Kapitel 4
Cal
Einen Monat später
Es sind die Glöckchen, die mich fertigmachen.
Mein Herz macht jedes Mal einen Satz, wenn sie zu klingeln beginnen. Meine Muskeln zucken, ich knirsche mit den Zähnen. Ein Kunde schlendert aus dem Laden, und ich erinnere mich kaum noch an unser Gespräch, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, an meine Verabredung zum Abendessen mit Lucy zu denken.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich das durchstehen soll. Ich bin ein Wrack, und das ist das Letzte, was sie jetzt braucht, wo sie sich noch von der beschwerlichen Operation erholt. Nicht, wenn ihr Herz so zerbrechlich ist.
Nicht, wenn die Verantwortung, die ich trage, so verdammt schwer lastet.
Ich muss für sie stark sein. Unbesiegbar. Und das einzige Mal, dass ich mich unbesiegbar gefühlt habe, war, als ich ein wenig Hilfe hatte. Vielleicht ist der einzige Weg, um vorwärtszukommen, ein paar Schritte zurückzugehen.
Ich werde nicht dort bleiben.
Es ist nur vorübergehend.
Es sind also die Glöckchen, die mich dazu bringen, zur Werkstatttür zu marschieren, um Ike zu erwischen. Ich bin verzweifelt auf der Suche nach etwas, das mir ein wenig die knochenbrechende Last von meinen Schultern hebt.
Nicht dass ich die Gnadenfrist verdient hätte, aber die Schuld wiegt schwer, und sie braucht mich.
»Büro«, befehle ich und fege an Ike vorbei durch die Werkstatt, während er einen Ölwechsel erledigt.
»Was gibt’s, Boss?«
Ich antworte nicht, und er folgt mir einfach. Wir gehen in mein Büro, und Ike schließt die Tür hinter sich, bevor er seine Hände in die Taschen seiner ölverschmierten Hose stopft. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«, fragt er und lehnt sich zurück. »Du siehst beschissen aus.« Seine Worte sind barsch, doch die Sorge in seinen blassblauen Augen ist echt.
Ich hasse es, dass sie dort ist.
»Ich brauche etwas … um mich runterzubringen.« Für andere mag diese Aussage vage klingen, aber nicht für ihn – er weiß, was ich brauche. Er weiß genau, wie meine Ecken und Kanten aussehen, scharf und gezackt, die gegen alles scheuern, was ich berühre.
Einen Moment lang werde ich von noch mehr Schuldgefühlen heimgesucht.
Mehr Scham, mehr Selbsthass.
Ich versuche, stark zu sein, aber die Bitte trieft förmlich vor Schwäche.
»Was?« Ike zögert und schaut weg, während er den Atem ausstößt, bis Enttäuschung seine Besorgnis verdrängt. »Nein.«
»Ich meine es ernst«, presse ich hervor, ohne meine Stimme zu heben. »Ich habe mir neulich auf dem Motorrad den Rücken verrenkt.«
Nicht mein Rücken ist das Problem, sondern mein Herz. Es fühlt sich an, als würde ein Felsbrocken in meiner Brust sitzen und mich erdrücken.
Er weiß das auch.
Die leise Stimme in meinem Kopf quält mich, fleht mich an, mich zurückzuziehen, alles zurückzunehmen, aber ich kriege die Worte nicht heraus.
Ich starre ihn an, mit steifer Haltung und pochendem Puls.
»Nee, Bishop«, antwortet er und schüttelt seinen rasierten Kopf hin und her. »Das geht nicht. Damals warst du nichts weiter als ein Kunde. Jetzt bist du ein Freund.«
Ich schnaube angesichts dieser Aussage und lehne mich mit der Hüfte an meinen Schreibtisch. »Ich habe keine Freunde.«
»Das ist irgendein Bullshit, den du dir gerne einredest.«
Na schön.
Ich habe eine Freundin, die allein in ihrem von Erinnerungen geplagten Backsteinhaus sitzt und darauf wartet, dass ich heute Abend zu ihr komme, damit sie mir Tamales zubereiten kann. Sie ist der Grund, warum ich das hier tue – um ihr ein Freund zu sein, um die Art von Mensch zu sein, der sie aufbaut und nicht weiter in den Abgrund zieht.
Aber ich kann diese Person im Moment nicht sein. Nicht so.
Als ich ihr endlich gesagt habe, dass ich vorbeikomme, hat sie mit einem Feuerwerk an glücklichen Emojis und kleinen roten Herzen reagiert. Sie fügte versehentlich eine Aubergine hinzu und schickte mir daraufhin fünfzig weitere Textnachrichten, in denen sie sich beschämt entschuldigte.
