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99 beste Schweizer Bücher

Als Buch hier erhältlich:

Die »99 besten Schweizer Bücher« werden jeweils auf einer attraktiv aufgemachten Doppelseite in Wort und Bild vorgestellt: über eine Kurzbesprechung mit Angaben zur Schriftstellerin oder zum Schriftsteller, weiteren Lesetipps, einer unerwarteten Fußnote sowie über ein Bild, das direkt anspricht und auf der Bildebene Zugang zum Text ermöglicht. Zudem werden die Texte über Schlagworte oder Hashtags miteinander verbunden, so dass plötzlich unerwartete Bezüge entstehen zu Heimat, Emanzipation, Krieg, Verbrechen, Gewalt, Natur, Kunst oder Geschichte. Die 99 Werke bekannter und unbekannter Schriftsteller werden präsentiert mit hochwertigen Abbildungen, Fotos, Zeichnungen und Plakaten und sollen das Interesse und die Lust an Texten von Autorinnen und Autoren wecken, die in allen vier Landesteilen der Schweiz beheimatet sind.


  • Erscheinungstag: 21.09.2020
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011773
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Pascal Ihle Christine Lötscher Sonja Lüthi Thomas Ribi Sandra Valisa

99 beste Schweizer BÜCHER

Literarische Coups de coeur

Vorwort

Liebeserklärung an die Schweizer Literatur

Was gibt es eigentlich für Schweizer Bücher ausser Heidi? Die Frage sitzt. Wir essen in einem gemütlichen Restaurant in Dublin mit vier Frauen aus London und Stockholm. Sie arbeiten in der Finanz- und in der Kommunikationsbranche, in ihrer Freizeit lesen sie gern. Die Stimmung ist lebhaft, vergnügt, wir sprechen über Literatur, über Länder – aber die Frage steht im Raum.

Die ersten Namen, die wir einwerfen, lösen keine Reaktionen aus: Frisch und Dürrenmatt, zwei Klassiker. Kopfschütteln bei Glauser, immerhin einer der grössten Kriminalschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Auch Pascal Mercier nicht, dessen »Nachtzug nach Lissabon« mit dem Hollywoodstar Jeremy Irons verfilmt wurde als »Night Train to Lisbon«. Ebenso Fehlanzeige beim Westschweizer Monument Charles Ferdinand Ramuz, den Abenteurerinnen und Weltenbummlerinnen Anne-Marie Schwarzenbach und Ella Maillart. Dann folgt ein Staunen: »Was, Madame de Staël ist Schweizerin? Und Joël Dicker ebenfalls...«

Zurück in Zürich lässt uns die Irritation aus Dublin nicht mehr los. Wie verankert ist die schweizerische Literatur eigentlich bei uns in der Schweiz? Welche Autorinnen und Autoren kennt und liest man? Zu fünft debattieren wir, tauschen uns aus über unsere Leseerfahrungen und über Bücher, die wir für wichtig halten, die uns geprägt haben. Wir sprechen mit Literaturvermittlern, Schriftstellerinnen, Bibliothekarinnen, Buchhändlern, Professorinnen, Journalisten und Viellesern und kommen zu zwei Schlüssen: Die Literatur, die in der Schweiz geschrieben wird und geschrieben wurde, ist eine wahre Fundgrube an Geschichten und Figuren, die viel über dieses Land, seine Entwicklung, seine Besonderheiten und die Menschen aussagt, die hier leben und gelebt haben. Sie ist reich an künstlerischen Verfahren: Manche Texte sprühen vor Experimentierlust und schlagen Funken aus der Sprache, andere haben einen langen epischen Atem. Aber, und dies ist die zweite Erkenntnis, die Schweizer Literatur ist auch hierzulande viel zu wenig bekannt. Ausser den Klassikern und den aktuellen Bestsellern kennt man diesen literarischen Reichtum kaum. Blickt man in die anderen Landesteile und Sprachregionen, ist das Ergebnis noch ernüchternder.

Diese Erkenntnis mag frustrierend sein. Umso mehr, als es immer wieder Literaturwissenschaftler und Kritikerinnen gibt, die sich mit grossem Engagement für Texte aus der Schweiz einsetzen. Uns hat die Erkenntnis motiviert, es auf eine andere Art zu versuchen. Als passionierte Leserinnen und Leser lassen wir uns von unserer Leidenschaft leiten und weisen auf eine Auswahl von Büchern aus der ganzen Schweiz hin, die es zu lesen und wiederzuentdecken gilt. Schicksale, Empfindungen, Gedanken, Geschichten oder Stimmungen aus der Gegenwart und der Vergangenheit, die zu uns sprechen, uns packen, deren Stimmen zur Vielfalt und zum besseren Verständnis dieses Landes beitragen.

So ist dieses Buch »99 beste Schweizer Bücher« entstanden. Es ist eine Liebeserklärung an die Schweizer Literatur. Aus den Aberhunderten von Werken haben wir 99 der letzten 250 Jahre herausgepickt, die nichts an ihrer Aktualität eingebüsst haben und uns heute berühren. Nach dem Prinzip der Leselust oder des »Coup de coeur« haben wir 99 Bücher aus der deutschsprachigen, der französischen, der italienischen und der rätoromanischen Schweiz ausgesucht: Romane, Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Reportagen, Bilderbücher und Comics, die durch Qualität, Kreativität, Originalität und Zeitlosigkeit bestechen. Geordnet haben wir sie chronologisch nach dem Erscheinungsjahr in der Originalsprache.

Vielleser wie junge Einsteigerinnen sollen auf ihrer Entdeckungsreise auf Unerwartetes, Klassisches und Kostbares stossen. Hervorragende Bücher, welche die Fülle des literarischen Schaffens in und aus der Schweiz aufzeigen. Im Zentrum der Auswahl steht die literarische Qualität, doch wir fünf Autorinnen und Autoren lassen uns von unserer Leselust leiten. Die Bücher müssen packen, erschüttern, erfreuen oder eben ein »Coup de coeur« sein. »99 beste Schweizer Bücher« ist weder Literaturkanon noch nüchternes Nachschlagewerk. Es ist Fundgrube und Inspirationsquelle zugleich. Die 99 Bücher stammen von 99 Autorinnen und Autoren, einige sind bekannt, andere unbekannt. Es handelt sich um eine Auswahl, die nie vollständig sein kann und will, die aber dazu animieren soll, zu lesen und sich selbst auf die Suche zu machen. Einige bekannte Werke haben wir zugunsten von Entdeckungswürdigem weggelassen.

Die 99 Coups de coeur zeugen von unterschiedlichen literarischen Vorlieben der Heraus­geberinnen und Herausgeber, es sind subjektive Empfehlungen. Und dennoch ergibt sich ein ganzes Netzwerk von Verbindungen zwischen Texten und Figuren, Schauplätzen und Motiven, literarischen Verfahren und sprachlichen Experimenten. Drei Essays nehmen diese Bezüge auf und geben ein paar neue, unerwartete Einsichten zur Schweizer Literatur.

