×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Villa in Weimar«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Villa in Weimar« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Villa in Weimar

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Sommer 1897: Die weltberühmte Schauspielerin Marie Seebach hat einen Teil ihres großen Vermögens in einer kürzlich gegründeten Stiftung angelegt und damit ein einzigartiges Altersheim für mittellose Bühnenkünstler in Weimar geschaffen. Da erfährt sie von Unregelmäßigkeiten. Misstrauisch verfolgt sie die Vorgänge aus ihrem Urlaubsdomizil Sankt Moritz und bittet Lotte Wernitz, eine junge Krankenschwester, nach Weimar zu fahren und sich inkognito umzusehen.

Doch bevor Lotte erste Briefe an die alte Dame schreiben kann, werden alle Beteiligten in Weimar durch eine traurige Nachricht aufgeschreckt: Marie Seebach ist an einer Lungenentzündung gestorben. Offenbar ist ihre Schwester Wilhelmine die Universalerbin und damit die Frau, an der nunmehr der Fortbestand der Stiftung hängt. Die alten Herrschaften sind in Aufregung, überlegen, was zu tun ist, um ihren Alterssitz auf jeden Fall zu retten – denn Wilhelmine scheint ihnen nicht wohlgesonnen …


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008508

Leseprobe

Zum Buch

Sommer 1897: Die weltberühmte Schauspielerin Marie Seebach hat einen Teil ihres großen Vermögens in einer kürzlich gegründeten Stiftung angelegt und damit ein einzigartiges Altersheim für mittellose Bühnenkünstler in Weimar geschaffen. Da erfährt sie von Unregelmäßigkeiten. Misstrauisch verfolgt sie die Vorgänge aus ihrem Urlaubsdomizil St. Moritz und bittet Lotte Wernitz, eine junge Krankenschwester, nach Weimar zu fahren und sich inkognito umzusehen.

Doch bevor Lotte erste Briefe an die alte Dame schreiben kann, werden alle Beteiligten in Weimar durch eine traurige Nachricht aufgeschreckt: Marie Seebach ist an einer Lungenentzündung gestorben. Offenbar ist ihre Schwester Wilhelmine die Universalerbin und damit die Frau, an der nunmehr der Fortbestand der Stiftung hängt. Die alten Herrschaften sind in Aufregung, überlegen, was zu tun ist, um ihren Alterssitz auf jeden Fall zu retten – denn Wilhelmine scheint ihnen nicht wohlgesonnen …

Zur Autorin

Hinter Michelle Marly verbirgt sich die deutsche Bestsellerautorin Micaela Jary, die in der Welt des Kinos und der Musik aufwuchs. Durch ihren Vater, den Komponisten Michael Jary, entdeckte sie schon früh ihre Liebe zu Frankreich; ihre Mutter, ein ehemaliges Mannequin, prägte ihren Sinn für Mode. Sie lebte lange in Paris und wohnt heute mit Mann und Hund in Berlin und München, sie hat eine erwachsene Tochter und ist sehr glückliche Oma von Zwillingen.

Michelle Marly

Die Villa in Weimar

Roman

HarperCollins

Die Mitwirkenden

Marie Seebach, internationaler Theaterstar

Wilhelmine Seebach, ihre Schwester

Lotte Wernitz, Krankenschwester

Mirlie, ihre Freundin in der Schweiz

Dr. Bernhard Gaspari, Rechtsanwalt

Luise Linke, Schauspielerin

Peter Linke, ihr Ehemann, Schauspieler

Thea von Redden, Sopranistin

Julius Frank, Schauspieler

Auguste Hertz, ehemals lustige Alte

Ludwig Tomaczyk, ehemaliger Wagner-Tenor

Paul Morow, Gärtner

Manfred von Schönfeld, Theas alter Verehrer

Dorothee Berndorff, junge Ehrendame

Grit Adolph, Schauspielerin

Hans Wachenhusen, Journalist

Hugo Schilling, Hausmeister

Frieda Schilling, seine Frau

Albert Niemann, Tenor

Oscar Niemann, Marie Seebachs Sohn

Vorspiel

Der Schauspieler soll auch

im gemeinen Leben bedenken,

dass er öffentlich zur Kunstschau stehen werde.

Johann Wolfgang von Goethe,
»Regeln für Schauspieler«

Prolog

An

Frau Marie Seebach

Hotel du Lac

Sankt Moritz-Bad

Schweiz

Weimar, den 3. Mai 1897

Sehr verehrte gnädige Frau,

es tut mir leid, Sie an Ihrem Urlaubsort stören zu müssen, da Sie die Erholung gewiss verdient haben. Nach reiflicher Überlegung erscheint es mir jedoch notwendig, Sie von gewissen Vorgängen in Kenntnis zu setzen, die sich hier nach Ihrem kurzen Besuch zugetragen haben. Ihnen bot sich zweifellos ein Bild, das nicht der Realität entspricht – und Sie wollen sicher wissen, was hinter der Fassade von Redlichkeit und Respekt geschieht. Ihre Güte sollte nicht mit Füßen getreten werden.