Lucy:
Oh Gott, die wollte ich dir nicht schicken.
Ich schäme mich so!
Vielleicht hast du die gar nicht gesehen. Warte. Guck 1 Sekunde nicht auf dein Handy.
Kann man nicht löschen. Natürlich nicht. Ich schreie.
Es tut mir echt leid. Die stammt noch aus einem Chat mit Alyssa.
Aber kein Chat über dich.
Argh. Lösch am besten meine Nummer.
Ohne Mist – so nah dran an einem Lächeln bin ich seit Langem nicht mehr gewesen. Meine Lippen haben leicht gezuckt. Ich schwöre, dass mein Herz sogar geflattert ist und die Takte übereinandergestolpert sind.
Die Wahrheit ist, dass ich sie sehen will. Dringend. Zwischen meinem vollen Terminkalender, ihrer vierwöchigen Erholungsphase mit ihrer Mutter und meinen eigenen Schuldgefühlen, die an meinen Knochen nagen, habe ich kaum einen Blick auf das Lächeln erhaschen können, nach dem ich mich sehne. Ich habe ihre tröstliche Wärme durch Whisky und Gin ersetzt und mich wochenlang fast jede Nacht betrunken. Ich weiß, dass Alkohol ein Kipppunkt ist. Er wird mich auf jenen düsteren Pfad führen, den ich nur allzu gut kenne … aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.
Und jetzt muss ich ihr in diesem gottverlassenen Haus gegenübertreten.
Ich brauche etwas Stärkeres.
Das Sonnenlicht strömt durch die teilweise zerknickte Jalousie, obwohl ich mir sicher bin, dass ich sie so fest wie möglich geschlossen habe. Meine Augen werden vor Verachtung schmal angesichts des kleinen Sonnenstrahls, der es geschafft hat, durchzubrechen und eine Wolke aus Staubpartikeln zu erleuchten, und die Schatten aufhellt, die ich unbedingt zurückhaben will.
Seufzend reibe ich mir übers Gesicht, ziehe mir die Beanie vom Kopf und drehe sie in meinen Händen. »Hör zu, das ist nur eine vorübergehende Lösung, bis mein Rücken wieder heil ist. Ich weiß, was du denkst, aber es geht mir gut. Es geht mir bestens. Ich brauche nur etwas, das mir hilft, bis ich über den Berg bin.«
Er durchschaut mich mit seinem bohrenden Blick. »Dafür gibt es Therapeuten.«
Schwermut raubt mir die Sicht und drängt die automatische Antwort über meine Lippen. Mit weißen Knöcheln wringe ich die Mütze und starre auf meine schmutzigen Boots. »Ich hab’s versucht. Es funktioniert nicht.«
»Noch mehr Bullshit, noch mehr Ausreden. Du bist dabei, in einen Abwärtsstrudel zu geraten, Cal, und ich will da nicht mitmachen.«
»Ich strudle nicht abwärts. Ich bewältige es.«
»Finde einen besseren Ansatz.«
Mit einem scharfen Blick stößt sich Ike vom Türrahmen ab, wendet sich zum Gehen und reißt die Tür auf. Die Glöckchen bimmeln wieder und mahnen mich, dass ich gerade versuche, Pillen zu kaufen, während ich wie ein rückgratloser Trottel auf der Arbeit bin.
Herrgott!
Ich stürze ab.
Der Tiefpunkt rückt gefährlich nahe, ich kann fast den Kies auf meiner Zunge schmecken. Ich weiß das – ich war schon mal da, bin an einem Mund voller Trümmer und schlechten Entscheidungen erstickt, mit dem Gesicht voran im Schotter gelandet. Ein Teil von mir fragt sich, ob es beim zweiten Mal anders schmeckt. Beim dritten Mal, beim vierten Mal. Irgendwann muss ein Stein ja etwas Lebenswichtiges durchtrennen.
Ike zögert, streckt seinen Kopf in Richtung Eingangsbereich und blickt dann über seine Schulter zu mir zurück. »Hier ist ein Kunde. Reiß dich zusammen, Bishop, ich meine es ernst.«
Die Tür knallt zu.
Ich sehne mich nach einem doppelten Bourbon und lasse mich mit einem kehligen Knurren in meinen Drehstuhl plumpsen. Scham, Enttäuschung. Irgendwas dazwischen. In gewisser Weise verachte ich mich dafür, dass ich so tief gesunken bin, aber es wäre nicht auf Dauer. Ein vorübergehendes Laster, um mir über die Bergspitze zu helfen.
Um mir zu helfen, ihr zu helfen.
