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Ich weiß, wo sie ist

Als Buch hier erhältlich:

Zehn Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter Autumn bekommt Francine einen Zettel durch den Briefschlitz geschoben, auf dem steht: Ich weiß, wo sie ist.
Am nächsten Tag steht ein junges Mädchen vor ihr und behauptet, den Brief geschrieben zu haben. Francine hält es für einen grausamen Scherz. Doch das Mädchen weiß erschreckend viel über ihre Tochter. Ist Autumn noch am Leben? Kann sie sie finden? Oder ist es bereits zu spät?

»Dieses explosive Debüt packt den Leser von der ersten Seite an und lässt ihn nicht mehr los. Düster, erschreckend und wahnsinnig spannend.«
The Sun


  • Erscheinungstag: 03.12.2018
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677967
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Francine bemerkte den Brief erst auf dem Weg in die Küche, als sie sich ein neues Glas Wodka holen wollte. Auf dem grauen Teppich fiel der weiße Umschlag auf. Automatisch ging sie davon aus, dass es sich um einen Werbeflyer für Fast Food handelte. Sie hob ihn auf und drehte ihn um. Er hatte keine Adresse, keine Briefmarke, und die Lasche war nicht festgeklebt, sondern nur hineingesteckt. Sie nahm ihn mit in die Küche, stellte ihr Glas auf die Arbeitsfläche und zog ein kleines, unliniertes Blatt Papier aus dem Umschlag. Fünf Wörter waren in gezackter Krakelschrift hingeschmiert:

ICH WEISS, WO SIE IST.

Sie brauchte einen Moment, um die Bedeutung zu erfassen. Scharf sog sie die Luft ein und ließ ihre Augen noch einmal über die Schrift gleiten, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verlesen hatte. Sie öffnete den Umschlag und hielt ihn kopfüber, als würde so die Erklärung herausfallen. Ihr wurde bewusst, dass sie schwer atmete, und sie schwitzte plötzlich in ihrer Bluse.

Sie faltete das Blatt Papier wieder zusammen und steckte es vorsichtig zurück in den Umschlag, bevor sie zur Haustür ging und sie mit Schwung öffnete. Barfuß trat sie auf den kalten Betonboden hinaus und schaute nach rechts und links. Niemand da. Sie ging zum Balkon hinüber und suchte den verlassenen Vorplatz auf Bewegungen ab. Beim Umdrehen bemerkte sie, dass Licht unter der Tür von Nummer 40 hervorschien. Als sie klingelte, hörte sie von drinnen gedämpfte Fernsehgeräusche.

Die kleine chinesische Frau öffnete und starrte sie ausdruckslos von unten an.

»Hi.« Francine zögerte, weil sie nicht wusste, ob die Frau überhaupt Englisch sprach. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich wohne nebenan.« Sie zeigte auf ihre Haustür, obwohl sich ihre Wege fast jeden Tag kreuzten. Zwischen ihnen gab es eine unausgesprochene Regel: Ich werde dich nicht mit Small Talk oder sinnlosen Höflichkeiten belästigen, wenn du mir dieselbe Freundlichkeit erweist. Das hatte gut geklappt, bis jetzt. »Jemand hat mir heute einen Brief unter der Tür hindurchgeschoben. Es stand kein Absender drauf. Haben Sie vielleicht irgendwen zu meiner Wohnung gehen sehen?«

»Nein«, antwortete die Frau mit einem zaghaften Kopfschütteln.

»Sie haben auch sonst niemanden hier im Haus herumlungern sehen? Jemanden, den Sie noch nie bemerkt haben?«

»Nein«, sagte die Frau, inzwischen abwehrend.

»In Ordnung, ich danke Ihnen.«

Die chinesische Frau ließ sie nicht aus den Augen, während Francine zu Nummer 36 hinüberging und dort klingelte. Nach drei vergeblichen Versuchen kehrte sie fluchend in ihr Apartment zurück. Sie schenkte sich einen neuen Wodka ein und betrachtete den Umschlag. Wie konnte man eine so kryptische Nachricht ohne Kontaktmöglichkeit hinterlassen? Als beim nächsten Schluck Wodka auf ihre Bluse schwappte, machte sie sich nicht die Mühe, den Fleck trocken zu tupfen. Sie drehte und wendete das Rätsel, um ihm irgendeinen Sinn zu entlocken. Obwohl der Alkohol sie ein wenig benommen gemacht hatte, konnte sie noch klar denken. Entweder erlaubte sich der Schreiber der Nachricht einen miesen Scherz – oder er sagte die Wahrheit. Vielleicht hatten ein paar Kids, die ihre Geschichte kannten, ihre Anschrift herausgefunden. Dieses Szenario erschien ihr allerdings sehr unwahrscheinlich. Seit sie eingezogen war, hatte sie niemand mehr behelligt. Und wie sollte jemand an ihre Adresse kommen, bei den Vorkehrungen, die sie getroffen hatte, damit genau so etwas nie geschehen würde?

Nein, das hier fühlte sich anders an. Gerade die Unbestimmtheit der Nachricht war verstörend. Wenn jemand alte Wunden aufreißen wollte, so ihre Erfahrung, dann tänzelte er nicht auf Zehenspitzen drum herum; die kranken Schweine suhlten sich in jedem expliziten Detail, mit dem einzigen Ziel, sie zu verletzen.

Aber was konnte es noch bedeuten? Sie schleppte sich ins Wohnzimmer und nahm ihr Handy vom Sofa. Ihre vom Alkohol ungeschickt gewordenen Finger fanden Wills Nummer, aber sie stockten einen Moment zögerlich über dem Bildschirm, bevor sie schließlich darauftippten. Während Francine wartete, dass er sich meldete, ging sie unruhig im Wohnzimmer umher und knabberte an ihrem Daumennagel, so fest, dass sie das Klicken ihrer Zähne hören konnte. Nach sechs-, sieben-, achtmal Klingeln ging die Mailbox an, und sie schmeckte Blut an ihrem Daumen. Sie beendete den Anruf. Als sie auf Wahlwiederholung drückte, fühlte sich das Handy ganz glitschig in ihrer Handfläche an. Wieder fand der Wählton kein Ende, und sie befürchtete einen kurzen, schrecklichen Moment lang, dass wieder nur die Mailbox anspringen würde. Aber dann ging er dran. Seine distanzierte Stimme verriet, dass er verwirrt war. »Francine?«

»Ja, ich bin’s.« Sie räusperte sich. »Ja, hallo. Hier ist Francine.«

»Das habe ich verstanden. Ähm … wie geht es dir?«

»Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn wir uns unterhalten, also richtig treffen. Kannst du zu mir kommen?«

»Was?«

In den Pausen, die stakkatoartig nach jedem Satz folgten, hörte Francine Sheila flüstern, unterwürfig und neugierig.

»Kannst du vorbeikommen? Jetzt, heute Abend? Ich muss dir etwas zeigen.«

»Was musst du mir zeigen?«

»Ich will darüber nicht am Telefon sprechen, Will. Ich hätte nicht angerufen, wenn es nicht wichtig wäre.«

Er schwieg, atmete wahrnehmbar aus. »Möglicherweise haben wir nicht dieselbe Vorstellung davon, was um acht Uhr abends wichtig ist, während es draußen nur so pisst«, erwiderte er. Francine hörte ganz leise einen piepsigen Aufschrei von Sheila.

