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Pretty Baby - Das unbekannte Mädchen

Schon immer hat Heidi Wood sich gern um andere gekümmert. Doch als sie eines Tages ein mysteriöses obdachloses Mädchen und deren Baby mit nach Hause bringt, geht sie zu weit! Heidis Mann Chris hat Angst um seine Tochter - und um seine Frau. Denn sie beginnt sich zu verändern, scheint immer mehr in den Bann des unbekannten Mädchens zu geraten.
Chris beginnt zu recherchieren und stößt auf ein schreckliches Geheimnis. Aber um seine Frau und seine Tochter zu retten, scheint es schon zu spät zu sein …

"Das geht unter die Haut!"
The Sun

"Ich kann kaum erwarten, was Mary Kubica als nächstes einfällt.”
Heather Gudenkauf, New York Times-Bestsellerautorin

"Ein großartiger psychologischer Thriller … atemberaubend!"
Publishers Weekly

"Dieses Buch gibt allen Schlaflosen endlich einen guten Grund, die ganze Nacht wach zu bleiben."
Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag: 18.07.2016
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679701
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

HEIDI

Als ich sie das erste Mal sehe, steht sie auf dem Bahnsteig an der Fullerton Station und hält in ihren Armen fest umklammert einen Säugling. Sie schützt sich und das Baby, als der Schnellzug der Violetten Linie vorbeibraust, hinaus zur Linden Station. Es ist der 8. April, wir haben neun Grad und Regen. Wohin man sieht, stürzt der Regen, gepeitscht vom wütenden Wind, vom Himmel hernieder. Ungünstiger Tag für die Frisur.

Das Mädchen trägt eine Jeans, die am Knie zerrissen ist, und eine dünne Jacke aus Nylon, NATO-oliv. Sie hat weder eine Kapuze noch einen Schirm, vergräbt das Kinn in der Jacke und blickt starr geradeaus, während der Regen sie durchtränkt. Die Umstehenden ziehen unter ihren Schirmen die Köpfe ein. Niemand bietet ihr an, seinen Schirm mit ihr zu teilen. Das Baby, wie ein kleines Känguru im Beutel in die Jacke der Mutter gestopft, ist ruhig. Aus der Jacke schauen die Zipfel einer versifften rosafarbenen Fleecedecke hervor. Das Baby ist, wenn ich richtig sehe, ein Mädchen. Völlig durchgefroren schläft es tief und fest, mitten in dieser Umgebung, die mir wie das absolute Chaos erscheint, dazu das Dröhnen der vorbeirasenden „L“, wie die Hoch- und U-Bahn Chicago Elevated kurz genannt wird.

Neben den Füßen des Mädchens, die in vollkommen durchweichten Schnürstiefeln stecken, steht ein altmodischer Lederkoffer, braun und abgewetzt.

Sie kann nicht älter als sechzehn sein.

Sie ist dünn. Unterernährt, sage ich mir, aber vielleicht einfach nur dünn. Ihre Kleider hängen an ihr herunter, die Jeans schlabberig, die Jacke zu groß.

Auf der Anzeige der regionalen Verkehrsgesellschaft, der Chicago Transit Authority, wird ein Zug angekündigt, und die Braune Linie fährt ein. Eine Traube aus morgendlichen Berufspendlern drängt ins Warme und Trockene des Zugs, das Mädchen jedoch rührt sich nicht vom Fleck. Ich zögere kurz – habe das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen –, steige aber dann doch in den Zug wie all die anderen Untätigen, stehle mich auf einen freien Platz und sehe aus dem Fenster, während sich die Türen schließen und wir davongleiten und das Mädchen mit dem Baby im Regen stehen lassen.

Aber sie lässt mich den ganzen Tag nicht los.

Ich fahre in den Loop, den Hochbahnring, der den Kern der Innenstadt Chicagos umschließt, bis zur Adams/Wabash Station, schiebe mich hinaus, die Treppe hinunter und auf die nasse Straße, wo an jeder Ecke der säuerliche Geruch von Abwasser in der Luft liegt und Tauben ihre schwindelerregenden Kreise ziehen, zwischen Mülltonnen, Obdachlosen und Millionen von Großstadtbewohnern hindurch, die im Regen von A nach B hasten.

Zwischen Meetings über Erwachsenenalphabetisierungsraten, der Vorbereitung von Abiturprüfungen für Kandidaten aus dem zweiten Bildungsweg und dem Englischunterricht für einen Mann aus Mumbai denke ich viel über das Mädchen und das Kind nach, stelle mir vor, wie sie einen Großteil des Tages damit totschlagen, auf dem Bahnsteig zu stehen und zuzusehen, wie die „L“ ein- und ausfährt. Im Geiste erfinde ich Geschichten. Es ist ein Kolik-Baby und schläft nur, wenn man es in Bewegung hält. Die Vibration des einfahrenden Zuges ist der Schlüssel dazu, dass das Baby ruhig schläft. Der Regenschirm des Mädchens – ich stelle mir vor, dass er hellrot und mit auffälligen goldenen Gänseblümchen bedruckt war – wurde von einem heftigen Windstoß gepackt und nach außen gestülpt, wie es an solchen Tagen gerne passiert. Dabei ist er kaputtgegangen. Der Schirm, das Baby, der Koffer: Das war mehr, als sie mit ihren zwei Armen tragen konnte. Natürlich konnte sie schlecht das Baby zurücklassen. Und den Koffer? Was war in diesem Koffer, das wichtiger war als ein Regenschirm an einem solchen Tag? Vielleicht stand sie den ganzen Tag da und wartete. Vielleicht wartete sie gar nicht auf eine Abfahrt, sondern auf eine Ankunft. Oder vielleicht war sie ja auch nur Sekunden nachdem die Braune Linie außer Sichtweite war, in die Rote Linie eingestiegen.

Als ich am Abend zurückkomme, ist sie weg. Chris erzähle ich nichts davon, denn ich weiß, was er sagen würde: Na und?

Ich sitze mit Zoe am Küchentisch und helfe ihr bei ihren Mathehausaufgaben. Zoe sagt, sie hasst Mathe. Was mich nicht sehr überrascht. Momentan hasst Zoe so ziemlich alles. Sie ist zwölf. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube mich zu erinnern, dass meine „Ich hasse alles“-Phase wesentlich später eintrat, mit sechzehn oder siebzehn. Aber heutzutage fängt ja alles früher an. Ich ging in den Kindergarten, um zu spielen und das Abc zu lernen. Zoe ging in den Kindergarten, um lesen zu lernen und technisch versierter zu werden als ich. Jungen und Mädchen kommen früher in die Pubertät, in manchen Fällen bis zu zwei Jahre früher als in meiner Generation. Zehnjährige besitzen Handys, sieben- und achtjährigen Mädchen wachsen Brüste.

Chris isst zu Abend und verschwindet dann, wie immer, in seinem Büro, um so lange über sterbenslangweiligen Tabellen zu brüten, bis Zoe und ich zu Bett gegangen sind.

Am nächsten Tag ist das Mädchen wieder da. Und wieder regnet es. Wir haben erst die zweite Aprilwoche, und schon sagen die Meteorologen Rekordregenfälle für den Monat voraus. Der nasseste April seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, heißt es. Gestern meldete der Flughafen O’Hare fünfzehn Millimeter Niederschlag an einem einzigen Tag. Allmählich beginnt das Wasser in die Keller zu tröpfeln und sich in den Senken der tief gelegenen Straßen in der Stadt zu sammeln. Flüge wurden abgesagt und verschoben. Im April Regen bringt dem Mai Segen, rufe ich mir ins Gedächtnis. Für den Weg zur Arbeit hülle ich mich in einen cremefarbenen, wasserdichten Anorak und steige in ein paar Gummistiefel.

Sie trägt dieselben zerrissenen Jeans, dieselbe NATO-grüne Jacke, dieselben Schnürstiefel. Der altmodische Koffer ruht zu ihren Füßen. Sie fröstelt im rauen Wind, das Baby windet sich unruhig. Sie wippt das Kind auf und ab, auf und ab, und auf ihren Lippen lese ich ein Schsch. Neben mir höre ich Frauen, die unter übergroßen Golfschirmen ihren brühheißen Kaffee schlürfen: Die sollte nicht mit dem Baby draußen sein. An einem Tag wie heute, lästern sie. Was stimmt mit diesem Mädchen nicht? Hat das Baby denn kein Mützchen?

Der Schnellzug der Violetten Linie rauscht vorbei. Die Braune Linie rollt ein, und die Untätigen bewegen sich in einer Reihe hinein wie Waren auf einem Fließband.

Wieder verharre ich, will irgendetwas tun, aber ohne aufdringlich oder beleidigend zu wirken. Die Grenze zwischen hilfsbereit und respektlos ist hauchdünn, und ich will sie auf keinen Fall über-schreiten. Es könnte eine Million Gründe geben, weshalb sie mit dem Koffer und dem Baby auf dem Arm da im Regen steht, eine Million andere Gründe als der eine nagende Gedanke, der in meinem Hinterkopf umhergeistert: dass sie obdachlos ist.

Ich arbeite mit Leuten, die häufig von Armut geplagt sind, hauptsächlich Immigranten. Die Alphabetisierungsstatistiken in Chicago sind trostlos. Bei über einem Drittel der Erwachsenen ist die Lese- und Schreibfähigkeit auf niedrigstem Niveau, sprich: Sie können keine Bewerbungsformulare ausfüllen. Sie können keine Anweisungen lesen und wissen nicht, welche Haltestelle der „L“ ihre ist. Sie können ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen.