Das Licht des frühen Februars sickert durch den Spalt im Fenster und erleuchtet die toten Orchideen und zerdrückten Zigarettenstummel, die mein Büro übersäen. Wenn ich die Augen lange genug schließe, kann ich sie fast sehen, wie sie mit einem strahlenden Lächeln und einem Arm voller blühender Blumen hin und her läuft und mich fragt, ob sie mir bei irgendetwas helfen kann. Ich kann fast hören, wie ihr Lachen durch den Raum schallt, während sie staubsaugt, die Fenster putzt oder zum achtzigmilliardsten Mal meinen Aktenschrank aufräumt. Ich rieche das Birnenaroma in ihrem Shampoo, die zuckrige Creme auf ihrer Haut. Ich schmecke ihre Kaugummiküsse, die auf meinen Lippen festkleben.
Ich hätte sie verdammt noch mal nicht feuern müssen; ich habe es nicht einmal gewollt. Es war ein feiger Trick, um Abstand zwischen uns zu bringen, weil ich zu schwach war, meine Finger von ihr zu lassen.
Das Bedauern frisst sich in mich hinein, wie Säure in die Knochen. Ich krame in meiner Zigarettenschachtel, ziehe eine heraus und zünde sie an, bis die Glut knistert. Ich fühle mich nervös und ängstlich, also greife ich nach meinem Handy und scrolle durch die Flut von Benachrichtigungen, die ich immer wieder ignoriert habe und immer noch ignoriere, und rufe Instagram auf. Ich klicke auf ihr Profil und sehe zu, wie ihr Feed geladen wird.
Ein neues Foto starrt mir entgegen.
Es ist ein Bild von Lucy und ihrer Gitarre. Sie sitzt auf ihrem Bett, die Beine vor sich ausgestreckt, und auf beiden Seiten der Matratze liegen Zettel lose verstreut. Die Kamera muss auf einen Timer eingestellt gewesen sein. Vielleicht war auch jemand bei ihr, der nicht ich war, und hat das Lächeln auf ihrem Gesicht eingefangen, das teilweise von einem Wasserfall aus goldbraunem Haar eingerahmt wird. Es ist ein Lucy-Lächeln. Das Lächeln, das ich vermisst habe, das vor Monaten zu verblühen begann. Jetzt ist es strahlend und hell, von Aufrichtigkeit durchtränkt und reicht bis zum Blau ihrer Augen.
In dem Blau liegt etwas leuchtend Schönes. Etwas, das himmelhoch fliegt, anstatt auf dem Meer verloren gegangen zu sein.
Das Foto ist mit einer Bildunterschrift versehen, die lautet: »Keine traurigen Lieder mehr«.
Ich schlucke und wünsche mir, dass Schnaps meine Kehle herunterrinnt. Sie macht wieder Musik. Schon bald wird sie Liveshows spielen und Weinbars mit Magie und Melodien zum Erstrahlen bringen. Sie stiehlt Herzen, fesselt Gemüter und lässt selbst die stärksten Männer auf ihren Sitzen unruhig zappeln.
Verführung hat viele Gesichter, aber nichts ist vergleichbar mit dem, wenn Lucy singt.
In den dunkleren Momenten, wenn ich mich selbst quäle, denke ich an den ersten Abend, an dem ich ihre Show vom Rand der Bar aus beobachtet habe. Ihr letzter Song war einer von Stevie Nicks, und ich war wie betört. Ich war hingerissen von ihr. Die Art und Weise, wie sich ihr Mund bewegte, der heisere Klang ihrer Stimme, das unverfälschte Talent, das ihr aus jeder Pore drang. Unschuld und Sex-Appeal, vereint in meinem endgültigen Verderben.
Dann hüpfte sie in ihrem kleinen Kleid zu mir herüber, ihre Haare wirbelten um sie herum, ihr Lächeln war so verdammt süß, und sie platzte damit heraus, sie wolle mich einreiten.
Fuck.
Ein Mund, der so gut singen kann, hat mich in meinem Kopf die Frage stellen lassen, worin er wohl noch so gut war.
Mein Penis zuckt bei dem Gedanken, aber das Timing ist nicht gut, denn Ike brüllt mir aus dem Eingangsbereich zu, dass er Hilfe bei einem Motorschaden braucht.
Missmutig lege ich mein Handy beiseite, weil ich weiß, dass dieser Gedankengang sowieso zu nichts führt, und rücke ihn in meiner Jeans zurecht.
Das Einzige, was mich durch den Arbeitstag bringt, ist die Gewissheit, dass ich Lucy bei Anbruch der Dämmerung sehen werde.
* * *
Sie schreibt mir nicht zurück.
Ihr Telefon ist ausgeschaltet, und ihre Stimme auf ihrer Mailbox, die immer wieder ertönt, jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.