Hitze breitete sich in ihrem Brustkorb aus, und sie spürte Schweiß ihren Rücken hinunterlaufen. »Du musst auch nicht lange bleiben, das verspreche ich dir. Ich will nur …« Sie schwankte, ihr Schädel so schwer wie ein Zementmixer. »Kommst du, oder kommst du nicht, Will?«

Ein paar Atemzüge lang überlegte er seine Antwort oder wartete auf Instruktionen von Sheila, da war Francine sich nicht sicher. Dann fragte er: »Ist es ein Notfall oder so etwas?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Und du kannst mir nicht sagen, worum es geht?«

Nun war sie diejenige, die zögerte, weil sie wusste, dass er zurückschrecken, dass er mit ihr schimpfen oder sogar auflegen würde. »Es geht um Autumn.« Sie wollte es dabei belassen, aber der Wodka flößte ihr ein, dass dieser Satz noch ein Ausrufezeichen brauchte. »Natürlich geht es um Autumn. Warum sonst sollte ich dich anrufen?«

»Ich verstehe.«

»Du verstehst es also. Und kommst du vorbei?«

»Warum kannst du nicht zu mir kommen?« Daraufhin protestierte im Hintergrund ein aufgeregtes Geflüster, aber Francine konnte nichts verstehen. Sie hörte gedämpfte Geräusche, vermutlich weil er das Handy zuhielt, um mit Sheila zu sprechen. Dann sagte er laut zu Francine: »Ich meinte, ich kann dich irgendwo auf dem Weg treffen. Dass ich die ganze Strecke zu dir fahren soll, finde ich nicht ganz fair.«

»In Ordnung.« Francine rieb sich mit einer verschwitzten Hand über das Gesicht. »Ich fahre in zehn Minuten los und rufe an, wenn ich in der Nähe bin. Ist bei dir noch ein Diner oder so offen?«

»Ich werde nicht auf einen Kaffee und einen Donut bleiben, Francine. Ich hab noch zu tun.«

»Wie du meinst. Dann lassen wir uns einfach ein bisschen in der Sonne brutzeln, was?« Die Wut stieg ihr wie Galle im Hals auf. Sie schluckte sie hinunter, bevor sie fortfuhr: »Ich fragte nach dem Diner, um nicht im Regen zu stehen. Was, glaubst du, habe ich vor? Dich auf ein Date locken?«

Er seufzte. »Wir können doch bestimmt auch im Auto reden?«

Sie biss die Zähne aufeinander. »Ist in Ordnung für mich. Ich bin in einer Stunde da.«

»Lass mich nicht wieder warten.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er das Gespräch weggedrückt. Und obwohl sie wusste, dass es kindisch war, nahm sie ihm übel, dass er das letzte Wort gehabt hatte, weil er sie damit nur ärgern wollte. Nein, vielleicht stimmte das gar nicht. Womöglich hatte er es nur wegen Sheila getan. Dieser Gedanke ließ die Anspannung, die sich wie ein Seil um ihren Hals gelegt hatte, nur noch weiter wachsen.

Im Badezimmer spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, bevor sie mit einem Schluck Mundwasser gurgelte. Im Spiegel sah sie, dass ihre Augen glasig und blutunterlaufen waren, aber das würde als Erschöpfung durchgehen, falls er sie darauf ansprechen sollte.

Sie schlüpfte in ein weites Sweatshirt und eine unvorteilhafte Hose, die ihr einen weißen Mami-Arsch verlieh – ein Ausdruck, den sie aus einer der trashigen Reality-TV-Shows hatte, durch die sie regelmäßig zappte.

In Wirklichkeit war ihr Arsch nicht so flach, wie die Jeans vortäuschte, und außerdem war heute Donnerstag, was hieß, dass sie sich Pfannkuchen zum Frühstück und Wodka zum Abendessen genehmigte. Morgen waren dann acht Kilometer auf dem Laufband, Kniebeugen und die gottverdammte Rudermaschine fällig.

Je länger sie in der Wohnung umherlief, desto betrunkener fühlte sie sich. »Ich werde noch jemanden umbringen«, murmelte sie und beschloss, sich eine Thermoskanne Instantkaffee aufzugießen.

Sie schob den Brief in ihre Hosentasche und ließ die Hand während des gesamten Wegs durch die Wohnanlage auf der Tasche liegen. Sie wollte den Umschlag immer spüren, ihn daran hindern, sich Flügel wachsen zu lassen und in die Nacht davonzufliegen. Draußen prasselte der eisige Regen auf sie ein. Sie lief zu ihrem Wagen, kramte nach ihrem Schlüssel, und als sie endlich hinter dem Lenkrad saß, war sie komplett durchnässt. Aber zumindest befreite der kalte Schock des Regengusses sie von ihrer Lethargie. Die Tropfen trommelten auf das Autodach. In der Hoffnung, damit die Kälte zu bekämpfen, drehte sie die Warmhaltekanne auf und trank etwas Kaffee.

Sie musste die Scheibenwischer auf die höchste Stufe stellen, das Gummi quietschte rhythmisch auf der Scheibe. Ihre Brust klebte fast auf dem Lenkrad, so weit lehnte sie sich vor, um durch die verschwommene Windschutzscheibe zu spähen. Sie konzentrierte sich auf den Abstand zu den anderen Autos.

Auf der Schnellstraße wurde es leichter, weil sie nicht mehr dauernd anhalten musste. In der Ferne über den Bergen sah sie Blitze zucken, die unheimliche Lichtbilder im Himmel hinterließen. Der Donner war so laut, als wollte er die Welt entzweireißen. Francine war beklommen zumute, aber der Brief und nicht das Wetter machte ihr zu schaffen.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie fast die Abfahrt nach Sycamore verpasste. Seit Will dorthin gezogen war, hatte sie ihn erst zweimal besucht und erst einmal, seit er mit Sheila dort wohnte. Sie empfand die Stadt als nichtssagend. Das Kino mit sechs Leinwänden war der Höhepunkt an aufregender Unterhaltung und die Bowlingbahn der Treffpunkt der Wahl für Dates, weil man dort samstags zwei Bier zum Preis von einem bekam. In diesem Ort änderten sich die Dinge, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Francine verstand, warum Will sich hier wohlfühlte.

Sie fuhr auf den Parkplatz eines hell erleuchteten Drive-in-Restaurants namens Clucky’s Chicken and Waffle und wählte Wills Nummer.

»Bleib, wo du bist«, sagte er ausdruckslos. »In fünfzehn Minuten bin ich da.«

Obwohl der Rest des Kaffees inzwischen lauwarm war, stürzte sie ihn hinunter, ohne den Becher abzusetzen, und kaute anschließend auf einigen Pfefferminzbonbons aus dem Handschuhfach herum. Der Regen glich nur noch einem Sprühnebel, während der Wind seine aggressive Kraft behalten hatte. Im Auto nebenan aß ein glückliches Teenagerpaar Hähnchen-Nuggets aus einem großen Pappbecher. Sie konnte den Rhythmus leiser Musik aus der Stereoanlage hören. Das Mädchen stieg aus und ging in den Vorraum des Restaurants, und erst als sie in watschelndem Gang mit Servietten in der Hand zurückkam, bemerkte Francine, dass sie hochschwanger war. So jung, dachte sie. In dem Alter glaubte das Mädchen vermutlich noch an den Mythos der unsterblichen Liebe, dass das, was sie und ihr Freund hatten, einzigartig genug war, um alle Hindernisse abzuwenden, die die Welt da draußen ihnen in den Weg werfen würde. Aber einzigartig war nichts an ihnen. Die wilde animalische Lust würde ihre Macht verlieren, mit der Zeit würde die gegenseitige Faszination welken und zu Schweigen zerbröseln. Dann weiß man sicher, dass man jemanden wirklich nicht mehr mag: wenn man nicht mehr genug Gefühl aufbringen kann, um zu schreien.

