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Mit Gobi durch die Wüste - eine wahre Geschichte

Als Buch hier erhältlich:

Dion Leonard ist Ultra-Marathonläufer und lebt für die härtesten Rennen der Welt. Als er nach China zum 7-Tage-Rennen durch die Wüste Gobi reist, will er in erster Linie den Wettkampf gewinnen. Dafür hat er leichtes Gepäck und nur das nötigste Essen dabei. Womit er nicht rechnet: mit der kleinen Mischlingshündin, die ihn aus ihren großen braunen Augen an der Startlinie anschaut - und dann kilometerweit begleitet. Er nennt sie Gobi, sie schenkt ihm Mut, als er ans Aufgeben denkt. Und schließlich kehrt er während des Rennens für sie um. Davon, wie der kleine Hund mit großem Herzen einen besseren Mensch aus ihm gemacht hat, erzählt Leonard in diesem Buch.

"Leonard und Gobi’s Geschichte zeigt, wie stark die Verbindung zwischen einem Mann und seinem Hund sein kann, und was Menschen bewegen können, wenn sie zusammenarbeiten."
Publishers Weekly

"Dion Leonard zeigt uns, dass die besten Geschichten immer noch das Leben schreibt. Das Erlebnis mit Gobi und die Suche nach ihr veränderte sein Leben.Geschichten wie diese bringen uns den Glauben an die Menschheit zurück."
ELLI H. RADINGER

"Eine spannende, unterhaltsame und rundum schöne Geschichte, die das Laufen einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet. Lesetipp für den Sommerurlaub!"
aktiv laufen


  • Erscheinungstag: 05.03.2018
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677509
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Frau Lucja

Ohne Deine nimmermüde Unterstützung, Hingabe und Liebe wäre dies nie möglich gewesen.

PROLOG

Das Kamerateam ist gestern Abend gegangen. Jemand vom Verlag kommt morgen. Ich habe nach wie vor einen Jetlag und andere Begleiterscheinungen meiner Einundvierzigstundenreise in den Knochen. Daher beschließen Lucja und ich, unseren ersten Lauf des Jahres zu einer lockeren Sache zu machen. Nebenbei – wir dürfen nicht nur an uns beide denken. Da gibt es auch noch Gobi.

Wir gehen es ruhig an, indem wir den Pub passieren und am Holyrood Palace vorbei den abschüssigen Weg nehmen, bis sich vor dem strahlend blauen Himmel die grasbewachsenen Hänge des Bergs zeigen, der die Skyline von Edinburgh überragt. Arthur’s Seat. Ich bin dort häufiger hinaufgelaufen, als ich mich erinnere, und ich weiß, wie brutal das sein kann. Der Wind bläst einem so stark ins Gesicht, dass er einen fast umwirft. Es kann hageln, dass es sich wie Messerstiche auf der Haut anfühlt. An solchen Tagen sehne ich mich nach den fünfzig Grad Hitze in der Wüste.

Doch heute gibt es weder Wind noch Regen. Bei unserem Aufstieg hat das Wetter nichts Brutales an sich. Es ist, als wollte der Berg sich in der klaren Luft von seiner besten Seite zeigen.

Sobald wir das Grasland betreten, ist Gobi wie ausgewechselt. Die Hündin, die klein genug ist, dass ich sie unter den Arm nehmen kann, verwandelt sich in eine rasende Löwin, so, wie sie die Steigung hinauf nimmt.

»Wow! Schau dir dieses Energiebündel an«, sagt Lucja.

Bevor ich antworten kann, dreht Gobi sich um, ihre Zunge hängt heraus, die Augen glänzen, die Ohren sind aufgerichtet, die Brust ist stolz gewölbt. Als ob sie jedes Wort von Lucja verstanden hätte.

»Das ist noch gar nichts«, sage ich und drücke ein wenig aufs Tempo, wobei ich versuche, die stramm gespannte Leine zu lockern. »Genauso war sie damals in den Bergen.«

Wir streben weiter hinauf dem Gipfel entgegen. Ich muss daran denken, dass ich Gobi, obwohl ich sie nach einer Wüste benannt habe, das erste Mal an den kalten, zerklüfteten Hängen des Tian-Shan-Gebirges begegnet bin. Sie ist ein wahrer Kletterer, und mit jedem Schritt, den wir vorankommen, wird sie lebhafter. Bald wedelt sie so wild mit dem Schwanz, dass man den Bewegungen mit bloßem Auge gar nicht folgen kann. Sie hüpft, und ihr Körper pulsiert vor Freude. Als sie sich nach uns umdreht, könnte ich schwören, dass sie ein Grinsen im Gesicht hat. »Los, kommt!«, will sie sagen. »Es geht weiter.«

Auf der Bergspitze lasse ich das vertraute Panorama auf mich wirken. Ganz Edinburgh liegt ausgebreitet unter uns, darüber hinaus sind da die Forth Bridge, die Hügel von Lomond und der West-Highland-Way, jede dieser sechsundneunzig Meilen bin ich schon gelaufen. Ich kann bis North Berwick sehen, eine Marathonstrecke von hier entfernt. Ich liebe die Laufstrecke den Strand entlang, selbst an Tagen, an denen es hart wird, weil der Wind einen umzuwerfen droht, und man sich fühlt, als müsste man um jede einzelne Meile kämpfen.

Es sind jetzt mehr als vier Monate her, seit ich das letzte Mal hier war. Während alles wohlvertraut ist, gibt es dennoch einen Unterschied zu früher.

Gobi.

Sie findet, dass es Zeit für den Rückweg wird, und zerrt mich bergab. Nicht auf dem Weg, sondern geradewegs hinunter. Ich holpere über Grasbüschel und springe über Felsbrocken, so groß wie Reisekoffer. Lucja hält neben mir Schritt. Gobi sucht geschickt einen Weg zwischen den Hindernissen hindurch, und Lucja und ich grinsen von einem Ohr zum anderen.

Das ist mit dem Unterschied gemeint.

Normalerweise macht Laufen nicht so viel Spaß. Tatsächlich macht es mir niemals Spaß. Es mag vielleicht gewinnbringend und befriedigend sein, ist aber nicht die Art Spaß, bei der man laut loslacht. Nicht wie der Spaß, den wir in diesem Augenblick haben.

Gobi will weiterlaufen, also überlassen wir ihr die Führung. Sie nimmt uns auf ihrem Weg mit, wohin immer er sie führt. Manchmal geht es zurück den Berg hinauf, dann wieder hinunter. Es gibt keinen Trainingsplan, keine vorgegebene Route. Wir verschwenden auch keinen Gedanken daran. Man braucht sich in diesem Moment um gar nichts zu kümmern. Und dafür und für einiges andere mehr bin ich dankbar.

