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Grausames Erbe

Als Buch hier erhältlich:

Seit 18 Jahren lebt Petty wie eine Gefangene in ihrem Zuhause. Ihre Tage werden durch eintönige Arbeit auf dem einsamen Schrottplatz und knallhartes Überlebenstraining bestimmt - alles nur zu ihrem Wohl, wie ihr Vater betont. Als er plötzlich stirbt, scheint sie endlich frei. Doch sein eiserner Griff besteht auch über den Tod hinaus. Getrieben von einem unglaublichen Verdacht macht sich Petty auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und befindet sich mit einem Mal auf der Flucht vor der Polizei. Wie gut, dass ihr Vater sie auch für solche Situationen ausgebildet hat …

In Amerika war der Titel - völlig zu Recht - als bestes Thriller-Erstlingswerk nominiert. Endlich ein Pageturner, auch ideal als Filmvorlage geeignet. Erfreulicherweise hat die Autorin bereits zwei weitere (unabhängige) Titel veröffentlicht, die noch übersetzt werden müssen." Münsterländischen Volkszeitung

"Lange hatte ich kein Buch mehr in der Hand, von dem ich so gefesselt war, dessen Figuren mich so bewegt haben." Jessica D. bei Netgalley


  • Erscheinungstag: 06.02.2017
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676137
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Mittwoch

Angestachelt vom Sirenengeheul und dem Geruch fremder Menschen, tobten Sarx und Tesla zornig bellend auf und ab, um die Polizisten hinter dem Zaun von unserem Grundstück fernzuhalten. Die Männer kauerten am Boden und beobachteten das Haus. Auf der anderen Seite des unbefestigten Wegs standen zwei Streifenwagen, ein Löschfahrzeug und ein Rettungswagen.

Dads iPhone klingelte ohne Unterlass. Ich konnte mich nicht überwinden ranzugehen. Ich wusste, dass die Polizisten wollten, dass ich ihnen die Tür aufmachte. Aber von mir zu verlangen, eine Horde fremder Leute ins Haus zu lassen, war, als würde man einem Biber befehlen, ein Flugzeug zu steuern. Es hatte nicht zu meiner Ausbildung gehört, wie man sich in so einer Situation verhält. Am liebsten hätte ich mir die AK-47 aus dem Waffenschrank im Keller geholt, selbst wenn das hieß, es mit einem halben Dutzend ausgebildeter Gesetzeshüter aufzunehmen.

„Petty Moshen!“ Ein Megaphon verstärkte die Stimme des Mannes gebenüber vom Haus.

Bei dem Geräusch heulten die Hunde auf, was das Zittern, das meinen Körper erfasst hatte, noch verschlimmerte. So sehr hatte ich nicht mehr gezittert seit dem Abend, an dem Dad mich in einem heftigen Schneesturm mutterseelenallein in der Prärie zurückgelassen hatte, um dadurch meinen Orientierungssinn zu schärfen.

„Petty, ruf die Hunde zurück.“

Ich brachte es nicht fertig.

„Ich rufe jetzt noch mal auf dem Telefon deines Vaters an und möchte, dass du dich meldest.“

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, die Worte wären aus Dads Mund gekommen, mit seiner Stimme. Als im nächsten Moment das iPhone vibrierte, tat ich so, als riefe er mich an. Ich griff danach, wischte über „Annehmen“ und hielt mir das Telefon ans Ohr.

„Hier ist Sheriff Bloch“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Wir möchten mit dir über deinen Vater reden.“

Ich räusperte mich. „Erst muss ich noch etwas erledigen“, sagte ich und drückte auf „Beenden“.

Ich eilte in den Keller und stieg aufs Laufband, stellte es auf zehn Meilen pro Stunde und rannte mir fünf Minuten lang die Seele aus dem Leib. So machte es Detective Deirdre Walsh immer, meine Lieblingsfigur aus Offender NYC, wenn sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Niemand außer meinem Vater und mir hatte jemals unser Haus betreten, deshalb musste ich mich innerlich dafür wappnen.

Ich sprang vom Laufband und nahm schwitzend und keuchend zwei Treppenstufen auf einmal. Meine Beinmuskeln brannten, aber nun war ich ruhiger. Ich steckte mir ein Pfefferminz-Kaugummi in den Mund, dann ging ich geradewegs zur Haustür, so wie es Detective Walsh getan hätte – furchtlos, pflichtbewusst, entschlossen. Ich riss die Tür auf und rief: „Sarx! Tesla! Aus! Hierher!“

Sofort blickten die Hunde sich um und trotteten auf mich zu. Ich sah, dass jetzt noch ein weiteres Fahrzeug vor dem Haus stand, ein nagelneuer roter Dodge Ram Pick-up mit Allradantrieb. Am Wagen lehnte Randy King; er trug einen lederfarbenen Stetson, ein Karohemd, Lee-Jeans und Cowboystiefel. Von seinem Gesicht sah ich nur den schwarzen Walrossbart. Mein Vater hatte mir aufgetragen, mich an ihn zu wenden, falls meinem Dad jemals etwas zustoßen sollte. Ich hatte Randy bis heute nur zweimal gesehen, aber noch nie mit ihm geredet.

Die Hunde saßen hechelnd vor mir und winselten. Ich kraulte ihnen die Ohren, froh, dass Dad sie so gut abgerichtet hatte. Ich richtete mich auf und führte sie zur Garage an der linken Hausseite. Sie setzten sich wieder hin, während ich das Tor hochstemmte, dann schickte ich sie mit einer Handbewegung hinein. Sie mochten das ganz und gar nicht und jaulten nervös, gehorchten mir aber. Ich ließ das Garagentor wieder herunter und wandte mich den Invasoren zu.

Als hätte ich ein unsichtbares Kraftfeld abgeschaltet, setzten sich die Männer unisono in Bewegung: der Notarzt und die Rettungssanitäter mit ihren Ausrüstungskoffern, dazu die Polizisten, deren Hände über den Pistolengriffen schwebten. Ich konnte keinem von ihnen in die Augen sehen, aber ich spürte, wie sie mich anstarrten, als wäre ich ein exotisches Tier im Zoo oder ein Serienkiller.

Der Mann, der offenbar der Sheriff war, kam direkt auf mich zu. Ich wich zurück und legte instinktiv die Hand an die Seite – dahin, wo das Messer saß, das stets an meinem BH befestigt war. Ich wusste, dass es nicht klug war, in meine Kapuzenjacke zu greifen und auch nur in die Nähe des Schulterhalfters zu kommen, in dem meine Baby Glock steckte.

„Petty?“, sagte er.

„Ja, Sir?“ Ich hielt den Blick auf ein Büschel gelblich giftigen Prärie-Kreuzkrauts gesenkt.

„Ich bin Sheriff Bloch. Lässt du uns bitte ins Haus?“

„Ja, Sir.“ Ich drehte mich um und erklomm die Stufen. Ich stieß die Fliegengittertür auf und trat beiseite, um die Phalanx fremder Männer ins Haus zu lassen. Mein Atem wurde flach, das Zittern fing wieder an. Mein Herz schlug so heftig, dass meine Schläfen pulsierten, und der Knubbel an meiner linken Schulter – Narbengewebe von einer Kindheitsverletzung – juckte wie verrückt. Das passierte immer, wenn ich nervös war.

Nach dem Sheriff kamen der Notarzt und die Sanitäter herein.

„Wo liegt er?“, fragte einer von ihnen. Ich zeigte nach rechts die Treppe hinauf. Mit ihren Koffern marschierten die Männer nach oben. Das Haus kam mir zu eng vor, so, als gäbe es nicht genug Sauerstoff für mich und all diese Leute.

Sheriff Bloch und ein Deputy betraten das Wohnzimmer. Beide sahen sich um, ließen den Blick durch den Raum schweifen, der bis auf die antike Standuhr in der Ecke leer war. Das alte Ding hatte schon vor Urzeiten den Geist aufgegeben, sodass es hier immer Viertel nach drei war.

„Wolltet ihr renovieren?“, fragte der Deputy.

„Nein“, sagte ich, und dann wurde mir klar, warum er es fragte. All unsere Möbel waren in der Mitte der Zimmer zusammengerückt, von den Fenstern weg.

Der Sheriff und sein Stellvertreter wechselten vielsagende Blicke. Der Deputy ging zu einem der vorderen Fenster und spähte zwischen den Gitterstäben hinaus.

„Ist das Panzerglas?“, fragte er mich.

„Ja, Sir.“

Sie wechselten erneut einen Blick.

„Können wir uns irgendwo hinsetzen?“, fragte Sheriff Bloch.

