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Am Anfang war dein Ende

Ein junger Mann liegt erschossen im Winterwald von Greenbury, New York. Es sieht nach Selbstmord aus, aber Detective Peter Decker zweifelt daran. Der Tote ist Elijah Wolf, ein brillantes Mathegenie und Student des nahen Colleges. Hinter den ehrwürdigen Mauern der Elite-Uni beginnt Decker nach Antworten zu suchen und stößt dabei auf ein akademisches Schlangennest in dessen Mitte er Missgunst und Mord findet …

"Faye Kellerman ist einfach eine exzellente Autorin."

The Times

"Brutal - aber zugleich tiefsinnig, sehr gut geplotted und rasant geschrieben".

Observer

"Extrem spannend!"

The Daily Mail


  • Erscheinungstag: 06.03.2017
  • Aus der Serie: Ein Decker/Lazarus Krimi
  • Bandnummer: 23
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676328
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Faye Kellerman

Am Anfang war dein Ende

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von
Mirga Nekvedavicius

HarperCollins®

image

Copyright © 2017 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Theory of Death

Copyright © 2015 by Plot Line, Inc.
erschienen bei: HarperCollins Publishers, New York

Published by arrangement with

HarperCollins Publishers L.L.C., New York

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Umschlagabbildung: Dagny Willis, by frscspd / Getty Images
Redaktion: Thorben Buttke

ISBN eBook 978-3-95967-632-8

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

KAPITEL EINS

„Du musst mir einen Gefallen tun.“

Dieser Satz fiel völlig unvermittelt. Umgangsformen am Telefon – wie gutes Benehmen ganz allgemein – hatten noch nie zu den Stärken des Jungen gehört. Decker wusste sofort, wer der Anrufer war. Seit McAdams das Greenbury Police Department verlassen hatte, um in Harvard Jura zu studieren, hatte er sich sporadisch immer wieder bei ihm gemeldet. Hauptsächlich, um sich zu beklagen. Dabei ging es meist weniger um das Studium selbst als um McAdams’ Kommilitonen oder andere Leute, die ihm auf die Nerven gingen.

„Schieß los.“

„Es ist gerade vorlesungsfreie Zeit, und in zwei Wochen sind Prüfungen. Kann ich runterkommen und mich zum Lernen bei euch einquartieren?“

„Klar, komm her. Aber ich weiß nicht, wie ruhig du’s haben wirst.“

„Ich kann an einem der fünf Colleges in die Bibliothek gehen. Gibt ja auch so was wie Ohrenstöpsel. Eins steht fest: Ich muss dringend hier raus.“

„Hast du Probleme?“

„Nein, Harvard hängt mir einfach zum Hals raus. Du kennst mich doch, ich bin kein guter Teamplayer.“

„Lerngruppen sind dann wohl nichts für dich.“

„‚Jede Gruppe ist nur so gut wie ihr schwächstes Glied.‘ Stammt das nicht von dir?“

„Kann sein, dass ich mal was in der Art gesagt habe.“

„Hier wimmelt’s nur so vor schwachen Gliedern, alter Mann. Besser, ich verschwinde hier und mach das auf meine Art.“

„Wie lange willst du bleiben?“

„Zehn Tage, höchstens zwei Wochen. Ich reiß mich auch zusammen. Kein Gemecker, versprochen.“

„Du weißt doch, man soll nur versprechen, was man auch halten kann.“

„Kann ich also kommen?“

„Natürlich, Tyler, du bist jederzeit willkommen. Wann wolltest du uns denn beehren?“

„Ich sitze schon im Bus.“

„Im Bus?“

„Ich hatte keine Lust auf Small Talk mit dem Chauffeur.“

„Verstehe. Normalerweise ist Busfahren doch nicht dein Stil.“

„Stimmt. War ’ne spontane Entscheidung. Schlimmstenfalls hättest du mir eben die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aber dann hätte Rina mich reingelassen, also ist dieser Anruf reine Formsache.“

Decker musste schmunzeln. „Nett, dass du mich auf dem Laufenden hältst.“

„Kannst du mich abholen?“

„Ich bin im Dienst, Tyler.“

„Und Rina?“

„Muss heute auch arbeiten.“

„Es kann doch sicher jemand für dich einspringen. Du holst schließlich einen Kollegen ab, der im Einsatz angeschossen wurde.“

Der Busbahnhof war in Hamilton, nur eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Und Decker hatte gerade nicht sonderlich viel zu tun. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. „Tja, ich könnte wohl jemanden vorbeischicken.“ Er ließ Tyler noch ein wenig länger zappeln. „Oder ich könnte dich vielleicht selbst abholen.“

„Du willst doch nur, dass ich bitte, bitte sage.“

„Genau.“

„Bitte, bitte.“

„Wann kommst du an?“

„In einer Dreiviertelstunde. Und sei pünktlich. Auf Pünktlichkeit lege ich allergrößten Wert.“

Der Himmel war grau und verhangen, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Nach dem letzten Schneesturm war der Highway geräumt worden, aber hier und da war der Asphalt noch spiegelglatt. Trotzdem tat es gut, mal aus dem Revier zu kommen. Die neue Heizungsanlage funktionierte nicht richtig. In nahezu allen Räumen herrschte brütende Hitze – bis auf die Bereiche, in denen es eiskalt blieb. Dieser Winter war zwar milder als der letzte, aber hier im Nordosten bedeutete er jedes Mal eine weiße Landschaft vor dunklen Baumstämmen, vereiste Wälder und in den Gärten nichts als hart gefrorener Boden und toter Rasen. Rina hatte in ihrem Wintergarten Kräuter und Tomaten angepflanzt, die sie hegte und pflegte. In letzter Zeit hatte sie öfter davon gesprochen, sich einen Hund zuzulegen. Einen Mops oder einen Papillon. Einer, der sich gut mitnehmen ließ, wenn sie die Kinder und Enkelkinder besuchten. Decker war etwas weniger enthusiastisch, aber ein kleiner Hund wäre wohl in Ordnung. Er mochte Tiere, zumindest die auf vier Beinen. Von Zweibeinern, die sich wie Tiere aufführten, hatte er nach Jahrzehnten im Polizeidienst gehörig die Nase voll.

Decker bog in den Busbahnhof ein, als gerade der Bus einfuhr. Er stieg aus dem Auto und musste sich erst einmal strecken. Eine halbe Stunde eingezwängt hinter dem Steuer eines Kleinwagens war bei seinen eins fünfundneunzig die reinste Tortur gewesen. Natürlich war er auch nicht mehr der Jüngste, aber er fühlte sich noch ziemlich fit. Er hatte volles, wenn auch mittlerweile weißes Haar, und sein buschiger Schnurrbart ließ noch die ursprüngliche rotbraune Farbe erahnen. Er ging nicht gebückt, und sein Gehirn funktionierte tadellos: Was wollte man mehr?

Obwohl er beinahe jede Woche mit dem Jungen telefonierte, war dies ihr erstes Treffen seit fünf Monaten. Als Tyler aus dem Bus stieg, sprangen Decker sofort Veränderungen ins Auge: Der Junge war immer noch eher schmal gebaut, aber anscheinend hatte er trainiert. Sein Brustkorb wirkte breiter, und auch sein Hals sah kräftiger aus. Er hatte sich die dunkelbraunen Haare wachsen lassen; sie hingen ihm ohne jede Fasson fast bis auf die Schultern. Er musste dringend zum Friseur. Mit seinen grünbraunen Augen, mit denen er gewöhnlich sein Gegenüber eingehend musterte, suchte er nun den Bahnsteig ab. Sobald er Decker entdeckt hatte, zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen.

Als Tyler letzten August Greenbury verlassen hatte, waren seine Schussverletzungen bereits verheilt gewesen. Trotzdem hatten sie Spuren hinterlassen: Er hinkte minimal, was einem nur auffiel, wenn man genau hinsah. Mit der Zeit würde sich auch das geben. Aber die Erinnerung an das, was ihm widerfahren war, würde nicht so schnell verblassen. Decker nahm ihm die Reisetasche ab.

„Willkommen zu Hause.“

Jetzt strahlte Tyler ihn an. „Wenn das hier zu Hause ist, steck ich ganz schön in Schwierigkeiten.“

Decker umarmte ihn. „Wie wär’s dann mit ‚Schön, dass du wieder da bist‘?“

Tyler nahm einen tiefen Atemzug. „Mann, ich fühl mich schon viel besser. Hier hab ich meine Ruhe und muss nicht ständig über alles diskutieren. Wie geht’s Rina?“

„Ich hab noch nicht mit ihr gesprochen.“

„Ach so.“ Tyler sah kurz besorgt aus. „Sie hat doch nichts dagegen, dass ich komme?“

„Keine Panik, Harvard. Hier bist du unter Freunden.“

„Wie ich das vermisst habe! Wie lief’s hier in Greenbury, während ich weg war?“

„Keine Zwischenfälle. Und nach dem, was letzten Winter passiert ist, kann das ruhig so bleiben.“

„Ganz meiner Meinung.“

Die beiden Männer waren am Auto angekommen. Decker öffnete die Zentralverriegelung, Tyler legte seine Tasche auf den Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein. „Also gibt’s gerade nichts Interessantes?“

Decker ließ den Motor an und drehte die Heizung voll auf.