Das Bild erhält in »99 beste Schweizer Bücher« einen ebenbürtigen Stellenwert. Der literarische Zugang soll über die Kurzbesprechung und einen inspirierenden, aussagekräftigen visuellen Zugang – Porträts, Fotografien, Zeichnungen, Zeitzeugnisse, Handschriften, Erstausgaben – ­ermöglicht werden.

Das vorliegende Buch ist der Auftakt einer literarischen Spurensuche. Auf der Onlineplattform #büCHerstimmen (www.bücherstimmen.ch) setzen wir die mit dem Buch begonnene Reise fort. Zu den 99 besten Schweizer Büchern aus den letzten 250 Jahren werden viele weitere hinzukommen: schlafende wie berühmte. Eines haben sie aber alle gemeinsam: Sie sind literarische »Coups de coeur« aus der Schweiz.

Pascal Ihle, Christine Lötscher, Sonja Lüthi, Thomas Ribi, Sandra Valisa

Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart vor der Abreise nach Afghanistan, Genf, 6. Juni 1939

REISE INS UNGEFÄHRE

Reale Räume, imaginäre Landschaften

Am Anfang steht eine zufällige Begegnung. Zwei Frauen treffen sich, sind fasziniert voneinander. Sie sind unkonventionell und unangepasst, neugierig und weltoffen. Schriftstellerinnen, Abenteurerinnen und Intellektuelle. Sie wollen die Welt erkunden, Grenzen überschreiten, neue Landstriche und Völker kennenlernen, in andere Kulturen vordringen, und sie wollen schreiben.

Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach brechen am 6. Juni 1939 über die Türkei und Iran auf nach Afghanistan. Die Reise verläuft anders als erwartet, ist aber hochproduktiv. Sie ­dokumentieren ihre Erlebnisse, Beobachtungen und Eindrücke in Artikeln, Fotografien und Büchern, die als Klassiker der Reise- und der Schweizer Literatur gelten. Die äusseren und die ­innere Räume, die Gegenwart und die Vergangenheit, die Welt und die Schweiz legen sich wie filigrane Schichten übereinander und durchdringen die Texte.

»Der bittere Weg« und »Das glückliche Tal« sind gleichsam Sinnbild für unsere subjektiv gefärbte Reise durch 250 Jahre Schweizer Literatur. Diese handelt von Auf- und Ausbrüchen, vom Erkunden bekannter und unbekannter Landschaften, realer und fiktiver Orte, von starken Figuren und kleinen Menschen, Heldinnen und Versagern, Zweiflern und Verzweifelten. Sie beobachten und handeln, erzählen und erinnern sich in den vier Landessprachen. Ihre Wege führen aus der Schweiz, durch die Schweiz oder in die Schweiz.

Der Genfer Rodolphe Töpffer, der Erschaffer der ersten Comics im frühen 19. Jahrhundert, schickt den weltfremden, vergeistigten Gelehrten Dr. Festus auf eine abenteuerliche Reise. Ihm widerfährt derart viel Wunderliches und Abstruses, dass er am Ende nicht mehr weiss, ob das ­alles wahr oder bloss erträumt ist. Ebenso fantastisch sind Tim Krohns »Quatemberkinder«, die sich in Tiere verwandeln können. Das Glarnerland wird zu einem flirrenden, leuchtenden Fabelland, das vom Teufel, von Hexen und sonstigen Wunderwesen bevölkert wird.

Wir kreuzen die Wege des Hasardeurs Johann August Sutter, der in Blaise Cendrars’ »Gold« Hals über Kopf Familie und Heimat verlässt, in den USA sein Eldorado findet und alles wieder verliert. Wir begegnen dem mittelalterlichen, angsteinflössenden Raubritter »Kurt von Koppigen«, den Gotthelf in seiner wuchtigen und schwarzhumorigen Sprache durch die Hölle treibt, bevor er ihn seine Erlösung finden lässt. Der Abenteurer und Reiseschriftsteller Nicolas Bouvier phantasiert in Ceylon, geschwächt von Gelbsucht, Amöbiasis und Malaria, in Fieber- und Albträumen über seine Mutter, die Kindheit, seine Freunde und spricht mit Insekten. Eine besondere Begabung, die Umgebung in all ihren Ziselierungen wahrzunehmen, haben die grossen Kommissare der Schweizer Literatur: Studer, Bärlach und Hunkeler. Sie erkunden die Tatorte bedächtig zu Fuss oder mit dem Motorrad, versuchen zu verstehen, wie Landschaft und Siedlung die Menschen und ihre dunklen Seiten prägen. In Corinna Billes Erzählung »Schwarze Erdbeeren« entpuppen sich die betörende Berglandschaft als gefährlicher, mörderischer Raum, in dem eine Frau zwei Geliebte in den Wahnsinn treibt und selbst in den Abgrund stürzt. In ­Ramuz’ »Grosse Angst« fordern junge Dörfler, die entgegen dem Rat der Alten eine verlassene, verfluchte Alp erklimmen, die Naturmächte heraus, und diese löschen Mensch, Vieh und Dorf aus. Eine Apokalypse.

Die erhabene Natur dient gerne auch als Erinnerungs- und Projektionsraum. Wenn Catherine Colomb im »Spiel der Erinnerung« drei Generationen einer Winzerfamilie am Genfersee beschreibt, lösen sich Rebberge und Ereignisse auf, verweben sich zu einem eigenen, experimentellen Ort ohne Zeit und Raum. In Noëlle Revaz’ »Von wegen den Tieren« kontrastiert das bäuerliche Idyll mit Hof, Kühen und Ackern den primitiven Besitzer Paul, der seine Frau und die Kinder wie einen Haufen Dreck behandelt. Ebenso drastisch ist der Gegensatz in Beat Sterchis »Blösch«. Die gleichnamige Kuh symbolisiert die perfekte Harmonie zwischen Mensch und Natur, fern jeglicher zerstörerischen Zivilisation sowie das maschinelle Töten im Schlachthof, das in einem Blutrausch endet.

In »Heidi« steht die verklärte Bergwelt für eine romantische, idealtypische Schweiz, die Grossstadt für einen entmenschlichten Moloch der Moderne. Dabei sind es gerade die Städte, in denen Wege sich kreuzen, Aufbrüche, Umbrüche und Zusammenbrüche erst möglich werden. Hugo Ball lässt den Variétédirektor Flametti eine ekstatische Aufführung in Zürich auf die Bühne bringen. Während die Welt im Ersten Weltkrieg aus den Fugen gerät, erleben wir im Cabaret »Krokodil« eine musikalische und sprachliche Orgie, die die bürgerlichen Konventionen kurzerhand über Bord wirft. Auch Meinrad Inglin seziert im »Schweizerspiegel« die herrschenden Konventionen. Die altehrwürdige Zürcher Familie Ammann zerbricht im Ersten Weltkrieg an den einstürzenden Werten und Vorstellungen.

