gewesen, und ausgerechnet heute werde er ganz bestimmt keiner werden. In seinem Schlafsack sei es schön warm, und seine Beine und Schultern fühlten sich an, als sei er in der Nacht von einem Preisboxer in die Mangel genommen worden. All das murmelte er unter Protest vor sich hin.

„Ich war es jedenfalls nicht“, sagte Liz und tröstete ihn damit, dass die heutige Route vorwiegend bergab führen würde.

„Im Sinne von ab jetzt geht’s nur noch bergab?“

Liz musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht daran zu erinnern, dass er darauf bestanden hatte mitzukommen. Das ganze Unternehmen war noch zu frisch und der Morgen viel zu schön, um dieses Thema anzuschneiden. Stattdessen begann sie, das Zelt abzubauen, während er noch mittendrin lag. Er rührte sich nicht, bis sie die Mittelstange herauszog und das Zeltdach auf ihn fiel. Sobald er auf den Beinen war, beeilte er sich wegen der Kälte, sodass sie sich knappe zwanzig Minuten später auf den Weg machen konnten.

Zuerst kamen sie an Brensen vorbei, der immer noch in seinem Kokon lag. Liz bedauerte, dass sein Gesicht nicht zu sehen war. Sonst könnten sie ein Foto machen, sagte sie, und es der Boulevardpresse mailen, wenn sie Tuolumne Meadows erreichten.

Dante wurde ganz aufgeregt. „Da unten gibt es Internet?“

„Hab ich gehört.“

„Bueno!“

„Und einen gut sortierten Lebensmittelladen.“

„Im Ernst?“

„Und Bier.“

„Bier!“

„Und Stellplätze mit Plasmafernsehern, Dolby Surround Sound und Sessel mit Flaschenhaltern.“

Dante blieb stehen. „Ist das wirklich wahr?“

Liz drehte sich zu ihm um, legte ihm die Hände auf die Schultern und küsste ihn. „Nein.“

„Aber das mit dem Bier stimmt, oder? Über so was macht man nämlich keine Witze!“

Die Aussicht, sich am Abend erfrischen zu können, hielt Dante ein paar Stunden bei Laune, bis er sich etwas Wasser ins Gesicht spritzen wollte und dabei in den Cathedral Lake rutschte. Bis zu den Knien. Er konnte nichts anderes tun, als die Socken zu wechseln und dann weiterzumarschieren. Natürlich würde die Feuchtigkeit seinen Blasen nicht guttun, aber wenigstens war das Streckenprofil auf den letzten acht Kilometern bis Tuolumne Meadows einigermaßen flach.

Dass sie dem Ziel nahe waren, merkten sie, als sie einem Pulk von drei Dutzend Koreanern mit Turnschuhen begegneten. Dann wiesen Schilder den Weg zu einem riesigen Zeltplatz, der fast voll belegt war. Nicht nur mit Wanderzelten, sondern auch mit Wohnwagen, größer als Schulbusse, in denen Fernsehbildschirme flimmerten. Überall brummten Generatoren. Gut gekleidete Menschen begafften sie von eingezäunten Picknicktischen und Liegestühlen aus. Liz kam sich vor wie ein Flüchtling, der sein gesamtes Hab und Gut durch einen Ort schleppt, in dem nie Krieg geherrscht hat.

Was jemanden daran reizen konnte, ein rollendes Haus in einen Nationalpark zu stellen, konnte sie nicht nachvollziehen. Die letzte Wegstrecke zwischen dem Yosemite Valley und Tuolumne Meadows war der reinste Spießrutenlauf für sie. Natürlich war ringsherum die herrlichste Natur zu bewundern, aber die Menschenmassen störten sie gewaltig. Morgen würden sie in südlicher Richtung weiterwandern, durch weitgehend menschenleere, unberührte Natur. Sie konnte es kaum erwarten.