Die Gesichter der Armut sind hässlich: ältere Frauen, die zusammengerollt auf Parkbänken liegen, ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen herumschieben, den Müll nach Essen durchstöbern. Männer, die sich an den kältesten Januartagen gegen die Wände von Hochhäusern pressen, ein Pappschild an ihren reglosen Körper gelehnt: Bitte helfen. Hunger. Gott Sie segnen. Die Opfer der Armut leben in minderwertigen Behausungen, in gefährlichen Gegenden. Ihre Lebensmittelversorgung ist bestenfalls unzulänglich, oft hungern sie. Sie haben kaum oder gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, notwendigen Impfungen. Ihre Kinder besuchen unterfinanzierte Schulen, entwickeln Verhaltensauffälligkeiten, werden Zeugen von Gewalt. Unter anderem besteht eine höhere Gefahr, dass sie sich in jungen Jahren auf sexuelle Aktivitäten einlassen – und so geht der Kreislauf von vorne los. Mädchen im Teenageralter bekommen Babys mit zu niedrigem Geburtsgewicht, werden medizinisch schlecht versorgt, haben oft keinen Impfschutz, die Kinder werden krank. Und sie hungern.

Zwar sind in Chicago vor allem Schwarze und Hispano-Amerikaner von Armut betroffen, aber das spricht nicht gegen die Tatsache, dass auch ein weißes Mädchen arm sein kann.

All das geht mir in dem Sekundenbruchteil durch den Kopf, in dem ich mich frage, was ich tun soll. Dem Mädchen helfen. In den Zug steigen. Dem Mädchen helfen. In den Zug steigen. Dem Mädchen helfen.

Aber zu meiner Überraschung steigt nun das Mädchen in den Zug. Sie schlüpft durch die Tür, Sekunden vor der automatischen Ansage – ding, dong, die Türen schließen – und ich folge ihr, gespannt, wo wir wohl hinfahren, das Mädchen, ihr Baby und ich.

Das Abteil ist überfüllt. Ein Mann erhebt sich von seinem Platz, den er höflich dem Mädchen anbietet, ohne ein Wort, sie nimmt an und rutscht auf die Metallbank neben einen dubios wirkenden Geschäftsmann mit langem schwarzen Mantel, der auf das Baby blickt, als käme es vom Mars. Die Pendler vertreiben sich die Fahrtzeit mit ihren Handys, ihren Laptops und anderen technischen Spielereien, sie lesen Romane, die Zeitung, das morgendliche Briefing. Kaffeetrinkend starren sie aus dem Fenster auf die Skyline der Stadt und träumen sich in diesen tristen Tag hinein. Behutsam hebt das Mädchen das Baby aus seinem Kängurubeutel. Sie faltet die rosa Fleecedecke auseinander, und wie durch ein Wunder scheint das Baby darunter trocken zu sein. Der Zug ruckelt auf die Armitage Station zu, braust hinter Backsteingebäuden und Mehrfamilienhäusern hindurch, so dicht an den Wohnungen der Leute, dass ich mir vorstelle, wie Wände und Decken erzittern, wenn die „L“ vorbeikommt, die Gläser in den Schränken klirren, der Fernseher vom Getöse des Zugs übertönt wird, alle paar Minuten, den lieben langen Tag über bis spät in die Nacht. Wir lassen Lincoln Park hinter uns, bewegen uns Richtung Old Town, und irgendwo unterwegs beruhigt sich das Baby, sein Heulen wird zu einem leisen Wimmern, und die Zuginsassen wirken eindeutig erleichtert.

Ich bin gezwungen, weiter von dem Mädchen entfernt zu stehen, als mir lieb ist. Ich wappne mich gegen die Unvorhersehbarkeit der Zugbewegungen und spähe an Körpern und Aktentaschen vorbei, um hin und wieder einen Blick zu erhaschen – ein Gesicht von makelloser Elfenbeinhaut, stellenweise gerötet vom Weinen, die hohlen Wangen der Mutter, ein weißer Strampler, das verzweifelte, gierige Saugen an einem Schnuller, ausdruckslose Augen. Eine Frau sagt im Vorbeigehen: „Was für ein süßes Baby.“ Das Mädchen zwingt sich zu einem Lächeln.

Lächeln fällt dem Mädchen nicht leicht. Ich stelle mir sie neben Zoe vor und weiß, dass sie älter ist. Zum einen ist da diese Hoffnungslosigkeit in ihren Augen, zum anderen fehlt ihr Zoes rohe Verletzlichkeit. Und dann ist da natürlich noch das Baby (ich rede mir gern ein, dass Zoe immer noch an den Klapperstorch glaubt), obwohl das Mädchen neben dem Geschäftsmann zierlich wirkt wie ein Kind. Ihr Haar ist unsymmetrisch geschnitten: die eine Seite abgerundet, die andere schulterlang. Es ist farblos wie eine alte, mit der Zeit vergilbte Sepia-Fotografie. Dazwischen rote Strähnen, nicht ihre natürliche Haarfarbe. Sie trägt dunkles, starkes Augen-Make-up, das vom Regen verschmiert ist, versteckt hinter einem schützenden Vorhang aus langen Stirnfransen.

Langsam begibt sich der Zug in den Loop, schlingert um Kurven und Abzweigungen. Ich sehe zu, wie das Mädchen das Baby erneut in die rosa Fleecedecke wickelt und in ihre Nylonjacke stopft, und bereite mich auf ihren Ausstieg vor. Sie steigt vor mir aus, an der Station State/Van Buren, und ich blicke ihr durch das Fenster hinterher und versuche sie in dem starken Verkehr, der sich zu dieser Tageszeit in den Straßen staut, nicht aus den Augen zu verlieren.

Aber natürlich passiert das doch, und plötzlich ist sie einfach verschwunden.

CHRIS

„Wie war dein Tag?“, fragt Heidi, als ich zur Wohnungstür hereinkomme und mich der fremdartige Duft von Kreuzkümmel und die Geräuschkulisse der Fernsehnachrichten aus dem Wohnzimmer und der Stereoanlage aus Zoes Zimmer begrüßen. Thema in den Nachrichten: Rekordregenfälle, die den Mittleren Westen heimsuchen. Neben der Wohnungstür findet sich eine Ansammlung nasser Sachen – Jacken, Regenschirme und Schuhe. Ich trage meinen Teil dazu bei und schüttele meine Haare aus wie ein nasser Hund. Ich gehe in die Küche und drücke Heidi einen Kuss auf die Wange, was eher die Macht der Gewohnheit ist als eine Zärtlichkeit.

Heidi hat schon ihren Pyjama an: roter Flanell mit Karomuster, ihr Haar mit den natürlichen kastanienbraunen Wellen ist platt vom Regen. Kontaktlinsen draußen, Brille auf der Nase. „Zoe!“, brüllt sie, „Essen ist fertig“, obwohl unsere Tochter es durch den Flur, ihre geschlossene Zimmertür und das ohrenbetäubende Gedudel einer Boy Group unmöglich gehört haben kann.

„Was gibt’s denn?“, frage ich.

„Chili. Zoe!

Ich liebe Chili, aber bei Heidis Chili handelt es sich neuerdings um vegetarisches Chili, das nicht nur vor schwarzen Bohnen, Kidneybohnen, Kichererbsen (und offensichtlich Kreuzkümmel) strotzt, sondern auch vor sogenannten vegetarischen Fleischstückchen, die den Eindruck von Fleisch vermitteln sollen, nur eben ohne die Kuh. Sie holt Schalen aus dem Küchenschrank und beginnt, Chili hineinzuschöpfen. Heidi ist keine Vegetarierin. Aber als Zoe vor zwei Wochen angefangen hat, über das Fett im Fleisch zu meckern, hat Heidi beschlossen, dass unsere Familie für eine Weile fleischlos lebt. Seitdem gab es vegetarischen Hackbraten, Spaghetti mit vegetarischen Fleischbällchen und vegetarische Sloppy Joes. Alles ohne Fleisch.

„Ich hole sie“, sage ich und gehe durch den schmalen Flur unserer Eigentumswohnung. Ich klopfe an die pulsierende Tür, stecke mit Zoes Segen den Kopf ins Zimmer, um ihr zu sagen, dass es Essen gibt, und sie sagt Okay. Sie liegt auf ihrem Himmelbett, auf dem Schoß ein gelbes Notizbuch – dessen Deckel mit all den Teenie-Promis beklebt ist, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hat. In dem Moment, als ich hereinkomme, klappt sie es zu und greift nach den Sozialkunde-Lernkärtchen, die unbeachtet neben ihr gelegen haben.

Die Fleischstückchen erwähne ich nicht. Auf dem Weg in Heidis und mein Schlafzimmer stolpere ich über die Katze und lockere nebenbei meine Krawatte.

Kurz darauf sitzen wir am Küchentisch, und wieder fragt Heidi mich nach meinem Tag.

„Gut“, sage ich. „Und bei dir?“

„Ich hasse Bohnen“, verkündet Zoe, während sie einen Löffel Chili aufschaufelt und es dann zurück in die Schale kleckern lässt. Der Fernseher im Wohnzimmer ist stumm geschaltet, trotzdem wandern unsere Blicke immer wieder dorthin, und lippenlesend versuchen wir, den Abendnachrichten so gut es geht zu folgen. Zoe lümmelt auf ihrem Stuhl und weigert sich zu essen. Sie ist eine geklonte Version von Heidi. Alles an ihnen ist gleich, von ihrer runden Gesichtsform über das wellige Haar und die braunen Augen bis hin zum Amorbogen ihrer Oberlippen und einer Handvoll Sommersprossen, die sich über ihre Stupsnasen verteilen.

„Was hast du gemacht?“, fragt Heidi, und innerlich ziehe ich eine Grimasse, weil ich keine Lust habe, meinen Tag noch einmal zu durchleben, und Heidis Geschichten – asylsuchende sudanesische Flüchtlinge und erwachsene Männer, die nicht lesen und schreiben können – sind deprimierend. Ich will einfach nur schweigend die Abendnachrichten von den Lippen des Sprechers lesen.

Aber ich erzähle ihr trotzdem von dem Telefonat mit einem Kunden wegen einer Due-Diligence-Prüfung, dem Aufsetzen eines Kaufvertrags und einer Telefonkonferenz mit einem Klienten in Hongkong zu einer lächerlichen Uhrzeit: um drei Uhr morgens. Ich schlich mich aus Heidis und meinem gemeinsamen Schlafzimmer und verzog mich für das Telefonat ins Arbeitszimmer, und als es beendet war, ging ich duschen und dann zur Arbeit, lange bevor Heidi und Zoe auch nur daran dachten, sich zu rühren.