Nach den letzten sechs Monaten habe ich das Gefühl, das zu brauchen.

Ich habe mich Dingen gegenübergesehen, die ich mir nie hätte vorstellen können, und alles wegen dieses kleinen Bündels aus braunem Fell, das gerade dabei ist, mir meinen Arm auszukugeln. Ich habe Ängste ausgestanden wie nie zuvor. Ebenso habe ich eine Verzweiflung erlebt, die alles um mich herum schal und leblos erscheinen ließ. Ich habe dem Tod ins Gesicht gesehen.

Aber das ist noch lange nicht alles. Da gibt es so viel mehr.

In Wahrheit hat dieser kleine Hund mich in einer Weise verändert, die ich jetzt erst zu begreifen beginne. Vielleicht werde ich sie auch nie vollständig begreifen.

Eins weiß ich allerdings: Gobi zu suchen war mit das Härteste, was ich je in meinem Leben getan habe.

Aber … von Gobi gefunden zu werden gehört zu den besten Dingen.

1. KAPITEL

Ich trat aus dem Flughafengebäude hinaus und war mitten in China. Ich hielt inne und ließ das Chaos auf mich wirken, das mir die Sinne verwirrte. Tausend aufheulende Motoren auf dem Parkplatz vor mir im Konzert mit tausend Stimmen von Leuten um mich herum, die in ihre Smartphones kreischten.

Die Hinweisschilder waren in chinesischer und einer anderen Schrift, die mir vorkam wie Arabisch. Lesen konnte ich beides nicht, und so drängte ich mich in das Gewühl von Menschen, von denen ich annahm, dass sie auf ein Taxi warteten. Die meisten von ihnen überragte ich um Haupteslänge, was sie betraf, war ich jedoch unsichtbar.

Ich befand mich in Ürümqi, der im äußersten Nordwesten Chinas wuchernden Hauptstadt der Provinz Xinjiang. Keine Stadt der Welt ist weiter vom Ozean entfernt als Ürümqi, und als wir von Peking hierherflogen, konnte ich beobachten, wie sich das Terrain von wild zerklüfteten, schneebedeckten Bergen hin zu einer endlos erscheinenden unbelebten Wüstenlandschaft veränderte. Irgendwo da unten hatte ein Team von Rennveranstaltern eine Strecke von hundertfünfundfünfzig Meilen abgesteckt, die die frostigen Höhen und anhaltenden Winde ebenso umfasste wie das trostlose und leblose Buschland, das allgemein als Wüste Gobi bekannt ist. Dort sollte ich also laufen und dabei an vier Tagen jeweils etwas weniger als eine Marathondistanz bewältigen, die Strecke von knapp zwei Marathons am fünften Tag sowie zum Abschluss des Rennens einen einstündigen Sprint über sechs Meilen.

Diese Rennen werden »Etappen-Ultramarathon« genannt, eine brutalere Erprobung mentaler und physischer Widerstandsfähigkeit ist schwer vorstellbar. Leute wie ich zahlen Tausende Dollar für das Privileg, die reinsten Höllenqualen auf sich nehmen zu dürfen, in deren Verlauf man fünf Prozent seines Körpergewichts verliert. Doch es ist die Sache wert. Man läuft in den entlegensten und malerischsten Gegenden der Erde. Dabei hat man eine engagierte Crew aus Unterstützern und hoch qualifizierten Medizinern an seiner Seite. Die Herausforderungen können mitunter eine Qual sein, aber sie verändern auch dein Leben.

Manchmal laufen die Dinge nicht so gut. Wie beim letzten Mal, als ich versuchte, innerhalb einer Woche sechs Marathons zu absolvieren. Ich endete im Niemandsland des Mittelfelds. Zu der Zeit fühlte es sich wie eine beschlossene Sache an, dass ich nie wieder zu einem Wettbewerb antreten würde. Ich raffte mich dann jedoch zu einem letzten Versuch auf. Wenn ich es schaffte, im Gobi-Rennen gut abzuschneiden, hatte ich vielleicht doch noch etwas Renn-Spirit in mir. Immerhin habe ich in den drei Jahren, in denen ich das Laufen ernsthaft angehe, festgestellt, wie gut es sich anfühlt, auf dem Podium zu stehen. Bei dem Gedanken, an keinem Wettbewerb mehr teilzunehmen, wurde mir flau im Magen.

Falls die Dinge sich richtig schlecht entwickelten wie bei einem anderen Teilnehmer auf ebendieser Rennstrecke ein paar Jahre zuvor, könnte das hier auch meinen Tod bedeuten.

Laut Internet sollte die Fahrt vom Flughafen zum Hotel zwanzig bis dreißig Minuten dauern. Je näher wir jedoch der vollen Stunde kamen, desto aufgeregter wurde der Fahrer. Er war schon von Anfang an griesgrämig gewesen, als er mir einen Preis nannte, der dreimal so hoch war, wie ich ihn erwartet hatte. Und von da an wurde es nur noch schlimmer mit ihm.

Als wir dann vor einem roten Backsteingebäude hielten, wedelte er mit den Armen und versuchte, mich aus dem Taxi zu schieben. Ich schaute aus dem Seitenfenster und wieder auf das unscharfe Foto, das ich ihm zu Beginn unserer Fahrt gezeigt hatte. Wenn man die Augen etwas zusammenkniff, konnte man eine gewisse Ähnlichkeit ausmachen, aber es war eindeutig, dass er mich nicht zu einem Hotel gebracht hatte.

»Ich glaube, Sie brauchen eine Brille, Mann«, sagte ich und bemühte mich, die Sache leichtzunehmen und ihm die lustige Seite dieser Situation zu zeigen. Ohne Erfolg.

Widerwillig griff er zu seinem Handy und brüllte irgendjemanden am anderen Ende der Leitung an. Als wir es schließlich zu meinem Bestimmungsort geschafft hatten, kochte er vor Wut, wedelte mit den Fäusten und machte sich davon, dass die Reifen quietschten.

Nicht, dass es mich groß gekümmert hätte. Im selben Maße, wie der Ultramarathon einem körperlich zusetzt, greift er auch die mentalen Kräfte an. Man lernt ziemlich schnell, wie man Ablenkungen und harmlosere Unannehmlichkeiten wie etwa den Verlust von Fußnägeln oder blutende Brustwarzen ausblendet. Der Stress mit einem wutentbrannten Taxifahrer gehörte nicht zu den Dingen, mit denen ich mich länger aufhielt.