Inmitten der Wohnwagenflotte wirkte der Zeltplatz geradezu schäbig, obwohl jeder Stellplatz über einen Picknicktisch, einen kleinen Kocher und einen verschließbaren Spind verfügte, für all die Dinge, die es vor Bären zu schützen galt. Außerdem gab es einen Laden, fließend Wasser und Toiletten. Für Liz war es fast schon kein Camping mehr, aber Dante war begeistert. An der erstbesten freien Stelle ließ er seinen Rucksack fallen, wechselte die Schuhe und fragte Liz, ob er ihr etwas aus dem Laden mitbringen sollte. Dann verschwand er.

Liz schaute sich nach einem ruhigeren Plätzchen um. Nicht weit vom Eingang kam sie an einem gelben, leeren Zelt vorbei, vor dem niemand zu sehen war. Auf dem Picknicktisch standen zwei blaue, ihr bekannte Rucksäcke: Sie gehörten den Brüdern, die sie gestern getroffen hatten. Schnell ging Liz in die entgegengesetzte Richtung weiter und entschied sich schließlich für einen Platz, der ein gewisses Maß an Privatsphäre versprach. Sie riss ein Blatt aus ihrem Notizbuch, malte einen Pfeil darauf und ging zu Dantes Rucksack zurück, um den Zettel unter einen Gurt zu stecken. Zurück am auserkorenen Platz begann sie, das Zelt aufzubauen.

Eine halbe Stunde später kam Dante mit vollen Armen zurück. Grinsend sagte er: „Rate mal, wen ich im Laden getroffen habe!“

„Den nächsten Promi?“

„Nein, die Typen von gestern. Erinnerst du dich?“

„Wie könnte ich die vergessen? Irgendwie unheimlich, die beiden.“

„Wieso das denn? Sie heißen übrigens Payton und Rodell, und ich finde sie sehr nett.“

„Payton und Rodell? Was sind das denn für Namen? Das hast du dir ausgedacht!“

„Nein, sie heißen wirklich so. Payton und Rodell Root. Aus Arcata, wo immer das sein mag.“

„Im Norden von Kalifornien. Im äußersten Norden.“

„Vielleicht heißt da jeder Dritte so. Abgesehen davon haben sie sich diese Namen ja nicht selbst gegeben.“

„Da hast du auch wieder recht.“

„Sie haben irgendwelche Leute kennengelernt, die nachher Boccia spielen wollen, und wir sind eingeladen.“

„Nachher? Wann?“ Liz schaute auf die Uhr. Es war fast sechs.

„Um acht oder so.“

„Um acht oder so schlafe ich schon. Wir müssen morgen früh los. Bist du denn gar nicht müde?“ Dumme Frage. Wenn irgendwo etwas los war, musste Dante mit von der Partie sein. Immer und überall.

„Nein. Mir tun zwar die Füße weh, aber sonst bin ich fit.“ Er packte seine Einkäufe aus: Bier, Bratenaufschnitt, Brot, Schokolade und Ibuprofen. Dantes Nahrungsmittelpyramide.

„Im Ernst, Dante, wir müssen morgen früh los.“

Er verzog das Gesicht. „Wozu die Eile? Hier ist es doch schön.“ Er hielt sein Handy in die Luft. „Drei Balken!“

„Du weißt ganz genau, warum wir uns beeilen müssen. Die Muir Trail Ranch wird über den Winter geschlossen. Wenn wir uns da nicht noch mal mit Lebensmitteln eindecken, haben wir nichts für die letzten neun Tage. Und wenn wir nicht mindestens zweiundzwanzig Kilometer pro Tag schaffen, kommen wir da nicht rechtzeitig an. Das weißt du doch selber, Dante!“

„Ja, gut. Aber das Ganze hier soll doch auch Urlaub sein. Und bis jetzt fühlt es sich nicht so an.“

„Es ist Urlaub, wenn auch ein anstrengender.“

„Das ist ein … Wie heißt das noch mal? Ein Oxymormon.“

„Ein Mormone, der nach Luft schnappt? Ich glaube, du meinst Oxymoron, ein widersprüchlicher Begriff.“

„Genau. Widersprüchlich. Sich anstrengen und Urlaub machen ist nämlich widersprüchlich in sich.“

Liz beugte sich zu ihm vor. „Willst du wirklich so an die Sache herangehen? Das langweilt mich! Ich für meinen Teil bin nicht hergekommen, um Boccia zu spielen. Auch nicht, um Bier zu trinken, obwohl ich mir gleich eins genehmigen werde. Und ehrlich gesagt bin ich auch nicht hergekommen, um die ganze Zeit Motivationscoach, Butler und Mama für dich zu spielen.“ Sie richtete sich wieder auf. „Tu, was du willst. Ich gehe morgen um halb acht los.“ Dann schnappte sie sich ein Bier und wandte sich von Dante ab.