„Morgen früh fliege ich nach San Francisco“, erinnere ich sie.

Sie nickt. „Ich weiß. Für wie lange?“

„Für eine Nacht.“

Und dann frage ich sie nach ihrem Tag, und Heidi erzählt mir von einem jungen Mann, der vor sechs Monaten aus Indien in die Staaten eingewandert ist. Er lebte in den Slums von Mumbai – in Dharavi, um genau zu sein, einem der größten Slums der Welt, wie Heidi mich aufklärt, und verdiente in seinem Heimatland weniger als zwei amerikanische Dollar am Tag. Sie erzählt mir von den Toiletten dort, wie dünn gesät sie sind. Stattdessen begnügen sich die Bewohner mit dem Fluss. Sie hilft diesem Mann, sie nennt ihn Aakar, mit der Grammatik. Was nicht so einfach ist. Sie erinnert mich daran: „Englisch ist eine sehr schwere Sprache.“

Ich sage, das weiß ich.

Meine Frau ist ein sehr mitfühlender Mensch. Was absolut anbetungswürdig war, als ich ihr einen Heiratsantrag machte, aber nach vierzehn Jahren Ehe treffen die Worte Immigrant und Flüchtling bei mir einen empfindlichen Nerv, vor allem, weil ich sicher bin, dass deren Wohlergehen ihr mehr am Herzen liegt als meins.

„Und wie war dein Tag, Zoe?“, fragt Heidi.

„Für’n Arsch“, grummelt Zoe, die zusammengesackt auf ihrem Stuhl sitzt und auf das Chili starrt, als wäre es Hundekacke. Ich muss innerlich lachen. Wenigstens eine von uns ist ehrlich. Können wir vielleicht noch mal von vorn anfangen? Mein Tag war auch für’n Arsch.

„Inwiefern für’n Arsch?“, fragt Heidi. Ich liebe es, wenn Heidi das Wort Arsch benutzt. So etwas kommt ihr so gut wie nie über die Lippen. Es ist so unnatürlich, dass es schon fast komisch wirkt. „Was ist denn mit deinem Chili?“, schiebt sie nach. „Zu scharf?“

„Hab ich doch gesagt. Ich hasse Bohnen.“

Vor fünf Jahren hätte Heidi sie an die hungernden Kinder in Indien, Sierra Leone oder Burundi erinnert. Aber heute ist es schon eine Leistung, Zoe dazu zu bringen, überhaupt irgendwas zu sich zu nehmen. Entweder hasst sie alles oder es strotzt, wie Fleisch, vor Fett. Also essen wir stattdessen diese vegetarischen Stückchen.

In den Tiefen meiner Aktentasche, die neben der Wohnungstür auf dem Boden steht, klingelt mein Handy, und Heidi und Zoe sehen mich gespannt an, ob ich mich mitten beim Essen mit dem Telefon in mein Arbeitszimmer verdrücke, das zweite Kinderzimmer, das wir umgewandelt haben, als klar war, dass Heidi und ich keine weiteren Kinder bekommen würden. Ab und zu kriege ich immer noch mit, wie ihr Blick bei mir im Arbeitszimmer über espressofarbene Büromöbel schweift – ein Schreibtisch, Bücherregale, mein Lieblingsledersessel – und sie sich etwas völlig anderes vorstellt, Kinderbettchen und Wickeltisch, verspielte Safaritiere, die fröhlich über die Wände springen.

Heidi hatte sich immer eine große Familie gewünscht. Aber es kam anders.

Es ist selten, dass wir ein Abendessen ohne das nervige Klingeln meines Handys hinter uns bringen. Je nach Abend, meiner Laune – oder, noch wichtiger, Heidis Laune – oder was für ein Notfall am jeweiligen Tag bei der Arbeit eingetreten ist, gehe ich dran oder nicht. Heute Abend stopfe ich mir einen Löffel Chili in den Mund zum Zeichen, dass ich widerstehe, und Heidi schenkt mir ein süßes Lächeln, was ich als Dankeschön deute. Heidi hat das süßeste Lächeln überhaupt, wie mit Zuckerguss überzogen. Es ist nicht einfach nur auf jene Lippen mit dem Amorbogen aufgesetzt, sondern kommt von irgendwo tief in ihr. Wenn sie lächelt, habe ich unsere erste Begegnung vor Augen, auf einem Wohltätigkeitsball in der Stadt, ihr Körper in ein trägerloses, klassisches Tüllkleid gehüllt – rot wie ihr Lippenstift. Sie war ein Kunstwerk. Sie war noch Studentin am College und Praktikantin bei dem gemeinnützigen Unternehmen, das sie mittlerweile quasi leitet. Damals, als die Nacht durchmachen ein Kinderspiel war und vier Stunden Schlaf eine gute Nacht bedeuteten. Damals, als mir dreißig alt vorkam, so alt, dass ich nicht einmal ansatzweise darüber nachdachte, wie es mit neununddreißig wäre.

Heidi findet, dass ich zu viel arbeite. Siebzig-Stunden-Wochen sind für mich normal. In manchen Nächten komme ich nicht vor zwei Uhr nach Hause. In manchen Nächten bin ich zwar zu Hause, aber eingeschlossen in meinem Arbeitszimmer, bis die Sonne aufgeht. Mein Telefon klingelt zu jeder Tages- und Nachtzeit, als wäre ich Bereitschaftsarzt und nicht jemand, dessen Beruf Fusionen und Übernahmen sind. Aber Heidi arbeitet in einer gemeinnützigen Agentur. Nur einer von uns verdient also das Geld, um eine Eigentumswohnung in Lincoln Park und die Gebühren für Zoes teure Privatschule zu bezahlen und noch fürs College zu sparen.

Das Telefon hört auf zu klingeln, und Heidi wendet sich an Zoe. Sie will mehr über ihren Tag hören.

Wie sich herausstellt, war Mrs. Peters, die Erdkundelehrerin der siebten Klasse, nicht da, und die Vertretung war eine totale … – Zoe unterbricht sich und überlegt sich ein besseres Substantiv als das, was ihr unangepasste Vorpubertäre ins Gehirn gepflanzt haben – … eine totale Nervensäge.

„Wieso das?“, fragt Heidi.

Zoe vermeidet jeden Augenkontakt und starrt in ihr Chili. „Keine Ahnung. War eben so.“

Heidi trinkt einen Schluck Wasser und setzt ihren forschenden Blick mit den großen Augen auf. Denselben Blick, mit dem sie mich bedachte, als ich das Telefonat um drei Uhr morgens erwähnte. „War sie gemein?“

„Nicht direkt.“

„Zu streng?“

„Nein.“

„Zu … hässlich?“, werfe ich ein, um die Stimmung etwas aufzuhellen. Heidis Bedürfnis, alles genau zu wissen, ist manchmal sehr erdrückend. Sie ist überzeugt, dass ihre elterliche Anteilnahme an Zoes Leben (und damit meine ich übertriebene Anteilnahme) dafür sorgt, dass Zoe sich in ihren wilden Teenagerjahren, wie Heidi es nennt, geliebt fühlt. Dabei erinnere ich mich aus meinen wilden Teenagerjahren noch sehr gut an das Bedürfnis, vor meinen Eltern zu flüchten. Wenn sie mir folgten, rannte ich noch schneller. Aber Heidi hat sich Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, Psychologiebücher über die Entwicklung von Kindern, liebevolle Eltern, die Geheimnisse einer glücklichen Familie. Sie ist fest entschlossen, alles richtig zu machen.

Zoe kichert. Wenn sie das tut, ist sie wieder sechs Jahre alt. Diese seltenen Momente sind nicht mit Gold zu bezahlen. „Nein“, antwortet sie.

„Also … einfach nur eine Nervensäge? Eine dumme alte Nervensäge?“, schlage ich vor. Ich schiebe die schwarzen Bohnen beiseite und suche nach etwas anderem. Eine Tomate. Mais. Die reinste Chili-Schnitzeljagd. Die vegetarischen Fleischstückchen hingegen meide ich.

„Ja. Schätze schon.“

„Und was noch?“, fragt Heidi.

„Hm?“ Zoe trägt ein Batikshirt, auf dem in Pink die Worte Peace und Love stehen. Es ist mit Glitter überzogen. Ihr Haar hat sie zu einem seitlichen Pferdeschwanz zusammengenommen, mit dem sie etwas zu schick wirkt für die orangefarbene Zahnspange, die ihre wandernden Zähne ziert. Ihren linken Arm hat sie von oben bis unten bemalt: Peace-Zeichen, ihren eigenen Namen, ein Herz. Den Namen Austin.

Austin?

„Und was war noch für’n Arsch?“, fragt Heidi.

Wer zum Geier ist Austin?

„Taylor hat beim Mittagessen ihre Milch verschüttet. Voll auf mein Mathebuch.“

„Ist das Buch noch in Ordnung?“, will Heidi wissen. Taylor ist Zoes beste Freundin, ihre BFFIUE, Beste Freundin für immer und ewig, seit die Mädchen ungefähr vier waren. Sie tragen die gleichen BFFIUE-Halskettchen, ausgerechnet mit Totenköpfen. Das von Zoe ist lindgrün, und sie trägt es immer, Tag und Nacht. Taylors Mutter Jennifer ist Heidis beste Freundin. Wenn ich mich recht entsinne, sind sie sich im Stadtpark begegnet, zwei kleine Mädchen, die im Sandkasten spielten, während ihre Mütter auf derselben Parkbank verschnauften. Heidi nennt es eine zufällige Fügung. Obwohl ich glaube, in Wirklichkeit hat Zoe Taylor Sand in die Augen geworfen, und jene ersten Momente waren alles andere als Glück verheißend.

Wäre Heidi nicht gewesen mit ihrer Reserve-Wasserflasche, um den Sand auszuwaschen, und hätte Jennifer sich nicht gerade mitten in einer Scheidung befunden und dringend jemanden gebraucht, bei dem sie ihren Kummer abladen konnte, wäre die ganze Geschichte vielleicht ganz anders ausgegangen.