Am folgenden Tag war das eine andere Geschichte.

Ich musste ein paar Hundert Meilen mit dem Hochgeschwindigkeitszug fahren, um zum Hauptquartier des Rennens zu gelangen, das sich in einer großen Stadt mit Namen Hami befand. Schon in dem Moment, da ich am Bahnhof von Ürümqi ankam, wusste ich, dass ich zu einer Reise aufbrach, die meine Geduld auf die Probe stellen würde.

Einen solchen Aufwand an Sicherheitskräften auf einem Bahnhofsgelände hatte ich noch nie gesehen. Überall standen Militärfahrzeuge. Mobile Straßensperren aus Metall schleusten Fußgänger und Straßenverkehr an den bewaffneten Kontrollposten vorbei. Mir war gesagt worden, ich sollte zwei Stunden einplanen, um den Zug zu bekommen, aber als ich die riesige Flut an Menschen vor mir erblickte, fragte ich mich, ob diese Zeit wohl ausreichen würde. Nach den Lehren aus der gestrigen Taxifahrt kamen mir Zweifel, ob ich, falls ich den Zug verpasste, die Sprachbarriere zu überwinden imstande sein würde, um meine Fahrkarte umzubuchen. Und falls ich nicht an diesem Tag am Treffpunkt ankommen sollte, war es fraglich, ob sie mich überhaupt starten ließen.

Panik half mir jetzt auch nicht weiter. Ich kontrollierte meine Atemfrequenz, rief mich zur Ordnung und schob mich in Richtung der ersten Sicherheitskontrolle vor. Als ich sie passiert hatte und herauszubekommen versuchte, wo ich mein Ticket entgegennehmen musste, stellte ich fest, dass ich mich in der falschen Schlange angestellt hatte. Ich wechselte in die richtige, doch allmählich wurde die Zeit schon knapp. Wenn das hier ein Wettlauf wäre, dachte ich, dann läge ich hinten. Ich bin noch nie am Schluss des Felds gelaufen.

Als ich meine Fahrkarte hatte, blieben mir gerade mal vierzig Minuten, um einen weiteren Sicherheitsposten zu passieren, meinen Pass von einem übereifrigen Polizisten mit forensischer Akribie überprüfen zu lassen, mich in einer Schlange von fünfzig Leuten nach vorne zu arbeiten, die vor dem Check-in warteten, um dann mit offenem Mund und außer Atem dazustehen und verzweifelt auf Hinweisschilder und Anzeigetafeln zu starren, die ich nicht entziffern konnte. Wohin zum Kuckuck musste ich mich wenden, um auf den richtigen Bahnsteig zu kommen?

Dankenswerterweise war ich doch nicht komplett unsichtbar. Ein Chinese, der in England studiert hatte, tippte mir auf die Schulter.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

Ich hätte ihn umarmen können.

Ich hatte gerade Zeit gehabt, mich an der Stelle auf dem Bahnsteig, an der ich einsteigen konnte, hinzusetzten, als alle um mich herum sich umdrehten und zuschauten, wie die Crew unseres Zugs vorüberrauschte. Es war wie eine Szene auf einem Flughafen der Fünfzigerjahre: die Piloten in ihrer makellosen Uniform mit weißen Handschuhen und einer Aura vollkommener Souveränität, die Stewardessen elegant und selbstsicher.

Ich folgte ihnen in den Zug und sank erschöpft auf meinen Platz. Fast sechsunddreißig Stunden waren vergangen, seit ich mein Zuhause in Edinburgh verlassen hatte, und jetzt versuchte ich, alle Spannung aus Geist und Körper zu verbannen, die sich inzwischen angestaut hatte. Ich sah aus dem Fenster und hielt Ausschau nach etwas, das mich interessierte, doch der Zug glitt stundenlang durch eine nichtssagende Landschaft, die nicht kultiviert genug war, um Farmland zu sein, aber wiederum auch nicht verwaist genug, um Wüste zu sein. Es war einfach … Land, und so ging es hundert um hundert Meilen weiter.

Erschöpft und gestresst. So wollte ich mich nicht kurz vor dem größten Rennen fühlen, das mir in meiner noch jungen Langläuferkarriere bevorstand.

Ich hatte schon an mehreren prestigeträchtigen Veranstaltungen teilgenommen, etwa am weltberühmten Marathon Des Sables, der allgemein als der härteste Wettlauf der Welt angesehen wird. Zweimal habe ich mich bei den dreizehnhundert anderen Läufern eingereiht und bin bei Temperaturen, die tagsüber bei vierzig Grad lagen und nachts auf vier Grad absanken, durch die Sahara gelaufen. Ich kam bei meiner zweiten Teilnahme sogar auf einem achtbaren zweiunddreißigsten Platz ins Ziel. Seitdem waren jedoch fünfzehn Monate vergangen, und eine Menge hatte sich verändert.

Es begann mit einem Lauf durch die Kalahari-Wüste. Ich hatte mir viel abverlangt – zu viel –, um den zweiten Platz im Gesamtklassement zu erlangen. Mein erster Podiumsplatz in einem Etappenlauf. Ich hatte mir zu wenig Flüssigkeit zugeführt, als Ergebnis hatte mein Urin die Farbe von Coca-Cola. Zu Hause eröffnete mir mein Arzt, dass wegen des Flüssigkeitsmangels meine Nieren geschrumpft waren. Die Lauferei hatte Schäden in diesen Organen verursacht, was dann zu Blut in meinem Urin geführt hatte.

Wenige Monate später bekam ich bei einem anderen Rennen Herzrasen. Ich fühlte mein Herz wie wild klopfen, und mich erwischte ein Doppelschlag aus Übelkeit und Schwindel.

Diese Probleme flammten fast genauso auf, als ich für den Marathon Des Sables startete. Natürlich habe ich die Beschwerden ignoriert und mich durchgekämpft, bis ich es schließlich unter die ersten fünfzig geschafft hatte. Der Ärger war, dass ich mich wieder überanstrengte. Sobald ich zu Hause war, bekam ich links in der hinteren Oberschenkelmuskulatur jedes Mal qualvolle Krämpfe, wenn ich zu gehen versuchte – von Laufen ganz zu schweigen.

Die ersten paar Monate ruhte ich aus, die nächsten paar Monate ging ich bei Physiotherapeuten ein und aus und hörte immer das gleiche Lied: Ich sollte diese oder jene neue Kombination von Kraft- und Ausdauertraining durchführen, die sie mir vorschlugen. Ich habe alle ausprobiert. Keine hat geholfen.