Die Entscheidung, einen Betrag von 700 000 Goldmark für eine Stiftung zu spenden, aus der ein Altenheim für bedürftige Bühnenschaffende hervorgeht, ist nicht nur ein Akt der Großzügigkeit, sondern zeugt auch von Ihrem tiefen Glauben an das Gute im Menschen.

Seit der Erteilung einer Schankerlaubnis ist es allerdings um den Anstand in dem von Ihnen gestifteten Haus geschehen. Der Dank für Ihre Großzügigkeit sind Handlungen aus niedrigsten Beweggründen wie etwa Diebstahl. Offenbar wittert der Hauswart ein gutes Geschäft. Es wurde beobachtet, wie er Kisten eines edlen Tropfens aus der Region Saale-Unstrut vom Keller auf einen Leiterkarren hob und abtransportierte. Dabei handelte es sich nicht um eine einmalige Aktion. Was soll damit wohl anderes geschehen als der Weiterverkauf der Weinflaschen? Auf diese Weise versucht ein Mann, der von Ihrem Stiftungsgeld lebt, seinen Beutel auf Ihre Kosten zu füllen. Dem kann man nicht tatenlos zusehen!

Verzeihen Sie meine Offenheit, verehrte gnädige Frau, sie ist Ausdruck meines Respekts vor Ihnen. Mein Name tut hier nichts zur Sache.

Ich verbleibe in tiefer Verbundenheit

Erster Akt

Ein herzlich Anerkennen

Ist des Alters zweite Jugend

Johann Wolfgang von Goethe

Sankt Moritz-Bad

Marie

1

Aus dem See stieg Dunst auf, die Berge dahinter verschmolzen zu einer weißen Masse, schwere Wolken hüllten die Gipfel ein, und Schneeflocken wirbelten vor dem Fenster, als wäre es Dezember und nicht Ende Mai. Das nasskalte Wetter eignete sich nicht für einen langen Spaziergang, es war zu kühl, und die meisten Wege waren überdies rutschig und für eine Dame fortgeschrittenen Alters nicht einfach zu bewältigen – erst recht nicht für eine Frau, die über keine sonderlich gute Konstitution verfügte. Dennoch bestand Marie Seebach darauf, das Hotel du Lac in Richtung Kurhaus zu verlassen, egal, wie gefährlich das sein mochte. Untätigkeit war ihr verhasst.

Wenn sie mit heute achtundsechzig Jahren auf ihr Leben zurückblickte, so war sie ständig in Bewegung gewesen. Als Schauspielerin hatte sie praktisch jedes Engagement angenommen, das vorteilhaft für ihre Karriere und gut bezahlt war, Entfernungen spielten dabei die geringste Rolle. Kaum hatte sie sich vor dem Vorhang des einen Theaters für den Schlussapplaus verbeugt, eilte sie schon zu ihrer wartenden Kutsche, um einer neuen Bühne entgegenzufahren. So ging es viele Jahrzehnte. Und nur so hatte sie sich ein großes Vermögen zusammensparen können, denn mit dem mageren Lohn aus ihren Festanstellungen wäre das bei aller Disziplin nicht möglich gewesen. Eben weil die Gagen an vielen Schauspielhäusern niedrig waren, lebten viele ihrer wunderbaren Kolleginnen und Kollegen in bitterer Armut. Das mitanzusehen hatte sie nie ertragen können. Die Probleme der privat finanzierten Theater und auch der Bühnengenossenschaft würde sie nicht lösen können, sie konnte aber einigen Menschen helfen, in Würde zu altern. Das war ihr Ansporn. Sie wurde noch rastloser. Auch wenn ihr das Schicksal inzwischen ein paar körperliche Grenzen aufzeigte – sie hatte keine Zeit für Ruhe. Vor allem dann nicht, wenn anonyme Briefe ihr das Leben schwer machten. Briefe, deren Inhalte nicht einfach wegzufegen waren wie Papierbälle, die sie auf den Boden warf.

Die Nachrichten des anonymen Schreibers beunruhigten sie zutiefst. Mindestens genauso wie Untätigkeit fürchtete sie den Verlust jeglicher Kontrolle über ihr Vermögen. Als sie das viele Geld an eine Stiftung übertragen hatte, war ihr durchaus der Gedanke gekommen, dass Vorstand und Kuratorium trotz gewisser Vereinbarungen nun mehr zu bestimmen hatten als sie selbst. Wenn diese Herren das Alkoholproblem, das es offenbar in ihrem Haus in Weimar gab, nicht beheben konnten und überdies auch noch der Klatsch zu blühen schien, würde es eben eine Frau richten müssen. Wilhelmine, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, war dafür anscheinend aber noch weniger geeignet, als Marie angenommen hatte. Naivität und Wein vertrugen sich nicht. Hoffentlich reiste Wilhelmine bald zur Kur nach Bad Oeynhausen; Marie hatte diesen Aufenthalt in ihrem letzten Schreiben deutlich befürwortet. Wilhelmine wäre zwar auch nach Graubünden gekommen, doch hier konnte Marie sie beim besten Willen nicht gebrauchen, jeder Ärger musste auch ein Ende haben.