„Einen Toten hatten wir, aber der ist eines natürlichen Todes gestorben. Einundachtzig, Herzinfarkt. Die Tochter hat uns angerufen, weil sie ein paar Tage nichts von ihm gehört hatte. Sah nicht mehr so gut aus, als wir bei ihm zu Hause ankamen.“

„Armer Kerl.“

Dass Tyler Mitleid mit jemandem empfand, war neu für Decker. „Ja, schon traurig. Aber wie ist es dir denn ergangen?“

„Ach, ganz okay.“

„Hast du in letzter Zeit mal Zielübungen gemacht?“

„Ab und zu. Ich hatte nicht viel Gelegenheit, zum Schießplatz zu gehen. Das Studium ist ziemlich zeitintensiv.“

„Das erste Jahr ist das härteste.“

„Ja. Vor allem stinklangweilig. Ist ’ne ziemliche Paukerei. Aber ein paar Sachen interessieren mich wirklich. Hätte ich gar nicht erwartet.“

„Und zwar?“

„Strafrecht. War ja irgendwie klar. Aber dazu muss man sich erst mal gut mit Deliktsrecht auskennen. Gähn. Und das erste Jahr besteht hauptsächlich daraus. Na ja, man muss halt seine Pflichtscheine machen.“ Er drehte sich zu Decker. „Schön, dich endlich wiederzusehen, alter Mann. Siehst gar nicht mal schlecht aus. Für dein Alter.“

„Den Zusatz hättest du dir sparen können. Siehst übrigens selbst nicht übel aus. Du warst im Fitnessstudio.“

„Dabei kann ich mich gut entspannen.“ Tyler fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ja, ich weiß, ich muss dringend zum Friseur. Ich glaub, ich lass mir ’ne Glatze schneiden.“

„Warum das denn? Jetzt hast du noch richtig Haare. Kahl wirst du später vielleicht von ganz allein.“

„Ich hasse es, ständig zum Friseur zu müssen. Wahrscheinlich müsste ich mir auch regelmäßig den Schädel rasieren, damit’s einigermaßen aussieht. Immer muss man sich um sein Aussehen kümmern. Wenn’s nur nach mir ginge, würde ich jeden Tag dieselben alten Jogginghosen und Turnschuhe tragen, bis sie mir vom Leib fallen.“

Decker musste lachen. „Gut, dass du genug Geld hast, um als Exzentriker durchzugehen. Sonst könnte man dich glatt für ’nen Penner halten.“

„Danke. Wenn das der einzige Unterschied ist …“

Ein Anruf vom Revier erreichte sie über das Bluetoothsystem des Wagens. Decker drückte die Lautsprechertaste. Mike Radars Stimme dröhnte heraus.

„Wo zum Teufel bist du?“

„Was gibt’s denn?“

„Wo steckst du?“ Radar klang noch immer angespannt, aber zumindest brüllte er nicht mehr.

„Ich habe gerade Tyler McAdams vom Busbahnhof abgeholt. Er ist ein paar Wochen zu Besuch hier.“

„Hallo, Captain.“

„Hallo, Tyler. Wieder alles im Lot?“

„Ja, alles bestens.“

„Gut. Decker, wann bist du an der Ausfahrt Ellwood?“

„In ungefähr zehn Minuten. Was ist los?“

„Ich gebe dir jetzt die Wegbeschreibung durch. Wir sehen uns dort. Du kannst den Jungen mitbringen.“

„Was ist denn passiert?“

„Wir haben eine Leiche.“

Nachdem sie sich auf den serpentinenartigen, unbefestigten Waldwegen mehrmals verfahren hatten und wiederholt hatten umdrehen müssen, erreichten sie nach einer halbstündigen Fahrt schließlich die entlegene Stelle. Als Decker die Lichtung gefunden und seinen Wagen zu den übrigen Polizeifahrzeugen gestellt hatte, mussten er und Tyler sich noch mehrere Minuten durch den winterlich kahlen Baumbestand bis zum Tatort durchkämpfen.

Das Department machte diesmal einen wesentlich professionelleren Eindruck. Es gab sogar Tatort-Absperrband, das an den Baumstämmen rund um die Leiche befestigt war. Drei Uniformierte bewachten die Stelle und verteilten Schuhüberzieher, Einmalhandschuhe und Klarsichtbeutel für Beweismittel. Decker und Tyler streiften den Schuh- und Handschutz über, dann duckte sich Decker unter dem Absperrband hindurch. Auf dem Boden lag eine Schicht Neuschnee; das Team war so umsichtig gewesen, die Spuren, die zur Leiche hin- und wieder wegführten, nicht zu verwischen. Zahlreiche andere Spuren verliefen kreuz und quer über den gesamten Bereich: Rehe, Hasen, Wildtruthühner und Füchse.

Es handelte sich um eine unbekleidete männliche Leiche. Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken und war leicht nach links gekrümmt. Schätzungsweise eins achtzig, Gewicht zwischen fünfundsechzig und siebzig Kilo. Keine offensichtlichen Verletzungen an Rumpf, Armen und Beinen, ausgenommen Reiß- und Bissspuren, die vermutlich von Tieraktivität herrührten. Auch der Bauch war aufgerissen. Decker bemerkte die Totenflecken an der Unterseite der Leiche: Verfärbungen durch Blut, das sich dort gesammelt hatte. Die Haut fühlte sich kühl an, aber die Leiche war noch nicht gefroren.

Mit dem Handy machte Decker einige Aufnahmen von der Leiche. Dann ging er in die Hocke und wischte vorsichtig die feine Schicht Schnee vom Kopf des Toten. Jetzt konnte er ein rundliches Gesicht, blaue Augen, glattes rotbraunes Haar, volle Lippen und ein leicht fliehendes Kinn erkennen. Der geöffnete Mund gab den Blick auf intakte Vorderzähne frei. An der rechten Schläfe befand sich ein einziges Einschussloch; Gesicht und Schultern waren von angefrorenen Blutspritzern überzogen.

Decker erhob sich wieder. Wenige Zentimeter neben der rechten Hand der Leiche lag ein Revolver; die Finger waren gekrümmt, als sei dem Toten die Waffe aus der Hand geglitten. Etwa einen halben Meter entfernt lag ein säuberlicher Stapel Kleidung, daneben stand ein Paar Schuhe. Decker sah auf sein Handy, aber hier draußen hatte er keinen Empfang. Er drehte sich zu McAdams um. Das letzte Mal, als der eine Leiche gesehen hatte, war ihm schlecht geworden. „Alles okay?“

„Geht schon. Vermutlich weil wir im Freien sind und es nicht so schlimm riecht.“

„Frische Luft hilft.“

„Die Leiche sieht übel aus. Tierfraß, oder?“

„Sehr wahrscheinlich.“ Decker wandte sich Lauren Hellman zu, der Polizistin, die ihm am nächsten stand. Sie war in den Dreißigern und hatte blonde Locken und braune Augen. „Wer hat ihn gefunden?“

„Anonymer Anruf im Revier. Wir sind hier im Funkloch, also kann der Anrufer nicht direkt aus dem Wald angerufen haben.“

„Das System hat aber doch sicher die Handynummer gespeichert.“

Hellman lächelte. „Na klar. Als wir zurückgerufen haben, war nur eine Mailbox dran. Von einem Carson. Der Captain fand, er klang wie ein Teenager. Er hat ihm draufgesprochen, dass er sich umgehend bei der Polizei melden soll. Selbst wenn er’s nicht tut, kriegen wir raus, wer er ist.“

„Den Jungen muss ich dringend vernehmen. Das Opfer sieht selbst fast noch wie ein Teenager aus.“

„Collegestudent?“, schlug McAdams vor.

„Uns liegt keine Vermisstenmeldung von den Colleges vor.“

„Machen die das normalerweise?“

„Wenn die Leute länger als ein, zwei Tage verschwunden sind, schon. Aber in diesem Fall ist es vielleicht noch nicht so lange her. Die Leiche ist noch nicht gefroren.“ An Lauren gewandt: „Hat jemand irgendwas angefasst?“

„Nein, Sir.“

„Lag die Kleidung schon so, als Sie hier ankamen?“

„Ja, Sir.“

„Okay. Haben Sie den Coroner schon benachrichtigt?“

„Ich glaube, Captain Radar hat das Büro des Coroners von New York angerufen. Keine Ahnung, ob er auch externe Ermittler angefordert hat.“

„Nicht nötig. Wir schaffen das auch allein. Ist schließlich nicht wie der Mordfall letztes Jahr.“

Lauren runzelte die Stirn. „Ist auch besser so, was, Detective McAdams?“

„Stimmt.“

„Wusste gar nicht, dass Sie wieder da sind.“

„Nur für ein, zwei Wochen.“

„Da sind Sie ja gerade rechtzeitig gekommen.“

Decker schaltete sich ein: „Er ist nicht dienstlich hier.“

„Bin ich nicht?“

„Ich dachte, du musst für die Prüfungen lernen.“

„Prüfungen sind überbewertet …“ Tyler grinste und rieb sich die behandschuhten Hände. „Was kann ich für dich tun, alter Mann?“

„Wenn du wirklich helfen willst, hol dein Handy raus und mach Fotos von der Kleidung und den Schuhen. Ich könnte auch noch ein paar von der Leiche gebrauchen, bevor ich mir die Taschen vornehme. Dann will ich noch etwas ausmessen.“

„Geht klar.“

Decker vermaß die Entfernung zwischen Leiche und Kleiderstapel sowie zwischen rechter Hand und Pistole. Als er alles notiert hatte, ging er in die Hocke und durchsuchte die Taschen der Kleidungsstücke, wobei er sich Mühe gab, den Stapel so wenig wie möglich durcheinanderzubringen. Leer. Nicht mal das kleinste Fitzelchen Papier. Er erhob sich und klopfte sich den Schmutz von der Hose. „Wir haben eine unbekannte männliche Leiche.“ Er drehte sich zu McAdams um: „Was ist deine Einschätzung?“

„Weil ich ja so viel Erfahrung habe.“

„Beantworte die Frage.“

Der junge Mann überlegte einen Augenblick. „Selbstmord oder Mord, der wie Selbstmord aussehen soll.“