Es kostete mich den größten Teil des Jahres, Leute ausfindig zu machen, die wussten, was los war, und die Wahrheit herausfanden. Teilweise bestand mein Problem darin, dass ich den falschen Laufstil hatte. Ich bin groß, ein gutes Stück über einen Meter achtzig, und weil mir deshalb ein ruhiger Dauerlauf in langen, gleichmäßigen Schritten am einfachsten und natürlichsten vorkam, beanspruchte ich nicht alle Muskeln, die ich benutzen sollte.

So bekam ich mit dem Rennen in China die erste Chance, in einem ernst zu nehmenden Wettkampf meine neue schnellere und kürzere Schrittfolge zu erproben. In vielerlei Hinsicht fühlte ich mich großartig. Am Ende war ich zu Hause imstande gewesen, stundenlang schmerzfrei zu laufen, und hatte meine Diät während der Vorbereitung besser eingehalten als je zuvor. Die gesamten drei Monate vor dem Rennen hindurch hatte ich Alkohol und Junkfood gemieden. Selbst Kaffee hatte ich in der Hoffnung gestrichen, mein Herzrasen in den Griff zu bekommen.

Wenn sich das alles auszahlte und ich so gut in China lief, wie ich mich dazu in der Lage fühlte, wollte ich das nächste renommierte Rennen angehen, das die Organisatoren später im Jahr angesetzt hatten, einen Lauf durch die Salzwüsten von Atacama in Chile. Wenn ich dort gewinnen könnte, wäre ich in der besten Verfassung, im folgenden Jahr wieder zum Marathon Des Sables anzutreten und mir einen Namen zu machen.

In Hami angekommen, war ich der Erste beim Aussteigen und befand mich ganz vorn im Gedränge, das dem Ausgang zustrebte. Das gefällt mir schon besser, dachte ich.

Der Posten an der Ausgangskontrolle machte meinem Frohlocken ein jähes Ende.

»Was Sie machen hier?«

Draußen sah ich eine lange Reihe Taxis, die neben einem menschenleeren Bürgersteig standen und auf meine Mitreisenden warteten, um sie als Fahrgäste aufzunehmen. Ich versuchte zu erklären, dass es um den Marathon ging und dass ich loswollte, um ein Taxi zu bekommen. Aber ich wusste, es war zwecklos. Sein Blick wechselte zweifelnd zwischen meinem Pass und mir hin und her, dann bedeutete er mir, ihm in einen Wohnwagen zu folgen, der als Büro diente.

Die Erklärung, was es mit all den Packungen Energie-Gels und Trockennahrung auf sich hatte, nahm eine halbe Stunde in Anspruch. Selbst da war ich nicht davon überzeugt, dass er mir glaubte. Ich nehme stark an, er ließ mich gehen, weil ihm das Ganze langweilig wurde.

Als ich hinaustrat und mich dem Bürgersteig näherte, war die Menschenmenge verschwunden und mit ihr die Taxis.

Na großartig.

Allein stand ich da und wartete. Ich war müde und wollte, dass diese aberwitzige Reise ein Ende hatte.

Dreißig Minuten später stoppte ein Taxi. Bevor ich in Ürümqi aufgebrochen war, hatte ich mir einen Ausdruck der Adresse meines Hotels in chinesischer Schrift besorgt. Als ich der Fahrerin den Zettel unter die Nase hielt, schien sie das Ziel zu meiner Freude zu kennen. Ich kletterte hinten in den Wagen und klemmte meine Knie gegen ein Metallgitter. Sobald die Fahrt begann, schloss ich die Augen.

Wir waren nur hundert oder zweihundert Meter weit gekommen, da hielten wir an. Mein weiblicher Chauffeur nahm einen weiteren Fahrgast an Bord. Schwimm mit dem Strom, Dion, ermahnte ich mich. Ich sah keinen Sinn darin, mich zu beschweren. Wenigstens so lange nicht, bis sie sich umdrehte, auf die Tür zeigte und mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass der andere Fahrgast ein lohnenderer Kunde und ich in diesem Taxi nicht mehr erwünscht war.

Ich ging zurück, verbrachte wieder zwanzig Minuten bei der unvermeidlichen Sicherheitskontrolle und stellte mich erneut für ein Taxi an – allein an einem verlassenen Taxenstand.

Endlich kam ein weiterer Wagen. Der Fahrer war glücklich, höflich und wusste genau, wohin er musste. Tatsächlich war er sich seiner Sache so sicher, dass ich, als wir zehn Minuten später vor einem großen grauen Gebäude hielten, nicht daran dachte, mich davon zu überzeugen, dass ich wirklich am richtigen Hotel angekommen war. Ich gab ihm sein Geld, holte meine Reisetasche heraus, und schon fuhr er davon.

Erst als ich durch den Eingang des Gebäudes trat, dämmerte mir, dass ich hier vollkommen verkehrt war. Das war kein Hotel, sondern ein Büroblock. Ein Büroblock, in dem kein Mensch ein Wort Englisch sprach.

Vierzig Minuten lang versuchte ich, mich ihnen verständlich zu machen, und sie versuchten, sich mir verständlich zu machen. Auch ihre Telefonanrufe, mit wem auch immer, brachten uns kein Stück weiter. Als ich vor dem Haus ein Taxi langsam vorbeifahren sah, griff ich mir meine Tasche, stürzte hinaus und flehte den Fahrer an, mich dorthin zu bringen, wohin ich musste.

Als ich eine halbe Stunde später in einem Billig-Hotel, das die Organisatoren des Marathons gebucht hatten, vor einem leeren Bett stand, legte ich laut einen feierlichen Schwur ab.

»Nie, nie wieder in meinem Leben werde ich noch einmal nach China kommen.«

Es war nicht der Verdruss, weil ich mich hier nicht richtig verständlich machen konnte, auch nicht die Erschöpfung und die bleischwere Müdigkeit, die mir Kummer bereiteten. Den ganzen Tag hatte ich dagegen angekämpft, Sorge in mir aufkommen zu lassen, aber am Ende, als eins nach dem anderen schiefging, wurde ich dann doch nervös. Das war alles unlogisch und absurd. Ich rief mir wieder und wieder ins Gedächtnis, dass ich reichlich Zeit eingeplant hatte, um von Peking an den Start zu gelangen, und ich rechnete mir aus, dass ich, selbst wenn ich den Zug verpasst hätte, noch eine Möglichkeit gefunden hätte, das in Ordnung zu bringen. Auch wusste ich, dass all der Stress, der sich in den letzten beiden Tagen angestaut hatte, rasch abgeschüttelt war, sobald ich anfing zu laufen.