Zoe erwidert: „Keine Ahnung. Schätze schon.“

„Müssen wir es ersetzen?“

Kein Kommentar.

„Sonst noch was passiert? Irgendwas Gutes?“

Kopfschütteln.

Und das ist Zoes Tag für’n Arsch in Kurzfassung.

Zoe wird vom Tisch entlassen, ohne ihr Chili gegessen zu haben. Heidi überredet sie, wenigstens ein paarmal von einem Maisbrot-Muffin abzubeißen und ein Glas Milch zu leeren, und schickt sie dann in ihr Zimmer, damit sie ihre Hausaufgaben zu Ende macht. Heidi und ich bleiben allein zurück. Wieder klingelt mein Handy. Heidi springt auf, um das Geschirr abzuräumen, und ich zögere und frage mich, ob ich nun entschuldigt bin oder nicht. Aber stattdessen schnappe ich mir etwas Geschirr vom Tisch und bringe es Heidi, die gerade dabei ist, Zoes Chili in den Müllhäcksler zu schütten.

„Das Chili war gut“, lüge ich. Das Chili war alles andere als gut. Ich stapele das Geschirr auf der Küchenarbeitsplatte, damit Heidi es abspülen kann, bleibe hinter ihr stehen und presse meine Hand auf rot karierten Flanell.

„Wer kommt alles mit nach San Francisco?“, fragt Heidi. Sie stellt das Wasser ab und dreht sich zu mir um. Ich lehne mich an sie, und es erinnert mich an das Gefühl, wenn ich mit ihr zusammen bin, eine Vertrautheit, die tief in uns beiden verwurzelt ist, eine Gewohnheit, die uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Fast mein halbes Leben bin ich nun schon mit Heidi zusammen. Ich weiß, was sie sagen will, bevor sie es sagt. Ich kenne ihre Körpersprache und weiß, was sie bedeutet. Ich kenne den einladenden Blick in ihren Augen, wenn Zoe woanders übernachtet oder lange nachdem sie im Bett ist. Ich weiß, als sie ihre Arme jetzt um mich schlingt und mich an sich zieht, ihre Hände hinter meinem Rücken verschränkt, dass das kein Akt der Zuneigung, sondern des Besitzanspruchs ist.

Du gehörst mir.

„Nur ein paar Leute aus dem Büro“, sage ich zu ihr.

Wieder dieser forschende Blick. Sie will, dass ich genauer werde. „Tom“, sage ich, „und Henry Tomlin.“ Und dann zögere ich, und dieses Zögern ist es wahrscheinlich, was mir zum Verhängnis wird. „Cassidy Knudsen“, gestehe ich kleinlaut, füge den Nachnamen an, als wüsste sie nicht, wer Cassidy ist. Cassidy Knudsen mit dem stummen K.

Und da nimmt sie ihre Hände weg und dreht sich wieder zur Spüle um.

„Es ist eine Dienstreise“, erinnere ich sie. „Streng geschäftlich“, sage ich, während ich mein Gesicht in ihrem Haar vergrabe. Es riecht nach Erdbeeren, süßen und saftigen Erdbeeren, vermischt mit einem Sammelsurium an Stadtgerüchen: der Dreck der Straße, fremde Menschen im Zug, der muffige Geruch von Regen.

„Weiß sie das auch?“, fragt Heidi.

„Glaub mir, ich werde sie daran erinnern“, entgegne ich. Und als das Gespräch verebbt, es im Raum still wird, bis auf das wenig zartfühlende Befördern des Geschirrs in die Spülmaschine, ergreife ich die Gelegenheit, um zu entfliehen und zum Packen ins Schlafzimmer zu gehen.

Es ist nicht meine Schuld, dass ich eine Kollegin habe, die nett anzusehen ist.

HEIDI

Als ich morgens aufwache, ist Chris schon weg. Neben mir auf dem pseudo-antiken Nachttisch steht eine große Tasse Kaffee, lauwarm und wahrscheinlich randvoll mit Haselnuss-Kaffeeweißer, aber trotzdem Kaffee. Ich setze mich im Bett auf, greife nach der Tasse und der Fernbedienung, und kaum habe ich dem Fernseher Leben eingehaucht, stolpere ich auch schon über die Vorhersage für den Tag: Regen.

Als ich endlich durch den Flur in die Küche wanke, vorbei an Zoes Porträtfotos vom Kindergarten bis zur siebten Klasse, treffe ich Zoe in der Küche an, wie sie sich gerade im Stehen Milch und Cornflakes in eine Schale schüttet.

„Guten Morgen“, sage ich, und sie fährt zusammen. „Gut geschlafen?“, frage ich und küsse sie vorsichtig auf die Stirn. Sie versteift sich, sentimentaler Kram ist ihr in letzter Zeit unangenehm. Trotzdem verspüre ich als ihre Mutter die Notwendigkeit, ihr meine Zuneigung zu zeigen. Ein High Five – oder ein heimlicher Händedruck, wie Chris und Zoe ihn manchmal austauschen – reicht einfach nicht, deshalb küsse ich sie. Ich merke zwar, wie sie sich entzieht, weiß aber, dass ich ihr für heute meine Liebe eingepflanzt habe. Zoe hat schon ihre Schuluniform an, den karierten Falten-Trägerrock und die dunkelblaue Strickjacke, die Spangenschuhe aus Wildleder, die sie hasst.

„Ja“, sagt sie und geht mit ihrer Schale zum Küchentisch, um zu essen.

„Wie wär’s mit einem Saft?“

„Hab keinen Durst.“ Trotzdem sehe ich, wie sie nach der Kaffeemaschine schielt, eine Tür, die sie schon mal geöffnet und die ich entschieden wieder zugestoßen hatte. Keine Zwölfjährige braucht ein Aufputschmittel, um morgens in die Gänge zu kommen. Ich dagegen fülle meine Tasse, kippe Kaffeeweißer dazu, setze mich mit einer Schüssel Frühstücksflocken mit Rosinen neben Zoe und versuche, einen Smalltalk über den bevorstehenden Tag anzukurbeln. Ihre Antworten bestehen nur aus ja, nein und keine Ahnung, und dann huscht sie davon, um sich die Zähne zu putzen, und ich sehe mich der Stille der Küche überlassen, dem stetigen Trommeln der Regentropfen an das Erkerfenster.

Beim Aufbruch in einen durchnässten Tag begegnen wir im Hausflur einem Nachbarn. Graham. Er drückt auf den Knöpfen einer schicken Armbanduhr herum, und das Spielzeug gibt die verschiedensten Pieptöne von sich. Eindeutig zufrieden schmunzelt er in sich hinein.

„Na, die Damen, auch hier?“, trällert er mit dem dekadentesten Lächeln, das ich je gesehen habe. Sein längeres blondes Haar klebt an seiner glänzenden Stirn, Strähnen, die dank einer großzügigen Portion Haargel schon bald wieder wie eine Eins stehen werden. Er ist nass, obwohl ich nicht sicher bin, ob vom Regen oder vom Schweiß.

Graham kommt gerade von einem morgendlichen Lauf am Seeufer nach Hause, von Kopf bis Fuß in ein Nike-Outfit gekleidet, mit einer überteuerten Armbanduhr, die seine gelaufenen Kilometer und Schritte zählt. Seine ganze Kleidung passt etwas zu gut zusammen, ein lindgrüner Streifen auf seiner Jacke wiederholt sich an seinen Schuhen.

Er ist das, was man metrosexuell nennen würde, obwohl Chris überzeugt ist, dass es mehr als das ist.

„Morgen, Graham“, sage ich. „Wie war dein Lauf?“

An die weizenfarbene Wand mit der weißen Vertäfelung gelehnt, spritzt er sich einen kräftigen Wasserstrahl in den Mund und sagt: „Der Wahnsinn.“ Sein Gesicht hat einen euphorischen Ausdruck, der Zoe erröten lässt. Sie blickt auf ihre Schuhe hinab und streift mit der einen Fußspitze unsichtbaren Dreck vom anderen Schuh.

Graham ist Waise, um die dreißig und wohnt in diesem Gebäude, seit ihm die Wohnung nebenan im letzten Willen seiner Mutter überlassen wurde. Als sie vor vielen Jahren starb, sahnte Graham richtig ab, denn er erhielt nicht nur das Erbe seiner Mutter, sondern außerdem Hunderttausende Dollar Entschädigung vom Krankenhaus, und dieses Geld verschleudert er nach und nach für hochmoderne Uhren, teure Weine und eine verschwenderische Wohnungseinrichtung.

Eigentlich hatte Graham nach dem Tod seiner Mutter vor, die Wohnung zu verkaufen, aber stattdessen zog er ein. Umzugswagen tauschten ihre außergewöhnliche Zusammenstellung an Mö-beln und Habseligkeiten gegen die moderne Einrichtung von Graham, so schnittig und stylish, dass sie wirkte wie aus dem Design Within Reach-Katalog entsprungen: klare Linien, scharfe Winkel und neutrale Farben. Er war Minimalist, kaum etwas in der Wohnung, außer seitenweise Computerpapier, das den Fußboden bedeckte.

„Schwul“, versicherte Chris mir, nachdem wir zum ersten Mal einen Fuß in Grahams neue Eigentumswohnung gesetzt hatten. „Der ist schwul.“ Es war nicht nur die Wohnungseinrichtung, die Chris davon überzeugte, sondern es waren auch die vollen Kleiderschränke – mehr Klamotten, als selbst ich besaß –, die er absichtlich offen gelassen hatte, damit wir sie bewundern konnten. „Denk an meine Worte. Du wirst es schon noch sehen.“

Und doch kam regelmäßig Damenbesuch, atemberaubende Frauen, bei denen es sogar mir die Sprache verschlug. Frauen mit wasserstoffblonden Haaren und unnatürlich blauen Augen, mit Körpern wie Barbiepuppen.