In dem Wunsch, einen Schlusspunkt unter die Weimarer Unannehmlichkeiten zu setzen, betrachtete Marie aufmerksam die junge Frau, die man ihr hier als Begleitperson zugeteilt hatte. Schwester Lotte war eine der Pflegerinnen, die in den Hotels ersten Ranges für die wohlhabenden Touristinnen und Touristen sorgen sollten, die Rollstühle schoben, Becher mit dem berühmten Heilwasser aus der Trinkhalle verabreichten, eine gewisse Aufsicht über die Medikation jedes einzelnen Gastes ausübten und Notfälle versorgten. Bereits in der vorigen Saison hatten sie einander kennengelernt, und Marie hatte von Anfang an die kluge Tatkraft der anderen geschätzt. Dabei wirkte Lotte gar nicht so energisch wie manche ihrer Kolleginnen, sie war zwar hochgewachsen und damit deutlich größer als Marie, aber die junge Frau ging – ebenso wie Marie selbst – nicht in die Breite, sondern war sehr schlank. Ihr hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen und dem unmodern großen Mund war fein geschnitten, und so manche Vertreter gehobener Kreise des Deutschen Reichs schätzten sie auch aufgrund ihrer hochdeutschen Aussprache. Die meisten Preußen verstanden die Graubündner Mundart oder die romanische Muttersprache der Einheimischen nicht, was Schwester Lotte gewiss auch zu ihrer Stellung im Hotel du Lac verholfen hatte, ganz abgesehen von einem freundlichen Wesen mit großer Professionalität. Auf Maries Nachfrage hatte Lotte irgendwann im vergangenen Sommer etwas unwillig erzählt, dass sie in Potsdam geboren worden und auf einem Hof in Brandenburg aufgewachsen war. Deshalb also die klare, hochdeutsche Sprache, die – ein wenig geschult – sicher auch auf einer Bühne bestehen könnte. Auf jeden Fall hielt Marie sie für geeignet, einen Auftrag auszuführen, der über die heutige Begleitung zur Trinkhalle hinausging.

Dennoch ärgerte sie sich gerade über sie. Schwester Lotte war entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten leicht verspätet erschienen und hatte ihr mit einem Hinweis auf den eisigen Schneeregen den Spaziergang verwehrt. Und das, obwohl Marie bereits ausgehfertig in ihrem Hotelzimmer auf sie gewartet hatte. Maries Antwort entsprach einem wütenden Schnauben: »Ich lasse mich doch nicht von einer Schlechtwetterfront davon abbringen, einen Becher Heilwasser zu mir zu nehmen.«

»Es ist nicht das, was vom Himmel kommt, was mir Sorgen bereitet«, meinte die Krankenschwester, »sondern das, was auf der Straße liegen bleibt. Es ist recht ungünstig für einen Fußmarsch.«

»Unsinn …«

Schwester Lotte besaß die Dreistigkeit, Marie zu unterbrechen: »Wenn Sie unbedingt selbst in die Trinkhalle wollen und es Ihnen nicht genügt, dass ich Ihnen einen Becher von dort auf Ihr Zimmer bringe, sollte ich einen Rollstuhl …«

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr Marie empört auf. Sie stand mitten in dem eleganten Apartment des Luxushotels und stemmte die Hände in die Hüften wie eine Bäuerin auf dem Markt, obgleich sie für diesen Vergleich viel zu zierlich und schmal war; die resolute Bäuerin war auch nicht ihr Rollenfach gewesen. Sie war nicht nur verärgert über Schwester Lotte, sondern auch über sich selbst, weil sie die Jüngere für klug – und geduldig – gehalten hatte. »Wissen Sie, was ich auf mich genommen habe, um fest auf meinen beiden Füßen zu stehen? Vor zwei Jahren ist eine Kutsche über meine Beine gefahren, und niemand glaubte, dass ich nach dem Unfall jemals wieder würde laufen können. Es stand sogar eine Amputation zur Debatte. Nicht einmal ich selbst habe eine vollständige Heilung erwartet. Dennoch habe ich gekämpft – und nun stehe ich vor Ihnen und denke nicht daran, mich anders fortzubewegen als auf den Gliedmaßen, die Gott mir dafür geschenkt hat.«

»Bitte, Frau Seebach, regen Sie sich nicht so auf. Ich habe doch nur …«

»Es wird mir schon nichts passieren, wenn Sie mich begleiten, Schwester«, fiel Marie ihr ins Wort. »Ist es nicht eigentlich Ihre Aufgabe, meine Wünsche zu erfüllen?«