Ich ging ins Fernsehzimmer, eigentlich das Esszimmer des Hauses, und sie folgten mir. Als ich mich auf die Couch setzte, stieg eine Staubwolke auf und die Sprungfedern gaben einen quietschenden Moll-Akkord von sich. Ich zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

„Das ist Deputy Hencke.“

Der Deputy hielt mir die Hand entgegen. Als ich sie nicht ergriff, ließ er sie wieder sinken.

„Mein herzliches Beileid“, sagte er. Er hatte einen blonden Bürstenschnitt und trug die dunkelblaue Polizeiuniform.

Er ging auf Dads verstellbaren Sessel zu, und es kam mir vor, als würde sich ein Messer unaufhaltsam in meine Eingeweide bohren.

„Nein!“, schrie ich ihn an.

Niemand außer meinem Vater hatte je in diesem Sessel gesessen. Es war eine Sache, diese Leute ins Haus zu lassen, aber eine ganz andere, zuzusehen, wie sie hier taten, was sie wollten.

Er betrachtete mich verwirrt. „Was ist denn? Ich wollte mich doch nur …“

„Holen Sie sich einen Stuhl aus der Küche“, sagte Sheriff Bloch.

Der Deputy zog einen der aquamarinblauen Plastikstühle ins Fernsehzimmer. Ihm zitterten die Hände, als er versuchte, sich etwas zu notieren. Mein Aufschrei musste ihm genauso in die Glieder gefahren sein wie mir selbst.

„Buchstabierst du mir bitte euren Nachnamen?“

„M-O-S-H-E-N“, sagte ich.

„Hier geboren?“

„Nein“, sagte ich. „Wir sind ursprünglich aus Detroit.“

Der Deputy blickte stirnrunzelnd auf.

„Was hat euch denn hierher verschlagen? Habt ihr Angehörige in der Gegend?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich sagte ihm nicht, dass Dad mit mir nach Saw Pole, Kansas, gezogen war, weil er schon immer davon geträumt hatte, Farmer zu sein. Dann hatte er hier ein Fleckchen Land bewirtschaftet und sich vor allem mit Blattläusen herumgeplagt, mehr war nicht geworden aus seinem Traum.

„Wie alt bist du?“

„Einundzwanzig.“

Er ließ den Bleistift sinken. „Bist du in Niobe zur Schule gegangen? Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals gesehen zu haben.“

„Dad hat mich zu Hause unterrichtet“, sagte ich.

„Wann hast du den Verstor… äh, deinen Vater gefunden?“

Die Kopfhaut des Deputy wurde noch eine Spur rosiger. Er hätte das Haar etwas länger tragen müssen, um seine Geheimratsecken besser zu kaschieren.

„Gegen zwei Uhr fingen die Hunde an zu bellen …“

„Zwei Uhr früh oder nachmittags?“

„Am Nachmittag. Ungefähr um Viertel nach zwei haben sie draußen vor der Hintertür gebellt. Ich habe nachgesehen, aber fand keinen Hinweis auf einen Einbruchsversuch. Ich holte meine Winchester aus dem Waffenschrank im Keller, um die gesicherten Außengrenzen des Grundstücks abzuschreiten, aber die Hunde wollten nicht mitgehen. Deshalb gelangte ich zu dem Schluss, dass etwas im Haus selbst passiert sein musste, und setzte meine Untersuchung im ersten Stock fort.“

Deputy Henckes Stift war in der Luft stehengeblieben, er runzelte die Stirn. „Warum redest du denn so?“

„Wie so?“

„Normalerweise stelle ich die Fragen und die Leute antworten.“

„Ich erzähle Ihnen doch nur, was passiert ist.“

„Geht das auch weniger gestelzt?“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also sagte ich nichts.

„Schau“, sagte er, „beantworte einfach meine Fragen, okay?“

„Okay.“

„In Ordnung. Wo war dein Vater?“

„Nach dem Frühstück heute Morgen meinte er, dass er sich nicht wohlfühle, und ging in sein Schlafzimmer, um sich hinzulegen“, sagte ich.

Ich hatte den ganzen Tag darauf gewartet, dass Dad nach etwas zu essen rufen würde, aber das tat er nicht. Also hatte ich auch nicht nach ihm gesehen, denn es war angenehm, einmal nicht für ihn kochen oder ihm Bier raufbringen zu müssen. Ich hatte mir den ganzen Tag lang den Hals verdreht, um die Treppe im Auge zu behalten, weil ich damit rechnete, dass er sich anschleichen und mich dabei erwischen würde, wie ich mir verbotene Fernsehsendungen anschaute. Ich stellte den Ton leise, damit ich ihn hören würde, wenn er die knarrenden alten Stufen hinabgestiegen käme.

„Dann war es also das Bellen der Hunde, das dich schließlich nach oben gehen ließ?“

Ich nickte.

„Sie wollten uns glatt in Stücke reißen“, sagte der Deputy und fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelhaare.

Ich hatte mir immer einen kleinen knuddligen Schoßhund gewünscht, aber Dad zog die größeren Rassen vor. Sarx war ein Deutscher Schäferhund, Tesla ein Rottweiler.

Der Deputy beugte sich über seinen Notizblock. „Was glaubst du, warum haben sie gebellt?“

„Sie haben es gerochen“, sagte ich.

„Was gerochen?“

„Den Tod. Als Nächstes klopfte ich an die Schlafzimmertür meines Dads und bat um Einlass.“

„Du bist also in sein Zimmer gegangen“, sagte der Deputy. Sein Bleistift schwebte über dem Papier.

„Als nach dem Anklopfen keine Antwort kam, ging ich rein, ja. Er lag auf dem Bauch, auf der Bettdecke, die Beine in meine Richtung ausgestreckt und – er trug Shorts … Sie wissen ja, wie heiß es war; er hat die Klimaanlage nie vor dem Memorial Day eingeschaltet. Ich sah also seine Beine und dachte: Er hat irgendeinen Ausschlag. Ich hole am besten die Zinksalbe. Aber dann fiel mir ein, was ich im Fernsehen über Libidität gehört habe, und …“

„Lividität“, sagte er.

„Was?“

„Es heißt Lividität, mit ‚V‘, wenn das Blut sich im tiefsten Teil des Körpers sammelt. Nicht Libidität.“

„Ich habe das Wort nie geschrieben gesehen.“

„Und was hast du als Nächstes gemacht?“

„Dann wurde mir klar, dass …“

Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Bis jetzt hatten der Schock wegen des Leichenfunds und der Albtraum, fremde Leute im Haus zu haben, alles andere überdeckt. Nun aber brach die Erkenntnis, dass Dad wirklich tot war, mit aller Macht über mich herein, und mir brannten die Augen. Ich erkannte ein Gefühl aus längst vergangenen Zeiten. Ich wollte weinen, und ich wusste nicht, ob es an meiner Trauer lag oder an meiner Freude darüber, endlich frei zu sein. Frei für das normale Leben, von dem ich immer geträumt hatte.

Aber ich durfte nicht weinen. Ich wollte vor diesen Fremden keine Schwäche zeigen. Schwäche war gefährlich. Ich dachte wieder an Deirdre Walsh und rief mir ins Gedächtnis, was sie immer tat, wenn sie den Tränen nahe war. Ich räusperte mich und atmete tief durch.

„Dann wurde mir klar, dass er gestorben war. Anhand des Stadiums der Leichenstarre schätzte ich den Todeszeitpunkt auf ungefähr zehn Uhr morgens, deshalb versuchte ich gar nicht erst, ihn zu reanimieren“, sagte ich und dachte an Dads kalte, wächserne Haut unter meiner Hand. „Ich nahm sein iPhone vom Nachttisch und rief Mr. King an.“

„Randy King?“

Ich nickte.

„Warum hast du nicht die Polizei angerufen?“

„Weil Dad mir gesagt hatte, ich solle Mr. King anrufen, falls ihm jemals etwas zustoßen sollte.“

Der Deputy musterte mich, als hätte ich ein Mordgeständnis abgelegt. Dann sah er weg und stand auf.

„Ich glaube, der Gerichtsmediziner ist fertig, aber er möchte bestimmt noch mit dir reden.“

Während ich wartete, kauerte ich mich auf der Couch zusammen und dachte darüber nach, wie sich mein Leben jetzt verändern würde. Ab sofort würde ich selbst einkaufen gehen müssen und Rechnungen und Steuern bezahlen, und all das andere, was mein Vater mir nie beigebracht hatte, musste ich fortan auch selbst erledigen.

Der Gerichtsmediziner erschien in der Tür. „Miss Moshen?“ Er war ein großer rundlicher Mann und trug eine Strickjacke.