In der Schweiz, der vermeintlich neutralen und vom Krieg verschonten Insel inmitten Europas, prallen Philosophien, Ideologien und Ausläufer der Weltmächte aufeinander. Germaine de Staël, die von Napoleon höchstpersönlich aus Paris verbannt wurde, erzählt in ihrem ergreifenden Briefroman »Delphine« von einer selbstständigen, intellektuellen Frau zur Zeit der Französischen Revolution, die wegen einer unmöglichen Liebe und weil sie den Konventionen nicht entspricht, über neue Gesellschaftsnormen und die Freiheit sinniert und in die Schweiz flüchtet. Albert Cohens »Die Schöne des Herrn« spielt 1935 im calvinistischen und internationalen Genf. Der Protagonist Adrien, ein Beamter im Völkerbund, befasst sich derart pedantisch und egozentrisch mit seiner Karriere und seinem Aussehen, dass er die Vorboten des aufziehenden Faschismus und Weltkriegs ebenso wenig bemerkt, wie die Untreue seiner Frau und das Auflösen der Traditionen.

Die Genferin Yvette Z’Graggen lässt in den 1980er-Jahren ihre Genfer Zeit während des Zweiten Weltkriegs in einer schonungslosen, berührenden Selbstreflexion Revue passieren und ist fassungslos, dass sie damals nichts von der Judenvernichtung und der restriktiven Schweizer Flüchtlingspolitik mitbekam. Charles Lewinsky erzählt in «Gerron» die Geschichte des in den 1920er und frühen 1930er-Jahren gefeierten Schauspielers und Sängers, der als jüdischer Künstler flüchten musste und im Konzentrationslager Theresienstadt vor die grosse Gewissensfrage gestellt wird: Mit den Nazis für einen Propagandafilm zu kollaborieren und zu hoffen – oder sofort zu sterben. Ein moralisches Dilemma.

Der Schriftsteller und Journalist Niklaus Meienberg klagt in seiner polemischen, wortgewaltigen Reportage »Es ist kalt in Brandenburg« die offizielle Schweiz während des Zweiten Weltkriegs an, die den jungen Hitler-Attentäter Maurice Bavaud fallen liess. Ebenso gnadenlos beurteilt Lukas Bärfuss die Schweiz und ihre Rolle 1994 während des Genozids in Ruanda. Sein fulminanter, sprach- und bildmächtiger Roman rechnet mit der Entwicklungszusammenarbeit ab – und hat die offizielle Schweiz empört. Literatur bewegt die Schweizer Politik und Öffentlichkeit.

Mit seinem neunteiligen Zyklus »Manifest des Ungewissen« hat der feinfühlige Dichter und Zeichner Frédéric Pajak ein literarisches, philosophisches und künstlerisches Meisterwerk geschaffen. Er stellt sich immer wieder die Frage, weshalb die Manifeste des Faschismus, des Kommunismus und des Kapitalismus ihre grossen Versprechen an die Zukunft und Hoffnungen nicht einlösen konnten. An den Ideologen zerbricht auch Sibylle Bergs berührender Protagonist Toto. Er ist hässlich, liebenswert, ein Hermaphrodit, ausgestattet mit einer wunderbaren Stimme, geht aber in »Vielen Dank für das Leben« an der Bosheit und der Brutalität der Menschen zugrunde. Messerscharf und schonungslos erzählt Agota Kristof in »Das grosse Heft«, was der Faschismus und der Kommunismus zwei Brüdern angetan hat – eine Höllenfahrt.

Was sagt diese literarische Reise, die mit Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart begonnen hat, über die Schweiz und ihre Literatur? Dass die vielen Stimmen, Beobachtungen, grossen und kleinen Dramen, die in realen wie imaginären Räumen und Landschaften aufeinandertreffen, unser literarisches Grundwasser bilden. Und dass diese Reise deshalb auch anders hätte beginnen können, mit Robert Walsers »Spaziergang«, Leta Semadenis »In meinem Leben als Fuchs« oder mit Jean-Jacques Rousseau. Zwei Monate lebte der Träumer, Philosoph und Schriftsteller auf der fast menschenleeren St. Petersinsel in Einklang mit der Natur. Seine einsamen Spaziergänge, seinen inneren Reisen gehören zum Schönsten, was je über die Schweiz geschrieben wurde.

Bronzeskulptur des denkenden Rousseau von J. Pradier aus dem Jahr 1835

1782
Jean-Jacques Rousseau

Träumereien eines einsamen Spaziergängers, Fünfte Träumerei

Das Glück währte zwei Monate. Nicht einmal ganz. Anfang September 1765 zog sich Jean-­Jacques Rousseau auf die Isle de la Motte zurück, die St. Petersinsel im Bielersee. Ende Oktober musste er sie wieder verlassen – den Ort, der ihm zum schönsten der Welt geworden war. Der Geheime Rat von Bern hatte die Ausweisung verfügt, und der Amtmann von Nidau hatte klargemacht, dass er den Entscheid gegen Widerstände durchsetzen würde. Da konnte niemand mehr helfen. Auch Friedrich der Grosse nicht, der Rousseau das Bürgerrecht in Neuchâtel verliehen hatte, das damals unter preussischer Herrschaft stand.

Drei Jahre schon war der in Genf geborene Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist auf der Flucht, als er auf der St. Petersinsel ankam. Sein Traktat über den Gesellschaftsvertrag und der Roman »Émile« waren nach dem Erscheinen 1762 in Ungnade gefallen. Die Sorbonne hatte sie verurteilt, das Parlament von Paris verboten. In Montmorency bei Paris konnte Rousseau nicht länger bleiben, Yverdon, wo er bei einem Freund unterkam, musste er auf polizeiliche Anordnung hin nach wenigen Tagen verlassen, in Môtiers im Val-de-Travers fand er für zweieinhalb Jahre eine Bleibe – bis die Bevölkerung ihn vertrieb. Man machte dem Fremden, der sich in wallende Gewänder kleidete und auch sonst die eine oder andere Extravaganz pflegte, unmissverständlich klar, dass man ihn nicht länger im Städtchen dulden wollte. Er wurde auf der Strasse angerempelt, nachts flogen Steine durch die Fensterscheiben seines Hauses.

Weg also, aber wohin? Der Haftbefehl, der in Paris ausgestellt worden war, hatte nach wie vor Gültigkeit. Und rundherum war Feindesland, nicht einmal in seine Geburtsstadt Genf, wo er das Bürgerrecht besass, konnte Rousseau noch reisen. Auch dort hatte man seine Schriften verbrannt. Auf Gnade konnte ihr Verfasser nicht rechnen. Angebote, nach England oder Schottland zu ziehen, lehnte Rousseau ab.

»Meine Liebe zur Schweiz war so gross«, schrieb er später in den »Bekenntnissen«, »dass ich mich nicht entschliessen konnte, sie zu verlassen«. Die St. Petersinsel, die er ein Jahr zuvor auf ­einer Wanderung kennengelernt hatte, schien die Rettung, das ideale Asyl.