Das stimmt nicht ganz, oder, Francine? Nicht Väterchen Zeit hat dich und Will umgebracht. Der Wodka hatte die schlechte Angewohnheit, ihre Gedanken zu vergiften, weshalb sie nur zu Hause trank, wo sie ihre ganze Bitterkeit am Fernseher auslassen konnte. Um die letzten Tropfen der Trunkenheit loszuwerden, rieb sie sich mit den Händen über das Gesicht.

Licht flutete ihren Wagen, als Will auf den Parkplatz einbog. Sie öffnete die Tür, um auszusteigen, doch Will war ihr einen Schritt voraus und lief schon auf ihre Beifahrertür zu. Sie machte ihm auf, er setzte sich und strich sich mit den Händen über seine Chinohose.

»Wie geht es dir?«, fragte er, sah sie aber nicht an. Ohne die wachsamen Augen seiner Partnerin war sein Tonfall deutlich weniger angespannt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der ihm gut stand, und sein Haar war länger. Er trug zwar eine Brille, aber Francine nahm an, dass seine Augen in Ordnung waren. Vielleicht ahmte er den Steve-Jobs-Look nach; vermutlich eine von Sheilas glänzenden Ideen.

»Mir geht es gut. Und dir?«

»Mir auch, hab viel zu tun. Im September ist immer einiges los.«

»Wie geht es Sheila?«

»Gut«, antwortete er schnell. »Uns beiden geht es gut. Also … worüber wolltest du reden?«

Francine schaltete die Innenraumbeleuchtung ein und gab ihm den Brief. Er nahm das Blatt Papier aus dem Umschlag, las es und schaute zu ihr auf. »Ich kapier das nicht.«

»Jemand hat es heute unter meiner Tür durchgeschoben.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht. Jemand hat es gebracht und ist dann wieder verschwunden. Es war noch nicht da, als ich von der Arbeit nach Hause kam.«

Er gab ihr den Brief zurück. »Ist das alles? Deshalb hast du mich herbestellt?«

»Ich weiß, wo sie ist. Es geht um Autumn.«

»Das ist ein übler Scherz.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, da war sonst nichts mehr?«

»Nein, da war nur dieser Brief. Aber damit ist doch eindeutig Autumn gemeint. Was ist, wenn die Person, die das hier geschrieben hat, tatsächlich die Wahrheit sagt?«

Offensichtlich mit seiner Geduld am Ende, sog er scharf die Luft ein. »Francine, du läufst einem Hirngespinst hinterher. Schau dir die Handschrift an, sie sieht aus wie die Krakelei einer Vierjährigen. Das ist Unsinn.«

Sie hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Seine Rolle in ihrer Beziehungsdynamik war immer schon die des ewigen Skeptikers gewesen. Sie hingegen hatte aktiv den Rat eines Mediums gesucht und sich über alternative Meditationstechniken informiert, um vielleicht eine Verbindung zu Autumn herzustellen. Francine hatte alles versucht, egal, wie lächerlich es schien oder ob Leute es für verrückt hielten, diese Methoden auch nur in Betracht zu ziehen. Alles war besser, als das Ganze zu ignorieren, den Verstand und die Gefühle darauf abzurichten, zu vergessen, dass es Autumn je gegeben hatte, damit man den Schmerz ertragen konnte. Zu vergessen war ein Zeichen von Schwäche, und der große grüblerische Teil von ihr hasste Will dafür.

»Mich hat keiner darauf angesprochen, seit ich in Morning House wohne. Meine Telefonnummer taucht in keinem Verzeichnis auf. Ich glaube nicht, dass es nur ein Scherz ist, Will. Ich weiß, dass das dumm klingt und ich nach einem Strohhalm greife, aber das könnte wirklich ein Hinweis sein. Glaubst du das nicht auch?«

Er setzte seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über Augen und Nasenwurzel. »Im Dezember ist es zehn Jahre her. Vielleicht wird es in den Nachrichten erwähnt, oder es gibt Artikel in der Zeitung. Ich soll bei einem kleinen Feature im Frühstücksfernsehen auftreten. Sie werden rekonstruieren, wie sie jetzt aussehen könnte.«

»Und das wolltest du mir nicht mitteilen?«

»Es ist keine fünf Minuten lang«, sagte er gereizt. »Ich freue mich nicht gerade darauf zu sehen, wie unsere Tochter als junge Frau aussehen könnte, Francine, aber wenn es wieder öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall erzeugt oder neue Hinweise gibt, dann bin ich dazu bereit. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich wusste, dass es zu viel für dich wäre.«

Sie schnaufte. »Zu viel für mich? Wovon redest du? Du hast keine Ahnung.«

»Hör zu, Sinn und Zweck dieses Beitrags ist es, Autumn wieder ins Bewusstsein der Leute zu rücken, Erinnerungen zu wecken. Wenn du bei der Live-Übertragung einen Zusammenbruch hättest, dann würden sie nur über dich berichten. Sie würden Autumn vergessen, und wir hätten nichts erreicht.«

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und umklammerte das Lenkrad mit den Händen, nur um irgendetwas zu tun. »Ich habe so viel geweint, wie man nur weinen kann. Ich bin ganz ausgetrocknet. Aber ich will, dass du mich über solche Dinge auf dem Laufenden hältst, Will. Das meine ich ernst. Du kannst nicht bestimmen, ob ich involviert bin oder eben nicht, wenn es um unsere Tochter geht. Es ist mir egal, welches Medientraining du durchlaufen hast. Schließ mich nicht aus.«

»Ich hab’s begriffen. Wenn sich in den nächsten Monaten etwas tut, lass ich es dich wissen. Gibt es noch mehr zu besprechen?«

»Na ja, wir haben das hier noch nicht zu Ende besprochen«, sagte sie und hielt den Umschlag hoch. »Wenn du denkst, das ist alles Blödsinn, okay. Aber sollten wir das nicht wenigstens überprüfen? Wir könnten den Brief bei der Polizei auf Fingerabdrücke untersuchen lassen –«

»Stopp, stopp, stopp.« Er wedelte abwehrend mit der Hand. »Francine, reiß dich zusammen. Begreif, was du da sagst. Du willst diesen Zettel zur Polizei bringen und ihn auf Fingerabdrücke untersuchen lassen? Das ist doch verrückt.«

»Aber was wäre, wenn, Will?«

Er schüttelte den Kopf. »Darf ich?« Er hielt seine Hand auf, und sie gab ihm den Brief. »Nehmen wir also an, dieser Brief wäre von jemandem, der weiß, wo Autumn sich aufhält. Wir lassen mal außen vor, dass dieser Jemand zehn Jahre gebraucht hat, um uns zu kontaktieren. Und lass uns auch annehmen, dass die Absicht hinter diesem Brief ist, uns zu helfen, Autumn zu finden. Ist das so weit die Richtung, in die du denkst?«

»Es ist eine Möglichkeit«, antwortete sie trotzig.