„Ja?“

Er setzte sich auf den Küchenstuhl, den der Deputy gerade geräumt hatte.

„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen“, sagte er.

„Okay“, sagte ich. Ich war vorsichtig. Der Deputy war klein und schmächtig, und obwohl er eine Waffe trug, hätte ich ihn mühelos überwältigen können. Bei dem Gerichtsmediziner war ich mir da nicht so sicher, er war ziemlich massig, brachte so einiges auf die Waage.

„Können Sie mir schildern, was passiert ist?“

Ich wiederholte meinen Bericht, aber er unterbrach mich. „Sie machen hier keine Aussage vor Gericht“, sagte er. „Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.“

Ich versuchte zu tun, was er verlangte, war mir aber nicht sicher, wie ich mich ausdrücken sollte, ohne ihn zu verärgern.

„Hat sich Ihr Vater über Schmerzen im Brustkorb beklagt oder im Unterkiefer? Tat ihm der linke Arm weh?“

Ich schüttelte den Kopf. „Er sagte bloß, dass er sich nicht wohlfühle. So als hätte er Grippe.“

„Hatte Ihr Vater erhöhte Cholesterinwerte? Hohen Blutdruck?“

„Weiß ich nicht.“

„Wann war er das letzte Mal beim Arzt?“, fragte der Coroner.

„Er hielt nichts von Ärzten.“

„Ihr Vater war erst einundfünfzig, also muss ich eine Autopsie anordnen, auch wenn es wahrscheinlich ein Herzinfarkt war. Wir werden eine toxikologische Untersuchung durchführen, das dauert ungefähr vier Wochen, weil wir die Proben nach Topeka ins Labor schicken müssen.“

Mir wich das Blut aus dem Gesicht. „Toxikologisch?“, fragte ich. „Warum denn?“

„Das ist reine Routine.“

„Ich bin sicher, mein Dad würde das nicht wollen.“

„Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte er. „Sie können ihn beerdigen, bevor das Ergebnis zurückkommt.“

„Nein, ich meine, er würde nicht wollen, dass man ihn aufschneidet.“

„Das ist gesetzlich vorgeschrieben.“

„Bitte …“, sagte ich.

Seine Augen wurden schmal, als er mich kurz fixierte. Dann stand er auf.

„Wo sollen wir die sterblichen Überreste hinschicken?“

„Zum Bestatter Holt in Niobe“, ertönte eine Stimme aus dem Wohnzimmer.

Ich erhob mich von der Couch, um nachzusehen, zu wem sie gehörte. Randy King lehnte mit dem Rücken an der Wand, den Stetson tief ins Gesicht gezogen.

Der Gerichtsmediziner sah mich fragend an.

„Ich bin der Testamentsvollstrecker von Mr. Moshen“, sagte Randy. Er hob den Kopf, und ich sah seine Augen, hellblau mit winzigen Pupillen, die sich geradewegs durch meinen Schädel zu bohren schienen.

Ich zuckte die Achseln.

„Möchten Sie sich noch von Ihrem Vater verabschieden, bevor wir ihn ins Leichenschauhaus bringen?“, fragte der Gerichtsmediziner.

Ich nickte und folgte ihm zur Treppe, wo er beiseitetrat. „Nach Ihnen“, sagte er höflich.

„Nein“, sagte ich. „Sie zuerst.“

Dad hatte mir beigebracht, nie als Erste durch eine Tür zu gehen und nie jemanden hinter mir hergehen zu lassen. Der Gerichtsmediziner runzelte die Stirn, stieg aber die Treppe hinauf.

Dads Zimmer war das erste auf der linken Seite. Der Gerichtsmediziner blieb vor der Tür stehen. Als er meinen Arm berühren wollte, zuckte ich zurück. Er zog seine Hand zurück.

„Miss Moshen“, sagte er mit sanfter Stimme, „Ihr Vater sieht jetzt anders aus als früher. Das könnte für Sie ein Schock sein. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, wenn Sie nicht …“

Ich betrat Dads Zimmer, gewappnet mit allem, was ich aus den vielen Fernsehkrimis wusste, die ich mir in all den Jahren angesehen hatte. Aber auf den Anblick, der sich mir nun bot, war ich nicht vorbereitet.

Er war auf dem Bauch liegend gestorben, deshalb hatte das Notarztteam ihn auf den Rücken gedreht. Die Leichenstarre war inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Oberlippe sich ins Zahnfleisch gedrückt hatte und zu einem höhnischen Grinsen verzerrt war, das seine bräunlichen Zähne offenbarte. Seine Hände lagen neben dem Kopf, mit den Handflächen nach oben. Die Augen starrten nach oben, das Gesicht war purpurn verfärbt.

Das Ganze sah aus, als würde Dad einen Dämon abwehren. Ich hätte besser gewartet, bis der Bestatter mit ihm fertig war, denn ich wusste, dass ich dieses Bild nie mehr aus dem Kopf bekommen würde.

Mit weichen Knien verließ ich das Zimmer, fest entschlossen, vor diesen fremden Leuten nicht in Tränen auszubrechen. Der Deputy und der Sheriff standen vor meinem Zimmer und betrachteten die Tür. Sie wirkten verwirrt.

„Petty“, sagte Sheriff Bloch.

Ich blieb stehen. Es war mir unangenehm, dass sie so nahe bei meinen persönlichen Sachen waren.

„Ja?“

„Ist das dein Zimmer?“

Ich nickte.

Die Männer sahen sich vielsagend an. Der Gerichtsmediziner blieb an der Treppe stehen, um zuzuhören. Genau davon hatte mein Vater immer geredet – von irgendwelchen Wichtigtuern, die sich einbildeten, über das Leben von Menschen urteilen zu können, die sie gar nicht kannten, über die sie nicht das Geringste wussten.

Die drei schienen darauf zu warten, dass ich etwas sagte, aber ich war des Redens müde. Da ich nie viel geredet hatte, wusste ich gar nicht, wie anstrengend es war.

Der Deputy fragte: „Warum sind da sechs Riegel an der Tür?“

Es ging ihn zwar nichts an, aber es gab auch nichts, wofür ich mich hätte schämen müssen.

„Damit Dad mich einschließen konnte.“

2. KAPITEL

Wieder sahen die Männer sich vielsagend an.

„Zur … Strafe?“, fragte der Sheriff.

Ich seufzte. „Zu meinem Schutz.“

„Wann hat dein Vater dich denn in deinem Zimmer eingesperrt?“

„Jede Nacht, seit ich drei war“, sagte ich und ging nach unten.

Während die Leute in Dads Zimmer ihr Zeug zusammenpackten, starrte ich vor einem der nach Westen gehenden Wohnzimmerfenster durch die Gitterstäbe und beobachtete, wie sich die Dämmerung auf die grünende Landschaft von Kansas herabsenkte. An einem klaren Frühlingstag wie diesem schien der Horizont mindestens dreißig Meilen entfernt zu sein und dazwischen gab es nichts als wolkenlosen Himmel und wellige Prärie, Büschel von Rispenhirse, Knöterich, gelben Hundszahn und blaue Flammenblumen, schwarzbraune Mastrinder und unsere fünf ausladenden Eichen, die erste Blätter trieben.

Ich hatte frühzeitig gelernt, mich nicht von der Schönheit blenden zu lassen, die mich hier umgab. Dad hatte mir immer gesagt, dass sich unter der schönen Oberfläche der Dinge immer etwas Hässliches verbarg. Zum Beispiel, dass der Weihnachtsstern, der wie verrückt am Straßenrand wuchs, giftig ist. Und die Eichen. Im Sommer waren sie mit Hunderten von sattgrünen Blättern verkleidet, die friedvoll im Wind rauschten. Im Herbst wurden sie unnatürlich orange mit leuchtend rotem Rand. Aber wenn die beißenden Winterwinde die Blätter herunterwehten, sah man dann, woraus diese Bäume wirklich bestanden: aus düsterer, granitharter Rinde, wütend und rachsüchtig, weil sie das raue Klima in Kansas ertragen mussten, das extreme Hin und Her von Hitze, Kälte und Feuchtigkeit, den unablässigen Wind, den Frost und die Gewitter.