Ein Ort, wie gemacht für einen, für den es nirgends mehr einen Platz zu geben schien. Ein abgeschiedenes Stück Welt, fast menschenleer, an dem ein zur Einsamkeit Verurteilter in Einklang mit der Natur leben konnte. Sechs Wochen nur waren Rousseau vergönnt auf der Insel, aber er schildert sie als Vorahnung des Paradieses. Wer die St. Petersinsel heute besucht, wird ihn verstehen. Viel hat sich seit damals nicht verändert. Die in verzückter Begeisterung verfasste Beschreibung ohne Zeit und Ziel verlebter Tage, die Rousseau in den »Bekenntnissen« und in der »Fünften Träumerei eines einsamen Spaziergängers« gibt, gehören zum Schönsten, was über die Schweiz geschrieben wurde. Die Tage am Bielersee seien die seligste Zeit seines Lebens gewesen, schreibt Rousseau. Eine ganze Ewigkeit hätte er dort am liebsten verbracht. Und er hätte sie verbringen können, ohne sich auch nur einen Augenblick zu langweilen.

Lebensdaten 1712 (Genf) – 1778 (Ermenonville / Frankreich)

Originaltitel »Les rêveries du promeneur solitaire«

Lesetipps »Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts« (1762), »Die Bekenntnisse« (1782), »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« (1782)

Fussnoten »Zurück zur Natur«: So oft der kategorische Imperativ des einfachen Lebens auch zitiert wird: Jean-Jacques Rousseau selbst hat ihn nirgends so formuliert. Die Kritik, dass Gesellschaft, Kultur den Menschen aus seinem natürlichen Dasein reissen und damit sich selbst entfremden, ist allerdings ein Grundgedanke seiner Anthropologie. In der »Fünften Träumerei eines einsamen Spaziergängers« findet die Sehnsucht nach einem Leben in der Natur und das Verzweifeln an einer Welt, die das nicht zulässt, auf traumhaft entrückte Weise Ausdruck.

# Natur

# Heimat

# Ausbruch

Salon von Madame de Staël (Mitte) im Schlosspark wie in Coppet, Kupferstich von Debucourt

1802
Germaine de Staël

Delphine

Das 19. Jahrhundert beginnt mit einem literarischen Paukenschlag. Germaine de Staël, die als Madame de Staël in die Geschichte eingehen wird, publiziert 1802 in Paris ihren Brief­roman »Delphine«, ein Bestseller. Dieser erzürnt Napoleon derart, dass er die Autorin aus der französischen Metropole verbannt. De Staël, laut dem einflussreichen Politiker, Minister und Königsmörder Joseph Fouché die »ausserordentlichste Frau des Jahrhunderts«, positioniert sich in ihrem Erstlingsroman als unerschrockene Intellektuelle, liberaler Geist, Feministin und Schriftstellerin. Mit »Delphine« trifft sie die aristokratische Elite, durch die Aufklärung und Revolutionswirren verunsichert, ins Mark. De Staël schreckt nicht davor zurück, den gesellschaftlichen, moralischen und religiösen Zustand Frankreichs zu kritisieren.

Diese Kritik übt de Staël mit viel Esprit und feiner literarischer Feder. Die Hauptperson Del­phine wird jung Witwe, erbt ein Vermögen und führt fortan ein finanziell und geistig unab­hängiges Leben. Sie ist grosszügig und grossherzig, trifft Gleichgesinnte in den Salons, räsoniert über Rousseau und die Ideen der Aufklärung, welche die meisten nicht nachvollziehen können, und sie lernt Léonce kennen. Beide verlieben sich unsterblich ineinander. Doch gelingt es ihnen nicht, aus den Konventionen der Aristokratie ganz auszubrechen. Intrigen – Léonce heiratet Delphines Cousine Matilde – und Missverständnisse verunmöglichen das grosse Glück. Jeder Moment der Hoffnung wird gleich wieder zerstört.

Die Revolutionsjahre 1790 bis 1792, in denen der vielschichtige Roman spielt, sind eine Zeit der Umbrüche. Die Geschichte Delphines und ihres Umfelds wird in Briefen und so aus wechselnden Perspektiven erzählt. De Staël räumt den Gefühlen und seelischen Zuständen der Pro­tagonisten viel Raum ein. Man staunt, wie sehr ein Gemälde oder ein Musikstück eine Person aufs Tiefste berührten, und welche Kaskade an Empfindungen ein Blick oder ein Brief auszu­lösen vermag.

Die Revolution rüttelt an den Fundamenten der Gesellschaft und findet nur langsam ihren Weg in die Salons und Palais. Die Aristokratie klammert sich an ihr historisches Selbstbewusstsein, will die seismographischen Erschütterungen nicht wahrhaben, bis der konservative Léonce beschliesst, sich den Konterrevolutionären anzuschliessen. Die Welt gerät aus den Fugen. Delphine flüchtet ins Kloster. Erst jahrelange Umwege über Genf, Lausanne, Zürich, Schaffhausen und Baden bringen die beiden in Verdun wieder zusammen. Die letzten, tragischen Szenen des umfangreichen Romans werden die Leserin und der Leser nie mehr vergessen – wie Léonce von Revolutionären erschossen wird, und sich Delphine vergiftet.

Die intellektuelle Radikalität der Schriftstellerin de Staël ist neu. Sie lässt sich in ihren Schriften und aufwühlenden Romanen von den aufklärerischen Idealen der Freiheit leiten. Entsprechend gross ist »Delphines« Einfluss auf die Literatur im 19. Jahrhundert.

Lebensdaten 1766 (Paris / Frankreich) – 1817 (Paris / Frankreich)

Lesetipps »Corinne ou L’Italie« (1807; Corinne oder Italien); »De l’Allemagne« (1813; Über Deutschland); »Considérations sur la Révolution française« (1818 posthum; Betrachtungen über die vornehmsten Begebenheiten der Französischen Revolution)

Fussnoten Germaine de Staël ist die Tochter des schwerreichen Genfer Bankiers Jacques Necker, der in der letzten Phase des Ancien Régime Minister des französischen Königs Louis XVI. ist. Die Familie Necker besitzt ein Schloss in Coppet (Genf), das für Germaine de Staël immer wieder als Zufluchtsort für kürzere und längere Aufenthalte dient, vor allem bei ihrer Verbannung aus Paris während der Französischen Revolution und des Ersten Konsulats unter Napoleon.

# Liebe

# Emanzipation

# Ausbruch

# Geschichte

# Freiheit

Missgeschick des Doktor Festus mit einer Windmühle

1829/1840
Rodolphe Töpffer

Die Reisen und Abenteuer des Doktor Festus

Doktor Festus, ein verträumter und etwas verwirrter Gelehrter, der 21 Sprachen spricht und Tausende von Büchern gelesen hat, macht sich auf eine Reise, um die wirkliche Welt zu entdecken. Sein Abenteuer beginnt schon nach wenigen Schritten. In einer Herberge verwechselt er das Zimmer und übernachtet irrtümlicherweise in einem Überseekoffer. Der Deckel schliesst sich während der Nacht, weil Festus durch sein Schnarchen einen Durchzug verursacht. Zwei Diebe dringen ins Zimmer und stehlen den Koffer, in dem Doktor Festus friedlich schläft.