Dennoch war ich verunsicherter, als ich je vor einem Rennen gewesen war, als ich in dem Hotel in der Nähe des Hauptquartiers der Rennleitung ankam.

Die Quelle meiner Ängste war jedoch nicht die Anreise oder das Wissen um die Strapazen, die vor mir lagen. Sie reichte viel, viel tiefer.

Es war die Sorge, dass dies mein letztes Rennen überhaupt sein könnte, die Furcht davor, dass mir etwas, das ich liebte, genommen würde.

Dienstag, 3. Januar 1984. Der Tag nach meinem neunten Geburtstag. Damals begriff ich zum ersten Mal, dass das Leben sich schnell ändern kann. Es war ein wunderbarer Tag, getaucht in den schönsten australischen Sommersonnenschein. Am Morgen war ich mit meinem Mountainbike über Rampen gefahren, die ich mir gebaut hatte, während Mom und Dad Zeitung lasen und meine dreijährige Schwester im Garten meiner Oma vor der Erdgeschosswohnung auf der anderen Seite des Hauses spielte. Ich schaffte es endlich, meinen Salto auf dem Trampolin zu vervollkommnen, und nach dem Mittagessen zogen Dad und ich mit unseren Kricketschlägern und ein paar alten Bällen los. Dad hatte sich gerade von einer Bronchitis erholt, und es war seit Ewigkeiten das erste Mal, dass er mich begleitete, um draußen ein bisschen Sport zu treiben. Er brachte mir bei, wie ich den Schläger halten musste, um den Ball so hart zu treffen, dass er hoch und weit über das struppige Gras bis über die Grenze am anderen Ende unseres Grundstücks flog.

Als ich am späten Nachmittag schließlich wieder hereinkam, fand ich das ganze Haus erfüllt von den Düften der Kochkunst meiner Mom. Sie dämpfte ihren Chocolate Pudding stundenlang im Wasserbad und bereitete eine Bolognese zu, die sehr gehaltvoll war. Ich hielt den Kopf so lange über den Topf, um den Duft einzuatmen, bis es mir zu heiß im Gesicht wurde.

Es war ein perfekter Tag.

Wie jeder Neunjährige weigerte ich mich zuzugeben, dass ich müde war, als es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Aber schon bald schlief ich ein, wobei ich noch undeutlich mitbekam, wie Mom zu ihrem Sonntagabend-Aerobic-Kurs aufbrach, während Dad sich bei leise gestelltem Ton Kricket im Fernsehen ansah.

»Dion!«

Ich wollte nicht aufwachen. Es war dunkel, und ich war von seltsamen Traumbildern halb benommen.

»Dion!«

Wieder hörte ich Dads Stimme. Sonst war es still im Haus. Kein Fernseher. Auch von meiner Mom war nichts zu hören.

Ich wusste nicht, warum er in dieser Weise nach mir rief, und driftete zurück in den Schlaf.

Ich kann nicht sagen, wie lange Dad noch meinen Namen rief, aber ab irgendeinem Zeitpunkt wurde mir klar, dass ich aufstehen und nachschauen musste, was er von mir wollte.

Er lag im Bett unter der Decke und sah mich nicht an, als ich hereinkam, und ich mochte nicht weiter ins Zimmer gehen. Seine Atmung klang gar nicht gut. Als ob es ihn alle Anstrengung kostete, auch nur ein wenig Luft in die Lunge zu bekommen. Irgendwie wusste ich, dass es ihm richtig schlecht ging.

»Geh und hole sofort deine Großmutter hierher, Dion.«

Ich rannte die Treppe hinunter und klopfte an ihre Haustür.

»Nan, du musst kommen«, sagte ich. »Dad braucht dich. Etwas stimmt nicht mit ihm.«

Sie kam gleich mit, und ich folgte ihr die Treppe wieder hinauf. Ich weiß noch, dass ich dachte, weil sie früher Krankenschwester gewesen war, würde alles in Ordnung kommen. Wann immer meine kleine Schwester Christie oder ich uns wehtaten, brachte Nan, wie wir unsere Oma nannten, uns zum Lachen, während sie unsere Blessuren verarztete, indem sie uns Geschichten aus der Zeit erzählte, als sie Oberschwester in einem Lazarett für Kriegsheimkehrer war. Sie war eine handfeste Frau, eine Kämpferin, die, wie ich glaubte, Hände mit heilenden Kräften hatte, die jede Krankheit und jeden Schmerz verschwinden ließen.

Sobald sie Dad zu Gesicht bekam, ging sie aus dem Zimmer, um den Rettungswagen zu rufen. Ich blieb währenddessen bei ihm, aber als sie wiederkam, schickte sie mich hinaus.

Christie schlief nebenan in ihrem Gitterbettchen. Ich stand da und beobachtete sie, während ich darauf horchte, wie Dads Atemzüge immer schwerer wurden und Nan in einem Ton, den ich noch nie bei ihr vernommen hatte, sagte: »Garry.« Sie sprach ein wenig lauter als normal. »Die Ambulanz kommt gleich. Du hast einen Asthmaanfall. Behalte die Ruhe, Garry. Bleib bei mir.«

Wegen der Unruhe wurde Christie wach und begann zu weinen. »Dad fühlt sich nicht gut, Christie«, sagte ich und versuchte, so stark zu klingen wie Nan. »Aber es kommen Leute, die ihm helfen.«

Ich rannte durch den Flur, um die Tür zu öffnen, sobald ich den Rettungswagen draußen vorfahren hörte. Dann sah ich, wie sie die Trage und ein Beatmungsgerät die Treppe hinaufbrachten. Schweigend schaute ich einige Minuten später zu, wie sie Dad hinausschoben. Ich wollte ihn nicht ansehen. Er rang immer noch nach Luft, sein Kopf schlug hin und her. Eins der Räder der Trage quietschte beim Fahren.

Ich folgte ihnen auf die Straße, wo die Laternen, die Scheinwerfer und das blinkende Blaulicht die Nacht unwirklich erscheinen ließen. Als sie Dad mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, den Kopf zur Seite gefallen, hinten in den Rettungswagen schoben, kam Mom mit dem Wagen an. Erst war sie ganz still und lief zu ihm, dann schrie sie außer sich, wobei sie neben Nan am Heck der Ambulanz stand. »Es wird alles gut«, sagte Nan. Ich glaubte nicht, dass Mom sie hörte.

»Ich liebe dich«, sagte Dad, während Mom sich über ihn beugte. Es waren seine letzten Worte.