An diesem Abend ging sie allein schlafen, aber obwohl sie ziemlich erschöpft war, dauerte es lange, bis sie entspannen konnte. Zuerst traf der Schein einer Taschenlampe andauernd auf ihr Zelt, als Leute auf dem angrenzenden Stellplatz ihr Lager aufschlugen, dann führten sie lauthals und endlos diverse Telefonate. Mehrfach war Liz drauf und dran, aufzustehen und sich zu beschweren, aber es war so kalt, dass sie lieber im Schlafsack blieb. Außerdem war ihr Tagesbedarf an Streit fürs Erste gedeckt.

Später wachte sie davon auf, dass Dante den Reißverschluss am Zelteingang öffnete und umständlich in seinen Schlafsack kroch. Er sagte kein Wort, und auch Liz verzichtete darauf. Aber auf die Uhr sah sie – Viertel nach eins – was ihr inzwischen jedoch egal war.

Bei Sonnenaufgang stand sie auf, kletterte über Dante und aus dem Zelt. Er konnte schlafen wie ein Murmeltier. Sobald er sich hinlegte, fielen ihm die Augen zu, und sobald er eingeschlafen war, konnten ihn kein Erdbeben, kein Partylärm, kein Feuerwerk und kein Gewitter wecken. Erstaunlicherweise nicht einmal der Hund der neuen Zeltnachbarn, der laut und ausdauernd bellte. Normalerweise schrieb Liz seinen gesunden Schlaf einem guten Gewissen zu, aber heute wusste sie, dass er aus einer Mischung von zu spätem Zubettgehen und purer Faulheit resultierte.

Als sie die Bärendosen aus dem Spind holte und auf den Picknicktisch stellte, sah sie seine einigermaßen getrockneten Socken draußen vor dem Zelt liegen. Jetzt waren sie mit Tau vollgesogen und würden weitere Blasen verursachen. Kopfschüttelnd begann sie, Kaffee zu kochen. Schon kurz darauf überraschte er sie damit, dass er von allein aufstand. Er verbreitete zwar keine gute Laune, aber wenigstens brauchte Liz ihm das Zelt nicht wieder auf den Kopf fallen zu lassen.

Sie verließen den Zeltplatz und stießen am Fuße eines sanften Hügels wieder auf den Wanderweg. Liz ging voran, Dante trottete hinterher. An einer Brücke über dem Tuolumne River studierte ein älteres Paar die Wanderkarte und teilte sich einen Apfel. Man grüßte einander, aber Liz blieb nicht stehen, um ein Schwätzchen zu halten. Ihr war immer noch kühl, und sie wollte in Bewegung bleiben. Heute würden sie den touristisch erschlossenen Teil des Nationalparks verlassen, und sie konnte es kaum erwarten.

„Geh doch nicht so schnell!“, rief Dante ihr nach.

Sie drosselte das Tempo ein wenig. „Ich gehe nicht schnell. Ich bin lediglich ausgeschlafen und habe keinen Kater.“

Humpelnd schloss er zu ihr auf. „Ich habe keinen Kater, sondern bin gehbehindert.“

„Nasse Socken plus neue Stiefel gleich wunde Füße. Hilft die Watte nicht?“

„Dafür hatte ich keine Zeit. Du wolltest ja unbedingt aufbrechen.“

Sie wirbelte zu ihm herum und starrte ihn böse an. „Dann ist es also meine Schuld? Wie bist du bloß zweiunddreißig Jahre lang zurechtgekommen?“

„Indem ich für alles, was mehr als zehn Kilometer entfernt lag, das Auto benutzt habe, oder wenigstens Bus und Bahn.“