»Du hast recht. Es ist natürlich höchst unwahrscheinlich, aber es ist möglich. Dieser Jemand will dir also mitteilen, dass er weiß, wo sich Autumn nach all den Jahren aufhält.« Er griff den Umschlag mit zwei Fingern an einer Ecke und hielt ihn wie ein offizielles Beweismittel hoch. »Aber er hinterlässt keine Information darüber, wie du ihn kontaktieren kannst. Klar, er hätte auch einfach an deine Tür klopfen können, aber warum sollte er sich die Mühe machen? Und zum Umschlag selbst: kein Absender, keine Briefmarke. Da fragt man sich doch, warum er überhaupt einen Umschlag benutzt hat, oder nicht? Dann ist da noch die Handschrift. Man braucht kein Genie zu sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass das hier entweder von einem Kind oder einem Menschen geschrieben wurde, der geistig … beschränkt ist. Oder der Jemand hat die linke Hand benutzt, um die Handschrift zu verfremden. Wie auch immer, es ist dumm, Francine. Du projizierst etwas in diesen Brief, das es nicht gibt.«

»Verstehe.« Sie wollte nach dem Umschlag greifen, aber er zog ihn zurück. »Kann ich ihn wiederhaben?«

»Noch nicht.«

»Gib ihn mir.«

»Noch nicht«, sagte er nun strenger. »Du musst wieder vernünftig werden. Was du bezüglich unserer Tochter unternimmst, betrifft auch mich, verstehst du das? Selbstverständlich könntest du den Brief zur Polizei bringen, und sie täten dir eine Zeit lang den Gefallen, aber sobald du wieder gegangen wärst, würden sie sich über dich lustig machen. Ihre Freundlichkeit würde nur so weit reichen, dass sie dich nicht in deinem Beisein auslachen, aber es gibt andere, die nicht so rücksichtsvoll sein werden. Hast du einen Computer zu Hause?«

»Ja.«

»Gut. Such mal nach Autumn Cooper-Wright. Du wirst eine Handvoll Videos auf YouTube finden, die Top Ten der mysteriösesten Vermisstenfälle. Dann gibt es da natürlich noch die Blogs und die Verschwörungs-Websites, die alle ihre eigenen Erklärungen präsentieren, was mit ihr geschehen sein muss, von einer Entführung durch Außerirdische bis hin zu der Möglichkeit, dass wir beide sie getötet und in den Hügeln begraben haben könnten.«

»Herrgott nochmal, hör endlich auf. Glaubst du, ich wüsste nicht, welche schrecklichen Dinge im Internet behauptet werden? Ich habe mehr gesehen, als ich ertragen kann.« Sie schaute zur Seite und war einen Moment lang sicher, dass sie gleich weinen müsste. Doch als sie tief einatmete, ging das Gefühl vorbei. »Ich versuche das von mir fernzuhalten, so gut es geht.«

»Schau mal, ich will damit doch nur sagen, dass es da draußen eine Menge Leute gibt, die dir liebend gern dabei helfen würden, diesem Hirngespinst hinterherzujagen. Aber nichts davon würde einem von uns beiden guttun.« Vorsichtig legte er den Umschlag auf das Armaturenbrett, und dann saßen sie nur da, während die Stille anschwoll. Der Regen hinterließ nasse Schlieren auf der Windschutzscheibe, und die dürren, blattlosen Bäume auf dem Bürgersteig bogen sich im Wind. Schließlich sagte Will: »Ich sollte zurückfahren. Wirst du darüber nachdenken, was ich gesagt habe?«

»Das werde ich«, antwortete sie.

»Schön. Wenn du willst, sage ich dir Bescheid, wann der Fernsehbeitrag läuft. Ich weiß den Termin noch nicht.«

»Klar.«

»Okay. Also, fahr vorsichtig.« Er öffnete die Tür und stieg aus. Kurz bevor er die Tür zuschlug, lehnte sich Francine über den Beifahrersitz.

»Wenn ich irgendwelche Spuren bezüglich des Briefs finde, soll ich dich anrufen?«

Er schüttelte den Kopf und lachte traurig. »Warum ist es immer dasselbe mit dir, Francine?«

»Ich werde nicht aufhören zu suchen, Will. Du kannst dir den Mund fusselig reden. Aber ich werde nie damit aufhören.«

»Na gut. Aber ich will nicht in deinen lächerlichen Kreuzzug hineingezogen werden.«

»Deine Tochter zu finden ist also lächerlich?«

»Es gibt einen richtigen und einen falschen Weg, das zu tun, Francine.«

»Und keiner hat bisher funktioniert, oder etwa nicht?«

Seine Finger trommelten unruhig auf dem Autodach. »Fahr vorsichtig«, wiederholte er und schlug die Tür zu.

Sie beobachtete, wie er zu seinem Auto lief, und wartete, dass er den Wagen zurücksetzte, bevor sie den Schlüssel im Zündschloss drehte. Beim Verlassen des Parkplatzes fuhr sie am Auto mit den beiden Teenagern vorbei. Durch die beschlagenen Fenster sah es so aus, als würden sie lachen.

2. KAPITEL

Um fünf Uhr morgens, zwei Stunden bevor ihr Wecker klingeln würde, strampelte Francine sich von ihrer Bettdecke frei und zog sich an. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Pausenlos hatten ihre Gedanken sich im Kreis gedreht, das Koffein und die nervöse Aufregung hatten sie nicht zur Ruhe kommen lassen.

Auf dem Weg ins Fitnessstudio war der Himmel immer noch pechschwarz, es regnete jedoch nicht mehr. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie vor der Arbeit eine Runde Freihanteltraining einlegte, aber heute hatte sie genug Zeit eingeplant, um zusätzlich zu schwimmen. Da das Schwimmbecken erst um sieben Uhr öffnete, ging sie noch kurz auf den Crosstrainer und das Laufband – eingestellt auf maximale Steigung – und wie gewöhnlich in den Kurzhantel-Bereich. Die ganze Zeit spähte sie zum Boxsack hinüber, den sie schon seit Langem ausprobieren wollte. Aber sie hatte immer befürchtet, dass sie die Kontrolle verlieren und herumschreien würde, wenn sich ihre Wut auf ihn entlud. Heute Morgen war das Gym fast leer, da konnte sie das Risiko eingehen, lächerlich auszusehen. Sie hob ein Paar Boxhandschuhe auf, die neben dem Sack lagen, und schlüpfte hinein, bevor sie dem Ding einige Übungsschläge verpasste. Es fühlte sich gut an. Sobald sie einen Rhythmus gefunden hatte, erhöhte sie sowohl die Häufigkeit der Schläge als auch deren Heftigkeit. Bald schon schmerzten ihre Arme, und ihre Lungen brannten. Sie schlug zu, bis sie ihre Hände nicht mehr heben konnte. Schließlich ließ sie ihre verschwitzte Stirn an den Boxsack sinken.

Danach schwamm sie eine Stunde lang ohne Unterbrechung. Sie konnte sich nicht erinnern, das überhaupt jemals zuvor getan zu haben, schon gar nicht nach einem so anstrengenden Work-out. Aber sie wollte ihren Körper pushen, bis ihre Angst und Nervosität zu Asche verbrannt waren.