„Warum Selbstmord?“

„Äh … Weil die Pistole neben seiner rechten Hand liegt und die Wunde auch rechts ist.“ McAdams ging in die Hocke und betrachtete die Wunde aus der Nähe. „Feine Blutspritzer an der Schläfe. Wenn wir die rechte Hand überprüfen, finden wir vermutlich Schmauchspuren. Keine offensichtlichen Blutergüsse oder Würgemale, die man als Kampfspuren interpretieren könnte.“

„Gut, und weiter?“

„Ich bin doch gerade erst angekommen. Hab etwas Nachsicht mit mir: Jetlag.“

„Wir sind hier in derselben Zeitzone wie Boston.“

„Sei doch nicht so pingelig …“

Decker konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. „Gesetzt den Fall, es war Selbstmord, muss unser Unbekannter zu Fuß hierhergekommen sein. Fahrradspuren sehe ich nämlich keine.“

„Dafür gibt’s jede Menge Fußspuren.“

„Dann lass uns die mal genauer ansehen. Diese hier …“ Decker deutete auf die Abdrücke von einem Paar Schuhe. „Die kommen aus dem Wald und enden genau hier. Vom Abdruck kann man nicht allzu viel erkennen, das meiste vom Profil ist durch den Neuschnee verwischt, der dann wieder getaut ist. Aber da unter den Bäumen sind ein paar gut erhaltene. Was bedeutet, dass er gestern Abend hier ankam, bevor es geschneit hat.“

„Aber diese andere Spur hier kommt aus der entgegengesetzten Richtung. Es gibt ziemlich viele Abdrücke, und das Profil ist wesentlich besser zu erkennen. Viel frischer, vermutlich von heute früh.“

„Richtig. Unser anonymer Anrufer und wahrscheinlich ein Freund, denn es sind zwei Spuren. Sie enden etwa einen Meter vor der Leiche; dann führen sie abrupt wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Und wie man sehen kann, ist der Abstand der einzelnen Abdrücke auf dem Rückweg größer.“

„Sie rennen von der Leiche weg.“

„Ganz genau.“ Decker dachte einen Moment nach. „Wenn das hier Mord war, würde ich Hinweise im Schnee erwarten. Schleifspuren neben den Fußspuren etwa.“

„Vielleicht hat der Mörder die Schleifspuren verwischt und abgewartet, bis der neue Schnee den Rest bedeckt hat.“ Tyler hielt kurz inne. „Dann glaubst du, es war Mord?“

„Ist ein seltsamer Ort für Selbstmord. Normalerweise wollen Selbstmörder, dass sie möglichst schnell gefunden werden.“

McAdams nickte. „Und was machst du aus der Tatsache, dass er nackt ist?“

„Gute Frage. Die Welt verlassen, wie er sie betreten hat.“ Decker schüttelte verständnislos den Kopf. „Zuallererst müssen wir rauskriegen, wer er ist. Sieh zu, dass du viele Fotos von seinem Gesicht machst, denn wenn wir keinen Ausweis oder etwas in der Art finden, müssen wir uns von Tür zu Tür durchfragen.“

„Oder von College zu College.“

„Oder auch das. Wenn du die Fotos hast, mach ein paar Nahaufnahmen von den Spuren im Schnee, die von Menschen stammen, aber auch von allem anderen. Danach machst du Abgüsse von den einzelnen Schuhabdrücken.“

„Hast du die Ausrüstung dabei?“

„Hinten im Auto.“ Decker zögerte. „Weißt du überhaupt, wie man einen Abguss nimmt?“

„Ich hab’s zwar noch nie gemacht, aber so schwer kann’s ja nicht sein.“

„Im Schnee ist es nicht ganz so leicht, da braucht man viel Fingerspitzengefühl. Trotzdem wird das Resultat nicht perfekt sein, weil Eis nun mal schmilzt. Ich zeig dir, wie’s geht. Eigentlich ganz einfach, aber die Mixtur muss glatt und blasenfrei sein. Und dann zügig arbeiten, bevor das Zeug fest wird. Ach, weißt du was, Tyler, ich mach die detaillierten unter dem Baum, die vermutlich vom Opfer stammen, du übernimmst die vom anonymen Anrufer und seinem Kumpel.“

„In Ordnung.“ Während McAdams die Fotos machte, ging Decker zurück zu Lauren. „Hat jemand ein Auto, Motorrad oder auch ein normales Fahrrad gefunden? Wir sind hier mitten im Wald. Falls er nicht irgendwo eine Hütte hatte, gehe ich mal davon aus, dass er mit irgendeiner Art von Transportmittel hergekommen ist.“

„Wir haben kein Fahrzeug gefunden, aber wir haben bislang auch nur die unmittelbare Umgebung abgesucht.“

Decker begann, den Boden nach Reifenspuren abzusuchen. Fehlanzeige. McAdams gesellte sich zu ihm. „Ich hab etwa zwanzig Aufnahmen von seinem Gesicht gemacht. Willst du mal sehen, bevor ich mir die Fußabdrücke vornehme?“

Decker scrollte durch die Fotos. „Die sind gut. Sobald wir wieder Empfang haben, schicken wir sie an meinen Computer im Revier. Dann können wir ein paar Flyer für die Identifizierung machen.“ Er fischte die Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Wenn du die Fußspuren fotografiert hast, holst du den Abgusskit.“

„Okay, Boss.“

„Du musst das nicht machen.“

McAdams lächelte. „Mir geht’s gut, Decker. Falls sich das ändert, sag ich Bescheid.“

„Na dann.“ Decker warf einen Blick auf Tylers knöchelhohe Turnschuhe. Das war schon mal gut. Aber er trug weder Schal noch Mütze oder Handschuhe, lediglich die Latexhandschuhe, die man ihm gegeben hatte, um den Tatort vor Verunreinigungen zu schützen. „Zieh dir erst mal was Wärmeres an, Tyler. Du wirst es brauchen.“

„Dann sind wir also länger hier.“

„Ja. Und Unterkühlung sollten wir unbedingt vermeiden.“

„Ich hol mir was zum Überziehen aus meiner Tasche.“

„Seit wann hörst du auf mich?“

„Bild dir ja nichts drauf ein, kann sich ganz schnell wieder ändern.“

„Und du bist dir wirklich sicher, dass du das hier machen willst? Mike Radar ist jeden Moment hier. Dann könntest du das Auto haben, und er nimmt mich später mit.“

„Willst du mich loswerden?“

„Im Gegenteil, ich könnte gut noch jemanden gebrauchen, der sich alles mit ansieht.“

„Jemand mit voller Sehkraft?“

„Kommt zu deiner Beerdigung eigentlich noch jemand?“

McAdams zuckte die Schultern. „Bin gleich wieder da mit dem Kit.“

„Wie gut sind deine Pfadfinderfähigkeiten?“

„So gut wie nicht vorhanden, aber mein Handy hat GPS.“

„Ich glaube, das funktioniert hier draußen nicht. Zur Not hab ich einen Kompass.“

„Wow, ist das Oldschool!“

„Ja, dann passt das ja zu mir. Jetzt zieh dir was an, dann zeig ich dir, wie das mit den Abdrücken geht. Versuch keinesfalls, alle zu machen, am besten beschränkst du dich auf den jeweils deutlichsten von jedem Schuh. Ich will nicht, dass uns das Material ausgeht. Wenn wir mit allem fertig sind, treffen wir uns wieder.“ Decker deutete auf eine Spur, die geradewegs aus dem Wald kam. „Siehst du das da?“

„Sieht wie Fußspuren aus.“

„Die Person, von der sie stammen, ist gegangen, nicht gerannt. Auch führen sie nur in eine Richtung. Sobald Mike da ist, um die Spurensicherung einzuweisen, machen wir beide eine kleine Wanderung.“

KAPITEL ZWEI

„Noch so jung, und dann so was.“ Radar schüttelte den Kopf, als er die Leiche betrachtete. „Vermutlich Selbstmord, aber wir müssen wohl das Ergebnis der Obduktion abwarten.“

Der Coroner hieß John Potts und war ein fünfundsechzigjähriger Arzt im Ruhestand, der jetzt als zweite Karriere die kleinen Örtchen in Upstate New York betreute. Sein Labor hatte er in der etwas größeren Stadt Hamilton, ungefähr fünfzehn Meilen entfernt, wo sich auch der Busbahnhof befand. „Was ich schon vorab sagen kann, ist, dass es anscheinend keine Anzeichen für stumpfe Gewalteinwirkung, Fesselung oder Erstickung gibt. Abgesehen von der Eintrittsstelle an seiner rechten Schläfe gibt es keine weiteren Schussverletzungen. Auch keine Stichwunden. Es gab viel Tieraktivität, daher kann manches abgetragen worden sein. Die toxikologische Untersuchung steht natürlich noch aus.“

Radar nickte. Der Captain war Ende fünfzig, etwas über einen Meter achtzig groß und muskulös gebaut – wenn man vom Bauchansatz absah. Er hatte Hängewangen, helle Augen, einen grauen Schnauzbart, der seine schmale Oberlippe bedeckte, und ein gekerbtes Kinn. Er fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres weißes Haar und fragte Decker: „Was ist deine Einschätzung?“

„Eine einzige Eintrittsverletzung, die von einer Kugel stammt, sonst weder Blutergüsse noch anderweitige Verletzungen. Also vermutlich Selbstmord. Und wahrscheinlich ist es spätnachts oder in den frühen Morgenstunden passiert. Ach, nehmen wir den Mittelwert, also etwa um Mitternacht.“