So beginnt eine skurrile, höchste amüsante Bildergeschichte, die von Witz und Esprit nur so sprüht. Es finden allerlei Verwechslungen statt. Männer irren in Frauenkleidern umher, Bäume und Mehlsäcke beginnen zu sprechen. Einem Bürgermeister kommen seine Bewohnerinnen und Bewohner abhanden.

Astronomen bilden sich ein, einen neuen Planeten entdeckt zu haben, und streiten auf einem gigantischen Fernrohr, das durch die Luft katapultiert wird, über ihre Thesen und Beobachtungen. Ein Hochseeschiff explodiert. Acht Schweine fliegen durch die Luft. Ein Geistlicher und seine Gläubigen werden durch eine Teufelserscheinung in die Flucht geschlagen. Man staunt, was Doktor Festus aufgrund einer simplen Verwechslung alles widerfährt und was er alles auslöst. Und man staunt über die grenzenlose Phantasie und den Ideenreichtum seines Schöpfers Rodolphe Töpffer.

Mit seinen Bildergeschichten hat er eine neue Art von Literatur geschaffen: den Comic, als dessen Urvater er gilt. Sein Erfolg war gewaltig, seine Geschichten wurden überall in Europa übersetzt und nachgedruckt. Die Bilder sind einfach, liebevoll und ausdrucksvoll gezeichnet, die Texte knapp und voller Witz. Die Hauptfiguren tauchen in »Doktor Festus« immer wieder auf, ihre Wege kreuzen sich. Einmal landen drei von ihnen in der gleichen Gefängniszelle. Die abenteuerliche und unterhaltsame Reise ist derart magisch und surreal, dass man nicht weiss, ob man träumt oder nicht. So geht es auch Doktor Festus. Er wacht am Ende in seinem Bett auf und ist verblüfft über den schönen Traum.

Lebensdaten 1799 (Genf) – 1846 (Genf)

Originaltitel »Voyages et aventures du Dr Festus« (1829) als Roman mit Zeichnungen und 1840 als Bildergeschichte

Lesetipps »Les Amours de Monsieur Vieux-Bois« (1827), »Histoire de Monsieur Jabot« (1833), »Histoire du Monsieur Cryptogame« (1845)

Fussnoten Rodolphe Töpffer gilt als Urvater des Comics. Niemand Geringerer als Goethe hat seinen Genfer Freund dazu ermuntert, die Bildergeschichten zu publizieren. Als Goethe die 1829 erschienene Faust-Parodie »Dr Festus« gelesen und andere Bildergeschichten Töpffers gesehen hatte, drängte er ihn, diese zu veröffentlichen: »Es ist wirklich toll! Es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich!«

# Abenteuer

# Suche

# Reise

# Satire

Buchumschlag, gestaltet von Rudolf Münger, 1904

1844
Jeremias Gotthelf

Kurt von Koppigen

Wir befinden uns in der Mitte des 13. Jahrhunderts, in der Zeit des Interregnums, als in weiten Teilen der Schweiz das Faustrecht herrschte. Kurt, der Sohn eines stolzen Edelmanns und Ritters, wird beim Raub einer Kuhherde erschlagen. Er hinterlässt eine Frau, Grimhilde, einen Sohn und das kleine Schlösslein von Koppigen am Weg von Burgdof nach Solothurn. Die Witwe, einst Gräfin, die von ihrer alten Herrlichkeit nichts mehr besitzt als Hochmut, diesen dafür umso greller zur Schau trägt, ist verbittert über ihr Los. Unbarmherzig gegenüber der Welt und zornig über ihr Schicksal, sieht sie ihr Schlösslein langsam verlottern.

Ihr Sohn, der heranwachsende Kurt, will seinerseits Ritter werden. Er erlernt vom Knecht Jürg, dem Gesellen des Vaters und nun Burgvogt, Jägermeister, Fischereiverwalter, Erzieher und Waffenmeister, den Umgang mit den Waffen, das Kämpfen und das Reiten. Kurt wird grösser, kräftiger, aber auch wilder, roher und übermütiger. Nur von seiner Mutter lässt er sich klein machen und demütigen. Er macht sich auf zu kleineren und immer grösseren Überfällen, entkommt aber stets ungesehen.

Eines Tages zieht Kurt von Koppigen los, um die weitere Welt zu erkunden. In der benachbarten Burg nimmt ihn der alte Schlossherr gastfreundlich auf und stellt ihn seinen drei schönen Töchtern vor, die sich über den ungepflegten, ungelenken Ritter mokieren. Kurt zieht weiter, trifft auf den Freiherrn von Regensperg, Zürichs gefährlichstem Feind, der Kurts Mut und Kraft bewundert. Doch der Koppiger Ritter will sich nicht unterordnen, trifft auf seiner Reise Mönche, Räuber, Einsiedler, überfällt Leute, raubt und kämpft. Dazwischen verbringt er Stunden in Wirtshäusern bei Alkohol, Spiel und Frauen.

Jeremias Gotthelf beschreibt dies als Pfarrer und vor allem als wortgewaltiger Schriftsteller. Seine Sprache ist wuchtig, rhetorisch geschliffen, fantasievoll, komisch und schwarzhumorig. Er modelliert seine Figuren und ihre Umgebung plastisch und ausdrucksvoll, lässt seinen Protagonisten in der Alltagssprache sprechen, durchsetzt mit Mundartversatzstücken. Gotthelf setzt sich genüsslich mit diesen Schurken und verkommenen Figuren auseinander, in höchstem Maße lebendig und menschlich zeichnet er sie. Es scheint, als mache sich Gotthelf wenig Illusionen über das Gute im Menschen.

Kurt heiratet, wird vom Schwiegervater unterstützt, doch gelingt es dem mittlerweile verheirateten Ritter nicht, aus seiner Haut zu kommen. Der Grössenwahnsinnige und Verblendete wird in der Weihnachtsnacht selber zum Getriebenen und Gejagten, erlebt auf einem Höllenritt buchstäblich das Fegefeuer, wird von Dämonen aus seiner Vergangenheit heimgesucht und landet halbtot vor dem Tor des Schlössleins. Seine Frau Agnes pflegt ihn, er verbringt viel Zeit mit seinen drei Söhnen. Dann erscheint die Erleuchtung in Form eines »Frauenbilds«. Kurt schliesst Frieden mit sich, wird erlöst, und fortan ist seine Familie mit Wohlstand gesegnet.

Wenn das nur so einfach wäre.