Graham war in Erscheinung getreten, als Zoe noch ein Kleinkind war. Er zog sie an wie eine Schale braune Bananen die Fruchtfliegen. Als freiberuflicher Schriftsteller war Graham oft zu Hause, starrte mit leerem Blick auf einen Computerbildschirm und führte sich eine Überdosis Koffein und Selbstzweifel zu. Des Öfteren kam er uns zu Hilfe, wenn Zoe krank war und weder Chris noch ich bei der Arbeit fehlen durften. Graham hieß sie auf seinem Steppsofa willkommen, wo sie sich gemeinsam Zeichentrickfilme ansahen. Auf ihn ist immer Verlass, wenn man ein Stück Butter braucht, ein Trocknertuch oder jemanden, der die Tür aufhält. Außerdem ist er unschlagbar, was expositorisches Schreiben angeht, und hilft Zoe bei den Englischhausaufgaben, wenn weder Chris noch ich weiterwissen. Er ist Experte im Zubereiten von Truthähnen, ganz im Gegensatz zu mir, wie ich mitten in den Vorbereitungen eines Thanksgiving-Essens für die angeheiratete Verwandtschaft feststellen musste.

Kurz: Graham ist ein guter Freund.

„Ihr beiden solltet irgendwann mal mitkommen“, sagt Graham und meint den Lauf. Ich betrachte die Vielzahl der an seine Taille geschnallten Wasserflaschen und denke: Besser nicht.

„Du würdest es bereuen“, sage ich und sehe zu, wie Graham Zoe durchs Haar wuschelt und sie wieder rot wird, dieses Mal mit dem Rosastich, der nichts mit seinen sexuellen Anspielungen zu tun hat.

„Und was ist mit dir?“, fragt er Zoe, und sie zuckt mit den Achseln. Zwölf zu sein hat durchaus Vorteile, ein Achselzucken und ein Lächeln, und man ist aus dem Schneider. „Denk drüber nach“, sagt er und lässt wieder jenes dekadente Lächeln aufblitzen. Seine makellos weißen Zähne sitzen in Reih und Glied wie gut erzogene Schulkinder. Die Andeutung eines Barts ziert sein noch unrasiertes Gesicht. Seine leicht nach außen abfallenden Augen meidet Zoe wie der Teufel das Weihwasser. Nicht, weil sie ihn nicht leiden kann. Sondern ganz im Gegenteil.

Wir verabschieden uns und gehen in den Regen hinaus.

Ich begleite Zoe zur Schule und gehe dann weiter zur Arbeit. Zoe besucht die katholische Schule bei uns um die Ecke, gleich neben einer klobigen, byzantinischen Kirche mit grauer Steinfassade, schweren Holztüren und einer traumhaften Kuppel, die hoch in den Himmel ragt. Die Kirche ist reich verziert, von den goldenen Wandgemälden, die von einer Wand zur anderen reichen, bis zu den Buntglasfenstern und dem marmornen Altar. Die Schule liegt versteckt hinter der Kirche, ein ganz normales Schulgebäude aus Backstein mit Spielplatz und einer Menge Kindern, alle in der gleichen Karo-Uniform, die sich unter bunten Regenmänteln verbirgt, und mit viel zu fetten Rucksäcken für ihre zierlichen Körper.

Zoe macht sich davon, ohne sich richtig zu verabschieden, und ich sehe vom Bordstein aus zu, wie sie sich zu anderen Siebtklässlern gesellt und von der überschwemmten Straße auf das trockene Gebäude zueilt. Dabei achtet sie darauf, sich von den Kleinen fernzuhalten – die sich an die Beine ihrer Eltern klammern und sie beknien, nicht gehen zu müssen –, als hätten sie eine ansteckende Krankheit.

Ich blicke ihr hinterher, bis sie im Gebäude verschwunden ist, und setze dann meinen Weg zur Fullerton Station fort. Unterwegs verwandelt sich der Regen mit all seiner Dringlichkeit in Hagel, und ich fange an, ziemlich unelegant die Straße entlangzurennen, wobei ich durch Pfützen trampele und schmutziges Regenwasser meine Beine hochspritzt.

Das Mädchen mit dem Baby kommt mir in den Sinn, und ich frage mich, ob sie jetzt auch irgendwo da draußen sind und der Regen auf sie niederprasselt.

An der Haltestelle angekommen, passiere ich mithilfe meines Fahrausweises das Drehkreuz und stürme dann die rutschigen Treppenstufen hinauf, gespannt, ob ich sie sehen werde, das Mädchen mit dem Baby, aber sie sind nicht da. Natürlich bin ich froh, dass die Kleine und ihre Mutter bei diesem Sauwetter nicht auf dem Bahnsteig sind, aber schon beginnen meine Gedanken wieder zu wandern. Wo sind sie, und, noch wichtiger, sind sie in Sicherheit? Im Trockenen? Im Warmen? Mein Gefühl ist der Inbegriff von bittersüß. Ungeduldig warte ich auf den Zug, und als er eintrifft, steige ich ein, die Augen auf das Fenster geheftet, und erwarte fast, sie jeden Moment auftauchen zu sehen: die NATO-grüne Jacke und die Schnürstiefel, den altmodischen Lederkoffer und die durchnässte rosa Fleecedecke, den unbedeckten hellen Kopf des Babys mit dem zarten Flaum, sein zahnloses Lächeln.

Auf der Arbeit ist unser Zentrum für Lese- und Schreibunterricht das Ziel des Schulausflugs einer dritten Klasse. Ich und eine Handvoll Freiwilliger lesen den Schülern Gedichte vor, und dann versuchen sie sich selbst daran, welche zu verfassen und zu illustrieren, die die mutigeren unter ihnen dann in der Gruppe vortragen. Die meisten Schüler kommen aus der Unterschicht in unser Zentrum, aus städtischen Gegenden, überwiegend Afroamerikaner und Latinos. Viele stammen aus Haushalten mit niedrigem Einkommen, und ein paar sprechen zu Hause eine andere Sprache als Englisch: Spanisch, Polnisch, Chinesisch.

Viele dieser Kinder kommen aus Familien, in denen beide Eltern arbeiten, sofern es noch beide gibt. Oft sind die Eltern alleinerziehend. Viele sind Schlüsselkinder, die ihre Nachmittage und Abende allein verbringen. Sie werden übersehen zugunsten dringenderer Angelegenheiten. Essen und Unterkunft zum Beispiel. An einem Morgen in unserer Einrichtung geht es nicht nur darum, Lesen und Schreiben zu lernen und eine Liebe zu Sonetten und Haikus zu entwickeln. Es geht um die Zweifel, die die Kinder überkommen, wenn sie durch unsere Tür treten (und leise über die bevorstehende Aufgabe murren), und die seelische Kraft, die sie nach ein paar Stunden harter Arbeit und der ungeteilten Aufmerksamkeit unserer Mitarbeiter gewonnen haben.

Aber sobald sie gegangen sind, kehren meine Gedanken an das Mädchen mit dem Baby zurück.

Als es Zeit für die Mittagspause ist, hat sich der Regen zu einem unnützen Nieseln verringert. Ich mache meinen Regenmantel zu und gehe los, mit schnellen Schritten die State Street entlang, während ich mich, statt eines Mittagessens, an einem gesunden Müsliriegel gütlich tue. Mein Ziel ist die Bibliothek, wo ich ein Buch abholen will, das ich über die Fernleihe bestellt habe. Ich liebe die Bibliothek mit ihrem sonnendurchfluteten Atrium (wenn auch nicht heute), den grotesken Gargylen aus Granit und Abermillionen von Büchern. Ich liebe die Ruhe der Bibliothek, des Tors zum Wissen, zur französischen Sprache und mittelalterlichen Geschichte, zu Hydrobautechnik und zu Märchen. Lernen in einer der primitivsten Formen: Bücher, die mehr und mehr von der modernen Technologie verdrängt werden.

Ich bleibe neben einer Obdachlosen stehen, die sich an das rote Backsteingebäude lehnt, und lege ihr Dollarnoten in die ausgestreckte Hand. Als sie mich anlächelt, sehe ich, dass ihr einige Zähne fehlen. Ein dünner schwarzer Hut auf ihrem Kopf soll sie warm halten. Sie murmelt ein kaum verständliches Dankeschön. Die wenigen Zähne, die sie noch hat, sind schwarz, was sie vermutlich der Einnahme von Metamphetamin zu verdanken hat.

Ich finde mein Buch im Bereitstellungsregal und fahre dann mit verschiedenen Aufzügen in den siebten Stock hinauf, gehe vorbei an Wachleuten und Grundschulausflüglern, Männern, die umher-schlendern, Frauen, die sich mit anderen Frauen unterhalten, viel zu laut für eine Bibliothek. Die Bibliothek ist warm und ruhig und einladend, und auf der Suche nach einer unterhaltsamen Lektüre, dem neuesten Bestseller der New York Times, begebe ich mich in die Literaturgänge.

Und da sehe ich sie, das Mädchen mit seinem Baby. Im Schneidersitz hockt sie mitten in den Literaturgängen auf dem Boden, das Baby quer über ihren Schoß gelegt, den Kopf erhöht auf einem Knie. Der Koffer steht neben ihr auf dem Boden. Das Mädchen scheint dankbar zu sein, dass es vorübergehend von seinem Gewicht befreit ist. Aus der Tasche der NATO-grünen Jacke holt sie ein Fläschchen und hält es dem Säugling an den gierigen Mund. Sie greift nach einem Buch vom unteren Regal, und während ich mich in den nächsten Gang schleiche und irgendeinen Science-Fiction-Thriller aus dem Regal reiße und auf Seite siebenundvierzig aufschlage, höre ich sie mit leiser Stimme aus Anne auf Green Gables vorlesen, während sie dem Baby über die Unterseite der Zehen streichelt.

Die Kleine ist vollkommen ruhig. Ich spähe durch das Metallregal hindurch, während sie das Fläschchen leer trinkt bis auf die letzten Bläschen am Boden. Dann werden ihre Augen allmählich zu schwer, um sie offen zu halten, und schließen sich ganz langsam. Ihr Körper sinkt in den Schlaf, ist völlig regungslos, mit Ausnahme eines gelegentlichen, unwillkürlichen Zuckens. Ihre Mutter liest weiter, streichelt weiter mit Daumen und Zeigefinger die winzigen Zehen, und ich bin plötzlich zur heimlichen Beobachterin eines sehr vertraulichen Moments zwischen Mutter und Kind geworden.