»Solange …«, hob Lotte an, unterbrach sich jedoch wieder. Marie war trotzdem klar, was sie sagen wollte: Solange diese vernünftig sind. Stattdessen lenkte die Krankenschwester ein: »Na, gut. Wir werden es schon ohne Blessuren zum Kurhaus schaffen, wenn wir zusammenhalten und gut aufpassen. Versprechen Sie mir aber bitte, dass wir sofort umkehren, wenn der Weg zu beschwerlich wird!«

Marie beschloss, nachsichtig mit Schwester Lotte zu sein. Eigentlich war das Mädchen ja ganz gescheit. Sie fragte scheinbar zusammenhanglos: »Wie alt sind Sie?«

Die junge Frau zögerte. Dann: »Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt.«

»Sie sehen jünger aus«, stellte Marie sachlich fest, um dann rasch fortzufahren: »In Ihrem Alter ist man meistens verheiratet, aber es ist als Krankenschwester natürlich opportun, ledig zu bleiben. Die Ehe verträgt sich nicht mit den meisten Berufen für Frauen, und die Liebe ist ohnehin ein wackeliges Vehikel. Außerdem ist es sinnvoll, ein eigenes Auskommen zu haben, nicht wahr? Auf einen Mann ist nicht immer Verlass.«

Lottes Gesichtsfarbe wechselte von blass zu rot wie bei den Hitzewallungen einer deutlich älteren Person. Offenbar war es ihr peinlich, eine derart persönliche Angelegenheit mit einem Gast zu besprechen. Vielleicht hatte sie bereits Erfahrung mit Männern gemacht, die eine Frau zu Träumen fern der Realität verführen konnten. Marie hatte damit im Lauf ihrer Ehe mit dem großartigen Heldentenor Albert Niemann und sogar noch nach der schmerzlichen Scheidung von ihm zu kämpfen gehabt. Ja, die Liebe war eine unsichere Angelegenheit. Wahrscheinlich war Schwester Lotte mit den Unzuverlässigkeiten der Männer schon vor der Verlobung konfrontiert worden. Armes Mädchen. Sie konnte sie so gut verstehen.

Um nicht in Selbstmitleid unterzugehen, wechselte Marie das Thema. »Schwester Lotte, Sie haben ja keinen Mantel bei sich, und Ihre schöne gestärkte Uniform wird draußen unnötig nass. Da ich nicht warten möchte, bis Sie sich einen Überwurf aus Ihrer Unterkunft geholt haben, soll Ihnen meine Zofe eines meiner Wolltücher geben … Doris!«

Ihre Dienerin begleitete Marie schon sehr lange, inzwischen war Doris ein wenig gebrechlich, aber sie war ihr treu ergeben, obwohl Marie sie schlecht bezahlte. Marie fand Großherzigkeit gegenüber ihrem eigenen Personal ebenso unpassend wie Trinkgelder für andere Bedienstete wie etwa Kellner, Boten, Gepäckträger oder Kutschfahrer. Ihr Sinn für Wohltätigkeit äußerte sich eher in großen Gesten wie etwa der Gründung ihrer Stiftung und dem Bau eines Altenheims.

Nachdem die Krankenschwester sich den schweren Wollschal um die Schultern geschlungen hatte, bot sie Marie ihren Arm. »Wollen wir gehen?«

»Gerne.« Marie hakte sich bei ihr unter. »So können wir unterwegs ein wenig plaudern. Ich habe nämlich einen Auftrag für Sie, Schwester Lotte«, fügte sie mit einem verschwörerischen Unterton in der Stimme hinzu, wohl wissend, dass das Pflegepersonal für Botengänge aller Art nicht zuständig war. Aber dergleichen war auch nicht Maries Ansinnen.

Lotte, die sich gerade in Bewegung setzen wollte, hielt inne. »Was möchten Sie, dass ich für Sie besorge?«, fragte sie verhalten. Wahrscheinlich befürchtete sie, sich mit der Hotelleitung auseinandersetzen zu müssen, wenn sie Maries Auftrag ausführte, aber ebenso Diskussionen, wenn sie es nicht tat und Marie sich deswegen über sie beschwerte.

»Ich will, dass Sie an meiner Stelle verreisen.«

»Was?« Lotte schnappte nach Luft.

»Eben sagten Sie, dass es momentan höchst ungesund für mich ist, das Hotel zu verlassen. Bis zum Kurhaus werde ich es schaffen, aber darüber hinaus halte selbst ich es bei diesen Witterungsverhältnissen für ausgesprochen schwierig.«

»Ich verstehe nicht …«

»Nun, das brauchen Sie auch nicht. Wir sollten die Angelegenheit später besprechen. Ein Becher von dem Heilwasser wird mir die Kraft schenken, Ihnen alles zu erzählen, ohne mich dabei allzu sehr aufzuregen. Alsdann, machen wir uns auf den Weg.« Mit erstaunlicher Energie zog Marie die Jüngere nun mit sich aus dem Hotelzimmer.