Potts blickte auf. „Woraus schließen Sie das?“

„Um etwa zwei Uhr morgens gab es leichten Schneefall. Zu diesem Zeitpunkt war der Junge bereits tot, da die Leiche von einer feinen Schneeschicht bedeckt war. Die unbedeckte Haut ist kalt und hart, aber darunter befindet sich noch Restwärme: Außer Fingern und Zehen ist noch nichts gefroren. Hinzu kommt, dass meiner Erfahrung nach Selbstmorde meist nicht tagsüber stattfinden. Die Leute ziehen es in Erwägung, betrinken sich, kommen ins Grübeln und ziehen sich dann irgendwohin zurück, um ihr Elend zu beenden. Die toxikologische Untersuchung wird wahrscheinlich ergeben, dass er Drogen und Alkohol zu sich genommen hat. Wie nah liege ich an Ihrer Zeitschätzung?“

Potts hatte bereits ein Thermometer in die Leber gesteckt. „Zwischen dreiundzwanzig Uhr und drei Uhr morgens, wenn man eine durchschnittliche Außentemperatur von minus vier Grad ansetzt.“

„Wenn es Selbstmord ist, dann ein ziemlich untypischer“, gab Radar zu bedenken. „Nackt und allein mitten im tiefsten Wald. Ein fulminanter Abgang sieht anders aus. Für mich klingt das mehr nach ‚Schaut bloß nicht her‘.“ Er drehte sich zu Potts um: „Was meinen Sie dazu?“

„Ich bin nur für das Wie zuständig, Mike.“ Potts stand auf und zog sich die Latexhandschuhe mit einem Schnappgeräusch aus. „Das Warum ist Ihr Bereich.“ Er signalisierte seinen Mitarbeitern durch ein Nicken, dass sie jetzt die Leiche auf die Trage heben konnten. Die Lichtung, wo die Autos geparkt waren, lag einen fünf- bis siebenminütigen Fußmarsch entfernt. Der Coroner wandte sich erneut an Radar: „Vor der Obduktion muss die Leiche erst gründlich auftauen. Aber ich denke, dass ich sie wohl bald auf dem Seziertisch habe. Trotzdem wird es mindestens zwei Tage dauern, wenn nichts anderes dazwischenkommt.“ Er hielt kurz inne. „Der arme Junge. Wisst ihr schon, wer es ist?“

„Nein, noch nicht.“

„Ich melde mich, wenn die Ergebnisse da sind.“ Potts rieb sich fröstelnd die Arme und folgte eilig seinen Assistenten.

Radar wandte sich zu Decker um: „Was ist der nächste Schritt?“

„Könntest du dich eventuell weiter um die Spurensicherung kümmern?“

„Kein Problem. Was hast du vor?“

„McAdams und ich werden dem Trampelpfad zurück folgen und versuchen rauszufinden, wie der Tote hergekommen ist. Zu Fuß wäre das eine ganz schöne Strecke.“

„In der Gegend wurde kein Fahrzeug gefunden. Wenn er tatsächlich zu Fuß gekommen ist, ist das ’ne Tageswanderung. Vielleicht hat er hier draußen kampiert.“

„Möglich wär’s. Es ist zwar kalt, aber mit der richtigen Kleidung und Verpflegung ist es gut zu schaffen. Hat schon jemand die Vermisstenmeldungen in der Region überprüft?“

„Ben Roiters sitzt gerade dran. Kann vom warmen Schreibtisch aus arbeiten, der Glückliche.“

„Was man von dem hier nicht gerade behaupten kann“, kommentierte McAdams und deute mit dem Kopf Richtung Leiche.

Radars Gesicht verfinsterte sich. „Arbeiten Sie jetzt offiziell an diesem Fall, McAdams? Wenn ja, muss ich mir überlegen, wie ich Sie bezahle.“

Decker schaltete sich ein: „Er war nur zufällig im Auto, als deine Meldung kam. Heute hilft er mir, aber morgen ist er wieder ein Normalbürger und lernt für seine Abschlussprüfung.“

„Ach richtig, das Jurastudium. Wie läuft’s denn?“

„So lala.“

„Also arbeiten Sie nicht für das Department?“

Decker kam Tyler erneut zuvor: „Nein, er ist nur heute mit dabei.“

„Moment, soweit ich weiß, bin ich volljährig und kann meine eigenen Entscheidungen treffen.“

„Aber du bist doch aus ganz anderen Gründen hergekommen.“

„Die Dinge ändern sich eben, alter Mann. Flexibilität ist eine Tugend, wie du immer so schön sagst.“

„Kann ich mich gar nicht dran erinnern.“

„Also arbeiten Sie jetzt an dem Fall oder nicht?“

„Ich arbeite mit Decker zusammen, falls er mich braucht. Wenn es Selbstmord war, sollte die Sache ja schnell geklärt sein.“

„Zumindest sobald wir rausgefunden haben, wer der Tote ist. Falls es kein Selbstmord war, wird die Sache kompliziert. Dein Studium darf keinesfalls drunter leiden.“

„Keine Sorge. Ich könnte auch jetzt die Prüfung machen und würde wahrscheinlich bestehen, nur wäre die Note nicht ganz so toll. Außerdem wären ein oder zwei Tage Abstand nicht schlecht. Mal den Kopf von dem ganzen Rechtskram frei kriegen.“

„Dann arbeiten Sie also doch mit?“, fragte Radar verwirrt.

„Ja. Und machen Sie sich erst mal keine Gedanken über die Bezahlung. Wir machen ein Tauschgeschäft: Sie bringen mir alles über Ballistik, Fingerabdrücke und die Verteilung von Blutspritzern bei, dafür kriegen Sie meine Zeit umsonst. Natürlich nur, wenn der Lieutenant mich dabeihaben möchte.“

„Heute kannst du mitmachen.“ Decker wandte sich an Radar: „Wissen wir schon, wer der anonyme Anrufer ist?“

„Carson Jackson, sechzehn Jahre. Die zweite Spur stammt vermutlich von Milo Newcamp, ebenfalls sechzehn. Die beiden behaupten, sie hätten hier draußen gezeltet, aber wahrscheinlich haben sie illegal gejagt.“

„Was denn?“, wollte McAdams wissen.

„Truthähne, Füchse, Rehe … Was normalerweise kein Problem wäre, nur ist gerade Schonzeit. Die Jungs kommen heute Abend gegen sechs mit ihren Eltern aufs Revier.“

„Bitte sie, die Wanderschuhe mitzubringen, die sie heute Morgen anhatten.“

„Habt ihr die Abgüsse von den Fußabdrücken?“

„Ja“, antwortete Decker. „Bis die Jungen vorbeikommen, sind wir wahrscheinlich auch zurück. Wenn es dunkel wird, will ich nicht mehr hier draußen sein, zumal es hier keinen Empfang gibt. Falls ich um sechs noch nicht wieder im Revier sein sollte, schickt ihr einen Suchtrupp, okay?“

„Einverstanden“, versprach ihm Radar lächelnd.

Decker sah zu McAdams. „Gib ihm dein Handy.“

„Wieso?“

„Da sind die Fotos vom Opfer drauf.“

„Auf deinem doch auch.“

„Aber auf deinem sind mehr. Jetzt gib’s ihm schon.“

McAdams seufzte theatralisch, als er Radar das Telefon reichte. Decker sagte: „Wenn du wieder im Revier bist, könntest du bitte die Fotos runterladen und mir auf den Computer mailen? Jemand sollte auch Flyer mit dem Bild unseres Unbekannten machen, damit wir mit der Anwohnerbefragung anfangen können.“

„Glaubst du, er stammt hier aus der Gegend?“, fragte Radar.

„McAdams vermutet, dass er Student an einem der fünf Colleges in Upstate ist. Wahrscheinlich hat er recht. Da von dort noch keine Vermisstenmeldung gekommen ist, will ich die Fotos auf jedem Campus herumzeigen. Wenn du dafür sorgen könntest, dass man uns dabei keine Steine in den Weg legt, sollte alles reibungslos verlaufen.“

„Ich werde den Bürgermeister hinzuziehen“, versprach Radar. „Er wird ohnehin erfahren wollen, was los ist. Besonders nach dem Vorfall letztes Jahr.“

„Ja, ich glaube, er ist nicht gut auf mich zu sprechen“, sagte McAdams.

„Ganz im Gegenteil, Tyler. Ihr Vater hat gerade eine weitere Summe für das neue Notfall-Computersystem gespendet.“

McAdams sah Decker verwundert an. „Wusstest du davon?“

Decker betrachtete eingehend die Kuhle, wo die Leiche gelegen hatte. „Wie bitte?“

„Egal. Warum starrst du dahin, die Leiche ist doch längst weg?“

„Ich habe mich gerade gefragt, was wohl so schrecklich an seinem Leben war, dass er es keinen Tag länger ertragen konnte.“

Die Sonne stand schon tief am Himmel, und die Schatten wurden länger. Bald würde es dunkel sein. Sie konnten die Fußspuren bis zu einem Dickicht aus jetzt kahlen Eichen zurückverfolgen, dann verschwanden sie. Um welche Bäume es sich handelte, konnte man an den braunen gelappten Blättern erkennen, die sie im Herbst abgeworfen hatten. Deckers Schuhe versanken in Schnee und mulchiger Erde. Allmählich wurden seine Füße feucht und kalt. Weder er noch McAdams trugen festes Schuhwerk. Decker öffnete eine Packung Ski-Sohlenwärmer und reichte sie McAdams, dann nahm er eine weitere für seine eigenen taub gewordenen Zehen. Da Decker Mütze und Handschuhe trug, waren Kopf und Hände zwar einigermaßen warm, aber trotzdem fror er.