Christie, Nan und ich blieben zurück, Mom fuhr mit Dad im Rettungswagen davon. Ich weiß nicht mehr, wie spät es da war, nicht einmal, was wir gemacht haben. Aber ich erinnere mich, dass es fast Mitternacht war, als die Haustür geöffnet wurde. Mom kam in Begleitung eines Arztes herein. Keiner von ihnen brauchte ein Wort zu sagen. Nan und ich, wir wussten beide, was geschehen war. Bald fingen Mom, Nan und ich an zu weinen. Es dauerte nicht lange, bis das Telefon klingelte. Nan beantwortete die Anrufe. Sie sprach mit gedämpfter Stimme, die Gespräche waren kurz, nie länger als wenige Minuten. Als es an der Tür läutete, die ersten Nachbarn eintrafen und meine Mom in den Arm nahmen, bin ich auf mein Zimmer gegangen.

Am Tag der Bestattung schaute ich zu, wie Dads Sarg zum Leichenwagen geschoben wurde. Ich riss mich von Mom los, die mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte, und rannte hin, um sie aufzuhalten. So weit ich mit den Armen kam, umschlang ich die Holzkiste, aber es hatte wenig Zweck. Meine Arme reichten nicht herum. Ich schluchzte so heftig, dass es mir in der Brust wehtat, dann holte mich jemand weg.

2. KAPITEL

Bald nach Dads Tod zog Mom in die Erdgeschosswohnung, wo Nan sich um sie, Christie und mich kümmerte. Es war, als würde Mom wieder zu einem Kind werden und als könnte sie deshalb keine Mom mehr für uns sein.

Ich war ja selbst nur ein neunjähriges Kind, aber jeder Trottel hätte die Zeichen deuten können. Seit jenem Tag, als ich in ihr Schlafzimmer kam und in ihrer Hand eine große Flasche mit Pillen erblickte, ihr Gesicht noch tränennass, war es keine Frage mehr, dass sie damit nicht fertigwurde.

Das war ein paar Wochen nach Dads Tod. Es brauchte einige Monate länger, bis ich herausfand, dass ihr Problem nicht allein die Trauer war. Sie und ich waren eines Abends in der Küche. Sie putzte, eine Marotte, die sie sich kürzlich zugelegt hatte, und ich saß am Tisch und las.

»Dion, Garry war nicht dein Dad«, sagte sie ohne Umschweife und ohne Vorwarnung.

Keine Ahnung, ob ich weinte oder rausrannte, um mich zu verstecken. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich tobte oder meine Mom um nähere Erklärungen bat. Meine Erinnerung daran, was ich gesagt oder gefühlt habe, ist ausgelöscht. Da ist einfach ein leeres Blatt, wo so viel Erinnerung sein sollte. Ich kann mir nur vorstellen, dass diese Mitteilung so schmerzhaft für mich gewesen sein muss, dass sie alle Spuren aus meinem Gedächtnis gelöscht hat.

Eins steht allerdings für mich fest: Die Verletzung, die mir durch Dads – Garrys – Tod zugefügt wurde, war so tief, dass sie mich von Grund auf veränderte.

Selbst heute noch wird meine Mom weinen, falls sie und ich auf Garrys Tod zu sprechen kommen. Sie wird sagen, dass es nur die zwanzigminütige Fahrt mit der Ambulanz brauchte, um alles in unserem Leben umzukrempeln. Sie hat recht, aber sie hat auch unrecht. Es mögen Minuten sein, die es braucht, um ein Leben ins Chaos zu stürzen, doch es bedurfte nur der vier Worte, mir mein trauerndes Herz in Stücke zu reißen.

Ich behielt mein Geheimnis für mich. Während der ein oder zwei Jahre, in denen ich die Wahrheit über mich herausfand, schämte ich mich meiner Vergangenheit. Nicht nur, dass ich als Kind keinen Vater zu Hause hatte, ich war auch der Einzige, den ich kannte, der nur ein Elternteil hatte. Der gleichmäßige Strom von Besuchern, die nach der Beerdigung zu uns kamen, versiegte, und unsere schwindenden Finanzen zwangen meine Mutter, sich aufzumachen, um Arbeit zu suchen. Wenn sie dann daheim war, verbrachte sie Stunden damit, das Haus zu putzen, wobei sie Songs von Lionel Richie in voller Lautstärke auf der Stereoanlage in unserem blitzblanken Wohnzimmer abspielte.

Mir kam es vor, als kämen all meine Freunde aus intakten Familien, und weil sie alle in die Kirche gingen, dachte ich, ich schließe mich ihnen an. Ich wollte mich zugehörig fühlen. Außerdem gefiel mir die Tatsache, dass ich nach dem Gottesdienst eine Handvoll Kekse ergattern konnte. Die Predigten kümmerten mich wenig – manchmal erreichten sie allerdings sogar, dass ich mich besser fühlte. Aber die Art, wie die Leute auf mich reagierten, wenn ich mich am Schluss dem Teetisch näherte, zeigte mir, dass sie mich mit anderen Augen ansahen als sonst jemanden. Ich hörte, wie sie hinter meinem Rücken tuschelten, und wenn ich mich umdrehte, entstand peinliches Schweigen, und ich sah ein gequältes Lächeln auf ihren Gesichtern.

Mom bekam Telefonanrufe. Ich versuchte, mich in den Flur zu schleichen, und schaute ihr zu, wie sie mit hochgezogenen Schultern mit dem Gesicht zur Wand stand. Ihre Antworten waren abgehackt und die Anrufe nur kurz, und manchmal, wenn sie beendet waren und sie sich umdrehte und mich sah, erzählte sie mir vom Klatsch, der über uns in der Stadt verbreitet wurde.

Nur zu bald machte ich selbst damit Bekanntschaft. Eines Sonntagnachmittags ging ich einen Freund besuchen. Ich entdeckte sein Fahrrad auf dem Rasen vor dem Haus und wusste also, dass er da war. Seine Mutter hingegen sagte mir, dass er nicht zum Spielen herauskommen könne.

»Du kannst Bradley nicht treffen.« Sie zog die Tür mit dem Fliegengitter zwischen uns zu.

»Warum denn nicht, Mrs. Firth?«

»Du bist ein schlechter Umgang, Dion. Wir wollen nicht, dass du herkommst.«

Völlig niedergeschmettert ging ich weg. Ich trank oder fluchte nicht, benahm mich in der Schule nicht daneben und hatte auch keinen Ärger mit der Polizei. Schön, ich war ein bisschen zu gierig, was die Kekse in der Kirche anging, doch abgesehen davon, war ich immer höflich und bemühte mich, freundlich zu sein.

Mrs. Firth konnte nur eins gemeint haben.