Bei jedem ihrer festen Schritte spürte Marie die Unsicherheit der jungen Frau neben sich. Lotte verzog keine Miene, aber Marie war klar, dass sie ebenso neugierig geworden war wie die Zuschauer, wenn Marie als Goethes Gretchen auf der Bühne stand und für einen oder zwei Atemzüge offenließ, ob sie mit Faust flüchten oder sich dem Scharfrichter ausliefern wollte. Es amüsierte sie, wie gut sie ihre Rolle nach wie vor spielen und Menschen manipulieren konnte. Leider waren die Herren des Kuratoriums ihrer Stiftung zu weit weg, um ihr Können auf dieses Publikum auszuweiten.

Mit einem hoheitsvollen Nicken erwiderte Marie den Gruß anderer Gäste und die Ehrerbietung des Personals im Foyer des Hotel du Lac. Als der Portier die Tür öffnete, ging sie voraus. Feuchte, kühle Luft schlug ihr entgegen, und sie zwang sich, nicht den Kragen ihres Mantels hochzuschlagen. Das wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen, ein Zugeständnis, dass ihr die Witterung doch zusetzte. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße und achtete darauf, vorsichtig aufzutreten, um nicht auszurutschen. Nur wenige Passanten waren unterwegs, und niemand schien an einem freundlichen »Grüezi« interessiert. Bei schönem Wetter war das anders …

Als sie sich einigermaßen an die Straßenverhältnisse gewöhnt hatte, wanderten ihre Gedanken nach Weimar, der schönen Stadt der deutschen Klassik, in der sie selbst nie gelebt hatte, wo sie stets nur zu Besuch gewesen war, die sie aber liebte wie wenige andere Orte. »Mein Lebenswerk kommt in Verruf«, stieß sie hervor, und die kalte Luft verwandelte ihren Atem in kleine Nebelschwaden. »Meine guten Absichten versinken in übler Nachrede, Diebstahl und vielleicht auch in Korruption. Ich bin über alle Maßen empört.«

»So schlimm wird es gewiss nicht sein«, murmelte Schwester Lotte.

»Irgendetwas stimmt mit unserer Gesellschaft nicht. Viele rechtschaffene Männer und Frauen, die als Bühnenkünstler ein großes Publikum unterhalten, werden unterbezahlt und müssen daher im Alter in größter Not leben. Sehr viele. Wenn sie keine Familien haben, die sie unterstützen, bleibt ihnen nichts als ein Lebensabend im Armenhaus. Und wenn man diesen Menschen Gutes tut, wird man auch noch …« Marie unterbrach sich, weil sie sich in Rage geredet und nicht aufgepasst hatte. Sie drohte zu straucheln, wurde von der jungen Frau aber gut festgehalten. Ohne weiterzusprechen, setzte sie ihren Weg fort.

Weit war es nicht mehr. Die Trinkhalle war ein schlicht gehaltenes niedriges Gebäude, einer Bergkirche ähnlich, deren Spitze sich wie die Dächer der Bündner Bauernhäuser am Hang in den Nebelschwaden versteckte. Sie war weniger prätentiös als etwa das Kurhaus und das nahe gelegene Hotel des Bains, das durch zwei hohe Türme, die die fünf Stockwerke des Hauses überragten, als besonders luxuriös auffiel. Im Inneren der Trinkhalle versammelten sich Patientinnen und Patienten mit ihren Krankenschwestern oder anderer Begleitung vor der Ausgabe der Becher mit dem eisen- und kohlesäurehaltigen Quellwasser. Die feuchten Mäntel sorgten für einen modrigen Dunst, Atemwölkchen wehten durch den Raum, ein leises Gemurmel hallte von den kahlen Wänden wider.

»Ich habe eine Stiftung für alte und bedürftige Künstler gegründet«, nahm Marie ihren Gesprächsfaden wieder auf, während sie neben Lotte darauf wartete, an die Reihe zu kommen, »weil ich meinen Kolleginnen und Kollegen helfen möchte, ihren Lebensabend in Würde zu verbringen. Für die Bereicherung Dritter ist das Haus in Weimar nicht gedacht.«

»Natürlich nicht«, stimmte Lotte zu.

Wie in einem leisen Theatermonolog fuhr Marie fort: »Ich bin durch gewisse rechtliche Vorgaben an die Einhaltung von Regeln gebunden. Nicht jeder scheint sich jedoch mit derselben Strenge daran zu halten. Das ist ein Ärgernis, ich empfinde es als Katastrophe, mehr noch als persönliche Schmähung. Doch mir sind die Hände für eine offizielle Intervention gebunden, solange das Kuratorium beide Augen vor den Problemen verschließt.«

Sie waren an der Ausgabe angekommen, und Lotte reichte Marie den eben gefüllten Becher. »Trinken Sie bitte nicht zu hastig, sondern ganz langsam Schluck für Schluck.«

Folgsam nippte Marie an dem Becher. Ein guter Wein wäre schmackhafter, fuhr es ihr bitter durch den Kopf. Sie trat aus der Schlange der Wartenden und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Mich haben verschiedene Mitteilungen über die Vorgänge in Weimar erreicht. Anonym. Es macht alles keinen guten Eindruck.«