Liz ging zügig weiter. „Wenn du hier noch ein Netz hast, bestelle dir doch ein Taxi.“

Die Kunst des Jammerns, fand Liz, war eine Frage von Gelegenheit und Übung, und Dante hatte genug von beidem gehabt. Als jüngstes von vier Kindern und einziger Sohn hatte man ihm stets alles nachgesehen. Läge ihm auch nur ein Quäntchen Bosheit im Blut, wäre aus ihm ein Despot geworden. Aber da er gutmütig und äußerst charmant war, vergab man ihm, wenn er über die Ungerechtigkeit der Welt und des Lebens lamentierte. Und er war ein Optimist, lamentierte also nicht oft. Abgesehen davon geriet er nur selten in bejammernswerte Situationen.

Liz dagegen war das einzige Kind einer egozentrischen Mutter und eines abwesenden Vaters, sodass sie praktisch nie ein Publikum gehabt hatte, dem sie ihre Nöte vortragen konnte. Außerdem war sie viel zu praktisch veranlagt, um sich in Gejammer zu begeben. Wenn ein Problem auftauchte, löste sie es im Regelfall selbst, und wenn es nicht zu lösen war, verschwendete sie keine Zeit damit, sich darüber zu beklagen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, Dinge zu optimieren. Daher auch ihre Berufswahl: Kranke mit künstlichen Gliedmaßen zu versorgen entsprach genau ihrer Lebensphilosophie. Zupacken brachte ihrer Meinung nach mehr, als sich zu beschweren, dass die Welt nicht perfekt war. Ihr Motto war: Kümmere dich um Probleme, die es wert sind, beseitige sie, und was den Rest betrifft, halt gefälligst die Klappe! Schon in ihrer Kindheit und Jugend hatte sie diesen Leitspruch befolgt und das Getratsche und die Intrigen der anderen Mädchen gemieden. Deswegen hatte sie auch nur wenige Freundinnen. Dabei wollte sie gar nicht „anders“ sein oder abseits stehen. Es war einfach ihre Natur. Und was ihr Elternhaus aus ihr gemacht hatte.

Als sie älter und ihr Horizont weiter wurde, merkte Liz jedoch zunehmend, dass sie sich selbst eine Falle stellte, wenn sie ihre Hoffnungen, Enttäuschungen und Wünsche nicht aussprach. Denn eine Lüge – oder besser: das Ignorieren ihrer wahren Befindlichkeit – ähnelte einem Sandkorn in einer Auster. Sobald es begann, Schicht für Schicht eine Perlenhülle anzulegen, fühlte es sich anders an. Kein anderer konnte es sehen, denn es war ja nicht so, als versuche jemand, Liz gewaltsam zu öffnen, während das Leben wie eine endlose Folge von Ebbe und Flut um sie herumbrandete. Aber sie spürte die Perlen der Lügen und unterdrückten Bedürfnisse tief in ihrem Inneren. Und sie stellten ein Problem dar, dessen Lösung sie nicht kannte.

3. KAPITEL

Der Weg durch den Lyell Canyon stellte keine besonderen Anforderungen an die Wanderer. Die Talsohle war eine weite Ebene, in der sich goldschimmernde Wiesen auf beiden Seiten eines mäandernden Flusses ausdehnten. Er begann am westlichen Ufer und folgte dem Wasserlauf auf einer Strecke von vierzehn Kilometern. Danach, so hatte Liz der Karte entnommen, verengte sich der Fluss zu einem reißenden Gebirgsbach, und der Weg führte steil zum Donohue-Pass hinauf. Aber hier unten im Tal war es eine leichte beziehungsweise monotone Wanderung – je nachdem, wie man es betrachtete. Links der Fluss, rechts ein Wald, vor ihnen in der Ferne die Gipfel des Potter Point und Amelia Earhart Peak. Der Himmel war blau, und im warmen Sonnenschein stieg der Tau als feiner Nebel aus dem Gras. Es war wie ein Spaziergang in der Grünanlage daheim.

Umso mehr empfand Liz Dantes Schweigen als irritierend.