Ich hatte damals kein Wort dafür, aber ich entwickelte bald einen starken Widerwillen gegen das Gefühl, ausgeschlossen zu werden. Als ich vierzehn war, wusste ich bereits sehr genau, wo mein Platz im Leben war: draußen.

Wie ich es immer machte, saß ich ein wenig abseits im Raum, als das Veranstalterteam mit den Sicherheitsinstruktionen begann. Das Rennen wurde von einer Gruppe organisiert, mit der ich noch nie gelaufen war, aber ich war mit solchen Treffen so vertraut, dass ich wusste, was kam.

Die größte Gefahr bei jedem Etappen-Ultramarathon in der Wüste besteht, falls die Erschöpfung – im Normalfall Dehydrierung, Krämpfe, Schwindel und Herzrasen – sich wegen der Hitze zu einem Hitzschlag auswächst. Dann kommen drastischere Symptome einschließlich Verwirrtheit, Desorientierung und Krampfanfälle hinzu. Man selbst merkt nicht, wenn das passiert. Man wird die Warnsignale nicht aufnehmen und endet zusammengerollt in einem Graben oder trifft die falschen Entscheidungen, obwohl es höchste Zeit wird, die Hitze zu meiden, Salze und Flüssigkeit aufzufüllen und die Kerntemperatur rigoros herunterzubringen. Tut man das nicht, kann man ins Koma fallen und schließlich sterben.

Die Organisatoren betonten, sie würden jeden, bei dem sie den Verdacht hatten, dass er am Rande der Erschöpfung stand, sofort aus dem Rennen nehmen. Was sie nicht erwähnten, war, dass sechs Jahre zuvor ein Teilnehmer bei so einem Rennen an einem Hitzschlag gestorben war.

Das Mikrofon wurde darauf an eine Amerikanerin weitergegeben. Ich erkannte sie wieder. Sie war die Begründerin dieses Marathons. »Dieses Jahr«, sagte sie, »haben wir einige großartige Athleten im Feld, allen voran den unvergleichlichen Tommy Chen.« Es gab eine Runde Applaus von den hundert Läufern im Raum, die sich alle zu dem jungen Taiwanesen umdrehten, der sein persönliches Kamerateam dabeihatte, das diesen Augenblick festhielt.

Ich hörte mir eine Menge Zeug darüber an, wie Tommy den Sieg angehen wollte und was für großartige Ergebnisse er schon hinter sich hatte. Ich wusste, dass er einer der Besten hier war, ein waschechter Etappen-Marathon-Superstar. Und ich wusste, dass es schwer werden würde, ihn zu schlagen.

Bevor ich Schottland verließ, hatte ich eine E-Mail der Veranstalter gelesen, in der die Top Ten der Teilnehmer aufgelistet waren, von denen angenommen wurde, dass sie gut abschneiden würden. Ich kam darin nicht vor, obwohl ich einige der Genannten in der Vergangenheit schon geschlagen hatte. Ich war zum Teil noch immer verärgert darüber, aber nicht, weil ich mich in meinem Ego verletzt fühlte. Es gab keinen Grund für sie zu erwarten, dass ich gut abschnitt. Ich hatte seit einem Lauf über hundertzweiunddreißig Meilen in Kambodscha vor acht Monaten an keinem Rennen mehr teilgenommen und war in Vergessenheit geraten. Ich nahm es ihnen nicht übel, dass sie mich übergangen hatten.

Vielmehr war ich ärgerlich über mich selbst. Ich hatte erst vor drei Jahren mit dem Laufen begonnen und war so spät dazugekommen, dass ich nur ein winziges Zeitfenster hatte, um mich zu beweisen. Eine Regenerationspause von acht Monaten kam mir vor wie eine sträfliche Zeitverschwendung.

Den Sicherheitsinstruktionen war eine Überprüfung der Ausrüstung vorausgegangen, die sicherstellen sollte, dass jeder von uns in seinen Taschen die wichtigsten Dinge bei sich hatte. Obwohl man alle Nahrung, Bettzeug und Kleidung bei sich trägt, die man für die ganzen sechs Etappen des Siebentagerennens braucht, ist das Ziel, das Gewicht des Gepäcks auf ein Minimum zu reduzieren. Für mich heißt das, dass ich die Kleidung nicht wechsle und keine Schlafmatte, keine Bücher und kein Smartphone mitnehme, um am Ende einer Etappe Unterhaltung zu haben. Alles, was ich dabeihabe, ist ein Schlafsack, ein einziger Satz an Kleidung und das absolute Minimum an Nahrung, mit dem ich über die Runden komme. Ich rechne mit zweitausend Kalorien pro Tag, obgleich ich weiß, dass ich eher an die fünftausend Kalorien verbrennen werde. Wenn ich nach Hause komme, sehe ich aus wie der wandelnde Tod, doch ein leichterer Rucksack ist mir das wert.

Später am Tag wurden wir in einen Bus verfrachtet und einige Stunden aus der Stadt hinaus dorthin gebracht, wo der eigentliche Marathon starten sollte. Ich unterhielt mich ein wenig mit meinem Nebenmann, aber meistens verhielt ich mich ruhig und versuchte, den Lärm auszublenden, den drei Typen aus Macau hinter mir mit ihrem Gelächter und ihrem lauten Gerede die ganze Fahrt über veranstalteten. Ich drehte mich ein paarmal mit einem halbwegs freundlichen Lächeln in der Hoffnung um, dass die drei meinen dezenten Hinweis verstanden, doch mal die Klappe zu halten. Sie grinsten einfach zurück und setzten ihre Party hinter mir fort. Als wir anhielten, hatte ich die Nase ziemlich voll und hoffte wegzukommen, um ein stilles, abgeschiedenes Plätzchen zu finden, an dem ich mich mental auf das bevorstehende Rennen vorbereiten konnte.

Die Einheimischen führten in einer malerischen Veranstaltung ihre Volkstänze und Reitkünste vor, einschließlich eines Spiels, das wie Polo aussah, nur dass es mit einem toten Schaf gespielt wurde. Ich stahl mich davon und suchte das Zelt, in dem ich schlafen sollte, um mir dort meinen Platz zu sichern. Bei den meisten Etappen-Marathons werden den Läufern für die gesamte Dauer des Rennens feste Mitinsassen in ihrem Zelt zugeteilt. Man weiß nie, was man bekommt, aber wenigstens kann man dafür sorgen, dass man nicht auf einem fürchterlichen Schlafplatz hängen bleibt.