Lebensdaten 1797 (Murten) – 1854 (Lützelflüh)

Lesetipps »Die schwarze Spinne« (1842), «Geld und Geist« (1843/44), »Uli der Knecht« (1841) und »Uli der Pächter« (1849)

Fussnoten Jeremias Gotthelf ist ein Pseudonym. Mit zivilem Namen hiess der streitbare Pfarrherr und engagierte Politiker Albert Bitzius. Sein grosses und vielschichtiges Werk machte ihn zu einem der populärsten Autoren des 19. Jahrhunderts, zum Klassiker der Schweizer Literaturgeschichte und zum Schriftsteller von weltliterarischem Rang.

# Abenteuer

# Gewalt

# Suche

# Geschichte

Bildnis von Gottfried Keller im Lithografiestein

1872
Gottfried Keller

Sieben Legenden

Eugenia war ein schöner, fast engelgleicher Mönch und hiess der Bruder Eugenius. Nach Sätzen, die so vergnügt mit dem Geschlecht literarischer Figuren jonglieren, muss man in der Literatur des 19. und auch des 20. Jahrhunderts lange suchen. Mit einer beneidenswerten Nonchalance werden die Frauen in Kellers »Sieben Legenden« vorübergehend zu Männern, während diese selbst in ihrer Haut stecken bleiben. In dieser Hinsicht sind sie ganz karriere- und kapital­orientierte Söhne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wenn sie sich genregerecht in ­römische Togen oder mittelalterliche Rüstungen hüllen.

Eugenia, das hochphilosophische »Blaustrümpfchen« aus Alexandria, hört eines Tages auf einem Ausritt einige Psalmverse aus einem Kloster dringen. Klang und Worte berühren sie so sehr, dass sie nicht nur schlagartig zum Christentum konvertiert, sondern auch sofort Mönch wird. Noch wilder treibt es die Jungfrau Maria selbst. In »Die Jungfrau als Ritter« schaut sie sich nach einem würdigen Gemahl für die ihr fromm ergebene Dame Bertrade um. Leider erweist sich der Richtige als etwas träger Zauderer, und so schlüpft die Muttergottes kurzerhand selbst in dessen Rüstung und bestreitet ein Turnier. Als siegreicher Ritter drückt sie Bertrade zu guter Letzt einen Kuss auf den Mund, »der begreiflicherweise das holde Weib mit himmlischer Seligkeit erfüllte«.

Bei aller Spielfreude könnte man den »Legenden« vorwerfen, dass alle Frauen am Ende wieder da sind, wo sie die im 19. Jahrhundert gern beschworene natürliche Ordnung der Dinge haben wollte, also im Hafen der Ehe. Doch für einmal hat nicht das Ende das letzte Wort, sondern die poetischen Räume dazwischen geben den Ton an. Darin entfaltet sich eine anarchische Liebespoetik, die sich immer wieder neu Bahn bricht, in sieben Variationen. Wo leidenschaftlich geliebt wird, gerät alles in Bewegung, auch das Unabänderliche. Es geschehen Wunder. Ob diese Liebe nun Jesus Christus, einem stattlichen Römer oder Ritter gilt, ist ganz gleich. So schnell, wie Eugenia zum Mönch wurde, verwandelt sie sich später zur glühenden Geliebten des mannhaften Auquilinus.

Der Charme der Kellerschen Legenden entsteht aus der Spannung zwischen ihrer ironischen, mal frivol-schlüpfrigen, mal grotesk-komischen Sprache und einem geradezu metaphysischen Liebespathos. Dieses nun ist bei Keller nur im naiv-diabolischen Spiel mit Heiligenlegenden zu haben. Das lässt sich leicht überprüfen, wenn man die Novellen mit der Legendensammlung des protestantischen Theologen Ludwig Theobul Kosegarten vergleicht, von der sich Keller inspirieren liess.

Heute ist der Novellenzyklus ein Geheimtipp. Doch das »wunderliche Werklein«, wie es Keller selbst titulierte, war damals ein durchschlagender Erfolg. Es machte Keller auch in Deutschland berühmt. Für Irritation sorgten die »Legenden« aber allemal. Hatte sich ausgerechnet der Staatsschreiber des zwinglianischen Kantons Zürich den Kopf von katholisierendem Firlefanz verdrehen lassen? Ein kleines literarisches Wunder, über das man sich auch heute noch den Kopf zerbrechen kann.

Lebensdaten 1819 (Zürich) – 1890 (Zürich)

Lesetipps »Der Grüne Heinrich« (erste Fassung 1854/55, zweite Fassung 1879/80), »Züricher Novellen« (1877), »Martin Salander« (1886)

Fussnoten Im 20. Jahrhundert entstanden zwei Opern auf der Basis von Kellers erster Legende über die heilige Eugenia. Johannes Driessler: »Claudia amata«, lyrische Oper op. 17, Uraufführung 1952 in Münster, Text von Bettina Brix, frei nach Kellers »Eugenia«; Riccardo Zandonai: »Il bacio« (1942–44). Opera lirica in 3 Akten, op. 13. Libretto: Arturo Rossato und Emidio Mucci (nach Kellers »Eugenia«). Uraufführung: 1954 in Mailand

# Mythen

# Religion

# Emanzipation

Animefigur Heidi aus der japanischen Fernsehserie von 1974

1880
Johanna Spyri

Heidis Lehr- und Wanderjahre

Wenn von bahnbrechenden Romanen und besten Büchern die Rede ist, vergisst man dabei oft, dass viele nicht von der ersten bis zur letzten Seite gelungen sind. Eins von dieser Sorte ist Johanna Spyris Kinderbuchklassiker. Wobei Heidi längst ohnehin alle möglichen Qualitäten zugeschrieben werden, die wenig mit Literatur zu tun haben. Das Naturkind aus den Bergen macht sich einfach zu gut auf Milchflaschen und Käseverpackungen; darüber hinaus ist es zu einem Hauptexportartikel der Schweiz geworden.

Doch der erste der beiden Heidi-Romane schwingt sich tatsächlich zu weltliterarischer Form auf, wenn auch nur in den ersten paar Kapiteln. Da legt Spyri, ansonsten nicht ganz zu Unrecht als fromme Autorin erbaulicher Mädchenliteratur wahrgenommen, plötzlich eine Freiheit der Feder an den Tag, eine fast anarchische Verspieltheit. Sobald Heidi sich die Kleiderschichten vom Leibe reisst, die ihr die Tante Dete angezogen hat, um keinen Koffer schleppen zu müssen, beginnt das Mädchen im Rhythmus der Geissen zu hüpfen, und ihr wippender Wuschelkopf wird zu einer dunklen Blume im alpinen Farbenmeer. Heidi ist nicht nur ein Kind mit einem Herz für Tiere und Pflanzen, sie ist selbst Teil der Berglandschaft. Indem sie Wind, Tier und Blume wird, kommt sie als Mensch ganz zu sich, und selbst die Sätze, die von der Alp, vom Öhi und den Tannen erzählen, hüpfen wie Heidi und Schneehöppli, die kleine Geiss – sie leuchten auf wie das Alpenglühen und sind lebendig wie die Tannenwipfel, die im Anklang an Goethe, einem von Spyris Vorbildern, rauschen.