Offenbar dachte er über etwas so Ernstes nach, dass seine übliche Gesprächigkeit versiegte. Normalerweise wären ihr die Stille und das Alleinsein mit ihren eigenen Gedanken willkommen gewesen. Aber jetzt konnte sie nur darüber nachdenken, worüber Dante wohl grübelte, während er hinter ihr Schritt für Schritt vor sich hin brütete. Es hatte keinen Sinn, ihn danach zu fragen, bevor er von sich aus bereit war zu reden. Also blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, an welchem Punkt des Canyons er sich öffnen würde.

Es stellte sich heraus, dass dieser Punkt bei Kilometer neun lag. Liz sagte, sie könne eine Pause vertragen, betrat den Ufersaum neben dem Wanderweg und stellte ihren Rucksack kurz vor dem Fluss ab. Er folgte ihr und nahm den Müsliriegel entgegen, den sie ihm reichte. Während sie ihren Riegel auspackte, suchte sie den Fluss nach Forellen ab. Binnen weniger Sekunden entdeckte sie eine, die so perfekt an das moosgrüne Flussbett angepasst war, dass nur ihr Zucken sie verriet. Dann verschwand sie blitzschnell im Schatten eines größeren Steins.

„Liz“, sagte Dante von hinten. „Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.“ Sie drehte sich zu ihm um. Seine Augen schienen dunkler zu sein als sonst, und zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet. „Ich hätte nicht mitkommen sollen.“

„Sind die Blasen so schlimm?“, fragte sie, wohl wissend, dass das nicht der Grund war.

„Ja. Aber darum geht es nicht.“

Ihr Magen verkrampfte sich. Der ganze Frust, den sie die letzten drei Tage heruntergeschluckt hatte, stieß ihr wieder hoch. „Natürlich ist es anstrengend. Diese Route hat es in sich. Das weiß jeder. Und ich habe es dir vorher gesagt. Ich habe dich gewarnt.“ Es klang so anklagend, dass sie selbst zusammenzuckte. Sie wickelte sich die Verpackung des Müsliriegels um den Finger, wickelte sie wieder ab und begann wieder von vorn.

„Das meine ich nicht. Ich bin nicht mitgekommen, weil ich überzeugt war, ich würde es schaffen. Und die Wanderung abzubrechen hat nichts damit zu tun, dass ich denken würde, ich könnte es doch nicht schaffen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Es ging also nicht um die Wanderung. Natürlich nicht. Obwohl ihr das wesentlich lieber gewesen wäre. „Warum bist du denn mitgekommen?“

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Weil ich dachte, ich würde dich sonst verlieren.“ Und leise fügte er hinzu. „Ich dachte, das wüsstest du.“

Das tat sie. Und dann auch wieder nicht.

Sie wusste nicht, was sie wusste. Nur dass sie wütend auf ihn war. Aber war das fair? Er handelte aus Verzweiflung. Angst und Liebe trieben ihn an. Warum sonst wäre er mitgekommen? Es war so offensichtlich, dass sie beinahe darüber lachen musste, wie blind sie gewesen war.

Er drückte ihre Hand. „Bitte sag was!“

Das war der Moment, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie hörte Valerie auf sie einreden, sie solle nicht so feige sein und ihm endlich von der Schwangerschaft erzählen. Wie durcheinander und verängstigt sie gewesen sei. Und dass sie ihm nichts davon gesagt habe (was, im Nachhinein betrachtet, natürlich das einzig Richtige gewesen wäre), weil sie nicht wusste, ob er das Kind wollte. Er war katholisch und seine moralische Ader so breit wie der Lyell Canyon. Sie dagegen hatte zwar nichts gegen Religion, war aber noch auf der Suche nach einer, die das Periodensystem nicht leugnete. Und obwohl sie ihre Fehler mit Humor betrachten konnte, schützte dieser sie nicht davor, immer wieder neue zu begehen. Sie wünschte, sie könnte sich mit der gleichen Technologie wie bei der Herstellung von Armund Beinprothesen einen Moralkompass ins Hirn implantieren.