McAdams sah sich um. „Hier draußen ist nichts, und der Boden ist mit Schnee und Laub bedeckt. Wie sollen wir da rausfinden, aus welcher Richtung er gekommen ist?“

„Keine Ahnung, außerdem ist es schon spät.“

„Brechen wir ab?“

Decker antwortete nicht. „Die Hosenbeine unseres Unbekannten waren feucht, aber es klebte kein Schmutz dran. Wenn jemand durch dieses ganze Laub und den Schneematsch gestiefelt wäre, hätte er doch Spuren davon an der Hose, oder?“

„Na ja, er muss zumindest ein Stück da durchgelaufen sein, denn unmittelbar danach beginnen seine Fußspuren.“

„Reifenspuren sehe ich auf jeden Fall keine.“ Decker überlegte kurz. „Der Junge geht in den Wald und bringt sich in völliger Abgeschiedenheit um. Er hat keinen Ausweis bei sich, nichts, was uns seine Identität verraten würde.“

„Er will die Sache anonym beenden.“

„Genau, und ein Auto würde diese Anonymität zunichtemachen.

Man kann es schlecht loswerden, es ist zu groß zum Verstecken, und der Halter lässt sich ermitteln. Dasselbe gilt für Motorräder.“

„Okay.“

„Schau dir mal das ganze abgestorbene Zeug auf dem Waldboden an, Tyler. Unter dem Laub und der Schneedecke könnte man mit Leichtigkeit ein Fahrrad verstecken. Würde vermutlich erst im Frühjahr gefunden, wenn überhaupt.“

„Verstehe. Also wo sollen wir graben?“

„Wie ich schon sagte, seine Hosenbeine waren feucht, aber nicht schmutzig. Ich würde sagen, er hat es ganz in der Nähe seiner Fußspuren versteckt.“ Decker nahm einen langen Ast vom Waldboden und reichte ihn McAdams. Dann suchte er einen zweiten für sich. „Du nimmst dir das Gebiet links der Spuren vor, ich suche auf der rechten Seite.“

Der Boden war von Baumwurzeln durchzogen, aber nach zehn Minuten traf Deckers Ast auf etwas Festes, etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, bis zu der sie die Fußspuren zurückverfolgt hatten. Er zog sich seine dicken Handschuhe aus und streifte rasch ein frisches Paar aus Latex über. Dann bückte er sich, zog das Objekt heraus und schüttelte es, um Blätter, Erde und Insekten zu entfernen. Das Fahrrad war leuchtend blau und hatte eine Zehngangschaltung. Auf jeden Fall kein Mountainbike. Das hier war für kürzere Strecken gedacht, zum Beispiel um damit in Greenbury durch die Stadt zu radeln.

„Das ist ein Zipspeed“, stellte McAdams fest.

„Von dem Fahrradverleih?“

„Genau. Da auf dem vorderen Schutzblech ist das Logo. Ich hab mir schon mal ein Rad von denen geliehen. Die Firma hat Filialen in etlichen Unistädten.“

Decker untersuchte die Lenkergriffe, den Sitz und die Räder. Eingestanzt in beide Felgen fand er, wonach er gesucht hatte. „Hier steht eine ID-Nummer: 19925.“

„Ich hab nichts zum Schreiben dabei.“

„Macht nichts, wir nehmen das Rad sowieso mit. Beweismittel.“

„Wir schleppen das den ganzen Weg zurück?“

„Nein, du.“ Decker drückte Tyler das Fahrrad in die Hand. „Du bist jünger und stärker.“

„Ich wurde angeschossen.“

„Die Mitleidsnummer zieht längst nicht mehr. Sobald wir wieder im Revier sind, gehst du in den Zipspeed-Laden in Greenbury. Ich befrage derweil die beiden Jungs, die die Leiche gefunden haben.“

„Bis wir da sind, hat der sicher schon zu.“

„Dann machst du den Geschäftsführer ausfindig und lässt dir aufmachen.“

McAdams hob das Rad ein Stück an. „Und wie sollen wir das hier zurück in die Stadt kriegen? Das passt nicht ins Auto.“

„Aber aufs Dach. Ich hab ein paar Expander im Kofferraum.“

„Auf einmal klingt Jura echt attraktiv.“

Decker lachte. „Du kannst jederzeit zurück an deine Bücher, Harvard.“

„Ich weiß. Ich hab nur einfach vergessen, wie viel langweiliger Kram zu einer Ermittlung gehört. Momentan aber immer noch besser als mein ödes Studium.“

„Liegt bei dir. Denk mal auf dem Rückweg zum Auto drüber nach. Es wird schon dunkel, also leg ’nen Zahn zu.“

Der junge Mann seufzte demonstrativ und nahm sich das Fahrrad. „Warum passiert das immer mir? Ich hasse Entscheidungen.“

„Da führt leider kein Weg dran vorbei.“ Decker legte Tyler den Arm um die Schultern und drückte ihn kurz. „Also entscheid dich einfach und steh dazu.“

KAPITEL DREI

Die Jungs schienen hauptsächlich aus Armen und Beinen zu bestehen und hatten die typische Schlaksigkeit von Teenagern, bevor sich die Erwachsenenfigur durchsetzt. Carson Jackson war blond und hatte Pubertätsakne. Die Gesichtszüge hatte er von seiner Mutter, die neben ihm saß und ihm giftige Blicke zuwarf. Milo Newcamp war klein, hatte strubbelige Haare und eine lange Nase. Sein Vater hatte ihn herbegleitet. Beide Elternteile waren offensichtlich daran interessiert, die Vernehmung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie wirkten genervt, als hätten ihre Sprösslinge schon zu oft in Schwierigkeiten gesteckt. Decker hatte sie in eines der beiden Vernehmungszimmer des Reviers gebeten. Dort standen ein rechteckiger Tisch und sechs Stühle, die Wände waren neutral in Cremeweiß gehalten. Es gab allerdings einen Einwegspiegel, der vor fünf Jahren installiert worden war. Decker war erst seit etwas mehr als einem Jahr am Department, und soweit er wusste, hatte in all der Zeit nie jemand auf der anderen Seite gesessen, wenn eine Vernehmung stattfand.

Nachdem Abdrücke vom Profil der Wanderschuhe der Teenager gemacht worden waren, begann Decker die Vernehmung mit der Feststellung der grundsätzlichen Fakten: Uhrzeit, Ort, warum sie an dem Tag nicht in der Schule waren, woher sie kamen, wo sie hinwollten. Dann warf er einen Blick auf seine Notizen.

„Ihr beide wolltet also eine Wandertour machen und habt deshalb die Schule geschwänzt.“

„Wäre nicht das erste Mal“, bemerkte Carsons Mutter.

„Gut. Mrs. Jackson, lassen Sie die beiden bitte selbst antworten. Wenn ich fertig bin, was nicht mehr allzu lange dauern sollte, können Sie mit Ihrem Sohn ein ernstes Wörtchen reden.“

„Bringen wir’s hinter uns, Julia. Wieder einmal.“ Mr. Newcamp sah wütend aus. „Wir haben schließlich beide auch noch was anderes zu tun.“

„Kann man wohl sagen“, zischte Carsons Mutter. „Dummköpfe!“

„Dann seid ihr Jungs also mit dem Fahrrad in den Wald gefahren und gegen elf zu eurer Wanderung aufgebrochen, nachdem ihr die Räder in einem Gebüsch an der Millstone Road abgestellt hattet.“

Die Jungen nickten.

Decker las erneut in seinen Notizen. „Und ihr habt keinen der offiziellen Wanderwege genommen?“

„Nein, Sir“, antwortete Milo. „Aber wir haben schon öfter Wanderungen durch unwegsames Gelände gemacht.“

„Man braucht etwa fünfzehn Minuten von eurem Ausgangspunkt bis zu der Stelle, bis zu der ihr gekommen seid.“ Decker sah auf. „Warum habt ihr dafür so lange gebraucht?“

Milos Vater gab seinem Sohn eine Kopfnuss. „Sag ihnen, was ihr gemacht habt. Sie haben wahrscheinlich gejagt. Egal, ob vielleicht Schonzeit ist oder dass es gefährlich sein könnte, ohne Warnwesten zu schießen. Idioten!“

„Mr. Newcamp, ich stelle die Fragen. Umso schneller sind wir alle wieder draußen und können zurück an die Arbeit“, wies Decker ihn zurecht. „Dann habt ihr also die Leiche gefunden.“

„Ja, Sir.“ Wieder antwortete Milo für beide.

„Und was habt ihr dann gemacht?“

„Da oben war kein Empfang, also sind wir umgekehrt und zu unseren Rädern zurückgelaufen. Dann sind wir nach Hause und haben von dort aus die Polizei angerufen.“

„Nicht von zu Hause“, korrigierte ihn Mr. Newcamp. „Ihr seid zu den Arbys gegangen, bis der Unterricht vorbei war.“ Wieder eine Kopfnuss.

„Au!“

Jetzt schaltete Decker sich ein. „Lassen Sie das. Sie sind hier in einem Polizeirevier.“ Newcamp senkte den Blick. Er machte noch immer ein finsteres Gesicht. Decker setzte die Vernehmung fort: „Hat einer von euch beiden den Toten berührt, um zu fühlen, ob er noch einen Puls hat?“

Die Jungen schüttelten den Kopf. Milo sagte: „Da war Schnee auf seinem Gesicht, und er hat sich nicht bewegt. Ich wollte nichts durcheinanderbringen.“

Decker lehnte sich vor. „Wir haben nichts bei der Leiche gefunden, Jungs: kein Portemonnaie, kein Handy, keinen Laptop, keinen Rucksack und auch keine Ausweise.“ Er hielt kurz inne. „Das ist wichtig, also keine Märchen. Hat einer von euch etwas mitgenommen?“

Die Teenager schüttelten nachdrücklich den Kopf und versicherten, dass dem nicht so war.

„Ihr habt nicht seine Taschen durchsucht? Falls doch, finden wir eure Fingerabdrücke.“ Das stimmte nicht immer, aber das konnten die Jungs ja nicht wissen.