Hier draußen im Nordwesten von Niobe County gab es kaum etwas, das es wagte, der harschen Herrschaft des Wetters zu trotzen – keine Bäume außer den fünf tapferen Eichen, keine weiteren Gebäude. Der nächste Ort – der, von dem unsere Werbepost kam – hieß Saw Pole und war fünfzehn Meilen entfernt. Das Wetter hatte den Anstrich von unserem Haus abgefressen, dem einzigen im Umkreis von dreizehn Meilen, die Seitenwandung hatte den blassgrauen Farbton von Vogelkacke. Erinnerungsfetzen aus der Zeit, als ich drei war, sagten mir, dass das Haus buttergelb gewesen war, als wir aus Detroit hergezogen waren. Jetzt sah man nur Reste davon, Überreste vom Leben eines Mannes, der Blumen gepflanzt, den Rasen gewässert und Getreide angebaut hatte.

Ich schaute so lange hinaus, bis die Leute aus dem Haus zu verschwinden begannen – als Erstes rückte das Notarztteam ab, dann die Polizisten und zum Schluss der Gerichtsmediziner und sein Trupp, der Dads Leichnam in einem schwarzen Sack auf einer Rollbahre hinausschob. Randy King blieb als Einziger da; er lehnte immer noch an der Wohnzimmerwand. Irgendetwas an ihm, an seiner Pose, erinnerte mich an Curley aus Von Mäusen und Menschen.

„Wenn du raufgehen und deinem Daddy einen Anzug für die Beerdigung raussuchen willst, kann ich ihn mitnehmen und zum Bestatter bringen“, sagte er unter seiner Hutkrempe hervor. Ich war froh, dass ich nicht in seine Stecknadelpupillen zu blicken brauchte.

Ich ging die Treppe hinauf und blieb vor Dads Zimmer stehen. Es war, als hielte eine unsichtbare Kraft mich davon ab, hineinzugehen. Aber ich wollte keine Zeit verlieren, nicht lange zaudern. Je eher ich den Anzug rausgesucht hatte, desto schneller würde ich Randy King loswerden und hätte das Haus endlich für mich allein. Und konnte zum ersten Mal in meinem Leben tun, was ich wollte.

Ich hatte Dads begehbaren Kleiderschrank nie betreten. Ich zog an der Lampenschnur, aber nichts tat sich. Das Licht funktionierte wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr. Im Zimmer lag eine große Taschenlampe. Ich schaltete sie ein und ging wieder zum Kleiderschrank. Der Lichtstrahl fiel auf etliche ausgeblichene Jeans, jede Menge Tarnkleidung und ein paar Oberhemden.

Die Sachen hatten dem einzigen Menschen gehört, den ich wirklich kannte, und auf einmal hatte ich entsetzliche Angst. In meiner Brust ballte sich ein Schrei zusammen. Ich ließ die Taschenlampe fallen und schlug mir die Hände vor den Mund, um den Schrei zurückzuhalten, und stolperte in den Kleiderschrank, sank zu Boden und vergoss stumme Tränen. Grenzenloser Kummer drohte mich zu ersticken. Auf Knien hockend, drückte ich mir eins von Dads Kleidungsstücken ans Gesicht und atmete tief ein; der Geruch ließ meinen Vater für einige Augenblicke wieder lebendig werden. Aber er war tot und ich war allein.

Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. Am hohlen Klang erkannte ich, dass jemand aus dem Keller hochgestiegen kam. Es waren vorsichtige, zögerliche Schritte, so als würde der Betreffende versuchen, möglichst leise zu sein. Ich blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Die Schritte waren jetzt im Erdgeschoss, hielten auf die Haustür zu. Ich schlich zum Treppenabsatz und sah Randy King mit einem großen Pappkarton, auf dem, mit schwarzem Filzstift geschrieben, die Buchstaben M R standen. Obendrauf lag Dads Laptop mit der L-förmigen Delle.

Aber was war in dem Karton? Und wo wollte Randy damit hin?

Ich eilte in Dads Zimmer und beobachtete durch das Fenster, wie Randy den Karton samt Computer zu seinem Wagen trug. Er stellte beides auf den Beifahrersitz und kehrte zum Haus zurück.

Als er drin war, rief er: „Petty? Alles in Ordnung da oben?“

Wieder hörte ich Schritte – diesmal bestimmt und selbstbewusst. Randy stieg die Treppe hinauf. Ich lief rasch zum Kleiderschrank und holte Dads dreiteiligen Anzug heraus. Auf keinen Fall wollte ich mit diesem Kerl, der ohne meine Erlaubnis Sachen aus dem Haus trug und sich offenbar einbildete, hierherzugehören, im Schlafzimmer in der Falle sitzen. Er hatte hier nichts verloren. Ich kannte ihn überhaupt nicht, aber ich empfand seine Gegenwart wie eine Krankheit, seine Anwesenheit schien viel zu viel Raum einzunehmen. Ich stürzte aus dem Zimmer, als er es gerade betreten wollte, und stieß ihm die Kleidung vor die Brust. Er nahm sie wortlos entgegen und ging wieder nach unten.

„Du brauchst dir keine Gedanken über die Beerdigung zu machen“, sagte er. „Dein Dad hat Anweisungen bei mir hinterlegt.“

Über die Beerdigung nachzudenken, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber ich nickte seinem davoneilenden Hinterkopf zu. Am Fuß der Treppe drehte er sich noch einmal um und schob seinen Hut in den Nacken. „Kommst du zurecht? Soll ich heute Nacht bei dir bleiben?“

Ich war so schockiert von der Frage, dass ich gar nicht reagieren konnte. Ich starrte nur Löcher in die Luft.

Er schüttelte den Kopf und lächelte ein bisschen. „Mach, was du willst“, sagte er und marschierte zur Tür hinaus. Durch das Fliegengitter murmelte er noch: „Herzliches Beileid.“

Als ich hörte, wie der Wagen ansprang, ging ich ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster zu, wie er wegfuhr.

Und dann fiel es mir ein.

Es gab niemanden, der mich am Abend einschließen würde. Warum hatte ich nicht daran gedacht, einen der Männer darum zu bitten? Wahrscheinlich hätten sie es abgelehnt. Aber wie sollte ich jetzt einschlafen?

Dad hatte Anweisungen bei Randy King hinterlegt. Warum hatte er keine für mich dagelassen? Ich war doch diejenige, die welche gebraucht hätte.

Aus der Garage gab einer der Hunde ein lautes Jaulen von sich. Ich hatte die beiden völlig vergessen, und sie mussten vermutlich raus, ihr Geschäft verrichten. Ich war dankbar, etwas zu tun zu haben.

Draußen hob ich das Garagentor an, und die Hunde stoben heraus und machten, ehe sie etwas anderes taten, einen schnellen Kontrollgang ums Grundstück, so wie Dad es ihnen beigebracht hatte. Erst dann erleichterten sie sich und setzten sich hechelnd vor mich und warteten auf einen Befehl oder darauf, auf Patrouille geschickt zu werden.

Ich gab ihnen das Signal Bei Fuß! und ging mit ihnen in die Garage, zog das Tor herunter und schloss es von innen ab. Dann öffnete ich die Tür von der Garage ins Haus, und die Hunde blickten mich fragend an, versuchten zu verstehen, was ich von ihnen wollte. Ich bedeutete ihnen, mir ins Haus zu folgen. Dad hätte das nicht gefallen, aber er lebte ja nicht mehr. Wenn ich mich nicht einschließen lassen konnte, wollte ich wenigstens die Hunde im Haus wissen.

Sie tänzelten unentschlossen auf der Türschwelle herum, denn Dad hatte ihnen beigebracht, immer draußen zu bleiben, außer wenn ein Fremder ihn oder mich angriff. Ich hockte mich hin und kraulte ihnen die Ohren.

„Ihr dürft jetzt ins Haus“, sagte ich zu den beiden. „Das ist in Ordnung. Ab sofort habe ich hier das Sagen.“ Ich trat durch die Tür, drehte mich zu ihnen um und signalisierte ihnen: „Hierher.“ Sie winselten.

„Hierher“, wiederholte ich.

Ich brauchte fünf Anläufe, aber schließlich trippelten sie ins Haus und sahen einander schuldbewusst an. Ich hoffte, es würde ihre Ausbildung nicht verderben. Ich gab ihnen ein Zeichen, mir ins Fernsehzimmer zu folgen. Sie gehorchten und setzten sich hin. Dann entließ ich sie in der Hoffnung, sie würden jetzt das Haus erkunden und sich daran gewöhnen, drinnen zu sein. Nach einer Weile trotteten sie aus dem Zimmer, Sarx auf der linken, Tesla auf der rechten Seite, so, wie sie es gelernt hatten.