Eine Bibliothekarin taucht auf. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragt sie, und ich fahre zusammen und umklammere den Science-Fiction-Thriller mit meiner Hand. Ich fühle mich ertappt, bin verlegen, und mein Mantel tropft immer noch vom Regen. Die Bibliothekarin lächelt, ihre Gesichtszüge sind weich und freundlich.

„Nein“, sage ich schnell und leise. Ich will das Baby nicht wecken. Ich flüstere: „Nein. Ich habe es gerade gefunden.“ Dann haste ich zu den Aufzügen und nach unten, um mein neues Buch auszuleihen.

Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause mache ich Halt in der Videothek und besorge einen Frauenfilm für Zoe und mich, dazu eine Packung fettfreies Mikrowellen-Popcorn. Chris war schon immer viel auf Achse. Als Zoe klein war, wirkte sich die Tatsache, dass ihr Vater in diesem Moment noch da und im nächsten schon wieder weg war, negativ auf sie aus. Wenn er unterwegs war, dachten wir uns lustige Sachen aus, die wir machten, wenn Daddy nicht dabei sein konnte: Filmabende und Pyjamapartys im Ehebett, Pfannkuchen zum Abendessen, oder wir erfanden Geschichten, in denen Chris ein Zeitreisender war, was wesentlich interessanter war als ein langweiliger reisender Investmentbanker.

Ich fahre mit dem Aufzug in den vierten Stock unseres Wohnhauses im klassischen Stil, und als ich die Wohnung betrete, herrschen dort unheimliche Stille und merkwürdige Dunkelheit. Für gewöhnlich werde ich vom dröhnenden Sound aus Zoes Stereoanlage begrüßt. Aber heute Abend ist es still. Ich knipse eine Lampe im Wohnzimmer an und rufe Zoes Namen. An ihrer Zimmertür klopfe ich an. Ich kann das Licht unter der Tür durchscheinen sehen, erhalte aber keine Antwort. Ich gehe hinein.

Zoe, die immer noch ihre Schuluniform trägt – was in letzter Zeit eine Seltenheit ist – liegt ausgestreckt auf dem cremefarbenen Flokatiteppich, der die Parkettböden auskleidet. Normalerweise entledigt sie sich ihrer Uniform, sobald sie durch die Tür kommt, zugunsten von etwas Drastischerem, etwas mit Pailletten oder Strass Besetztem. Ich kann sehen, dass sie atmet – sie schläft –, also verzichte ich darauf, in Panik auszubrechen. Aber ich betrachte aufmerksam, wie sie jenes gelbe Notizbuch umarmt und richtungslos auf dem Fußboden liegt, als wäre ihr Körper plötzlich zu schwer geworden, um ihn aufrecht zu halten. Sie ist in eine Kuscheldecke gehüllt, ihr Kopf ruht auf einem Dekokissen, auf dem Hugs & Kisses steht. Ihr Heizgerät, das Chris gekauft hat, weil Zoe darüber klagte, dass es in ihrem Zimmer zu kalt sei, steht auf sechsundzwanzig Grad. Der Raum ist ein Backofen, und Zoe, die nur gut einen halben Meter vom Heizgerät entfernt liegt, wird gebraten. Ihre Wangen sind knallrot, und es ist ein Wunder, dass die Decke noch kein Feuer gefangen hat. Ich drücke auf den Knopf, um das Ding auszuschalten, aber es wird Stunden dauern, bis sich der Raum wieder abkühlt.

Mein Blick schweift im Zimmer umher, wofür Zoe mich anmotzen würde, wenn sie nicht schliefe – das freiliegende Mauerwerk, das an allen möglichen Stellen in der Wohnung aus den Wänden schaut und nach Chris’ Ansicht der Grund für die Kälte in Zoes Zimmer ist, das ungemachte Himmelbett mit dem Patchwork-Quilt, die Poster von Teenie-Stars und tropischen Paradiesen, die mit Spachtelmasse an den Wänden befestigt sind. Ihr Rucksack liegt auf dem Boden, der Inhalt quillt heraus, darunter, unberührt, der Müsliriegel, den ich ihr heute Morgen als Snack für nach der Schule in die Hand gedrückt habe. Zusammengeknüllte Zettel von Klassenkameraden sind auf dem Boden verteilt. Die Katzen liegen neben Zoe und nutzen genießerisch die glühende Hitze.

Ich fahre Zoe mit den Händen durch das lange Haar und rufe leise ihren Namen, einmal, dann noch einmal. Als sie zu sich kommt, setzt sie sich abrupt auf, die Augen aufgerissen, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt. Etwas Bösem. Sie springt auf, die Katzen ebenfalls, und wirft die Decke auf ihr Bett.

„Ich war müde“, erklärt sie und lässt ihren Blick im Zimmer umherschnellen, um herauszufinden, welche Verfehlungen ich möglicherweise entdeckt habe. Keine. Es ist fast sieben Uhr, und draußen, irgendwo hinter den fetten dunklen Wolken, geht allmählich die Sonne unter. In San Francisco sitzt Chris wahrscheinlich gerade in irgendeinem extravaganten Restaurant bei einem Wahnsinnsessen und taxiert über den Tisch hinweg Cassidy Knudsen. Ich verbanne den Gedanken aus meinem Kopf.

„Dann bin ich ja froh, dass du dich ein bisschen hingelegt hast“, sage ich und betrachte die Knitter auf ihrer Wange, ihre erschöpften braunen Augen. „Wie war dein Tag?“

„Gut“, sagt sie und greift rasch nach dem gelben Notizbuch auf dem Boden. Sie klammert sich daran wie ein Lemurenbaby an das Fell seiner Mutter.

„War Mrs. Peters wieder da?“

„Nein.“

„Sie muss wirklich krank sein“, sage ich. Die Grippewelle scheint ihren Höhepunkt dieses Jahr ziemlich spät zu haben. „Dieselbe Vertretung? Die Nervensäge?“

Zoe nickt. Ja. Die Nervensäge.

„Dann werde ich mal Essen machen“, sage ich zu Zoe, aber zu meiner Überraschung entgegnet sie: „Ich hab schon gegessen.“

„Ach ja?“

„Ich hatte Hunger. Nach der Schule. Ich wusste nicht, wann du heimkommst.“

„Ist schon gut“, sage ich zu ihr. „Was hast du denn gegessen?“

„Käsetoast“, sagt sie, und dann sicherheitshalber noch: „… und einen Apfel.“

„Okay.“

Ich merke, dass ich immer noch meinen Regenmantel und meine Gummistiefel trage und meine Tasche umgehängt habe. Freudig erregt stecke ich die Hand in die Tasche und zaubere den Film und das Popcorn hervor.

„Lust auf einen Filmabend?“, erkundige ich mich. „Nur du und ich?“

Sie sieht mich schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht an, ganz im Gegensatz zu meinem eigenen lebhaften, dämlichen Lächeln. Ich spüre das Nein lange bevor es erscheint.

„Es ist nur…“, fängt sie an. „Ich schreibe morgen eine Arbeit. Mittelwert, Zentralwert und Modalwert.“

Ich lasse den Film wieder in meine Tasche fallen. So viel zu dieser Idee. „Dann kann ich dir doch beim Lernen helfen“, schlage ich vor.

„Geht schon. Ich hab mir Lernkärtchen gemacht.“ Und zum Beweis zeigt sie sie mir.

Ich versuche, nicht überempfindlich zu reagieren, denn ich weiß, es gab eine Zeit, als ich zwölf – oder sechzehn oder siebzehn – war und mich lieber einer Zahnbehandlung unterzogen hätte, als mit meiner Mom rumzuhängen.

Ich nicke. „Na gut“, sage ich und schlüpfe aus dem Zimmer. Und leise wie ein Mäuschen macht sie die Tür hinter mir zu und schließt ab.

CHRIS

Wir sitzen in einem Hotelzimmer, Henry, Tom, Cassidy und ich. Und zwar in meinem Hotelzimmer. Auf dem Fernseher liegt ein halb leer gegessener Karton Salami-Pizza (Fleisch!) und im Raum verteilt stehen offene Coladosen. Henry ist im Bad, und da er jetzt schon ziemlich lang da drin ist, nehme ich an, er hält eine Sitzung. Tom telefoniert in der Ecke und steckt sich einen Finger ins Ohr, um seinen Gesprächspartner besser verstehen zu können. Auf meinem Bett liegen Torten- und Balkendiagramme ausgebreitet und überall, auf dem Tisch, auf dem Fußboden, benutzte Pappteller. Cassidys Teller steht auf dem Beistelltisch, es ist der, auf dem die Salami abgepflückt und in einem ordentlichen Stapel neben ihre Dose Diätcola gelegt wurde. Ich schnappe mir eine Scheibe Salami und stecke sie mir in den Mund, und als sie mir einen Blick zuwirft, zucke ich mit den Achseln und frage: „Was ist? Heidi kocht neuerdings fleischlos. Ich komme langsam auf Proteinentzug.“

„Hat das New York Strip Steak deine Gelüste etwa nicht befriedigt?“, fragt sie und lächelt. Auf eine frivole Art. Cassidy Knudsen ist Mitte, Ende zwanzig, hat gerade ihren Management-Studiengang mit dem Master of Business Administration abgeschlossen und arbeitet seit etwa zehn Monaten bei uns. Sie ist ein verfluchtes Genie, aber nicht von der tollpatschigen, nerdigen Art, sondern von der Art, dass sie Wörter wie treuhänderisch und Hedging benutzen kann und sich dabei noch cool anhört. Sie ist gebaut wie ein Laternenpfahl, groß und dünn und oben eine leuchtende Kugel.