Als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, schmerzte ihr Körper überall. Es fühlte sich an, als ob sie ihrem Verstand einen Frühjahrsputz verpasst hatte, sodass sie sich nun auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Sie arbeitete bis zum Mittag durch, beschäftigte sich mit Rechnungen, schickte Mahnungen und besprach sich nur mit ihren Kollegen, wenn es absolut ­unerlässlich war. Jeder der sechs Mitarbeiter, mit denen sie in ein winziges Hinterstübchen bei Worldwide Golfing Supplies gezwängt war, kannte Francines Geschichte, aber niemand hatte je versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Das kam ihr sehr entgegen. Einer der Buchhalter, ein geschiedener Mann namens Henry, der Unmengen schwarzen Kaffees trank und zum Lunch ordentlich geschnittene Schinkenbrote verspeiste, hatte sie einmal auf einen Drink einladen wollen. Francines Antwort war von absoluter Ehrlichkeit gewesen: Nein, sie wollte nichts mit ihm trinken gehen – nicht jetzt und auch in Zukunft nicht. Sie hatte gehofft, dass ihr Gesichtsausdruck zukünftige Versuche unterbinden würde. Er hatte nie wieder gefragt.

Wie gewöhnlich ging sie während ihrer Mittagspause spazieren. Bevor sie auf ihr Auto zusteuerte, kaufte sie sich bei Starbucks einen Cappuccino und im Eckladen eine Zeitung. Sie aß gern in ihrem Auto zu Mittag, weil sie den Gedanken beruhigend fand, jederzeit den Motor anlassen und für immer wegfahren zu können.

Sie blätterte durch die Zeitung, während sie wartete, dass ihr Cappuccino abkühlte. Ziemlich plötzlich überwältigten sie der Schlafmangel und ihr morgendliches Training. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und ihr Kopf fiel nach vorne.

Als sie aufwachte, stand ein vielleicht achtzehnjähriges Mädchen in der Mitte des Parkplatzes und starrte zu ihr hinüber. Der Wind blies ihm die Haare ins Gesicht und zerrte an seinem schäbigen Kleid. Seine Beine waren übersäht mit Schürfwunden und Schorf, und es versank förmlich in einer Bomberjacke für Männer. Francine gähnte, schaute auf die Uhr, dann zurück zu dem Mädchen, das sich nicht bewegt hatte.

Francine stieg aus und streckte sich. Das Mädchen drehte sich um und ging eiligen Schritts über den Parkplatz. Es blickte immer wieder über die Schulter, bis es schließlich hinter den automatischen Türen des kleinen überdachten Markts verschwand.

Francine kam zehn Minuten zu spät von ihrer Pause an ihren Schreibtisch zurück, aber niemand schien das zu bemerken. Während sie eine gepfefferte E-Mail an einen ihrer Lieferanten bezüglich des geringen Lagerbestands von fluoreszierenden Golf-Tees verfasste, begann es wieder zu regnen. Die ersten Tropfen klopften gegen das Fenster, und ein leises Donner­grollen lenkte sie ab. Sie hörte auf zu tippen und sah auf den Parkplatz hinaus. Das Mädchen mit der riesigen Bomberjacke stand neben ihrem Auto und spähte neugierig wie ein Kind vor einem Aquarium hinein. Francine stand auf, als die junge Frau die Hände über die Augen hob und sich ganz nah ans Fenster stellte, um besser hineinsehen zu können. Dann ging sie um das Auto herum zur Beifahrerseite. Dabei ließ sie ihre Finger träge über die Karosserie gleiten und unterzog die Rücksitze einer genauen Prüfung.

»Was macht sie da?«, murmelte Francine zu sich selbst. Sie eilte durch den Flur, auf der Treppe nahm sie zwei Stufen auf einmal. Draußen marschierte sie zum Auto. »Entschuldigung? Kann ich dir helfen?«

Vornübergebeugt hatte die junge Frau durch die Heckscheibe geschaut, blieb aber stocksteif stehen, sobald sie Francine hörte. Irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck irritierte Francine. Erst beim Näherkommen sah sie, dass die junge Frau stark schielte. Ihre Augen schauten in so verschiedene Richtungen, als wären sie Magneten, die sich abstießen. Kermit, der Frosch, dachte sie. Sie hat Augen wie Kermit. Da das Schielen Francine so ablenkte, war sie nicht in der Lage zu beurteilen, ob die junge Frau schön war. Sie wirkte mager, fast wie ein ­Vogel, und ihr blondes Haar war so matt, dass es an Silber grenzte.

»Ich habe gefragt, ob ich dir helfen kann?«

»Ich habe den Brief unter Ihrer Tür durchgeschoben. Haben Sie ihn bekommen?«

Francine blieb so abrupt stehen, dass ihre Füße in einer Pfütze landeten und sie bis zum Knöchel nass wurde. »Du warst das?«

Das Mädchen trat einen Schritt zurück, seine Finger glitten immer noch über die nasse Metalloberfläche, sein Blick konnte sich nicht auf eine Sache konzentrieren.

»Yes, Ma’am.« Es hatte eine tiefe, kehlige Stimme. »Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.«

»Ich weiß, wo sie ist«, sagte Francine. »Du weißt, wo wer ist?«

»Melody«, sagte das Mädchen, während es sich Schritt für Schritt Richtung Kühlerhaube bewegte. Es war, als ob die beiden Reise nach Jerusalem spielten. »Mel … Ihre Tochter.«

»Meine Tochter heißt Autumn.«

»Ich kenne sie als Mel«, sagte das Mädchen und strich sich ein paar dünne Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Niemand nennt sie Autumn.«

Francines Hals wurde eng, während gleichzeitig Luft aus ihrer Lunge entweichen wollte. Sie würgte, und Schmerz schoss ihr durch den Magen. Sie war benommen. »Warte … warte eine Sekunde, bitte, bleib hier …« Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und ihren Atem wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Von oben hörte sie ein Donnergrollen. Flach atmend fragte sie: »Meine Tochter lebt?« Ihre Stimme brach fast vor Verzweiflung. »Wo ist sie?«

»Nicht nah.« Ohne sich umzudrehen, zeigte das Mädchen hinter sich. »Ein weiter Weg.«

»Wieso weißt du das alles?«

»Ich habe es allein rausgeschafft, und als Erstes wollte ich Sie finden. Die Leute denken vielleicht, wir wären schon lange, lange tot. Viele von uns leben noch.« Alle paar Wörter zuckte der Mundwinkel der jungen Frau zur Seite, ein nervöser Tick, der aussah, als hätte sie Schmerzen.

Francine wischte ihre Handflächen auf den Oberschenkeln. »Du kennst also meine Tochter?«

»Ja, ich kenne sie.«

»Und ich soll dir einfach glauben?« Sie bemühte sich, ihren Worten Autorität zu verleihen, aber ihre Stimme verriet sie.