Mit dieser Energie ist es dann aber vorbei, als Heidi in Frankfurt das Lesen und Schreiben lernt und von der kleinen Naturmystikerin zur frommen Schülerin wird, die der blinden Grossmutter vom Geissenpeter aus der Bibel vorliest. Doch das wild-anarchische Naturmädchen lässt sich auf die Dauer nicht einsperren und bricht immer wieder aus dem Originaltext aus – die vielen Adaptionen für Kino und Fernsehen tun alles, um Heidi weiterhüpfen zu lassen.

Lebensdaten 1827 (Hirzel) – 1901 (Zürich)

Lesetipps »Ein Blatt auf Vrony’s Grab« (1871), »Heidi kann brauchen, was es gelernt hat« (1881), »Sina« (1888)

Fussnoten Die japanische Anime-Serie von 1974 begründete den Ruhm von Hayao Miyazaki, dem späteren Mitbegründer des Ghibli-Studios. Miyazaki, der für die Szenografie verantwortlich war, recherchierte in Maienfeld und Umgebung gemeinsam mit dem Regisseur Isao Takahata, um die Atmosphäre möglichst präzise wiederzugeben. Mit diesem ersten location hunting in der Geschichte des Anime war der japanische Neologismus »lokehan« geprägt.

# Kindheit

# Berge

# Heimat

# Familie

# Religion

Bleistiftzeichnung von Joseph Hornung, 1852

1883/84
Henri-Frédéric Amiel

Intime Aufzeichnungen

Lese Amiel, nicht schlecht«, notierte Leo Tolstoi in sein Tagebuch. Das war im Oktober 1892, und es klingt beiläufig. Wenige Tage später erwähnte Tolstoi seine Lektüre wieder. Das »Journal intime«, schrieb er, sei nicht nur schön zu lesen, sondern vom Reichtum seiner philosophischen Gedanken her wert, ins Russische übersetzt zu werden. Wenige Monate später klang das Urteil über Amiel noch entschiedener: »Der ist sehr gut«, schrieb er im Frühling des folgenden Jahres an seine Frau. Damals arbeitete Tolstoi bereits an der Übersetzung einer Auswahl aus Henri Frédéric Amiels Tagebüchern, zusammen mit seiner Tochter Marija Tolstaja. Er wählte die Stücke aus, versah sie mit einem kommentierenden Text und verfasste ein Nachwort, sie übersetzte aus dem Französischen. 1894 erschien das Buch, schon bald wurde eine zweite Auflage gedruckt – im gleichen Jahr, in dem die erste deutsche Übersetzung erschien.

Amiel? Nicht einmal in der Westschweiz ist der Name heute noch geläufig. Und im deutschen Sprachraum ist der Genfer fast vergessen. Obwohl nicht nur Tolstoi, sondern auch Nietzsche, Hofmannsthal, Karl Kraus, Fernando Pessoa und viele andere die »Fragments d’un journal in­time« gelesen und gelobt haben. Amiel führte ein zurückgezogenes, unscheinbares Leben: Stu­dium in Genf und Berlin, Reisen in Frankreich und Italien, dreissig Jahre lang Professor an der Universität Genf, zunächst für Ästhetik, dann für Philosophie. Ab und zu publizierte er ein Buch: ­Essays, historische Studien, ein Band mit Gedichten. Vor allem aber führte er über mehr als vierzig Jahre ein Tagebuch. Entdeckt wurde es erst nach Amiels Tod. Rund 17’000 Seiten, bereits 1884 wurde eine Auswahl daraus publiziert. Der Autor selbst hätte nie an eine Publikation gedacht.

Das »Journal« wurde unter europäischen Intellektuellen zu einem Kultbuch. In den Betrachtungen dieses Genfer Professors besichtigte sich das späte 19. Jahrhundert selber. In all seinen Verwirrungen und den existenziellen Zweifeln, die die letzten Gewissheiten auflösten, Jahrzehnte bevor sich zeigte, in welche Abgründe das führen würde. Amiel spricht als Kind seiner Zeit. Und doch berühren seine hellsichtigen Bemerkungen noch heute unmittelbar. Als Dokument eines Menschen, der die Welt wahrnimmt, indem er sich selbst erforscht. Nicht in mystischer Entrücktheit, sondern mit der bohrenden Unruhe dessen, der am Ungenügen über sich selber krankt.

»Wer bin ich?« ist die Frage, die Amiel leitet, und vor allem: »Wie werde ich damit fertig, dass ich es nie erreichen werde, der zu sein, der ich eigentlich bin?« »Mein Herz zernagen Skrupel. Mir scheint, es ist das Misstrauen, der unheilbare Zweifel an der Zukunft, am Gefühl der Gerechtigkeit, wenn auch nicht der Güte Gottes, kurz, die Ungläubigkeit, die mein Unglück und meine Sünde ist. Jede Tat ist eine Geisel, die man dem rächenden Schicksal übergibt«, notiert er am 27. Juli 1855. Und formulierte damit eine Zerrissenheit, die das 20. Jahrhundert prägen wird. Er hatte sie mehr erahnt als erkannt. Und sah sie trotzdem klarer als viele nach ihm.

Lebensdaten 1821 (Genf) – 1881 (Genf)

Originaltitel »Fragments d’un journal intime«

Fussnoten Henri-Frédéric Amiels »Aufzeichnungen« gehört zu den Büchern, die wieder neu zu entdecken sind. Eine moderne Ausgabe mit dem Titel »Tag für Tag. Intime Aufzeichnungen«, ausgewählt von Leo Tolstoi, ist 2018 erschienen. Eines seiner kleinen Werke ist allerdings bis zum heutigen Tag auch in der Deutschschweiz bekannt, obwohl sich kaum jemand dessen bewusst ist: Der Text zum patriotischen Lied »Roulez, Tambours!«, das Amiel 1857 unter dem Eindruck der befürchteten Invasion Preussens in Neuenburg schrieb. Es soll General Guisans Lieblingslied gewesen sein.

# Identität

# Suche

# Tod

# Freiheit

# Macht

»Auf die Gefahr hin, dass es in den Papierkorb wandert«,Radierung von Karl Stauffer-Bern, 1887

1887
Conrad Ferdinand Meyer

Die Versuchung des Pescara

Man kann diese Novelle lesen, wie man ein Historienbild betrachtet. Oder eine Fernseh­serie anschaut. Ein überraschender Plot, markige Charaktere, von denen man nie genau weiss, was von ihnen zu erwarten ist. Man taumelt sich von Szene zu Szene, verliert vielleicht ab und zu den Überblick und würde manchmal gern jemanden fragen, wo die Guten und wo die Bösen sind. Dafür muss man sich nicht einmal schämen. Conrad Ferdinand Meyer macht die Unterscheidung nicht einfach. Sich selbst nicht und uns nicht. Wo das Gute liegt, ist in der »Versuchung des Pescara« schwer auszumachen. Und man fragt sich, ob es das überhaupt gibt. So richtig gut ist da nämlich niemand. Selbst die, die sich um scheinbar Ehrenhaftes bemühen, wollen am Ende nichts Rechtes oder handeln aus schändlichen Motiven.