»Hey, ich bin’s, Lucy! Wahrscheinlich singe ich gerade meinen Hunden vor, aber dein Anruf ist mir wichtig. Wirklich wichtig. Hinterlass mir eine Nachricht, und ich rufe dich gleich zurück, danach entschuldige ich mich vielmals dafür, dass ich deinen Anruf verpasst habe. Bitte verzeih mir unverzüglich, sonst wird mich diese verpasste Gelegenheit, deine Stimme zu hören, für den Rest meines Lebens verfolgen. Nur kein Druck. Pieeeep!«
Als ich nur noch das Bild von Lucy vor Augen habe, wie sie am ersten Weihnachtstag reglos in meinen Armen baumelte, geisterhaft weiß und nur noch halb lebendig, schnappe ich mir meine Jacke und renne zur Haustür, um nach ihr zu sehen.
Das Problem ist, dass ich stockbesoffen bin.
Als ich von der Arbeit nach Hause kam, habe ich beschlossen, strunzdumm zu sein und eine unverantwortliche Menge Whisky zu saufen, weil ich mich gequält und verzweifelt genug gefühlt habe, um meine Dämonen ertränken zu wollen.
Das bereue ich jetzt.
Was ist, wenn Lucy in Schwierigkeiten steckt? Was ist, wenn ich zu sehr aus der Spur bin, um ihr zu helfen?
Ich verzichte auf mein Bike, um der immer größer werdenden Last auf meinen Schultern nicht noch mehr Schuld hinzuzufügen, und jogge unbeholfen die anderthalb Meilen zu ihrem Haus. Ich stolpere den Bürgersteig hinunter – nicht beschwingt, nur schwankend – und schlängle mich schließlich durch ihren Vorgarten, bis ich mich an der Backsteinsäule abstütze. Das letzte Mal, als ich hier stand, hatte ich ein Geschenk für sie dabei.
Jetzt stehe ich hier mit leeren Händen und einem bedenklichen Blutalkoholspiegel. Das Haus ragt vor mir auf wie ein riesiger Schatten all der Dinge, die ich zurückgelassen habe, und ich bin dankbar, dass der Whisky meine Sicht so verschwommen macht, dass ich das Gelb der Ziegelsteine und die Risse in den Fensterläden kaum noch erkennen kann.
Ich werde nie verstehen, was sie dazu bewogen hat, dieses elende Gebäude zu kaufen. Es ist nichts weiter als eine Gruft voller Geister und Staub. Eine Krypta. Aber Lucy hat das anders gesehen, denn sie dachte, sie könnte diese Relikte zu Gold spinnen. Alten Knochen neues Leben einhauchen. Sie wollte die Tragödie in etwas Hoffnungsvolles verwandeln, und das war schon immer ihre Art, selbst als wir noch Kinder waren – Lucy hat alles repariert und die verbogenen Teile perfekt an ihren Platz gefügt, während Emma der Kitt war, der das Ganze zusammenhielt.
Und ich?
Ich bin die Abrissbirne.
Ich muss wohl geklopft haben, denn die Haustür schwingt auf.
Mein Gleichgewicht gerät ins Wanken, obwohl ich mich an einen dicken Pfeiler gelehnt habe. Ich schwanke immer noch, zucke immer noch zusammen und reagiere immer noch körperlich darauf, sie zu sehen. Lucy steht vor mir und krallt sich an den Türrahmen, ihre Knöchel sind weiß, die Augen blau.
Selbst in meinem benebelten Zustand erkenne ich die Magie in diesem Blau. Ihre Augen blicken zu mir auf und ahmen den changierenden Ton des Himmels nach, als wir in dieser einen Nacht in einer Gondel des Riesenrads saßen und die Sterne zählten. Das Blau war so blau, wie ich es noch nie gesehen hatte, ein auffälliges Indigo, das die schwarze Weite überstrahlt hatte.
Ich bin stinksauer, dass ich zu kaputt bin, um diesen Moment in seiner Gänze zu schätzen. Lucy steht lebendig und strahlend vor mir, mit Atem in ihren Lungen und schlagendem Herzen. Sie ist hier, es geht ihr gut, sie ist aufrecht und nur eine Armlänge entfernt.
Ich blinzle und versuche, meine Sicht zu schärfen.
Ich blinzle noch einmal, sehe doppelt, will aber nur eine sehen. Es ist schon schwer genug, nur einer Lucy gegenüberzustehen.
Sie sagt meinen Namen so, wie sie ihn immer sagt, als hätte sie ein Wörterbuch durchforstet, bis sie auf ihr Lieblingswort gestoßen ist, mit dem kein anderer Begriff je vergleichbar war. »Cal.«