Ich setzte mich auf die Couch und nahm die Fernbedienung. Jedes Geräusch kam mir plötzlich doppelt so laut vor – das Hecheln der Hunde, der Präriewind draußen, mein Magenknurren –, ich hätte aus der Haut fahren können. Ich schaltete den Fernseher ein und zappte durchs Programm, bis ich einen Sender fand, auf dem ein Offender-NYC-Marathon lief. Die Hunde kehrten zurück, blieben stehen und sahen mich an, warteten auf ein Kommando.

„Platz“, sagte ich. Sie legten sich hin.

Plötzlich lag ich in der Badewanne und ertrank.

Ich wollte Luft holen, aber es ging nicht, denn ich befand mich unter Wasser und starrte an die schwankende verschwommene Badezimmerdecke über mir. Ich versuchte, die Wasseroberfläche zu durchstoßen, doch es war, als wäre ich an den Wannenboden gekettet.

Aber ich war nicht angekettet. Jemand drückte mich unter Wasser. Sein Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen, aber ich wusste, dass es ein Mann war, der mich mit riesigen Händen niederdrückte. Dabei sagte er etwas, das ich im Wasser nicht verstand. Mein Nasenbein brannte und alles wurde grau, und ich wusste, dass ich das Bewusstsein verlor. Der Tod war im Anmarsch.

Diesen Traum hatte ich schon, solange ich denken konnte. Dass ich ihn in der Nacht nach Dads Tod haben würde, schien mir logisch. Beim Aufwachen schnappte ich immer nach Luft, als hätte mich wirklich jemand ertränken wollen, und ich bildete mir ein, noch die Wassermassen zu spüren, die an meinem Gesicht herabliefen. Mir brannten die Augen, und ich bekam kaum genug Luft in die Lunge, obwohl eigentlich gar keine Gefahr bestand. Es war ja nur ein Traum, ein Albtraum. Aber selbst während er verblasste, übte er einen unentrinnbaren Sog aus und zog mich in einer scheinbar endlosen Spirale in die Tiefe hinab.

Zu ertrinken, das war meine größte Angst, eine Art Ur-Angst. Eigentlich hätte ich mich vor Feuer fürchten müssen, denn Feuer hatte meine Mutter getötet, als ich drei war. Aber es war das Wasser, vor dem ich mich so fürchtete. Ich konnte nicht baden, nur duschen. Nicht einmal den Stöpsel konnte ich ins Spülbecken stecken, um es volllaufen zu lassen, weil ich dann sofort wieder diesen Sog spürte, der mich ins Wasser zu ziehen versuchte.

Als ich am nächsten Morgen auf der Couch erwachte, lief noch der Fernseher. Deirdre vernahm gerade einen Verdächtigen in dem düsteren Verhörraum auf Revier 51 in New York City. Steif wie ein Brett würde nicht annähernd beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich streckte mich ausgiebig, anschließend führte ich die Hunde zur Hintertür und ließ sie hinaus. Nach der Uhr über dem Herd war es kurz nach neun Uhr. Ich musste mich für die Arbeit fertig machen.

Da ich in meinen Klamotten geschlafen hatte, brauchte ich nicht viel zu tun. Ich ging ins Bad, wusch mir das Gesicht und kämmte mir die Haare. Dann machte ich mir für mittags etwas zu essen, steckte Dads iPhone ein, hängte mir die Winchester auf den Rücken, schloss das Haus ab und marschierte die Viertelmeile zur Müllkippe von Niobe.

In meinem Kassenhäuschen, wo ich den Leuten fünf Dollar dafür abnahm, dass sie ihre alten Sachen loswurden, bewahrte ich ein Fotoalbum auf, das irgendjemand vor ein paar Jahren weggeworfen hatte.

Am liebsten mochte ich die Fotos, die die Kinder in der Schneeburg zeigten, beim Grillen im Garten und beim Baseballspielen. Die Fotos waren unbeschriftet, also gab ich den Kindern eigene Namen. Da gab es Justin, den Ältesten, und seine mittlere Schwester Madison und den Jüngsten, Aidan.

Da ich draußen an der Müllkippe kaum Kinder zu sehen bekam, studierte ich oft die Gesichter der drei Blondschöpfe, wie sie in die Kamera blinzelten, während sie einen selbst gefangenen Fisch hochhielten oder auf Autoreifenschaukeln saßen, im Hintergrund verspritzte ein Rasensprenger Wasser.

Dad hatte nichts von dem Album gewusst, in dem ich an fast jedem Arbeitstag blätterte. Ich hatte mir die Fotos genauestens eingeprägt und konnte mir mit geschlossenen Augen die Geschichte dieser Familie vorerzählen.

Warum warf man so etwas weg? Ich hätte alles dafür gegeben, ein Bild von mir als Baby zu haben oder wenigstens eins von meiner Mom. Doch alles war mit ihr in Detroit verbrannt.

Als ich an diesem Vormittag auf meinem Hocker im Kassenhäuschen saß und mein Blick über die Müllberge schweifte, dämmerte mir, dass ich das Fotoalbum jetzt einfach mit nach Hause nehmen konnte. Und dass ich ab sofort überall hinfahren konnte, nicht nur zum Haus und zur Müllkippe; jetzt musste ich nur noch jemanden finden, der mir das Autofahren beibrachte. Vielleicht würde ich dann nach Saw Pole fahren und im Diner essen und anschließend einen Einkaufsbummel machen. Vielleicht würde ich nach Salina fahren, vielleicht sogar nach New York.

Jetzt, wo Dad tot war, konnte ich machen, was ich wollte.

3. KAPITEL

Donnerstag

Ich ging ans Telefon, noch ehe ich richtig wach war.

„Dekker?“

„Ja“, sagte ich und rieb mir die Augen.

„Du weißt, ich würde nicht anrufen, wenn es nicht unbedingt sein müsste.“

Ich setzte mich auf. „Chad?“ Ich träumte wohl noch, denn der Sänger meiner Ex-Band würde, so wie die Dinge vor fünf Monaten zwischen uns zu Ende gegangen waren, nie im Leben bei mir anklingeln.

„Hier ist der Deal: Wir geben dir noch eine letzte Chance, und das würden wir nicht tun, wenn wir nicht total aufgeschmissen wären. Ich möchte, dass du dir darüber im Klaren bist.“

„O … kay“, sagte ich vorsichtig. Dann zündete ich mir erst mal eine Zigarette an. Oma würde es missbilligen, aber das hier waren besondere Umstände. Dieses Gespräch konnte ich unmöglich ohne Teer und Nikotin überstehen.

„Sag mir, dass es dir klar ist.“

„Ist mir klar“, sagte ich und versuchte nicht durchklingen zu lassen, dass ich die Augen verdrehte. „Hab’s kapiert.“

„Was?“

„Dass du nicht anrufen würdest, wenn es nicht unbedingt sein müsste. In Ordnung. Red weiter. Was hast du gerade über eine zweite Chance gesagt?“

Chad schnaubte verächtlich. „Über die zweite Chance sind wir schon lange hinaus, Alter. Ich krieg gar nicht zusammen, wie viele Chancen du schon bei uns hattest. Das ist jetzt deine allerletzte. Ich möchte, dass du dir darüber im Klaren bist, dass ich …“

„Okay, okay, ist ja gut, Mann. Ich hab’s kapiert. Komm zur Sache, weiter im Text.“

Chads Tonfall veränderte sich, plötzlich lag blanke Begeisterung in seiner Stimme. „Disregard the 9 hat in elf Tagen, am Montag, den Siebenundzwanzigsten, im Uptown in Kansas City einen Gig als Vorgruppe von Autopsyturvy.“

Ich stellte das Atmen ein. War das ein Traum?

„Hallo?“, sagte Chad.

„Ich bin noch dran“, sagte ich. „Bin mir bloß nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe.“

„Hast du. Also, unser besserer, zuverlässigerer neuer Drummer, der nicht seine Bandkollegen beklaut, hat sich beim Skilaufen das Handgelenk gebrochen, und wir haben keine Zeit, mit einem Ersatzmann die Songs einzuüben.“

Neu. Besser. Zuverlässiger. Beklaut nicht seine Bandkollegen. Jede dieser Beschreibungen traf mich wie ein Holzbrett (in dem ein rostiger Nagel steckt) auf dem Kopf. Weil alles stimmte.

„Es liegt an dir“, fuhr Chad fort. „Das ist deine allerletzte Chance. Für alle Zeiten. Entweder du kriegst es auf die Reihe und bist in acht Tagen zum Proben in Kansas City oder Ende Gelände.“

„Ich bin da“, sagte ich.

Chad legte auf.

Das änderte alles.