Von der Schwangerschaft zu sprechen bedeutete, dass sie auch die Abtreibung gestehen müsste. Jedes Mal wenn sie dieses Gespräch im Stillen geprobt hatte, war ihr an genau jener Stelle der Text ausgegangen. Und selbst wenn sie es schaffte, auch das über die Lippen zu bringen, müsste sie Dante als Nächstes eingestehen, dass sie sich alles andere als sicher war, ob sie mit ihm zusammenwohnen wollte. Denn nur manchmal gelang es ihr, ihre schmerzliche Vergangenheit zu vergessen und einfach glücklich zu sein. In der restlichen Zeit fragte sie sich ständig, ob es richtig war, mit ihm zusammenzuziehen.

Wenn es ihr gelang, die Abtreibung zu gestehen (was höchst unwahrscheinlich war), und Dante dann immer noch zuhörte (unvorstellbar), müsste sie ihm erklären, warum ihre Entscheidungen nichts mit ihm zu tun hatten. Das würde ihn sehr erleichtern, vielleicht sogar ermutigen, denn es bedeutete, sie hätten als Paar noch eine Chance – vorausgesetzt, er könnte über die Sache mit der Abtreibung hinwegkommen. Aber seine Erleichterung wäre verfrüht, denn sie müsste ihm noch etwas erzählen. Etwas, worüber sie noch nie gesprochen hatte. Nicht einmal mit Valerie. Und wenn er diese Geschichte erfuhr, würde er sie mit Sicherheit verlassen und niemals zu ihr zurückkehren.

Allerdings sah es momentan so aus, als beabsichtigte er das ohnehin.

Sie entzog ihm ihre Hand und tat so, als müsse sie sich damit eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischen.

„Ich hatte doch nicht vor, dich zu verlassen. Ich wollte bloß einmal allein wandern gehen.“

Er schüttelte den Kopf. „Du bist schon seit einer ganzen Zeit ziemlich distanziert und machst nur noch Pläne für dich allein.“

„Das stimmt. Ich habe diese Wanderung für mich allein geplant. Und dann war das für dich plötzlich ein Problem.“

„Ja, aber nur, weil diese Sache für dich so … wichtig wurde, beinahe lebenswichtig.“

„Und welches Problem hast du damit? Bin ich dir zu unabhängig?“

Er verzog das Gesicht auf eine Weise, dass sie die Antwort darin ablesen konnte, und sie lautete: Ja. Er tat ihr wirklich leid, denn ihre „Unabhängigkeit“ war – jedenfalls teilweise – das Resultat all dessen, was er nicht über sie wusste. All der Dinge, die sie ihm vorenthielt, weil er sie sonst nicht lieben könnte, und sie brauchte seine Liebe. Ihre Geheimnisse versteckte sie hinter einer Fassade von Selbstständigkeit, die sie zugleich als Stärke ausgeben konnte. Unabhängigkeit war ein Banner, das amerikanische Frauen stolz vor sich her trugen, und Liz wusste, dass Dante sich davon angezogen fühlte. Seine Mutter war eine übersentimentale Person, die ohne fremde Hilfe allenfalls atmen konnte. Darunter hatte die ganze Familie zu leiden.

„Zu unabhängig? Natürlich nicht“, sagte er.

„Pass auf, Dante! Ich war einverstanden, dass du mitkommst, wenn du unbedingt darauf bestehst. Aber nur unter der Bedingung, dass du respektieren würdest, wie ich mir diese Wanderung vorstelle.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber gerade noch genug, um es überzeugend rüberzubringen.

Er sah sie skeptisch an. „Ich dachte, du wolltest mich auf die Probe stellen, und dem Druck habe ich nicht standgehalten.“

„Und jetzt zerfließt du in Selbstmitleid. Warum konntest du mich nicht in Ruhe lassen? Es wäre ganz einfach gewesen.“

„Für dich, Liz. Für mich nicht. Nicht, solange ich nicht verstehe, was mit uns eigentlich los ist.“ Er nahm ein paar Schritte Abstand, drehte ihr den Rücken zu und warf eine Hand in die Luft. „Shit!“

Sie zog die Trinkflasche aus der Außentasche ihres Rucksacks, schraubte sie auf und trank. Dabei beobachtete sie, wie Dante seinen Rucksack auszupacken begann. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte, sagte aber nichts. Was zu sagen war – oder wenigstens das, was beide zu sagen gewillt waren –, war ausgesprochen. Dante holte seine Bärendose aus dem Rucksack, stützte sich mit einer Hand darauf und ließ das Kinn auf die Brust sinken.