»Das tut mir leid«, murmelte die Krankenschwester hilflos. Natürlich konnte sie mit Maries Informationen wenig anfangen. Lotte rettete sich in Professionalität: »Sie sollten sich nicht so aufregen, gnädige Frau, Sie sind hier zur Erholung …«

»Wie soll ich mich entspannen, solange ich befürchten muss, dass mein Werk bedroht ist? Nicht einmal vor meiner Schwester macht die üble Nachrede halt.« Ihr Ton klang schrill. Andere Kurgäste wandten daraufhin die Köpfe zu ihr. Unangenehm berührt über die unerwünschte Aufmerksamkeit, drückte Marie der Jüngeren den nur halb ausgetrunkenen Becher in die Hand. »Stellen Sie das zurück. Das Heilwasser bekommt mir heute nicht.« Sie straffte die Schultern. »Gehen wir zurück in mein Hotel und lassen Sie uns besprechen, wann Sie nach Weimar reisen können.«

Lotte fiel fast der Becher aus der Hand. »Wie bitte?«

»Ich möchte, dass Sie nach Weimar reisen und sich dort umsehen.«

»Aber ich …«

»Keine Widerrede!«, erklärte Marie. »Selbstverständlich reisen Sie inkognito und auf meine Kosten.«

Still drehte sich Lotte um, damit sie einer Kollegin aus der Trinkhalle den Becher zurückgeben konnte. Sie entzog sich damit Maries Blick. Wahrscheinlich musste sie sich sammeln oder von dem Schreck erholen, den Maries Vorschlag ausgelöst hatte. Allerdings war es in Maries Gedankenwelt ein Befehl und keine Einladung, die abgelehnt werden durfte.

Mit einem überraschend milden Lächeln wandte sich Lotte wieder ihrer Begleiterin zu: »Ich kann Ihnen nicht helfen, liebe gnädige Frau. Ich bin nur eine Krankenschwester, die hier im Kurbad gebraucht wird.«

Eigentlich hatte Marie mit einer sofortigen Zustimmung gerechnet. Sie hatte nicht gedacht, dass sich eine junge Frau dem Abenteuer einer bezahlten Reise entziehen würde. Wenn dem aber so war, würde sie sich in Geduld fassen. Nur mit Beharrlichkeit hatte Marie in ihrem Leben bekommen, was sie haben wollte. Mit Ausnahme der Liebe von Albert Niemann, aber das war eine andere Geschichte.

Schwester Lotte hielt ihr die Tür der Trinkhalle auf, und schweigend folgte Marie ihr in den feinen Schneeregen.

»Die Saison beginnt in diesen Tagen«, fügte Lotte an, »da haben wir alle Hände voll zu tun. Eine mehrtätige Reise ist ausgeschlossen.«

»Ich werde Ihre Dienste hier am Ort vorläufig nicht benötigen«, entgegnete Marie. »Meine Schwester Wilhelmine hat angeboten, mich zu besuchen …«

»Kann Ihre Frau Schwester nicht in Weimar nach dem Rechten sehen?«, warf Lotte rasch ein.

»Nein. Wilhelmine ist ein Teil des Problems, nicht dessen Lösung.«

»Oh!«

»Jedenfalls habe ich ihr geschrieben, dass sie sich schleunigst auf den Weg zu einem Kuraufenthalt nach Bad Oeynhausen machen soll. Sie liebt den Ort ebenso wie ich Sankt Moritz hier.« Marie hakte sich wieder bei Lotte unter. »Aber nun lassen Sie uns erst einmal ins Hotel gehen und gut aufpassen. Die Straße erfordert meine ganze Aufmerksamkeit. Es ist doch sehr rutschig. Und die kühle Luft tut meinem Hals nicht gut … Sehen Sie, meine Liebe, Sie hatten recht: Ich hätte besser auf meinem Zimmer bleiben sollen.« Diese Anerkenntnis war ihr erster Versuch, Lotte einzuwickeln.

Lotte

2

Nein, dachte Lotte Wernitz. Nein, nein, nein.

Sie bewahrte Haltung und blieb höflich, aber in ihrem tiefsten Inneren empfand sie das Anliegen von Marie Seebach als einfach nur unverschämt. Wie kam diese Person dazu, sie in ihre Privatangelegenheiten einzubeziehen? Natürlich war sie schon Patienten begegnet, die Grenzen überschritten, alleinstehende Herren neigten dazu, die Fürsorge einer Krankenschwester zu überschätzen. Aber die Forderung der alten Dame überstieg alles, was Lotte bislang erlebt und gehört hatte. Für die geheime Überprüfung üblen Geredes und anonymer Briefe war ein Detektiv gewiss die bessere Wahl. Lotte hatte davon gehört, dass ehemalige Polizisten und aus den Diensten des preußischen Militärs ausgeschiedene Männer als private Ermittler tätig waren. Marie Seebach war jedoch nicht abzubringen von ihrer Idee. Sie verfolgte Lotte regelrecht, sie hatte ihr sogar die schriftlichen Nachrichten aufgezwungen. Anfangs hatte sich Lotte geweigert, die Schreiben aus Weimar zu lesen, doch dann fand sie ein dickes Kuvert in ihrer Schürzentasche; Frau Seebach hatte es ihr wohl unbemerkt zugesteckt. Jedenfalls befanden sich in dem Umschlag mehrere Blätter – und weil sie anfangs nicht wusste, worum es sich handelte, musste Lotte schließlich Notiz nehmen von den skandalösen Inhalten.