Ich stand in dem alten, ausgedienten Militärzelt und überlegte, wo ich mich niederlassen sollte. Wegen der Zugluft mochte ich nie gern nahe der Tür sein, und am hinteren Ende des Zelts wurde es oft ein wenig zu kalt. Ich beschloss, es zu riskieren und einen Platz in der Mitte zu nehmen, wobei ich hoffte, dass meine Mitcamper mich nicht mit ihrem Schnarchen oder ihrer Unruhe wach hielten.

Ich überprüfte ein letztes Mal meine Ausrüstung, als die ersten drei Zeltgenossen eintrafen. Sie sahen ganz vernünftig aus und suchten sich in Ruhe ihre Plätze.

Mir rutschte allerdings das Herz in die Hose, als ich draußen Gelächter hörte. Ich blickte auf und sah, wie die drei Leutchen aus Macau hereinkamen.

Obwohl es Sommer war, wurde es spürbar kälter, als die Sonne allmählich unterging. Das örtliche Gemeindeoberhaupt hielt eine Rede, die ich nicht verstand, aber die wunderschönen mongolischen Tänze und die halsbrecherischen Reitvorführungen genügten, um meine Aufmerksamkeit eine Weile zu fesseln. Einige der Läufer saßen da und aßen ihr Abendessen, ich wanderte lieber etwas umher. Dem Kamerateam von Tommy Chen zuzuschauen lenkte mich ab, doch schon bald dachte ich daran, zum Zelt zurückzukehren. Wenn die Leute anfangen, sich gegenseitig zu fragen, in welchen Schuhen sie laufen, wie viel ihr Gepäck wiegt oder ob sie noch Extra-Proviant dabeihaben, ist das für mich das Stichwort zu verschwinden.

Sich einen Tag vor dem Rennen in solche Gespräche verwickeln zu lassen, ist nie eine gute Idee. In dem Augenblick, da man erfährt, dass jemand etwas anders macht, kommen einem nur Selbstzweifel.

Ich sah auf die Uhr. Halb sieben – Essenszeit. Auch wenn es schwerfällt zu warten, wenn man nervös ist und es schon dunkel wird, achte ich immer darauf, am Tag vor dem Rennen zur richtigen Zeit zu essen. Man will ja nicht, dass der Körper, wenn man zu früh isst, bereits die Kalorien verbraucht hat, ehe der Lauf tatsächlich losgeht.

Ich kroch mit meinem Essen in den Schlafsack und nahm in Ruhe meine Mahlzeit zu mir.

Ich sah zu, dass ich einschlief, bevor jemand von den anderen zurückkam.

3. KAPITEL

Am ersten Tag bei diesen Rennen stehen die Leute immer viel zu früh auf. Die Nervenbelastung ist zu hoch. Zwei oder drei Stunden vor dem Start summt das Camp bereits vor Betriebsamkeit, weil die Teilnehmer ihren Rucksack aus- und wieder einpacken, etwas essen, reden und sich darüber Gedanken machen, ob sie richtig gepackt und zur richtigen Zeit die richtige Menge zum Frühstück zu sich genommen haben.

Ich kann’s verstehen. Mir ist das selbst schon so gegangen. Aber so verfahre ich nicht mehr. Ich habe da eine wohlerprobte Routine.

Start in neunzig Minuten: Aufwachen, anziehen, zur Toilette gehen.

Start in sechzig Minuten: Sich im Zelt warm halten, ein kalorienreiches Frühstück.

Start in fünfzehn Minuten: Schlafsack und Luftmatratze einrollen, das Zelt verlassen und sich zur Startlinie begeben.

Jedem Betrachter von außen erscheint die letzte Stunde meiner Vorbereitung wohl ein wenig seltsam. Ich bleibe so lange in meinem Schlafsack, bis es Zeit wird aufzubrechen, und esse dort mein Frühstück aus der Konservendose, das für den ganzen Tag reichen soll. Während alle anderen draußen schon herumhüpfen und ihre Trockennahrung verspeist haben, liege ich eingerollt im Warmen, die Baumwollmütze fest über den Kopf gezogen und löffele kalte Bohnen, Würstchen, Bacon und Pilze aus der Dose. Ich ernte ein paar Seitenblicke, weil kein Läufer eines Etappen-Marathons, der noch bei Trost ist, jemals Konserven mit sich herumschleppen würde. Sie haben ein zu hohes Gewicht. Aber ich nehme genau eine Dose mit, deren Inhalt ich aufesse, bevor das Rennen startet. Die vierhundertfünfzig Kalorien sind mir die amüsierten Blicke wert, wenn die Leute mich befremdet anstarren und sich fragen, was für ein Amateur ich wohl bin.

Mir schmeckt das besonders gut, da ich weiß, dass ich die nächsten sechs Tage nichts anderes zu essen bekomme als kaltes Trockenfutter, das mal nach Lachs und mal nach Nudeln mit Bolognese schmeckt, hin und wieder einen Bissen Biltong – getrocknetes Räucherfleisch aus Südafrika –, ein paar Nüsse und Dutzende von Energie-Gels. Noch bevor die Woche zu Ende ist, werde ich diese Art Nahrung gründlich satthaben, aber sie ist leicht und belastet meinen Rucksack nicht.

Ich genoss jeden Bissen. Die drei Jungs aus Macau konnte ich nirgends entdecken, doch ich merkte, dass der Rest meiner Mitbewohner – zwei Briten und ein Amerikaner – mich anstarrten, als hielten sie mich für einen ahnungslosen Trottel. Keiner sagte ein Wort, und als ich mit dem Essen fertig war, legte ich mich wieder hin und rollte mich in meinem Schlafsack zusammen, so fest es ging. Ich vermute, dass die anderen mich weiterhin anstarrten.

Als noch eine Viertelstunde Zeit war, kroch ich aus dem Schlafsack, packte meine Sachen in den Rucksack und begab mich zur Startlinie. Wie zu erwarten war, starrten die Leute mich auch hier an. Das passiert mir jedes Mal, wenn sie mich am ersten Tag kommen sehen. Mein hautenges Trikot ist leuchtend gelb und trägt das Logo meines Sponsors. Und da ich lang und dünn bin, gleiche ich einer Banane.

In Momenten wie diesen bin ich immer etwas verlegen. So sehr ich mich auch dagegen wehre, läuft es darauf hinaus, dass ich denke, alle anderen am Start sehen besser aus als ich, sind fitter, stärker, mehr wie Ausdauerathleten, während ich mir in diesem Feld vorkomme wie der Hampelmann.

Die einzige Möglichkeit, damit fertigzuwerden, ist, die Zähne zusammenzubeißen, sich hinter der Sonnenbrille zu verstecken und sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren.

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