„Nein, echt nicht. Ehrlich!“, platzte jetzt Carson heraus. „Wir haben nur gemacht, dass wir wegkamen.“

„Wir sind den ganzen Weg zurückgerannt, Sir“, bekräftigte Milo. „Ich will doch nichts mit ’ner Leiche zu tun haben.“

Yvonne Mastino kam herein und reichte Decker einen Ausdruck. Die Schuhabdrücke der Jungen stimmten exakt mit den Abgüssen vom Fundort überein. „Okay. Das wäre momentan alles. Ihr könnt jetzt eure Schuhe abholen und nach Hause gehen. Kann sein, dass ich später noch Fragen an euch habe. Wenn eure Eltern nichts dagegen haben, würde ich gern eure Gewehre bis zum Beginn der Jagdsaison hier im Revier behalten.“

„Gute Idee“, sagte Julia Jackson.

„Voll unfair“, maulte Carson.

„Halt den Mund, Carson.“ Seine Mutter wandte sich jetzt an Decker: „Ich bringe Ihnen seins morgen vorbei.“

„Und ich das von Milo“, sagte Newcamp. „Besser, wir bringen sie her, sonst erschießt ihr aus Versehen noch jemanden und wandert für fahrlässige Tötung ins Gefängnis. Schwachköpfe!“ Er wollte gerade wieder eine Kopfnuss verteilen, besann sich dann aber eines Besseren. „War’s das?“

Decker nickte. Die vier standen auf und verabschiedeten sich. Decker schaltete gerade das Aufnahmegerät aus, als McAdams hereinkam. „Gab’s was Aufschlussreiches bei den Kids?“

„Nur zwei unterbelichtete Teenager, die die Schule geschwänzt haben.“

„Im Büro von Zipspeed war niemand mehr, aber ich hab den Verkaufsmitarbeiter ausfindig gemacht. Er hat die ID-Nummer des Fahrrads auf seinem Computer nachgesehen. Gemietet von einem John Smith.“

„Klingt überhaupt nicht nach Pseudonym …“

„Nicht zwangsläufig. Laut dem Angestellten muss man bei der Ausleihe einen Führerschein als Pfand hinterlegen.“

„Also hat er einen falschen Führerschein auf den Namen John Smith.“

„Oder er heißt tatsächlich so. Eine gute Nachricht habe ich: Der Name mag zwar erfunden sein, aber auf dem Ausleihformular steht die Nummer seines Studentenausweises. Dem zufolge war er am Kneed Loft eingeschrieben.“

Von den fünf in Upstate angesiedelten Colleges war Kneed Loft das kleinste. Der dortige Schwerpunkt war Mathematik, Naturwissenschaften und Ingenieurwesen, trotzdem galt es als geisteswissenschaftliche Hochschule, im Gegensatz zu den rein technischen Einrichtungen wie das MIT oder Caltech. Decker sagte: „Wir nehmen ein paar Flyer mit und fangen gleich dort an.“

„Kurze Zwischenfrage: Hast du eigentlich Rina schon gesagt, dass ich da bin?“

„Ja.“

„Und sie hat nichts dagegen?“

„Natürlich hat sie nichts dagegen. Aus unerfindlichen Gründen mag sie dich nämlich.“ Decker erhob sich. „Auf geht’s.“

„Glaubst du, die Jungs haben irgendwas vom Tatort mitgehen lassen?“

„Zum Beispiel Laptop oder Handy? Sie behaupten, nicht, und das nehme ich ihnen auch ab. Du hast doch gesehen, wie ordentlich der Kleidungsstapel war. Alles säuberlich zusammengelegt und aufeinandergeschichtet. Wenn sie da nachgesehen hätten, wären die Sachen durcheinander gewesen.“

„Oder sie haben alles wieder ordentlich hingelegt.“

„McAdams. Wann warst du das letzte Mal im Zimmer eines Teenagers? Die wissen nicht mal, wie man ‚ordentlich‘ buchstabiert.“

Die fünf Colleges in Upstate New York waren separate Verwaltungseinheiten mit jeweils eigenem Sicherheitsdienst und eigenen unauffälligen Methoden, mit Straftaten umzugehen. Bei den Vergehen handelte es sich zumeist um Studenten, die betrunken irgendwelchen Unfug anstellten. Manchmal wurde aber doch jemand Externes hinzugezogen, besonders dann, wenn die Colleges mit dem Vorfall allein nicht fertigwurden. Das war letztes Jahr der Fall gewesen, als Angeline Moreau, eine Studentin am Littleton College, in einer Wohnung in der Stadt tot aufgefunden worden war.

Das College hatte damals nur zu bereitwillig die Polizei eingeschaltet. Greenbury hatte zu der Zeit kaum Erfahrung mit großstadttypischen Verbrechen gehabt. Der letzte brutale Mordfall lag schon etliche Jahre zurück. Decker hatte sechs Monate vor Ermittlungsbeginn am Greenbury Police Department angefangen – ein Glücksfall für die Stadt. Davor war er lange Jahre Detective Lieutenant am LAPD gewesen.

Die Baustile der fünf Colleges waren so unterschiedlich wie die Institutionen selbst: Duxbury war das älteste und größte und ein typisches Beispiel für die großartigen Ziegel-Sandstein-Gebäude der Mitte des 19. Jahrhunderts. Clarion, das Frauen-College, stammte aus den 1920ern: klarere Formen und kleinere, beschauliche Gebäude. Das nach dem Krieg entstandene Morse McKinley bot Politik- und Verwaltungswissenschaft, Internationale Beziehungen und BWL an. Optisch ähnelte es einem winzigen Fünfziger-Jahre-Apartmentgebäude, aus dem überall Studentenwohnheime wucherten. Littleton war das nach ökologischen Prinzipien erbaute College für Geistes- und Theaterwissenschaften, in dem Decker und McAdams einen Großteil des letzten Winters verbracht hatten. Damals hatten sie in einem Kunstraub ermittelt, bei dem es Tote gegeben hatte.

Kneed Loft war im brachialen Baustil der sechziger Jahre gehalten, als Ideen und Konzepte im Vordergrund standen, was dem Gebäude den ästhetischen Charme eines militärisch-industriellen Komplexes verlieh. Es handelte sich um einen etwa straßenblocklangen rechteckigen Klotz aus Brownstone-Ziegeln mit kleinen viereckigen Fenstern. Decker hatte diese heiligen Hallen noch nie betreten, da es bislang keinen Anlass für einen Besuch gegeben hatte.

Als er mit McAdams am College eintraf, war es schon fast acht Uhr abends. Die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt, und ein scharfer Wind blies, der ihre Augen tränen ließ und auf den Lippen brannte. Die schneebedeckten Rasenflächen der ausgedehnten Campusanlage erstreckten sich unter einem Nachthimmel voller Sterne. Die Büros der Verwaltung waren geschlossen; vermutlich würde ihnen erst nach mehreren Anrufen jemand öffnen. Das College war klein, nur sechshundert Studierende verteilt auf sechs Wohnheime, was es einfacher machte, die Flyer zu verteilen und herauszufinden, ob jemand das Gesicht des Toten erkannte.

Die Wohnheime waren nach berühmten Wissenschaftlern des zwanzigsten Jahrhunderts benannt: Fermi Hall, Bohr Hall, Planck Hall, Goddard Hall und Marie Curie Hall – Vor- und Nachname, damit niemand irrtümlich auf die Idee kam, es sei der Ehemann Pierre gemeint. Das erste Wohnheim auf ihrem Weg war Planck Hall, ein trostloses zweistöckiges Backsteingebäude ohne jeglichen Charme oder Stil. Da weder Decker noch McAdams eine Schlüsselkarte hatten, klopften sie an eine Glastür, hinter der jedoch kein Wachmann zu sehen war. Natürlich erschien auch niemand, denn vermutlich konnte man sie gar nicht hören. Im nächsten Moment öffnete eine Studentin die Tür mit ihrer Magnetkarte, und sobald diese über die Treppe nach oben verschwunden war, nutzten die beiden Detectives die Gelegenheit, um hinter ihr das Gebäude zu betreten.

Als Allererstes fiel ihnen ein Volkswagen Jetta auf, der mitten im Foyer stand. Wie die Studenten dieses nicht gerade kleine Auto dorthin geschafft hatten, war ein Rätsel. Hinter dem Lenkrad saß ein Stahlroboter, der dem Schild um seinen Hals nach Rupert hieß und Baskenmütze, Sonnenbrille und Autofahrerhandschuhe trug. Die Studenten auf dem Weg zu ihren Zimmern gingen einfach um den Wagen herum, als sei es das Natürlichste der Welt.

Im übrigen Eingangsbereich herrschte das typische Wohnheim-Chaos: Leere Bier- und Spirituosenflaschen, die obligatorischen roten Plastikbecher, Pizzakartons, kalte Pommes und diverse andere Fast-Food-Reste, überquellende Mülleimer und hier und da ein Pulli oder eine Jacke waren auf dem Fußboden verstreut. Da nicht häufig gelüftet wurde, außer wenn jemand das Gebäude betrat oder verließ, müffelte der ganze Abfall.

„Bäh!“ McAdams wedelte mit der Hand vor seiner Nase. „Armer Rupert. Vielleicht sollten wir mit ihm anfangen. Er kriegt ja anscheinend alles mit, was im Planck vor sich geht.“ Er beugte sich nach vorn und hielt dem Roboter den Flyer mit dem Foto des Unbekannten unter die Nase. „Kennst du den Typ hier?“ Er wartete einen Moment. „Vielleicht würde es helfen, wenn du die Sonnenbrille abnimmst, Kumpel.“

Decker konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wir fangen oben an und arbeiten uns nach unten vor.“

Sie nahmen die Treppe in den zweiten Stock. Die meisten Zimmer waren offen, und von überallher dröhnte fürchterlicher Krach: Musik, Stimmen, aber auch mechanische Geräusche, die wie Hämmern und Bohren klangen. Die beiden Detectives fingen auf einer Flurseite an, und es dauerte nicht lange, bis Damodar Batra, ein Student im Abschlussjahr, der Mathematik und Maschinenbau studierte, den Toten identifizierte.