Bis zu ihrer Lektüre hatte sie geglaubt, diese Patientin wäre eine starrsinnige und kapriziöse alte Frau. Davon gab es viele, doch diese war natürlich einzigartig. Allein Marie Seebachs zuweilen etwas despotisches Verhalten war wohl nicht ausschließlich ihrem Alter, sondern vor allem ihrer Berühmtheit zuzuschreiben. Welche deutschsprachige Schauspielerin hatte schon auf einer Tournee durch die USA derartige Triumphe gefeiert? Das war Jahrzehnte später noch unerreicht. Sie hatte Lotte ein paar Ausschnitte von alten Zeitungen aus New York, Washington, Baltimore, Chicago und Philadelphia, die sie in einem Album mit sich führte, gezeigt und übersetzt. Ihre Verkörperung des Gretchens in Goethes Faust hatte sie weltberühmt gemacht. Für einen solchen Erfolg genügte gewiss nicht nur ein großes Talent, es brauchte Energie und Durchsetzungskraft. Diese Eigenschaften zeichneten die Dame bis heute aus, obgleich ihr Handeln ihrem Alter entsprechend etwas weiser sein könnte. Aber vielleicht war es gar nicht unvernünftig, eine unbeteiligte Person, der sie vertraute, nach Weimar zu schicken, um nach dem Rechten zu sehen. Nachdem weder der Rechtsanwalt noch ihr Fräulein Schwester etwas ausrichten konnten, bedurfte es einer Fremden, um die Dinge ins Lot zu bringen. Das war schon richtig. Doch wieso kam sie bei der Besetzung dieser Rolle ausgerechnet auf Lotte, eine einfache Krankenpflegerin, die nicht sonderlich neugierig war, kaum weltgewandt und jegliches Interesse daran verloren hatte, eine Reise in das Deutsche Reich anzutreten?

Ach, sie sollte nicht so viel darüber nachdenken, beschloss Lotte, während sie, müde vom Tag, angetan mit ihrem Nachthemd, ihre Kleidung ordentlich zusammenlegte. Sie rollte die Strümpfe auf und entschied dabei, dass Frau Seebachs Wunsch nichts als Unsinn war. Allein schon deshalb, weil die alte Dame nicht so ohne Weiteres über Lottes Leben bestimmen konnte. Nicht nur, dass sie einander auf persönlicher Ebene fremd waren. Die Schauspielerin war ein Gast wie viele, sie kam und reiste wieder ab, während Lottes Lebensmittelpunkt in Sankt Moritz blieb. Ganz bewusst hatte sie ihrem Zuhause in Brandenburg und den Tragödien ihrer Familie den Rücken gekehrt, darüber hinaus hatte sie sich eine Arbeit gesucht, die weit genug von dem Assistenzarzt entfernt war, in den sie sich seinerzeit in der Charité in Berlin verliebt hatte. Es war wirklich keine gute Idee, in das Deutsche Reich zurückzukehren, zwar nicht in die Hauptstadt, aber das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach lag nicht weit genug davon entfernt …

»Hör bitte damit auf, deine Strümpfe zu malträtieren«, unterbrach Mirlie ihre Gedanken. Lottes Kollegin und Mitbewohnerin lag bereits in dem einen der beiden schmalen Betten, die an den Längswänden des kleinen Dachzimmers im Hotel du Lac getrennt von dem Schrank aufgestellt waren. Die Zeitung, die die Schweizerin zuvor in der Hand gehalten hatte, lag nun unbeachtet auf der Decke. »Ich kann das nicht mehr mitansehen.«

»Verzeihung.« Lotte lächelte Mirlie an und warf das Wollknäuel in ihr Schrankfach. Unentschlossen rang sie die Hände. »Es gibt so vieles, das mir gerade durch den Kopf geht, da werde ich zappelig.«

Mirlie klopfte auf den Platz neben sich. »Setz dich her und erzähl mir, was dich bedrückt.«

»Ach, es ist nicht wichtig …«

»Offenbar doch. Und es hilft bestimmt, wenn du darüber redest. Im Gespräch findet man schneller eine Lösung als im einsamen Nachdenken. Das hat schon meine Grosmueter gesagt.«