„Wenn ich meine Frau hierhaben wollte, hätte ich sie mitgebracht.“

Sie sitzt auf der Bettkante. Sie trägt so einen Bleistiftrock und dazu acht Zentimeter hohe Absätze. Eine Frau von Cassidys Statur braucht keine acht Zentimeter hohen Absätze, was das Ganze noch gewagter macht. Sie fährt sich mit den Händen durch ihr champagnerfarbenes Haar, das zu einem glatten Bob geschnitten ist, und erwidert: „Eins zu null für dich.“

Draußen vor dem Fenster wird die Nacht von der Skyline San Franciscos erhellt. Die schweren Hotelvorhänge sind geöffnet. Halb rechts können wir das höchste Gebäude San Franciscos, die Transamerica Pyramid, sehen, das Bank of America Center, das die Einheimischen fast nur mit seiner Hausnummer „555 California Street“ bezeichnen, und die San Francisco Bay. Es ist nach neun. Im Zimmer nebenan läuft lautstark der Fernseher, und der Lärm eines Vorsaison-Baseballspiels dringt durch die Wände. Ich nehme mir noch eine Scheibe Salami von Cassidys Teller und lausche: Die Giants führen mit drei zu zwei.

Henry taucht wieder aus dem Badezimmer auf, und wir bemühen uns nach Kräften, den Gestank zu ignorieren, der ihm folgt. „Chris“, sagt er und hält mir in der ausgestreckten Hand sein Handy hin. Ich frage mich, ob er sich die Hände gewaschen hat. Ob er die ganze Zeit auf dem Klo telefoniert hat? Henry ist nicht unbedingt das, was man sich unter stilvoll vorstellt. Als er aus dem Bad kommt, sehe ich auch noch, dass sein Hosenlatz offen steht, und würde es ihm sagen, wenn er nicht gerade mein Zimmer vollgestänkert hätte. „Der Schwindler will mit dir sprechen.“ Ich nehme ihm das Telefon aus der Hand, und als ich sehe, wie er nach einem weiteren Stück Pizza greift, vergeht mir augenblicklich der Appetit.

Es hat schon seinen Grund, dass wir dem potenziellen Kunden Aaron Swinder den Spitznamen „der Schwindler“ gegeben haben. Klingt ja so ähnlich. Aber das sollte er besser nicht hören. Ich schlage also meine schönste Verkäuferstimme an und verziehe mich in meine eigene Ecke des beengten Hotelzimmers. „Mister Swinder“, sage ich, „wie steht’s bei den Giants?“ Ich beginne das Gespräch mit dieser Frage, obwohl ich weiß, dass sie, den Buhrufen aus dem Nebenzimmer nach zu urteilen, nicht mehr am Gewinnen sind.

Ich wollte nicht immer Investmentbanker werden. Als ich sechs Jahre alt war, hatte ich alle möglichen hochtrabenden Ziele: Astronaut, Basketballprofi, Frisör (damals kam mir das erhaben vor, wie eine Art Chirurg für die Haare). Als ich älter wurde, ging es weniger um die berufliche Laufbahn an sich, sondern darum, wie viel man damit verdiente. Ich stellte mir ein Penthouse im Stadtteil Gold Coast vor, einen schicken Sportwagen und dass die Leute zu mir aufsahen. Mir kam Rechtsanwalt, Arzt und Pilot in den Sinn, aber nichts davon interessierte mich. Als die Collegezeit nahte, hatte ich einen solchen Hang zum Geld, dass ich Finanzwesen als Hauptfach wählte, weil es sich einfach richtig anfühlte, mit anderen verzogenen Bälgern in einem Klassenzimmer zu sitzen und über Geld zu reden. Money, money, money.

Rückblickend war es vermutlich das, was mich an Heidi am meisten fasziniert hat, als wir uns kennenlernten. Heidi beschäftigte sich nicht so zwanghaft mit Geld wie alle anderen, die ich kannte. Sie beschäftigte sich zwanghaft mit dem Geldmangel, den Habenichtsen im Gegensatz zu den Vermögenden, während ich mich ausschließlich um die Vermögenden kümmerte. Wer hatte das meiste Geld, und wie konnte ich mir einen Teil davon unter den Nagel reißen?

Aaron Swinder lässt sich ohne Punkt und Komma über Derivate aus, als ich von der anderen Seite des Zimmers mein eigenes Telefon klingeln höre, das auf der gestreiften Steppdecke neben Cassidy und jetzt Henry liegt, der vierzig und vor allem Single ist und gerade alles andere als unauffällig auf die hauchdünnen Nylonstrümpfe an ihren Beinen glotzt. Ich warte auf einen wichtigen Anruf, den ich auf keinen Fall verpassen darf, also gebe ich ihr ein Zeichen, dranzugehen, und höre sie „Hallo Heidi“ in den Hörer flöten.

Ich falle in mich zusammen wie ein Heliumballon nach einer Party. Mist. Ich hebe einen Finger in Cassidys Richtung – nicht auflegen – aber da Aaron Swinder ohne Unterlass weiter über seine beknackten Derivate spricht, bin ich gezwungen, mir eine zähe Unterhaltung zwischen Cassidy und meiner Frau über den Flug nach San Francisco, das Abendessen in einem teuren Steakhouse und das gottverdammte Wetter anzuhören.

Heidi ist Cassidy genau drei Mal begegnet. Ich weiß das, weil sie mich nach jeder einzelnen dieser Begegnungen mit Schweigen strafte, als könnte ich etwas dafür, dass die Frau für unser Team eingestellt wurde, und, ganz nebenbei, auch für ihr gutes Aussehen. Das erste Mal sind sie sich letzten Sommer auf einem Firmenpicknick im botanischen Garten begegnet. Ich hätte Cassidy Heidi gegenüber nie erwähnt. Sie arbeitete erst seit sechs Wochen bei uns. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es nötig beziehungsweise besonders klug gewesen wäre. Aber als wir uns bei zweiunddreißig Grad Hitze, verschwitzt und verklebt, ein schattiges Plätzchen unter einem Walnussbaum gesucht hatten, schlenderte Cassidy in einem langen, trägerlosen Sommerkleid vorbei. Ich sah Heidi unbeholfen an ihrem Jeansrock und ihrer Bluse herumzupfen, die sie eindeutig durchgeschwitzt hatte. Und ich konnte zusehen, wie ihr letztes bisschen Selbstbewusstsein dahinschmolz.

„Wer ist das?“, fragte Heidi später, nachdem sie sich eine Weile mit falschem Lächeln gegenseitig versichert hatten, wie „erfreut“ sie seien, einander kennenzulernen, und Cassidy sich wieder auf die Suche nach der nächsten glücklichen Ehe gemacht hatte, die sie aufmischen konnte. „Deine Sekretärin?“

Ich sollte nie erfahren, was Heidi damit meinte, und ob es schlimmer oder weniger schlimm gewesen wäre, wenn Cassidy Knudsen als meine Sekretärin gearbeitet hätte. Später, als wir zu Hause waren, ertappte ich Heidi dabei, wie sie sich mit einer Pinzette vernachlässigbare graue Haare vom Kopf zupfte. Bald darauf belagerten Schönheitsprodukte unseren Waschtisch, vollgepackt mit Wirkstoffen gegen Falten und mit Versprechungen, dem Alter zu trotzen.

Daran muss ich denken, als ich Henry sein Handy wieder hinhalte und dabei übertrieben laut sage: „Bitte schön, Henry“, damit Heidi zu Hause in Chicago weiß, dass Cassidy und ich nicht allein sind, und flüchte mit meinem eigenen Telefon in den Hotelflur. Heidi ist eine schöne Frau, verstehen Sie mich nicht falsch. Umwerfend. Man würde nie darauf kommen, dass zwischen Cassidy und meiner Frau ein ganzes Jahrzehnt liegt.

Und doch wusste Heidi es.

„Hi“, sage ich.

„Was sollte das jetzt?“, fragt sie. Ich stelle sie mir vor, zu Hause im Bett, im Pyjama, roter Flanell oder vielleicht in dem getupften Nachthemd, das Zoe ihr zum Geburtstag ausgesucht hat. Auf dem Fernseher im Schlafzimmer laufen die Nachrichten, auf ihren Beinen ruht der Laptop. Heidis Haare sind unordentlich hochgesteckt – einfach irgendwie, damit sie ihr nicht in die Augen hängen –, während sie im Internet nach Informationen über die Slums von Dharavi sucht oder vielleicht auch nach den weltweiten Armutsstatistiken. Wer weiß, vielleicht sucht sie ja auch nach Pornos, wenn ich nicht zu Hause bin. Nein. Ich nehme das zurück. Nicht Heidi. Heidi hat einen viel zu guten Geschmack für Pornos. Vielleicht sucht sie nach irgendeiner praktischen Verwendung für vegetarische Fleischstückchen. Katzenfutter? Katzenstreu?

„Was denn?“, frage ich und stelle mich dumm. Als hätte ich es nicht gemerkt. Die Tapete im Hotelflur ist fürchterlich, irgendein geometrisches rotes Muster, von dem ich Kopfweh kriege.

„Dass Cassidy an dein Telefon geht.“

„Ach so“, sage ich, „das.“ Ich erzähle ihr von meinem Telefonat mit Aaron dem Schwindler und wechsele dann so schnell ich kann das Thema, indem ich mit dem Erstbesten herausplatze, das mir einfällt. „Regnet es zu Hause immer noch?“, frage ich. Was gibt es Stumpfsinnigeres, als übers Wetter zu reden?

Das tut es. Und zwar den ganzen Tag.

„Warum bist du denn so spät noch wach?“, frage ich. Zu Hause ist es schon nach elf.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagt sie.

„Weil du mich vermisst“, tippe ich, obwohl wir natürlich wissen, dass das nicht der Fall ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht zu Hause bin, ist größer, als die, dass ich es bin, und zwar schon, seit wir zusammen sind. Heidi ist daran gewöhnt, dass ich weg bin. Wie heißt es so schön? Die Liebe wächst mit der Entfernung. Das sagt sie jedenfalls immer, wenn ich sie frage, ob sie mich vermisst. Ich glaube, insgeheim genießt sie es, das Bett für sich zu haben. Sie ist eine Bauchschläferin – und eine Deckendiebin – und schläft mit Vorliebe diagonal. Für unsere Ehe funktioniert es einfach gut, wenn ich im Hotel übernachte.