»Wenn du müd’ bist, kleines Mädchen, schließ die Augen und schlaf ein, schließ die Augen und schlaf ein, schließ die Augen und schlaf ein. Wenn du müd’ bist, kleines Mädchen …«

»Wo hast du das gehört?«, flüsterte Francine. Das Schlaflied schnürte ihr die Luft ab. »Hat … hat Autumn dir das vorgesungen?« Wieder wollte sie auf das Mädchen zugehen, aber es wich zurück. »Ich werde dir nicht wehtun, versprochen.« Panik stieg in ihr auf. Ein falscher Schritt, und der scheue Vogel würde für immer wegflattern. Zu viele Fragen vernebelten ihren Verstand, zu viel Adrenalin pumpte durch ihre Adern. »Lass uns doch ins Trockene gehen. Wir könnten zu mir nach Hause fahren.« Die merkwürdigen Augen der jungen Frau weiteten sich, ihr Mund schnitt eine Grimasse. »Oder in ein Restaurant? Wenn dir das lieber ist, lade ich dich ein. Ich kann verstehen, wenn du nervös bist.«

Die junge Frau schaute weg. Ihr Blick war auf die in einiger Entfernung vorbeirasenden Autos auf der Schnellstraße gerichtet. Ganz langsam wiegte sie ihren Kopf hin und her, wie zum Takt eines Liedes, das nur sie hören konnte.

»Wie heißt du?«, fragte Francine und hoffte, dass man ihrer Stimme die verzweifelte Schärfe nicht anhörte.

»Lena«, sagte die junge Frau und malte mit dem Zeigefinger auf der nassen Kühlerhaube herum. Ihre zerbrechlichen Hände waren schorfig, die Nägel abgekaut.

»Lena, ich kann dir helfen. Sag mir, was du nun tun willst.«

»Ich habe großen Hunger«, sagte sie. »Ich habe lange nichts mehr gegessen.«

»In Ordnung, das ist ein Anfang. Willst du einen Hamburger und einen Milchshake? Oder etwas anderes? Was auch immer, du kannst es dir aussuchen.«

Sie zuckte kaum sichtbar mit den Schultern. »Einen Burger.«

»Ich könnte auch einen vertragen. Fünf Minuten von hier gibt es einen McDonald’s. Wir können fahren oder laufen. Womit fühlst du dich am wohlsten?«

»Ins Auto steige ich nicht.«

»Dann laufen wir. Ich hole nur schnell meinen Regenschirm raus.« Francine öffnete die Hecktür und nahm den Schirm von der Rückbank. Nach dem Aufspannen hielt sie ihn hoch über ihren Kopf. »Dir muss eiskalt sein. Du könntest mit unter den Schirm kommen, wenn du magst.«

Obwohl Lenas Unterlippe zitterte und ihre Nasenspitze gerötet war, schüttelte sie schnell und bestimmt den Kopf. Francine zuckte mit den Schultern und ging voran. Sie achtete darauf, dass sie ihre Geschwindigkeit der des Mädchens anpasste, fürchtete aber, dass es jeden Moment seine Meinung ändern und wie ein aufgescheuchtes Pferd durchgehen könnte. Small Talk schien Francine nicht angebracht. Nein, es war besser, zu schweigen und Lena zu überlassen, wie und wann sie Francine mehr erzählen wollte.

Lena sah beim Laufen auf ihre Füße hinab. Sie trug seltsame weiß-pinke Turnschuhe, die statt Schnürsenkel jeweils drei Klettverschlüsse besaßen. Francine erwartete fast, dass die Absätze bei jedem Schritt aufleuchteten.

Die Türen öffneten sich automatisch, und als Begrüßung schlug ihnen der ölige Geruch von Pommes frites entgegen. Die hell erleuchteten Sitznischen waren nahezu leer, auf den Tischen lagen immer noch fettige Essensreste der Mittags-Rushhour. Als sie an der Theke angekommen waren, bemerkte Francine, wie der junge Verkäufer einen Blick auf Lena warf. Er beäugte argwöhnisch ihre ungewöhnliche Aufmachung und seltsame Ausstrahlung und beobachtete, wie sie ihre Stirn in Falten legte, als sie mit offenem Mund auf die Karte starrte.

»Was würdest du gern essen, Lena?«, fragte Francine. Weil diese nicht sofort antwortete, versuchte sie, ihr zu helfen. »Möchtest du einen Big Mac? Einen Cheeseburger?«

Man konnte nicht erkennen, auf welchen Abschnitt der Karte Lena schaute. Soweit Francine das beurteilen konnte, hätten ihre Augen jeweils einen anderen Teil lesen können.

»Ich habe mich umentschieden«, sagte Lena mit einer Ernsthaftigkeit, die Francine überraschte. »Ich will die Nuggets.«

Francine bestellte für sich ein Burger-Menü und das Nugget-Menü für Lena. Während der Verkäufer das Essen auf ein Tablett legte, ließ er Lena keinen Moment aus den Augen, ­als ob sie ein wilder Hund wäre, der ihn jederzeit anfallen könnte.

Sie gingen zur nächstgelegenen und gleichzeitig saubersten Nische, obwohl der Tisch voller Krümel und Ketchupkleckse war. Francine lächelte und schob die Nuggets zu Lena hinüber. Deren unansehnliche Finger huschten hervor, klappten den Pappkarton auf und wählten ein Stück. Sie hielt es unter ihre Nase, bevor sie es mit den Lippen berührte, als ob sie vor dem Hineinbeißen prüfen wollte, wie heiß es noch war.

Francine nahm einen Bissen von ihrem Burger, um Lena die Befangenheit zu nehmen, obwohl sie lieber das gesamte Menü in den Müll gekippt hätte. Das Essen war nur ein geschmackloser Klumpen, der unter ihrem Gaumen festklebte. Irgendetwas daran, wie Lena aß, wie ein Nagetier, vergrößerte Francines Übelkeit noch, sodass sie ihren Burger auf das Tablett legte und an ihrem Softdrink nippte. »Wie sind die Nuggets?«

Lena leckte sich Krümel von den Lippen und steckte dann nacheinander die Finger in den Mund, um sie zu säubern. »Ich dachte, sie würden anders schmecken.«

Francine fragte sich, was das genau heißen sollte. Sie wartete, bis Lena drei weitere Nuggets seziert hatte. Währenddessen schoss die Hand des Mädchens immer wieder wie eine Kobra hervor, um einzelne Pommes zu greifen, die es dann in drei schnellen Bissen vertilgte.

»Woher bist du gekommen, Lena?«

»Vom großen Haus. Im Wald. Da wohnten wir.« Sie schaute misstrauisch hoch und fügte dann leiser hinzu: »Ich und Mel. Und der Rest von ihnen.«

»Hat euch jemand festgehalten?«

Lena nickte einmal, sehr langsam. Der ständige Wechsel zwischen langsamen und schnellen Bewegungen machte Francine zunehmend nervös.

»Wer hat euch da festgehalten, Lena? Weißt du seinen Namen?«

»Ich kenne die Namen aller Männer in dem Haus.«

»Wärst du in der Lage, sie der Polizei zu nennen?«

Die Lippen des Mädchens öffneten sich und wurden zu einem Lächeln, und für eine Sekunde schauten beide Augen Francine direkt an. Ein leises Glucksen entfuhr seinem Mund. »Sie wissen schon von uns. Was denken Sie denn – dass wir verschwinden und niemand es bemerkt?«

»Warum hast du dich dann bei mir gemeldet?«

»Ich habe es Mel versprochen. Und sie mir. Wenn eine von uns fliehen kann, kontaktiert sie die Eltern der anderen. Das haben wir ausgemacht.« Sie hielt inne, legte ihren Kopf leicht schräg, als wenn sie auf Anweisungen eines unsichtbaren Lehrers wartete, bevor sie hinzufügte: »Das hier fällt mir schwer. Ich habe große Angst.«

»Warst du noch nicht bei deinen eigenen Eltern?«

»Meine Mutter ist an einem Schlaganfall gestorben. Sie ist schon lange tot. Habe sonst keine Familie.« Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe Sie im Telefonbuch gefunden.«

Nein, hast du nicht, wollte Francine sagen. Ich bin nicht eingetragen. Anstatt sich auf die Lüge zu konzentrieren, piekte sie ein kleines rotes Erinnerungsfähnchen für später hinein. Wie hatte Lena sie gefunden?