„Ach du Scheiße!“ Batra starrte mit offenem Mund auf das Foto. „Ist das Eli Wolf?“

Er hatte den Namen Ih-lai ausgesprochen. Decker bat ihn, den Namen zu buchstabieren.

Batra war klein und hatte glattes schwarzes Haar und dunkelbraune Haut. Er saß im Schneidersitz auf dem Bett, Kopfhörer um den Hals, daneben lagen zwei Laptops, ein Handy und ein Tablet. „Was ist passiert?“

„Sind Sie mit Eli befreundet?“

„So was in der Art. Eli hat keine Freunde im eigentlichen Sinn. Er hat ’ne ziemliche Macke, aber das ist hier eher die Norm.“

„Wie gut kennen Sie ihn denn?“

„Das hier ist ’ne kleine Uni, und das Mathe-Department ist winzig. Wir hatten ein paar Seminare zusammen. Jetzt, in unserem Abschlussjahr, haben wir unterschiedliche Betreuer, also sehe ich ihn nicht mehr so oft. Wir haben beide viel zu tun.“ Er hielt inne. „Mein Gott, er sieht … tot aus.“ Er sah hoch. „Er ist tot?“

„Ja, das ist er. Das Foto wurde nach seinem Tod aufgenommen.“

„Mann, wie krass ist das denn?“ Der junge Mann sah aufrichtig entsetzt aus. „Was ist denn passiert?“

„Die Ermittlungen laufen noch“, sagte Decker. „Was können Sie mir über ihn erzählen?“

„Nicht viel. Wir waren nicht eng befreundet oder so, aber wir kannten uns.“

„Was war sein Hauptfach?“, fragte McAdams.

„Reine Mathematik.“ Batra presste die Lippen zusammen. „Soweit ich weiß, hat er über Fourier-Analyse und Fourier-Transformationen gearbeitet.“

Decker drehte sich zu McAdams um. „Sagt dir das was?“

„Keinen Schimmer.“ Tyler sah Batra an. „Könnten Sie das in einfachen Worten erklären?“

„Fourier hat vor etwa dreihundert Jahren über Temperaturgradienten geforscht. Hitze breitet sich vom wärmsten zum kältesten Punkt aus. Wie schnell sie sich ausbreitet, hängt vom jeweiligen Material ab. Fourier hat rausgefunden, wie man das mathematisch darstellen kann. Er hat komplexe Schwingungen, aus denen Dinge wie Temperaturgradienten zusammengesetzt sind, in einfachere Sinuswellen zerlegt. Was eine Sinuswelle ist, wissen Sie aber, oder?“

„Ich glaube, Trigonometrie war eine Voraussetzung für Harvard“, hüstelte Decker.

„Sie waren in Harvard?“

„Nein, er.“ Decker deutete auf seinen Kollegen.

„Amplitude, Frequenz und Phase“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Tyler.

Batra musste lachen. „Kennen Sie sich mit Eigenwerten aus?“

„Nein. Aber ich hab vom Grundkurs Deliktsrecht genug behalten, um so ziemlich jeden verklagen zu können.“

„Dann studieren Sie also Jura.“

„Bedauerlicherweise ja.“ McAdams zeigte auf Decker. „Aber dieser nette Herr hier ist voll ausgebildeter Rechtsanwalt.“

„Das ist an die dreißig Jahre her. Batra, könnten Sie mir eine laientaugliche Definition von Eigenwert geben?“

„Ist einfacher, wenn ich’s Ihnen mathematisch erkläre. Hat mit Matrizes und Vektoren ungleich null zu tun, was fast keinem außer Spinnern wie mir was sagt. Der Knackpunkt ist, dass dieses ganze Zeug zwar aus der Theorie kommt, aber enormen Nutzen für die Praxis hat.“ Jetzt sah Batra sie an. „Eli war ein echtes Genie. Er konnte sich komplexe Mathematik wie Gradienten, Vektoren und Matrizes bildlich vorstellen. Eine wirkliche Begabung. Was ist ihm passiert? War es ein Unfall?“

„Warum denken Sie, es war ein Unfall?“

„War es das nicht?“ Jetzt sah Batra vollkommen fassungslos aus. „Er hat Selbstmord begangen?“

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Decker. „Hat er in letzter Zeit irgendwie bedrückt gewirkt?“

„Nicht dass ich wüsste. Er schien eher ziemlich gut drauf zu sein. Seine Abschlussarbeit lief gut, das weiß ich.“

„Klingt, als kannten Sie Eli doch besser.“

„Jeder in unserem Jahrgang kannte Eli. Er war … außergewöhnlich.“

„Wer hat seine Abschlussarbeit betreut?“, fragte McAdams.

„Theo Rosser, der Leiter des Mathe-Departments. Eli hat aber auch mit Dr. Belfort und Dr. Ferraga zusammengearbeitet. Er hätte mit jedem arbeiten können, alle am Department haben ihn bewundert.“

„Haben Sie eventuell die Telefonnummern?“

„Moment, ich schau nach, ob was in der Institutsliste steht.“ Es dauerte einen Augenblick, bis er das Gewünschte gefunden hatte. „Für Rosser steht da nur seine Büronummer. Von Dr. Belfort habe ich die Handynummer. Sie ist meine Betreuerin.“

„Vorname?“, fragte Decker.

„Katrina Belfort.“ Batra nannte ihm die Nummer. „Hoffentlich hilft’s.“

„Ist zumindest ein Anfang. Und Sie wissen wirklich nicht, mit wem er seine Freizeit verbracht hat?“

„Mit niemandem. Er war immer in der Bibliothek und hat an Sachen gearbeitet, die kein Mensch verstanden hat.“

„Aber er muss doch gegessen haben“, warf McAdams ein. „Haben Sie ihn nie in der Mensa gesehen?“

„Klar … meist saß er allein am Tisch. Manchmal saß er mit anderen Leuten zusammen, aber das hatte mehr mit freien Plätzen als mit Sozialkontakten zu tun. Vielleicht haben die ihn auch wegen ihrer eigenen Arbeit ausgequetscht. Eli war ein hilfsbereiter Typ.“ Batra dachte kurz nach. „Vielleicht reden Sie mal mit Mallon. Die sind manchmal zusammen rumgehangen.“

„Ist Mallon weiblich oder männlich?“

„Weiblich … was aber für Eli keine Rolle spielte. Für Mallon übrigens auch nicht. Sie ist selbst ’ne ziemliche Einzelgängerin. Katrina Belfort ist auch Mallons Betreuerin, daher sehe ich sie manchmal bei den Treffen.“

„Also haben Sie beide dieselbe Betreuerin?“

„Ja, Mallon, Ari Weissberg und ich.“

„Wie heißt Mallon mit Nachnamen?“, fragte Decker.

„Euler. Schreibt sich wie der Mathematiker, aber man spricht es You-ler, nicht Oi-ler. Ich glaube, sie ist über tausend Ecken mit dem Meister verwandt.“

„Und wo finden wir Mallon?“

„Sie wohnt im Marie Curie. Brauchen Sie ihre Handynummer?“

„Das wäre hilfreich.“

Batra gab ihnen die Nummer. Dann schüttelte er den Kopf. „Gott, das ist so schrecklich. Ich muss das erst mal sacken lassen. Kann ich sonst noch was für Sie tun?“

„Ja, und zwar etwas Wichtiges“, sagte Decker. „Sie haben gerade unseren Unbekannten als Eli Wolf identifiziert. Sind Sie sich ganz sicher?“

„Nahezu 100%. Aber wenn das noch jemand anderes bestätigen soll, zeigen Sie einfach weiter den Flyer rum.“

„Als Erstes reden wir mit Mallon Euler. Wenn auch Sie Eli Wolf wiedererkennt, benachrichtigen wir die Angehörigen.“

„Seine Eltern. Mann, das ist bitter.“

„Batra, ich muss Sie bitten, alles für sich zu behalten, bis wir die Eltern kontaktiert haben. Wissen Sie zufällig, wie wir Elis Eltern erreichen können? Steht vielleicht eine Kontaktnummer im Studentenverzeichnis?“

„Eher nicht, weil die zu Hause keinen Anschluss haben. Ich glaube, Eli hat mal erwähnt, dass seine Leute Amische sind.“

KAPITEL VIER

Diesmal war das Auto in der Lobby ein bronzefarbener Cadillac Eldorado Coupé, Baujahr 1970. Der Dummy, ebenfalls mit Sonnenbrille, saß auf dem Fahrersitz und trug eine Chauffeursuniform.

Als McAdams Mallon Euler den Flyer reichte, studierte sie ihn, wollte ihn aber nicht nehmen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett, das Gesicht ausdruckslos. In körperlicher Hinsicht war nicht viel an ihr dran. Sie war elfenhaft zart: klein und unglaublich feingliedrig. Das herzförmige Gesicht war von blondem, in einem Pixie-Cut geschnittenem Haar umrahmt, ihre Augen waren von einem tiefen Blau. Obwohl es im Zimmer nicht sonderlich warm war, trug sie eine kurzärmelige Bluse, die ihre überschlanken Arme betonte, und Jeansshorts. Ihre Füße steckten in Hotelschläppchen.

„Kennen Sie ihn?“, fragte Decker.

Ein knappes Nicken. In ihren Augen standen auf einmal Tränen. Sie sah auf den Flyer, dann hoch zu McAdams, dann erneut auf den Flyer.

„Wer ist das?“, fragte Decker.