Vor fünf Monaten hatte mir das Zulassungsbüro der Kansas State University unmissverständlich nahegelegt, die Uni nach gerade mal einem Semester zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Zum Glück hatte sich mein Vater bereits verkrümelt, als ich noch auf der Grundschule gewesen war, sonst hätte er mich wahrscheinlich totgeprügelt, obwohl er ja selbst ein Highschool-Abbrecher war. Da war ich drei Jahre lang jeden Tag brav zum Brown-Mackie-College in Salina gefahren, um anschließend die beiden letzten Jahre an der K-State absolvieren zu können, und dann hatte ich es voll in den Sand gesetzt. Ich fuhr seit fünf Jahren Lebensmittel aus, um die anfallenden Studiengebühren abzustottern, und bis vor dreißig Sekunden hatte ich geglaubt, ich müsste mein Leben lang Lieferant bleiben.

Aber auf einmal war ich wieder der Drummer von Disregard the 9. Zum Glück hatte ich mein Schlagzeug noch nicht verscheuert. Aber ich musste es im Schuppen aufbauen und mir Spielpraxis holen. Ich legte mich zurück und warf mein billiges Klapphandy auf den Nachttisch, rauchte mit geschlossenen Augen und war zum ersten Mal seit Monaten glücklich.

Die Tür flog auf, und Oma schoss wie ein Wirbelsturm ins Zimmer.

Ich klappte gerade ein Auge auf, als sie mir auch schon die Zigarette aus dem Mund riss. Sie ließ sie in eine Sodawasserdose fallen und warf die ganze Schweinerei in meinen Papierkorb.

„Aufgestanden“, sagte sie auf Deutsch, ihrer Muttersprache, und riss die schweren Vorhänge auseinander, um die schlappe Frühlingssonne hereinzulassen.

„Nein“, sagte ich, ebenfalls auf Deutsch.

„Doch. Wir müssen etwas erledigen.“ Sie gab mir einen Klaps auf den zugedeckten Hintern. Für sie war ich immer noch sechs Jahre alt und würde es auch immer bleiben. Mein Gesicht glühte.

„Ich hab dir gesagt, du sollst das lassen“, raunte ich sie an und wälzte mich auf die Seite. „Du bist peinlich.“

„Weil ich dich nachmittags um zwei aus dem Bett hole? Wenn du nicht mehr aufs College gehst … Wenn du hier wohnen bleiben möchtest, dann nur nach meinen Regeln. Und dazu gehört nicht, den lieben langen Tag im Bett herumzugammeln.“

Sie kannte nicht alle Details meines Abschieds von der Kansas-State. Sie glaubte, ich wäre freiwillig abgegangen, und ich ließ sie gerne in dem Glauben.

„Ich hab heute frei“, sagte ich und streckte mich. „Bin spät ins Bett gekommen. Und überhaupt, ich hab gerade super Neuigkeiten erfahren. Ich fahre nach …“

Oma riss mir die Bettdecke weg und schickte sich an, das Bett zu machen, während ich noch drin lag, und ich wusste, dass sie es tun würde. Sie zog mir das Kissen unter dem Kopf weg.

„Sei kein Waschlappen“, sagte sie wieder auf Deutsch. „Du musst mitkommen.“

Meine super Neuigkeiten interessierten sie nicht. Es würde sie sowieso nicht beeindrucken, also sparte ich mir die Mühe, es ihr zu erzählen. Ich setzte mich auf, schwang die Beine aus dem Bett und kratzte mich mit beiden Händen am Kopf.

„Wir müssen die Waschmaschine bis vier zur Müllkippe bringen.“

„Du meinst die, die seit Gerald Fords Zeiten im Garten steht?“ Ich stand auf und zog mir die Jeans und das Gangstagrass-T-Shirt an; beides hatte ich letzte Nacht einfach auf den Boden geworfen.

Sie gab keine Antwort, fuhr nur fort, im Zimmer herumzuwuseln.

„Okay“, sagte ich. „Du hast gewonnen. Warum müssen wir die Waschmaschine unbedingt bis vier hinbringen?“

Oma drehte sich zu mir um, ein freudiges Lächeln im Gesicht, das ein Flokati aus dauergewellten grauen Haarkringeln umrahmte. „Gestern ist Charlie Moshen gestorben.“

„Und das freut dich, weil …?“

Sie wollte mir eine Kopfnuss verpassen, aber ich duckte mich weg.

„Ich habe seiner Tochter einen Spätzle-Auflauf mit Schinken und einen Sülzsalat gemacht. Die müssen wir ihr bringen.“

Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Jeder in Niobe County wusste, dass man nicht einfach bei den Moshens zu Hause vorbeifuhr, wenn man keine Schrotladung abkriegen oder von ihren Wachhunden zerfetzt werden wollte. Gerüchten zufolge war das Grundstück mit Bambusfallen und Tretminen gesichert.

„Kann ich erst noch was essen?“, fragte ich.

„Beeil dich.“

Ich ging aufs Klo, dann in die Küche, wo ich mir eine Portion Lucky Charms in eine Schale schüttete. Oma packte Auflauf und Salat in eine Einkaufstüte und blieb wartend am Küchentisch stehen.

„Ich hasse es, wenn du mir beim Essen zuguckst. Setz dich, um Himmels willen, hin, Oma.“

Sie blieb natürlich stehen, also beachtete ich sie nicht. Als ich fertig war, stellte ich die Schale mit dem Löffel in die Spüle.

„Ist es eigentlich so schwer, die Sachen in den Geschirrspüler zu stellen?“, fragte Oma.

Ich rollte seufzend die Augen. „Ich weiß nie, ob das Zeug da drin sauber oder schmutzig ist.“

„Ich verrate dir ein Geheimnis: Wenn Essen am Geschirr klebt, dann ist es schmutzig.“

Ich ging ins Bad und fuhr mir mit dem Kamm durch die Haare, wusch mir das Gesicht und putzte mir die Zähne.

Ich musste mir überlegen, was ich bei dem Konzert tragen wollte. Ganz schlicht in Jeans und T-Shirt wie früher oder vielleicht eine schmale Krawatte und Hosenträger? Ich wünschte, ich hätte Chad gefragt.

Während ich hinausging und Oma zu meinem gelben Toyota-Pick-up folgte, kreisten meine Gedanken um das Mädchen, von dem ich zwar gehört, das ich aber noch nie gesehen hatte. Ich wusste aus Unterhaltungen mit Leuten an der K-State, dass es in jeder Gemeinde eine etwas seltsame Familie gab. Diese Rolle hatten die Moshens nicht nur in Saw Pole inne, sondern in ganz Niobe County. Sie waren die Satanisten, die Kannibalen-Familie, die Radleys. Ganz wie man wollte. Natürlich war das alles Schwachsinn. Wahrscheinlich.

Charlie Moshen hatte gelegentlich irgendeinen Tagelöhnerjob übernommen, aber meist war er für sich allein geblieben. Er hatte seine schulterlangen ergrauenden Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, und sein Gesicht hatte so viele Runzeln und Furchen gehabt, wie man sie normalerweise nur bei Jahrzehnte älteren Männern sieht. Die tiefliegenden blauen Augen hatten immer irgendwie ruhelos gewirkt, und als ich noch klein war, wechselte ich die Straßenseite, wenn ich ihn in Saw Pole herumgeistern sah.

Alle verbreiteten Gerüchte über die Moshens. Charlie sei ein Rassist, ein Fundamentalist, ein Separatist. Er habe einen Betonbunker unterm Haus, mache zum Spaß Jagd auf Menschen und noch Schlimmeres.

Am meisten tat mir das Mädchen leid – in Saw Pole festgenagelt, ohne Freunde, ohne Kontakt zur Außenwelt.

Ich ging nach hinten in den Garten, um mich mit der Waschmaschine herumzuplagen, und sicherte sie auf der Ladefläche mit Gummiseilen, dann machten wir uns auf den Weg zur Müllkippe.

Auf der Schotterpiste, die dorthin führte, wurde ich immer nervöser. Ich zündete mir eine Camel an. Oma wedelte mit der Hand in der Luft herum und rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Sie stellte das Radio auf Salina Country und sang die ganze Zeit mit. Ich war froh über die Ablenkung, weil ich meine Nervosität vergaß, bis links von der Müllkippeneinfahrt das Kassenhäuschen in Sicht kam. Drinnen saß Petty Moshen, zusammen mit ihren Gewehren und Messern.