»Ich wollte Ihnen alles aufschreiben, aber manchmal weiß ich nicht, wie man das macht.«

»Wann bist du entkommen?«

»Das muss …« Sie hielt ihre Hände hoch und zählte an den Fingern ab, während sie auf die Strahler an der Decke sah. »Ich glaube, vor zwei Wochen.«

»Und du bist nicht zur Polizei gegangen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie schicken mich wieder zurück. Sie wissen über alles Bescheid. Sie stecken mit denen unter einer Decke.«

Francine atmete tief ein, um Lena Zeit zu geben, weiterzuessen. Sie schaute auf ihr eigenes Menü hinunter. Ein gummiartiges, dreieckiges Stück Käse ragte zwischen den Brötchenhälften hervor. Das Mädchen hatte nicht die Wahrheit darüber gesagt, wie sie Francines Adresse herausgefunden hatte – das war Punkt eins. Und Francine konnte nicht umhin zu denken, dass Lena ihr noch mehr verschwieg. Sie nippte an ihrer Cola, während sie weiter darüber nachdachte.

Wenn du müd’ bist, kleines Mädchen, schließ sie Augen und schlaf ein …

»Verrätst du mir mehr über das Haus, in dem du und Autumn gelebt habt?« Sie weigerte sich, ihre Tochter Mel zu nennen. Der bloße Gedanke daran war abstoßend.

»Es steht tief im Wald. Da haben sie uns festgehalten. Es gibt niemanden weit und breit, nichts außer Bäumen und Hügel. Ein Bach fließt in der Nähe.«

»Kannst du mir Schritt für Schritt erzählen, wie du entkommen bist?«

Lena legte ihren Kopf zur einen, dann zur anderen Seite. »Leslie sagte, dass er Bauchschmerzen habe. Ich sah, dass er krank war, denn er verzog das Gesicht so wie …« Sie änderte ihren Gesichtsausdruck so schnell, dass Francine ganz überrumpelt war. Im nächsten Augenblick war er wieder normal. »Ich riet ihm, er sollte sich aufrecht hinsetzen, wenn sein Bauch ihm wehtäte, weil ihm das vielleicht helfen würde. Er aber sagte, dass er sich nicht aufsetzen könne. Und dann machte er so.« Sie griff ihren eigenen Arm. »Er keuchte, er bekäme keine Luft mehr. Danach war er einfach still, und ich hörte ihn die Sauerei in seine Hosen machen. Das passiert immer, wenn Leute sterben. Wussten Sie das? Deshalb nehme ich an, dass er tot war.«

»Was hast du dann getan?«

»Ich habe ihn da liegen lassen. Es war noch früh, und deshalb würde es noch lange hell sein. Ich folgte dem Bachlauf bis zu einer Lichtung. Später kam ich dann aus dem Wald heraus und ging auf der Straße entlang. Jemand hat mich in seinem Auto mitfahren lassen.«

»Warum hast du Autumn nicht mitgenommen?«

»Sie war nicht im Haus. Vor ein paar Tagen haben sie sie zu einer Party mitgenommen. Ich durfte nicht mitgehen, weil Leslie das Haus nicht verlassen konnte und ihm immer jemand Gesellschaft leisten musste.«

Ein McDonald’s-Mitarbeiter ging herum, um Tabletts einzusammeln und die Tische abzuwischen. Als er in ihre Nähe kam, verstummte Lena, senkte ihren Kopf und schaute aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber.

»Hier ist es nicht sicher.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Sie könnten diesen Laden kontrollieren, das ist eine Kleinigkeit für die, so klein …« Sie schnippte mit den Fingern. »Ein Klacks. Sie könnten hier hereinspazieren, sich hinsetzen, und das war’s. Ihnen wird nicht gefallen, dass ich weg bin.«

»Keine Sorge«, sagte Francine so beruhigend wie möglich. »Solange ich hier bin, wird dir keiner ein Haar krümmen.«

»Keine Sorge!« Lena glitt von der Sitzbank, und das Tablett fiel zu Boden. Der rosa Milkshake schwappte aus dem Becher. »Sie haben doch keine Ahnung! Vielleicht warten sie schon auf mich.«

Ein alter Mann mit dicken Brillengläsern schaute zu ihnen hinüber. Francine stand auf und hielt die Hände in einer »Nicht-schießen«-Geste über ihren Kopf. »Bleib ruhig, Lena. Es ist alles in Ordnung.«

Hinter der Theke murmelte ein Mitarbeiter etwas wie »Was ist da los, verdammt?«, bevor er mit einem Mopp an ihrem Tisch erschien. Sie wandte sich dem jungen Mann zu und sagte: »Könnten Sie das bitte später aufwischen? Wir gehen gleich.« Als sie sich zu Lena umdrehte, atmete diese angestrengt durch den Mund. Unter den hellen Strahlern glänzte ihre pickelige Stirn nun verschwitzt. »Lena, alles in Ordnung?«

»Ich will nicht mehr hier sein.« Die junge Frau hob die Hand und fuhr sich mit den Fingern durch ihre Haare. »Ich muss hier weg, irgendwohin, wo sie mich nicht finden.« Sie zeigte ­vorwurfsvoll auf Francine. »Sie müssen mich hier wegbringen.«

»Das kann ich tun. Aber wir müssen noch weiterreden.«

»Ich will nicht mehr reden, verdammt!«, rief Lena. Ihr Blick war wieder starr auf einen Punkt gerichtet, ihr Hals blähte sich vor Wut auf. Francine zuckte zurück.

Ohne Warnung drehte Lena sich um und stampfte aus dem Restaurant. Nach einem Moment des Zögerns nahm Francine die Verfolgung auf und stürzte ihr nach. Sie wurde von einer Mauer aus Fleisch gestoppt – eine übergewichtige Frau mit ihrer Brut im Schlepptau war stehen geblieben, um sich das Drama anzuschauen. Francine schnaubte gereizt und manövrierte sich um die Frau herum. Sie hörte sie sagen: »Kennen Sie das Wort Entschuldigen Sie mich überhaupt?« Mit mehr Zeit hätte Francine sie gern darauf hingewiesen, dass das drei Wörter waren.

Lena lief im Zickzack über die stark befahrene Straße und entkam nur um Haaresbreite einer Kollision mit einem Wagen, der mit quietschenden Reifen schlingernd zum Halten kam.

»Lena!«, schrie Francine, aber die junge Frau schien sie über dem wütenden Hupen der Autos nicht zu hören.

Francine wartete auf eine Lücke im Verkehr, bevor auch sie die Straße überquerte. Sie konnte Lenas Spur durch eine Straße verfolgen, die zwischen den Hinterhöfen von zwei einander gegenüberliegenden Häuserreihen verlief. Wie betrunken hetzte die junge Frau umher und fuchtelte panisch mit den Armen. Francine hörte sie atemlos kreischen, ihre grelle Stimme richtete sich an Gott.