Mallons Augen waren noch immer auf den Flyer gerichtet. „Ist er tot?“

„Ja.“ Decker wartete einen Moment, aber sie antwortete nicht. „Wer ist er?“

„Eli.“

„Nachname?“

„Wolf… Elijah Wolf.“

Decker wandte sich an McAdams. „Zwei Identifizierungen, das genügt mir.“ Dann fragte er die junge Frau: „Wo hat er gewohnt, Mallon? In welchem Wohnheim?“

„Goddard Hall.“

„Wissen Sie, welches Zimmer?“

„Zimmer fünfundzwanzig.“

„Teilte er sich das Zimmer mit jemandem?“

„Nein, ein Einzelzimmer. Dies ist sein Abschlussjahr. Die meisten Studenten haben dann Einzelzimmer.“ Sie senkte den Blick und fragte kaum vernehmbar: „Was ist passiert?“

„Das wollen wir gerade herausfinden.“

„Und wann ist es passiert?“

„Der genaue Zeitpunkt steht noch nicht fest. Wir haben ihn heute Nachmittag in einem abgelegenen Waldstück gefunden. In der Nähe der Autobahnabfahrt Ellwood. Können Sie sich vorstellen, was er dort gemacht haben könnte?“

„Nein. Ich weiß nicht mal, wo Ellwood ist.“ Als sie weitersprach, starrte sie weiterhin auf ihre Beine.

„Waren Sie mit Eli befreundet?“

„Wir hatten ähnliche wissenschaftliche Interessen.“

„Trotzdem kann man befreundet sein.“

Sie sah kurz auf, senkte aber sofort wieder den Blick. „Wir haben uns nur über unsere Forschungsprojekte unterhalten.“

„Welches Gebiet?“

„Mathe.“

„Wie oft haben Sie mit ihm geredet?“

„Ständig.“

„Aber Sie würden nicht sagen, dass sie beide befreundet waren.“

„Ich habe keine Freunde.“ Ein kurzer Blick zu McAdams, dann fixierte Mallon wieder ihre Knie. Eine Träne rann ihr über die linke Wange. Sie wischte sie weg. „Aber das ändert nichts an dem Schmerz, ihn verloren zu haben. Seinen Verstand.“ Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. „Es ist so furchtbar.“

Jetzt flossen die Tränen. Decker reichte ihr eine Box Papiertaschentücher. „Wann haben Sie Eli das letzte Mal gesehen?“

„Gestern.“

„Um wie viel Uhr?“

„Um eins. Wir haben uns zum Mittagessen in der Mensa getroffen.“

„Und wie war das?“

„Wie immer.“

„Ich weiß nicht, was bei Ihnen ‚wie immer‘ heißt, Mallon.“

„Wir haben uns über Mathematik unterhalten.“

„War Eli irgendwie anders?“

„Nein.“

„Wirkte er besorgt oder niedergeschlagen?“

„Überhaupt nicht.“

„Schien ihn etwas zu belasten?“

„Nein.“ Ihr Blick huschte zu Decker, zu McAdams, dann zurück zu ihren Knien. „Mir fällt es schwer, Gefühlszustände zu interpretieren. Ich fand, er wirkte normal. Vielleicht sogar ein kleines bisschen … euphorisch. Seine Abschlussarbeit ging gut voran, da bin ich mir ganz sicher.“

„Haben Sie sich regelmäßig mit ihm getroffen?“

„Ja, mindestens zweimal die Woche.“

„Wer hat wen angerufen, um sich zum Mittagessen zu verabreden?“

„Ich telefoniere nicht. Wir haben gesimst.“

„Bevor ich’s vergesse, wie lautet seine Handynummer?“

Die junge Frau spulte die Ziffern mit roboterartiger Stimme ab. Decker wandte sich an McAdams: „Kannst du die mal anrufen?“

„Schon dabei.“

Decker widmete sich wieder Mallon. „Und wer hat gestern wem gesimst?“

„Ich ihm. Ich kam bei einer Sache nicht weiter und hatte ihn gebeten, sich meine Arbeit mal anzusehen.“

McAdams beendete gerade das Telefonat. „Hm.“

„Mailbox?“, fragte Decker.

„Die Nummer existiert nicht mehr … und es gab keine neue Nummer.“

Das sprach für Selbstmord: Der Junge verabschiedete sich von allem. Decker fragte: „Worüber forschen Sie?“

Sie sah langsam zu ihm hoch. „Bis vor Kurzem Fraktale.“

„Weißt du, was ein Fraktal ist?“, fragte Decker McAdams.

„Zufällig ja. Das sind sich wiederholende Muster in der Natur.“

„Keine Ahnung, was das heißen soll.“

Tyler überlegte. „Stell dir mal ein dreiblättriges Kleeblatt vor. Dann siehst du dir die einzelnen Blätter an und stellst fest, dass sie dreifach unterteilt sind und jeder Abschnitt eine Miniaturausgabe vom ganzen Kleeblatt ist. Dann siehst du dir einen Abschnitt im Detail an und entdeckst, dass er ebenfalls drei Abschnitte hat, und so weiter und so weiter.“ Er sah Mallon fragend an.

„Stimmt mehr oder weniger.“

„Und das studieren Sie?“, fragte Decker.

„Nein. Ursprünglich habe ich mich mit fraktaler Geometrie und der Rauheits-Theorie beschäftigt. Dann hat sich mein Interessengebiet geändert: Jetzt mache ich Fourier-Analyse und Fourier-Transformationen.“

„Das hat Eli Wolf doch auch studiert“, sagte McAdams.

„Eli hat seinen Schwerpunkt mehrmals geändert, aber stimmt, wir haben mit denselben mathematischen Gleichungen gearbeitet, wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung. Wenn wir uns getroffen haben, hat er meist mir geholfen, nicht umgekehrt.“

„Also wissen Sie nicht ganz genau, worüber er geforscht hat?“

„Irgendwas mit Fourier-Transformationen.“ Mallon wischte sich eine Träne ab. „Ich wünschte, ich hätte genauer hingehört. Aber wie gesagt, er hat mir geholfen.“

„Und Dr. Rosser war sein Betreuer“, sagte Decker.

„Ja. Das zeigt, wie brillant er war. Dr. Rosser nimmt höchstens einen Studenten pro Jahrgang. Er ist der Institutsleiter, also konnte er sich die Leute aussuchen. Mich hätte er aber niemals genommen, selbst wenn ich so klug wie Eli wäre. Er hasst Frauen.“

„Ach ja?“

„Fragen Sie mal Dr. Belfort. Sie ist meine Betreuerin.“

Decker nickte. „Können Sie mir sonst noch etwas über Elijah Wolf erzählen?“

„Er war ein echtes Genie.“ Jetzt flossen die Tränen erneut. „Was für ein furchtbarer Verlust.“

„Mallon, wissen Sie etwas über seine Familie?“

„Nein.“

„Jemand sagte, er kam aus einer amischen Familie.“

„Mennonitisch.“

„Oh.“ Decker hielt kurz inne. „Sie wussten, dass er Mennonit war.“

„Ja.“

„Also wussten Sie doch etwas über ihn.“ Sie zuckte nur die Achseln. „Hat er je über seine Vergangenheit gesprochen? Wie er vom Mennoniten zum Mathegenie wurde?

„Darüber hat er nicht viel geredet, wenn überhaupt.“ Mallon senkte wieder den Blick. „Ich hab ihn auch nicht danach gefragt. Hätt ich’s nur getan.“

„Na gut.“ Decker fuhr sich über den Schnurrbart. „Warum hat er Ihnen von seiner Religionszugehörigkeit erzählt? Können Sie sich an den Kontext erinnern?“

„Natürlich erinnere ich mich. Er hat mir Rook und Crokinole beigebracht. Er sagte, das seien mennonitische Gesellschaftsspiele und er gehöre dieser Glaubensrichtung an.“

„Hat er Ihnen noch mehr erzählt?“

„Nein, nur, wie man das spielt.“

„Dann wissen Sie nicht, aus welcher Gegend er stammte?“

„Nein.“

„Und Sie haben ihn nicht gefragt?“

„Nein.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Sein Akzent klang wie hier aus der Gegend.“

„Er hatte einen Akzent?“

„Mit Akzent meine ich Sprachmelodie und -muster. Ich hab ein Ohr dafür. Von Ihrer Sprachfärbung her kommen Sie eindeutig aus dem Westen, aber Sie haben einen ganz leicht südlichen Einschlag. Wenn ich raten müsste, würde ich auf östliches Louisiana oder Westflorida tippen.“

„Gainesville, Florida. Genau in der Mitte vom Staat. Aber meine Mutter ist an der Grenze zu Louisiana aufgewachsen.“

Jetzt beteiligte sich McAdams wieder am Gespräch, nachdem er etwas auf seinem Handy nachgesehen hatte. „Wahnsinn, in Upstate gibt es jede Menge Amische. Die ziehen her, weil Ackerland hier billiger ist als in Lancaster.“ Er sah Mallon an. „Sind Sie sich sicher, dass er kein Amischer war?“

„Er war Mennonit.“

McAdams recherchierte weiter auf seinem Smartphone. „Es gibt ein paar kleine Mennonitengemeinden in Upstate.“

„Mennoniten sind fortschrittlicher eingestellt als Amische. Gut möglich, dass seine Familie am Netz ist und einen Telefonanschluss hat“, sagte Decker.

„Ich klär das.“

Decker wandte sich jetzt wieder an die junge Frau: „Ich muss seine Eltern informieren, Mallon. Bitte sagen Sie niemandem etwas, bis ich diese unangenehme Aufgabe erledigt habe. Könnten Sie es so lange für sich behalten?“

„Klar. Ich rede sowieso kaum mit jemandem. Ich habe kein Interesse am Tratschen.“

Decker reichte ihr seine Karte. „Falls Ihnen aber doch Gerüchte zu Ohren kommen oder Ihnen noch etwas einfällt, egal, wie unwichtig, bitte rufen Sie mich an.“

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