Während ich den Truck abbremste, tauchte im Fenster des Verschlags eine Hand auf, die Handfläche nach oben. Als ich anhielt, sah ich, dass die Hand zu einem muskulösen, feingliedrigen Arm gehörte, an dem sich vom Ellbogen bis zum Handgelenk eine verwachsene Narbe befand. Dann sah ich ihr Profil. Sie las in einem Buch und machte sich nicht die Mühe, einen Blick auf uns oder den Wagen zu werfen. Ich gaffte sie an, diese Legende, dieses Gerücht, dieses Phantom. Es war ungefähr so, wie die Aurora Borealis zu betrachten. Man konnte den Blick nicht abwenden, selbst wenn man es wollte. Was bei mir nicht der Fall war. Denn etwas kam in den vielen Gerüchten über Petty Moshen nie vor, nämlich dass sie bildhübsch war.

Sie war eins jener Mädchen, die man aus Furcht, sich die Netzhaut zu verbrennen, nicht direkt ansehen konnte. Man hätte eine dieser Karten mit einem kleinen Guckloch gebraucht, mit denen man eine Sonnenfinsternis betrachtete.

Pettys Hals war lang und schlank, und das karamellfarbene Haar hing ihr locker auf die Schultern. Ihre großen ovalen Augen waren haselnussbraun, ihre Wimpern dichter, als ich es je bei einem Menschen gesehen hatte, und ich fragte mich kurz, ob sie wohl falsche Wimpern trug, aber dann wurde mir klar, wie lächerlich der Gedanke war. Als sie sich über die vollen Lippen leckte, sah ich in ihren Wangen einen Anflug von Grübchen, die sich vertiefen würden, falls sie jemals lächelte.

Ich starrte sie so lange an, bis sie den Kopf in meine Richtung wandte, was mir gehörig in die Eingeweide fuhr. Ich schluckte.

„Fünf Dollar“, sagte sie und blickte knapp an mir vorbei.

„Hallo“, sagte ich und bekam plötzlich einen trockenen Mund. „Du bist Petty Moshen, richtig?“

„Natürlich ist sie es“, sagte Oma ärgerlich. Sie beugte sich vor und redete an mir vorbei: „Ich bin Lena Sachs, und das hier ist mein Enkel und College-Abbrecher Dekker.“

Ich wandte ihr das Gesicht zu und funkelte sie an.

„Oh“, sagte Petty. „Macht fünf Dollar.“

„Liebes“, sagte Oma, „das mit deinem Daddy tut uns sehr leid.“

„Ja“, sagte Petty ungerührt.

Ja? Die korrekte Antwort auf diese Floskel war natürlich „Danke.“ Aber anscheinend hatte Petty niemand beigebracht, wie man darauf zu reagieren hatte. Ich fand das exotisch und sogar ein wenig erregend.

Oma plapperte weiter. „Wir haben dir Schinken-Spätzle-Auflauf und einen Sülzsalat mitgebracht. Normalerweise hätte ich es dir nach Hause gebracht, aber ich war nicht sicher … ich meine … ich wusste nicht, ob …“ Sie verstummte und wartete darauf, dass dieses wortfaule Mädchen einen Satz fortsetzen würde, von dem es keine Ahnung hatte, wie es ihn beenden sollte.

„Ob ich Auflauf mag?“, sagte Petty.

Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.

„Ich wusste gar nicht, dass du Humor hast, Liebes“, sagte Oma.

Jetzt hatte ich das Gefühl, dass Oma und ich diejenigen waren, die sich unpassend benahmen. Diesem Mädchen war vor weniger als vierundzwanzig Stunden der Vater gestorben, und wir kicherten hier über ihre soziale Unbeholfenheit, dachte ich. Ich räusperte mich.

„Herzliches Beileid“, sagte ich zu ihr.

Oma stieß mich an. Ich nahm ihr die Einkaufstüte mit dem Essen ab und reichte sie Petty durchs Fenster.

„Den Auflauf musst du ungefähr eine halbe Stunde im Herd aufwärmen“, sagte Oma. „Und stell den Salat gleich in den Kühlschrank, wenn du nach Hause kommst, ja?“

Petty nahm die Tüte entgegen und verschwand aus dem Blickfeld, als sie sie auf den Boden stellte, was mich an die Mauthäuschen-Szene in Der Pate erinnerte, in der Sonny auf spektakuläre Art eine Maschinengewehrsalve verpasst kriegt. Aber im Gegensatz zum Maut-Kassierer im Film tauchte Petty wieder auf, ohne wild draufloszuballern.

Einen Moment lang war nur das Tuckern des alten Trucks zu hören.

„Ihr wollt die Waschmaschine hierlassen“, sagte Petty. „Ich kriege fünf Dollar.“

Ich hatte ganz vergessen, warum wir gekommen waren.

„Richtig“, sagte ich. Dann streckte ich die Beine aus, grub in meinen Hosentaschen, zog einen zusammengefalteten Geldschein heraus und gab ihn ihr. „Hier, bitte.“

„Fahrt einfach durch.“

„Danke“, sagte ich.

Oma beugte sich noch einmal vor und sagte: „Gib Bescheid, wenn wir irgendetwas für dich tun können, Petty.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Egal was?“

„Sicher“, meinte ich. „Das sagt man so, wenn jemand gestorben ist. ‚Gib Bescheid, wenn ich irgendwas für dich tun kann.‘ Kapiert?“

Pettys direkter, eindringlicher Blick und ihre knappen Antworten versetzten mich in leichte Panik, sodass ich nicht mehr aufhören konnte zu reden.

„Man wünscht sich nichts mehr, als dass der Verstorbene nicht tot wäre. Und dann sagen einem die anderen Leute, man solle Bescheid geben, falls sie etwas für einen tun können. Das können sie aber nicht. Weswegen man eigentlich antworten müsste: ‚Okay, Leute, am besten gebt ihr eure grauen Zellen gleich an der Garderobe ab, weil ihr sie ja offensichtlich nicht braucht.‘“

Omas Backpfeife ließ mich abrupt verstummen. Ich war ihr beinahe dankbar. Beinahe.

„Erzähle nicht so einen Unsinn“, sagte sie. „Petty braucht deine blöden Sprüche nicht.“ Und dann an Petty gerichtet: „Manchmal redet er wirres Zeug.“

Ich rieb mir die Wange.

„Sorry“, sagte ich, und meine Verlegenheit war so greifbar, dass sie fast körperlich Gestalt annahm, wie ein parasitärer Zwilling, der mir aus der Seite herauswuchs. „Das mit deinem Vater tut mir wirklich leid.“

„Ja“, sagte Petty und kehrte wieder zu ihrem Buch zurück. „Ihr könnt durchfahren.“

Als wir außer Hörweite waren, fragte Oma: „Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?“

„Ich hab bloß versucht, sie zu behandeln wie alle anderen“, erklärte ich. „Und kann ich es dir vielleicht irgendwie abgewöhnen, mich vor anderen Leuten zu ohrfeigen?“

Oma machte so etwas wie Psss.

4. KAPITEL

Ich hielt den Blick auf mein Buch gesenkt, las aber nicht darin, sondern beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Dekker und seine Großmutter die Waschmaschine von der Ladefläche des Toyotas beförderten. Sie sollten nicht mitbekommen, dass ich ihnen zusah.

Der kleine Zwist zwischen ihnen kam mir wie eine Filmszene vor, wie ein Wortgeplänkel in einer Sitcom. Ich erlaubte mir einen kleinen Tagtraum, in dem ich selbst mit anderen Leuten zusammen war und mich so benahm wie die beiden eben, mich unterhielt und lachte. Vielleicht war dieser Traum ja kurz davor, wahr zu werden.

Nachdem sie wieder weggefahren waren, dachte ich weiter über ihre Unterhaltung nach – es war so anders als die Zwei-Wörter-Kommunikation zwischen mir und Dad –, und das erfüllte mich mit einem ungewohnten, aber nicht unangenehmen Gefühl, das mich von innen wärmte, sodass ich gern gelächelt hätte. Und tatsächlich lächelte ich versonnen in mich hinein – bis aus dem Nichts ein roter Dodge Ram Pick-up vorgefahren kam.

Erschrocken sprang ich auf. Ich war so tief in Gedanken gewesen, dass ich Randy gar nicht hatte kommen hören. Ich hatte die erste Regel verletzt: beobachten. Dad und ich hatten das ohne Ende trainiert. Als ich acht oder neun war, hatte er angefangen, mich an öffentlichen Orten allein zu lassen, um mir Wachsamkeit und Reaktionsbereitschaft anzutrainieren. Beim ersten Mal hatte er mich nicht vorgewarnt. Wir waren in Fort Hays gewesen, und auf einmal war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Zuerst hatte ich Angst gehabt, aber dann hatte ich eine Stelle gefunden, wo ich mich mit dem Rücken an die Wand stellte. Sobald ich das tat, war er wieder aufgetaucht und hatte mir erklärt, dass ich das Richtige getan hätte.