»Ich kann dir helfen!«, rief Francine. Ihre Worte wurden von den Mauern rechts und links zurückgeworfen. Was konnte das Mädchen zum Anhalten bewegen? Als Lena sich weigerte zu stoppen, schaltete Francine in den nächsten Gang. Glücklicherweise trug sie ihre Turnschuhe, in die sie immer schlüpfte, sobald sie im Büro angekommen war. Arme und Beine arbeiteten im Takt, und so schloss sie zu Lena auf, bis sie nur noch einen Steinwurf entfernt war. Als Lena herumfuhr und sie sah, schrie sie, als wenn eine verrückte Axtmörderin hinter ihr her wäre und nicht die Frau, mit der sie noch vor einigen Minuten geredet hatte.

»Ich werde dir nicht wehtun!«, rief Francine, als Lenas Beine nachgaben. Das Mädchen fiel auf den Boden und lag da, Arme und Beine ausgestreckt wie bei einem Seestern. Francine blieb schnaufend stehen. Ihr Atem malte geisterhafte Wolken in die Luft. Erst als sie sich hinunterbeugte, um Lena aufzuhelfen, bemerkte sie, dass das Mädchen kicherte.

3. KAPITEL

Sie steckten im abendlichen Berufsverkehr fest, und der anhaltende Regen sorgte dafür, dass die Fahrzeuge nur im Kriechtempo vorankamen.

»Wir müssen meine Tasche holen«, sagte Lena ohne jede Gefühlsregung. Es war ihr erster Satz, seit sie sich ins Auto gesetzt hatte. Francine hatte fast eine ganze Stunde gebraucht, um das Mädchen zu beruhigen, nachdem sie es eingeholt hatte. Dann hatte sich Lenas Stimmung plötzlich verändert. Es gab keine hysterischen oder unerwarteten Ausbrüche mehr. Auf einmal wurde sie ganz ruhig, vollkommen gefügig.

»Was?«, fragte Francine, die nicht zugehört hatte, weil ihre Gedanken meilenweit weg waren. Das Haus. Im Wald.

»Meine Tasche. Mein Zeug ist da drin. Ich habe sie hinter den Mülltonnen versteckt.«

»Welche Mülltonnen?«

»In der Nähe von Ihrem Apartment. Da habe ich auch Kleidung drin. Die Frau im Second-Hand-Laden hat mich einen Altkleidercontainer durchwühlen lassen; sie hat gesagt, ich kann nehmen, was ich will. Sie hat mir auch Kuchen gegeben.«

Lena fing leise an zu summen. Es war lange her, dass Francine an das Schlaflied gedacht hatte. Es nun aus dem Mund dieses Mädchens zu hören war wie ein Schlag in den Magen. Auch bei genauerem Nachdenken erinnerte sie sich nicht, wie sie damals auf das Lied gekommen war, ob sie einen bestehenden Song abgeändert hatte oder ob es ihre eigene Erfindung gewesen war. Eins wusste sie jedoch genau: Dieses Lied gehörte nicht in den Mund von Lena.

»Lena, es wäre vielleicht sinnvoll, wenn du einen Arzt aufsuchst.«

Ein tiefer, erschöpfter Seufzer entfuhr dem Mädchen. »Nein«, sagte es trübe. »Nein, nein, nein.« Es stützte einen Fuß auf dem Armaturenbrett ab. Auf seinen Knien waren lauter winzige ­Kieselsteine, und kleine rote Blutspuren sickerten seine dreckigen, vernarbten Beine herunter.

Bisher hatte Francine ihn nicht bemerkt, aber in der Enge des Wagens fiel ihr Lenas Geruch auf. Sie roch nach moschusartigem Schweiß, nach beißender Feuchtigkeit, die sich tief in ihrer Kleidung festgesetzt hatte, und sie hatte durch die Unterernährung einen säuerlichen Mundgeruch. In der vielschichtigen Mischung von Aromen war noch eine Note, die Francine nicht ganz zuordnen konnte. Ihre Nasenlöcher blähten sich auf, als sie versuchte, die verschiedenen Gerüche voneinander zu trennen. Dann erst erkannte sie, dass es sich um Urin handelte.

»Du hast vielleicht Verletzungen. Oder du bist vom Herumrennen im Regen krank geworden.«

»Sie meinen so was wie Lungenentzündung?«

»Ich weiß es nicht. Ich meine nur, dass du es untersuchen lassen solltest.«

»Ich kann aber nicht zu Ärzten gehen und auch nicht zur Polizei. Vielleicht verstehen Sie es nicht, aber ich tue es, und ich sage Ihnen, dass ich nicht gehe. Wenn Sie mich zwingen, springe ich aus dem fahrenden Auto.« Sie drehte sich zu Francine und ließ sie mit ihrem Blick nicht mehr los. Francine schaute starr geradeaus auf die Scheibenwischer, die ihre langsamen Bögen vor und zurück beschrieben.

»Zwingen werde ich dich nicht. Ich denke nur an deine Gesundheit.«

»Wenn Sie sich um meine Gesundheit Sorgen machen, dann bringen Sie mich besser irgendwo hin, wo die mich nie finden werden.« Lena lachte bellend, ihre Stimme und ihr Hals hörten sich eingerostet und verschleimt an. Vielleicht ist sie wirklich krank, dachte Francine.

»Hören Sie. Sie sind überall. Wie der da.« Lena zeigte auf ein Auto, das sich auf der linken Fahrbahn Zentimeter um Zentimeter vorwärtsschob. »Der könnte auch einer sein. Oder der da.« Sie winkte einem Schauspieler auf einer in einiger Entfernung aufgestellten Werbetafel zu. »Er könnte definitiv auch einer sein. Wahrscheinlich ist er sogar einer. Verdammt, Sie kapieren es so gar nicht, oder?« Sie hob ihre Hand und löste einige Strähnen aus ihrem Haar, zog sie zwischen ihren Fingern auseinander und betrachtete sie wie ein Wunder. »Sie sind überall. Wie Ratten.«

Francine überlegte gut, bevor sie sprach. Langsam verstand sie, welche verbale Geschicklichkeit sie an den Tag legen musste, um Informationen aus Lena herauszubekommen. Immer wenn ein Gesprächsabschnitt gut zu laufen schien, änderte das Mädchen die Geschwindigkeit und damit die Richtung des Dialogs. Francine war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Aber gerade jetzt kam es darauf an, ihre Gereiztheit nicht zu zeigen. Vielleicht so sehr wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

»Wenn du weißt, wohin du willst, dann bringe ich dich ger-«

Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach Lena sie: »Sie haben wohl eine Rakete, was? Können Sie mich zum Mars bringen?« Sie gluckste, aber ihr Mund lachte nicht mit.

»Leider nicht.«

»Dann will ich auf die große Insel. Hawaii.«

Ohne die Feinheiten des Wunsches zu diskutieren, beispielsweise warum sie dorthin wollte und wie ihr das ohne irgendeinen Nachweis ihrer Identität gelingen sollte, sagte Francine: »Hawaii klingt gut. Ich wollte schon immer dort Urlaub machen. Aber bevor ich dich irgendwohin fahre, musst du mir helfen.«

»Ich Ihnen?« Lena schnaubte. »Ich habe Ihnen schon geholfen. Ich habe Ihnen von Mel erzählt.«

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