„Ja klar“, sagt sie. Und dann, wie erwartet: „Die Liebe wächst mit der Entfernung.“

„Wer hat das eigentlich gesagt?“, frage ich.

„Weiß nicht genau.“ Ich kann ihre Finger über die Tastatur fliegen hören.

Klick, klick, klick. „Wie läuft es denn bei euch?“

„Gut“, sage ich und beschwöre sie im Geiste, es dabei zu belassen.

Aber das macht sie nicht. Nicht meine Heidi. „Gut? Das ist alles?“, bohrt sie nach, und ich bin gezwungen, ihr darüber Bericht zu erstatten, dass der Flug wegen Regenfällen verschoben wurde, gefolgt von Turbulenzen und einem verschütteten Glas Orangensaft, über ein Mittagessen mit einem Kunden in Fisherman’s Wharf und die Gründe, weshalb ich Aaron Schwindler nicht leiden kann.

Aber als ich sie nach ihrem Tag frage, will sie über Zoe sprechen. „Sie hat sich merkwürdig verhalten“, sagt sie.

Ich muss schmunzeln. Ich rutsche an der Tapete mit dem roten geometrischen Muster hinab und nehme auf dem Fußboden Platz. „Sie ist zwölf, Heidi“, sage ich. „Es wird sozusagen von ihr erwartet, sich merkwürdig zu verhalten.“

„Sie hat ein Nickerchen gemacht.“

„Dann war sie eben müde“, sage ich.

„Sie ist zwölf, Chris. Zwölfjährige machen kein Nickerchen.“

„Vielleicht wird sie ja krank. Die Grippe geht um“, sage ich, „weißt du doch.“

„Vielleicht“, sagt sie, hakt jedoch gleich wieder ein: „Sie sah aber gar nicht krank aus.“

„Ich weiß es nicht, Heidi. Es ist lange her, dass ich zwölf war. Außerdem bin ich ein Kerl. Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein Wachstumsschub oder irgendein Pubertätskram. Oder sie hat einfach nicht gut geschlafen.“

Ich kann beinahe hören, wie Heidis Kinnlade auf dem Boden aufschlägt. „Du glaubst, Zoe kommt in die Pubertät?“, fragt sie. Wenn es nach Heidi ginge, würde Zoe für den Rest ihres Lebens Windeln und Fleece-Schlafanzüge mit Fuß tragen. Sie wartet die Antwort gar nicht erst ab. „Nein“, beschließt sie für sich. „Noch nicht. Zoe hat noch nicht mal ihre Menstruation.“

Ich zucke zusammen. Ich hasse dieses Wort. Menstruation. Menstruieren. Menstruationsblut. Die Vorstellung, dass meine Tochter Tampons trägt – und ich das mitbekomme –, ist mir ein Graus.

„Frag doch Jennifer“, schlage ich vor. „Frag Jennifer, ob Taylor schon ihre …“ – ich verziehe das Gesicht und zwinge mich, das Wort auszusprechen – „… Menstruation hat.“

Ich weiß, wie Frauen sind. Ein bisschen Kameradschaft wirkt Wunder. Wenn Taylor auch in die Pubertät kommt und Heidi und Jennifer sich per Telefon und SMS über auftauchende Schamhaare und wachsende Brüste austauschen können, ist alles gut.

„Das mache ich“, sagt sie entschlossen. „Gute Idee. Ich frage Jennifer.“

Heidis Stimme beruhigt sich, die sorgenvollen Gedanken, die ihr im Kopf herumgeistern, sind vorerst zum Schweigen gebracht. Ich stelle mir vor, wie sie den Laptop auf meine Seite des Betts schiebt – ein Kuschelgefährte für die Nacht. „Chris“, sagt sie.

„Was denn?“

Aber sie überlegt es sich anders. „Ach, schon gut.“

„Was ist denn?“, frage ich erneut. Ein Pärchen geht Hand in Hand den Flur entlang. Ich ziehe die Beine ein, um es vorbeizulassen. „Verzeihen Sie, Sir“, sagt die Frau in sehr großspurigem Tonfall, und ich antworte mit einem Nicken. Die beiden sind bestimmt fünfundsechzig und halten immer noch Händchen. Ich beobachte sie in ihrem Partnerlook aus Khakihosen und Frühlingsmänteln, und mir kommt in den Sinn, dass Heidi und ich uns selten an den Händen fassen. Wir sind wie die Reifen eines Autos: im Gleichlauf, aber unabhängig voneinander.

„Nichts.“

„Bist du sicher?“

„Ja“, sagt sie. „Wir reden darüber, wenn du wieder zu Hause bist.“ Und endlich beschließt sie, dass sie müde ist. Ihre Stimme klingt müde. Ich sehe sie vor mir, wie sie immer weiter unter die Decke sinkt, ein schweres Daunenbett, unter dem ich selbst im tiefsten Winter schwitze. Ich male mir aus, dass das Licht und der Fernseher im Schlafzimmer aus sind und Heidis Brille auf dem Beistelltisch neben unserem Bett liegt, wie immer.

Ein Bild taucht vor meinem inneren Auge auf, unaufgefordert und unerwünscht, und ich schleudere es rasch von mir, wie eine Kugel aus einer Kanone. Was trägt Cassidy Knudsen zum Schlafen?

„Na gut“, sage ich. In meinem Zimmer klopft jemand an die Tür. Mein Typ wird verlangt. Ich stehe auf und sage Heidi, dass ich Schluss machen muss, und sie sagt okay. Wir wünschen uns gute Nacht. Ich sage ihr, dass ich sie liebe. Sie sagt: „Ich dich auch“, wie sie es immer macht, obwohl wir beide wissen, dass das eigentlich verkehrt ist. Aber es ist eben so eine Sache unter uns.

Als ich ins Hotelzimmer zurückkehre und heimlich zu Cassidy spähe, die immer noch mit ihrem Bleistiftrock und ihren Acht-Zentimeter-Absätzen auf meinem Bett hockt, frage ich mich un-willkürlich: Einen Satinslip? Ein Babydoll mit Rüschen?

HEIDI

Ich wache mit einem Bild von Cassidy Knudsen im Kopf auf und frage mich, ob ich von ihr geträumt habe oder ob sie erst jetzt im Morgengrauen aufgetaucht ist, als Folge unseres peinlichen Gesprächs gestern Abend. Immer wieder höre ich ihre Stimme, wie sie an Chris’ Handy geht, dieses lebhafte „Hallo Heidi“, das für mich wie Fingernägel auf einer Schultafel klang, scharf und schrill, zum Aus-der-Haut-Fahren.

Auf dem Weg zur Arbeit gebe ich mir Mühe, nicht an das Mädchen mit dem Baby zu denken. Es fällt mir nicht leicht. Im Zug gebe ich mir Mühe, mich auf meinen Science-Fiction-Thriller zu konzentrieren und nicht erwartungsvoll durch die schmutzige Fensterscheibe zu starren und darauf zu lauern, dass die NATO-olivgrüne Jacke auftaucht. Meine Mittagspause verbringe ich mit einer Kollegin und nicht in der öffentlichen Bibliothek, obwohl ich nur zu gerne hingehen würde, um mich in den Literaturgängen herumzudrücken und nach dem Mädchen zu suchen. Ich mache mir Sorgen um sie und das Baby, frage mich, wo die beiden schlafen und was sie essen. Ich mache mir Gedanken, wie ich helfen kann, ob ich ihr Geld geben soll wie der Frau mit den schwarzen Zähnen, die sich vor der Bibliothek herumtreibt, oder sie an eine Unterkunft verweisen soll, an eins der Frauenhäuser der Stadt. Das, beschließe ich, sollte ich tun: das Mädchen finden und sie in das Frauenhaus auf der Kedzie Avenue bringen, wo sie und ihr Baby sicher wären. Dann kann ich aufhören, an sie zu denken.

Während der uninteressanten Mittagspause mit einer uninteressanten Kollegin bin ich drauf und dran, mich aus dem Staub zu machen, als mein Handy klingelt, ein Rückruf von meiner besten Freundin Jennifer. Ich entschuldige mich, ziehe mich aus dem Pausenraum in mein Büro zurück, um den Anruf entgegenzunehmen, und Mädchen und Kind sind vorübergehend vergessen.

„Du hast mich gerettet“, sage ich und lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen, der hart und kalt und alles andere als ergonomisch ist.

„Wovor?“, fragt Jennifer.

„Taedium vitae.“

„Und für Nicht-Lateiner?“

„Langeweile“, sage ich.

Auf meinem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto von Jennifer und Taylor, Zoe und mir, einer von diesen Streifen aus dem Fotoautomaten von vor vier Jahren, als es den Mädchen mit ihren acht Jahren, den sonnigen, lächelnden Gesichtern und lebhaften Augen noch nicht peinlich war, in der Öffentlichkeit mit ihren Müttern gesehen zu werden. Die Mädchen sitzen auf unseren Schößen, Taylor mit ihren großen, traurigen Augen und dem Lächeln mit den heruntergezogenen Mundwinkeln neben Zoe, und Jennifer und ich stecken die Köpfe zusammen, damit wir alle ins Bild passen.

Jennifer hat sich vor Jahren scheiden lassen. Ihren Ex-Mann habe ich nie kennengelernt, aber wie sie ihn beschreibt, war er starrsinnig und mürrisch und unterlag heftigen Stimmungsschwankungen, die zu ständigen Streits und unzähligen Nächten auf der Wohnzimmercouch führten (für Jennifer, wohlgemerkt, ihr Ex war zu stur, um das Bett zu räumen).

„Taylor ist doch noch nicht in der Pubertät, oder?“, falle ich einfach mit der Tür ins Haus. Eine beste Freundin zu haben, ist etwas Wunderbares. Man braucht die Äußerungen, die einem in den Sinn kommen, nicht gegenlesen zu lassen, nicht ins Reine zu schreiben.

„Was meinst du? Ob sie ihre Periode hat?“

„Ja.“

„Noch nicht. Gott sei Dank“, sagt sie, und sofort verspüre ich große Erleichterung.

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