Beobachten. Orientieren. Entscheiden. Handeln. Die vier Hauptregeln. Dad hatte mir eingeschärft, immer wachsam zu sein. Immer abwehrbereit. Blitzschnell die Optionen abzuwägen und entschlossen zu handeln. Wenn man eine dieser Regeln verletzte, verletzte man sie alle. Und soeben hatte ich sie ganz gewaltig verletzt.

Ich verbannte Dekker und seine Großmutter aus meinen Gedanken und konzentrierte mich auf die gegenwärtige Situation.

Aus meinen gestrigen Beobachtungen wusste ich, dass Randy keine Schusswaffe trug, dafür ein Jagdmesser in der Scheide am Hosengürtel. Ich würde ihm mühelos den Kopf wegblasen, falls er auf die Idee kommen sollte, mich anzugreifen. Ich zog mir die Winchester über die Schulter.

Randy räusperte sich im offenen Fenster seines Trucks. „Ich hab alles arrangiert.“

Ich reagierte nicht.

Er wartete eine Sekunde, ehe er sagte: „Willst du etwas darüber hören?“

„Worüber?“

„Die Trauerfeier ist morgen Nachmittag um zwei in der Begräbnishalle in Niobe.“ Er hielt inne, um zu sehen, ob ich irgendeine Reaktion zeigen würde. Als ich nichts sagte, fuhr er fort: „Nichts Ausgefallenes, kurz und schmerzlos. Ist alles schon bezahlt. Ein Gottesdienst bei geschlossenem Sarg, aber hinterher hast du Gelegenheit, dich zu verabschieden.“

Ich sagte nichts.

„Ich hole dich morgen um eins ab“, sagte er.

Das bedeutete, dass ich mich zu diesem Kerl ins Auto setzen sollte, und das verstieß gegen Dads Regeln.

„Ich fahre mit dem Rad“, sagte ich, obwohl ich nie außerhalb der Sichtweite meines Vaters damit gefahren war.

„Es sind zwanzig Meilen bis nach Niobe“, sagte Randy.

„Das geht in Ordnung“, sagte ich.

„Deinem Vater wäre das nicht recht“, sagte er und schob seinen Stetson hoch, sodass ich seine Augen sehen konnte.

„Dad ist tot.“

Er zog sich den Hut wieder ins Gesicht. „Benutzt du dieses Gewehr?“

„Ich weiß, wie man damit umgeht.“

„Natürlich“, sagte er. „Ich meine, musstest du es schon mal benutzen?“

„Ich brauchte es nur zu zeigen“, sagte ich.

Sein blöder Bart zuckte. „Dein Dad hat dich gut trainiert, was?“

Ich zuckte die Achseln.

„Dein Dad hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern, und ich habe vor, es zu tun. Ich bin derjenige, von dem er gesagt hat, dass du ihn anrufen sollst, du weißt also, dass du mir vertrauen kannst, weil er es auch getan hat. Ich werde dich also morgen um eins zur Beerdigung abholen. Und hinterher fahre ich dich zur Testamentseröffnung in die Stadt.“

Vielleicht war ich es ja einfach nicht gewöhnt, mit anderen Leuten zu reden, aber Randy kam mir ziemlich rechthaberisch vor. Er fragte mich gar nicht erst, er teilte mir einfach mit, was er tun werde, und mir ging das ziemlich gegen den Strich. Aber zwanzig Meilen waren zu weit auf dem Fahrrad, und wie sollte ich sonst zur Beerdigung kommen? Der Drang, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, hätte mich fast dazu gebracht, ganz auf die Beerdigung zu verzichten, aber ich würde hingehen. Dieses eine letzte Mal ließ ich mir noch vorschreiben, was ich zu tun hatte, denn danach würde ich lernen, wie man Auto fährt. Bei dem Gedanken ging es mir gleich besser. Ich nickte.

„Braves Mädchen. Wir sehen uns morgen um eins.“ Er jagte den Motor hoch, setzte zurück, dann legte er den ersten Gang ein und brauste auf der Schotterpiste davon. Als er außer Sicht war, legte ich die Reißverschlusstasche mit dem Bargeld in die Kassette, die mein Boss später abholen würde, schloss das Häuschen ab und ging zu Fuß nach Hause.

Ich wusste nicht, warum wir eigentlich eine Beerdigungsfeier haben mussten. Wer sollte denn da kommen? Dad hatte keine Freunde gehabt. In den letzten zwei Jahren war er nirgendwo mehr hingegangen und hatte nur noch vor dem Fernseher gehockt.

Da fuhr mir ein neuer, noch beängstigenderer Gedanke durch den Kopf. Wenn nun doch Leute kämen? Auf den Beerdigungen im Fernsehen hatte es immer gewimmelt von Gästen. Bei der Vorstellung, von lauter Fremden umgeben zu sein, hob sich mir der Magen. Ich wusste nicht, ob ich das aushalten würde, auch wenn ich davon geträumt hatte, ein normales Leben zu führen, seit ich alt genug war, um zu merken, dass ich es nicht tat.

In Fernsehserien mussten die Hinterbliebenen auch immer den Besuchern die Hand schütteln und einige sogar umarmen. Wie sollte ich mich nach allem, was Dad mir beigebracht hatte, an einem ungewohnten Ort, von fremden Leuten umringt, nicht fragen, ob sie mich nicht umbringen oder vergewaltigen wollten? Frauen störten mich nicht so sehr; als ich klein war, hatte Dad mir gesagt, ich solle im Notfall eine Mutter mit kleinen Kindern suchen und sie um Hilfe bitten. Aber natürlich gab es auch eine Menge Frauen, die ihren Männern geholfen hatten, kleine Mädchen zu kidnappen, Mädchen wie Elizabeth Smart und Jaycee Dugard oder die Kleine, die sieben Jahre lang in einer Kiste unter dem Bett eines Psychopathen-Ehepaars gelebt hatte.

Zu Hause musste ich die Hunde erst wieder ins Haus locken, aber diesmal dauerte es nicht mehr so lange wie am Vortag. Ich schaltete den Fernseher ein und ging hinauf in mein Schlafzimmer. Es war eigentlich das des Hausherrn, denn es hatte ein eigenes Bad. Dad hatte mir das Zimmer gegeben, damit er nicht mitten in der Nacht aufzustehen brauchte, um mich herauszulassen, wenn ich auf die Toilette musste. Ich griff unter meine Matratze und holte ein Spiralnotizbuch hervor, das ich seit ein paar Jahren nicht mehr aufgeschlagen hatte. Es enthielt eine Liste, die ich mir anschauen wollte. Ich nahm das Notizbuch mit nach unten und setzte mich an den Küchentisch.

Dann blätterte ich zu der Liste und las sie mir laut vor. Jetzt, wo mein Vater nicht mehr da war, hatte ich keine Angst mehr, dass er sie entdecken könnte. Ich konnte Dinge laut aussprechen, die auszusprechen ich nie gewagt hätte, als er noch lebte. Die Hunde saßen neben meinem Stuhl und horchten, hoben hin und wieder den Kopf.

„Was ich tun würde, wenn ich ein normales Leben hätte“, sagte ich. „Erstens: Saw Pole verlassen. Zweitens: Fahren lernen. Drittens: Aufs College gehen. Viertens: In Restaurants essen. Fünftens: Freunde haben. Sechstens: Ins Kino gehen.“

Ich stellte mir all diese Dinge vor, genoss sie im Geiste, und zum ersten Mal glaubte ich fast daran, dass sie passieren könnten. Die freudige Erregung dieser Vorstellung versetzte mir einen solchen Adrenalinstoß, dass ich am liebsten die Straße hinuntergerannt wäre, an unserem Haus vorbei – das jetzt mein Haus war –, aber ganz so weit war ich noch nicht. Stattdessen las ich weiter, und die Vorfreude und Aufregung ließen meine Stimme höher klingen.

Die nächste Sache auf meiner Liste ließ mein Gesicht schon beim Lesen glühen, aber ich machte unermüdlich weiter. „Siebtens: Mich verlieben. Achtens: Nach New York City fahren.“ Nummer acht machte mich auch verlegen, denn ich wusste ja, dass Detective Deirdre Walsh und das 51. Revier nicht wirklich existierten. Aber ich wollte einmal die Stadt besuchen, in der ich einen Großteil meines Fernsehlebens verbracht hatte.

„Neuntens: Junk Food essen.“ Ich holte tief Luft und ließ sie langsam ausströmen. „Zehntens: Lernen, normal zu sein.“

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