„Mit den Stiefeln hattest du recht. Sie haben mir die Füße ruiniert. Wahrscheinlich könnte ich sowieso nicht weitergehen.“

„Das mit deinen Füßen tut mir leid. Das andere auch.“ Es war die Wahrheit. Die ganze Wahrheit.

„Lass uns das Gepäck durchgehen. Ich möchte nicht, dass dir unterwegs etwas fehlt.“

Sie leerten Rucksäcke und Bärendosen und breiteten alles im Gras aus. Es erinnerte an den Abend vor ihrer Abreise, als dieselben Sachen auf ihrem Wohnzimmertisch ausgebreitet waren.

Liz stellte den Inhalt ihrer Bärendose neu zusammen und nahm genug mit, um bis Red’s Meadow versorgt zu sein, wo sie das erste von zwei Vorratspaketen abholen würde, das sie vorausgeschickt hatten. Bis dort waren es noch vier Tagesmärsche. Das zweite Paket wartete auf der Muir Trail Ranch auf sie, fünfundsiebzig Kilometer weiter südlich. Das Zelt und das Kochgeschirr wurden auf Liz’ Stapel gelegt, genau wie das Erste-Hilfe-Set und ein luftdicht verschließbarer Beutel mit praktischen Dingen für Notfälle, wie Nylonschnur, Ersatzhering, Leuchtrakete, wasserfeste Streichhölzer, Kabelbinder, Ersatzleinen und Flickzeug für das Zelt. Damit würde ihr Rucksack ein paar Pfund schwerer. Zu zweit brauchte man nicht viel mehr als allein.

Den Wasserfilter legte sie auf Dantes Stapel, und er sah sie fragend an.

„Ich will nicht noch mehr schleppen. Die Reinigungstabletten tun’s auch.“ Die waren nur für den Notfall vorgesehen. Sie töteten alles ab, was sie sollten, aber der Vorgang dauerte eine Weile. Und wenn das Wasser schlammhaltig war, blieb es trüb.

„Davon hast du aber nicht genug.“

„Ich besorge mir in Red’s Meadow Nachschub.“

„Ich dachte, du findest das Filtersystem besser.“

Sie zuckte mit den Schultern. Dante senkte entschuldigend den Kopf. Hätte sie sich zu Hause von vornherein für einen Solotrip ausgerüstet, hätte sie mit Sicherheit anders gepackt. Vor allem hätte sie ein kleineres Zelt mitgenommen. Als sie noch dachte, sie würde allein losgehen, hatte sie sich eins gekauft, das schmal, niedrig und schön leicht war.

Sie vermutete, dass Paare, die sich trennten, ihre Besitztümer genauso auseinanderdividierten, wie sie es jetzt taten: Dinge, die sie mit in das gemeinsame Zuhause gebracht hatte, Dinge, die ihm gehörten, und dann der unschöne Teil, bei dem es um gemeinsame Anschaffungen aus einer Zeit ging, als sie sich nicht hatten träumen lassen, dass es einmal zu dieser Trennung kommen würde. Doch statt Büchern, Porzellan und dekorativer Kissen handelte es sich hier um Überlebensequipment. Liz griff nach dem Kompass und schloss die Hand so fest darum, dass er sich schmerzhaft in ihre Handfläche drückte.

Dante besah sich den Haufen auf seiner Seite. „Willst du nicht lieber meine Handschuhe nehmen? Die sind wärmer als deine.“ Sein Blick war eine inständige Bitte um ein Zeichen, dass sie immer noch zusammengehörten. Mis cosas son tus cosas.

„Sie sind mir zu groß. Damit könnte ich nicht richtig zupacken.“ Liz gab ihm die Autoschlüssel. „Wahrscheinlich kriegst du den Shuttle ins Valley nicht mehr.“

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