Die historischen Ereignisse, die der Erzählung zugrunde liegen, sind turbulent. Und Meyer schildert sie in einer bewundernswerten Mischung von Verknappung und Liebe zum Detail. Die Szene: Italien zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Franz Sforza, der Herzog von Mailand, wird von seinem Kanzler dazu überredet, mit Frankreich, Venedig und dem Vatikan eine Allianz zu schliessen, um die Unabhängigkeit der italienischen Staaten gegenüber Kaiser Karl V. zu sichern und Italien zu vereinigen. Als Feldherr der Liga soll Pescara gewonnen werden, der das kaiserliche Heer in Italien befehligt. Dazu bedarf es, selbstverständlich, einer List. Durch das Gerücht, er plane seinen Kaiser zu verraten, soll Pescara unter Druck gesetzt und zum Überlaufen gezwungen werden.

Ein Kampf um Macht, Ruhm, Geld und Gewissen also. Gekämpft wird mit allen Mitteln. Rufmord, Bestechung, Verrat, Mord. Denen, die sich als Sachwalter der strahlenden Zukunft Italiens verstehen, ist alles recht. Wer sich in die Nähe der Macht wagt, darf keine Skrupel haben. Vertrauen ist da nur eine Charakterschwäche, die einen das Leben kosten kann. Oder den politischen Einfluss, was vielleicht noch schlimmer ist. Pescaras Frau, die Dichterin Vittoria Colonna, setzen die Verschwörer ebenso geschickt für ihre Zwecke ein, wie sie Pescara mit dem Versprechen zu ködern versuchen, ihn zum Herrn über ein wiedervereinigtes Italien zu machen, ohne zu merken, dass sie nach und nach von der Intrige überrollt werden, die sie selber losgetreten haben.

Mitten im Geschehen: Pescara. Ein kühler Feldherr und genialer Rechner, wie ihm auch seine Gegner zugestehen – natürlich im naiven Glauben, am Ende selbst doch klüger zu sein. Von einer Horde politischer Desperados zum Spielball der Mächte auserkoren, beobachtet er. Wägt ab. Schweigt. Geht zum Schein auf Avancen ein und lässt alle im Ungewissen über den »Ge­nius«, der ihn antreibt und zugleich allen Unwägbarkeiten des Lebens entrückt. Sein Handeln ist von einem Motiv bestimmt, das ihn unangreifbar macht. Für die Verlockungen der Macht ebenso wie für die Angst vor dem Tod. Wie Meyer das, auf den letzten zwei Seiten der Erzählung, in einer unvergesslichen Szene verdichtet: Das ist meisterhaft.

Lebensdaten 1825 (Zürich) – 1898 (Kilchberg)

Lesetipps »Das Amulett« (1873), »Jürg Jenatsch« (1876), »Der Heilige« (1880), »Plautus im Nonnenkloster« (1882), »Angela Borgia« (1891), »Gedichte« (1882)

Fussnoten Meyer stammte aus einer alten Zürcher Patrizierfamilie und gehört als Lyriker und Autor historischer Erzählungen zu den bedeutendsten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Heute wird er leider mehr gelobt als gelesen. Gerade seine Novellen wären heute wieder zu entdecken: als illusionslose Auseinandersetzung mit Glanz und Schäbigkeit der Macht.

# Geschichte

# Macht

# Gewalt

# Liebe

Jakob Burckhardt vor dem Basler Münster

1905
Jacob Burckhardt

Weltgeschichtliche Betrachtungen

Für das Wintersemester 1868/69 kündigte Jacob Burckhardt eine Vorlesung mit dem Titel »Über das Studium der Geschichte« an. Was darunter zu verstehen war, konnte an der Universität Basel niemand ahnen, aber Gründe, das Kolleg zu besuchen, gab es genug. Burckhardt war als glänzender Redner bekannt. Einer, der es verstand, seine Zuhörer mit klugen Überlegungen und eindringlichen Formulierungen in den Bann zu ziehen.

Dreimal hielt Burckhardt den Kurs über das Studium der Geschichte bis 1873. Mehr als dreissig Jahre später und acht Jahre nach seinem Tod erschien der Text erstmals 1905 in einer Bearbeitung von Burckhardts Neffen Jakob Oeri. »Weltgeschichtliche Betrachtungen« lautete der Titel da, was dem Unternehmen den Hauch eines Vermächtnisses gab. Gedacht war es nicht so. Nach dem Willen des Autors hätten die Notizen zur Vorlesung vernichtet werden sollen.

Man wird Oeri dankbar sein, dass er sich über die Verfügung seines Onkels hinweggesetzt hat. Die »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« sind der Versuch eines kritischen Denkers, sich mit den Grundkräften auseinanderzusetzen, welche die Geschichte formen. Burckhardts Blick schweift über die Jahrhunderte, um in der Antike, dem frühen Christentum, dem Mittelalter und der Renaissance die prägenden Formationen aufzuspüren, aus denen sich historische Kon­stellationen aufbauen. Und er schält drei Faktoren heraus: Staat, Religion und Kultur.

Illusionen macht sich Burckhardt keine. Sein Blick ist der eines konservativen, vielleicht unpolitischen und letztlich antidemokratischen Aristokraten. An einen Sinn in der Geschichte will und kann er nicht glauben. Gesetzmässigkeiten in ihrem Ablauf auszumachen, hält er für verfehlt. Wer einen Weltplan antizipiere, gehe von irrigen Voraussetzungen aus, sagt er. Hegels ­Gedanke, Geschichte spiegle die Entwicklung des Menschen zu immer höherer Freiheit, war Burckhardt fremd. Weder die menschliche Seele noch das Gehirn, schreibt er, hätten in historischen Zeiten wesentlich zugenommen. Und die Vorstellung, es gebe im Lauf der Zeiten so etwas wie einen Fortschritt, wischt er elegant, aber entschieden vom Tisch: »Unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, ist höchst lächerlich.«

Am Ende dreht sich alles um Macht, konstatiert Burckhardt. Und da sieht er erst recht keinen Grund für Optimismus. Denn Macht hält er für böse, wer auch immer sie ausübt. Nie sei eine Macht ohne Verbrechen gegründet worden, sagt er. Andererseits ist Macht Teil der »grossen weltgeschichtlichen Ökonomie«, welche die ganze belebte Natur bestimmt. Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts beurteilt Burckhardt mit Skepsis, in der Industrialisierung sieht er die ­Gefahr einer Radikalisierung der Massen, die zwangsläufig in Despotismus ende.

Die »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« sind das Buch eines Zweiflers, der histor...

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