»Wahrscheinlich wollte sie dir damit nur deine Geheimnisse entlocken.«

»Und was verbirgst du?« Mirlie lachte. »Bist du etwa verliebt?«

»Iwo! In wen denn?« Als wäre sie in der Lage, jemals wieder so viel für einen Mann zu empfinden wie für den einen, der eine andere geheiratet hatte. Zu Mirlie gewandt fügte Lotte hinzu: »Hier begegnen wir keinem geeigneten Kandidaten für unsereins. Die meisten Gäste sind zu alt, und wenn sie jünger sind, haben sie schon eine Gemahlin.« Und das kam ihrer Gefühlswelt entgegen, allein der Mangel an Gelegenheiten machte den Kurort für sie ausgesprochen attraktiv. Die Vorstellung, noch einmal schwach und dann wieder enttäuscht zu werden, war für sie wie ein Albtraum.

»Wenn es kein Mann ist, was ist es dann? Ich habe dich noch nie so fahrig erlebt, Lotte, du bist sonst immer so besonnen. Komm, sag mir, was los ist! Gemeinsam finden wir schon einen Weg aus deiner Notlage. Ist mit einem deiner Gäste etwas passiert?«

»Nein, nein, denen geht es allen gut.« Seufzend ließ sich Lotte auf Mirlies Bettrand nieder. Nicht, dass sie Unterstützung von der Kollegin erwartete. Aber Mirlie würde keine Ruhe geben, wenn sie ihr nicht etwas erzählte. Irgendetwas.

Da sie zu müde für eine Notlüge war und die Wahrheit ja auch eigentlich niemandem schadete, sammelte sie sich und berichtete nach dieser kurzen Pause von Marie Seebachs nachdrücklichem Wunsch, Lotte nach Weimar zu schicken. »Sie ignoriert meine Absagen. Andauernd redet sie auf mich ein, wann immer wir uns treffen. Am liebsten würde ich die Patientin abgeben. Doch das würde kein gutes Licht auf mich werfen und wahrscheinlich auch nur zu neuem Ärger führen …« Hilflos brach sie ab.

Während sie zuhörte, hatte Mirlie ihre Knie angezogen und die Stirn darauf gestützt, nun hob sie den Kopf. »Warum tust du ihr denn nicht den Gefallen und fährst für ein paar Tage nach Weimar?«

»Es ist Saison. Hier werden alle Hände gebraucht.«

»Noch ist es nicht so voll, dass du nicht kurz wegkönntest. Entschuldige dich mit einer wichtigen Familienangelegenheit, die du vor Ort in Deutschland klären musst. Das wird die Kurbadleitung nicht anzweifeln.« Mirlie strahlte, offensichtlich freute sie sich über ihren Einfall. »Und dann schreibst du mir, wie es in Weimar ist. Da soll es ja überall Theater und Musik geben und Tanzveranstaltungen und Bälle. Du wirst dich bestimmt amüsieren.«

»Wie sollte ich? Ich kenne in Weimar keinen Menschen.«

»Aber mit einer Empfehlung von Frau Seebach öffnen sich dir bestimmt alle Türen.«

Lotte erwiderte nicht, dass sie inkognito reisen sollte, also auf sich allein gestellt war. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich gehe jetzt zu Bett und denke darüber nach, wie ich Frau Seebach ausreden kann, dass ich die geeignete Person für ihr Vorhaben bin.«

Mirlie griff nach ihrer Hand. »Bitte, überleg lieber, ob du nicht doch fahren willst. Falls es zu einem Streit mit der Seebach kommt, verlierst du eher deine Stellung, als wenn du dir ein paar Tage frei nimmst. Sie ist immerhin eine berühmte Frau und ein regelmäßiger Kurgast.«

»Nein«, wiederholte Lotte, während sie Mirlies Hand abschüttelte und sich erhob. Sie war zerknirscht, weil Mirlie bezüglich ihrer Arbeit natürlich recht hatte. Trotzig fügte sie hinzu: »Nein, nein, nein.«

Weimar

Thea

3

Thea von Redden strich vorsichtig über die Knospe einer Rose. Sie liebte diese Blumen, jedes Jahr sehnte sie die erste Blüte herbei. Früher hatte sie große Bouquets geschenkt bekommen, mit Rosen in den Armen hatte sie sich auf der Bühne vor ihrem begeisterten Publikum verbeugt, zahllose Sträuße von Verehrern erwarteten sie in ihrer Garderobe. Ihre Auftritte waren jedoch schon lange her, und nichts erinnerte sie so sehr an die eigene Vergänglichkeit wie der Verlust der Bewunderung. Als der junge Landschaftsgärtner, den das Stiftungskomitee angestellt hatte, im vorigen Jahr Rosensträucher in den Vorgarten der Villa pflanzte, nahm sie es als Zeichen, dass sie in dem von Marie Seebach gegründeten Altenheim ebenfalls Wurzeln schlagen konnte. Was für ein Irrtum!

Sie hatte nicht damit gerechnet, wie sehr ihr die ständige Nähe zu den anderen Bewohnern auf die Nerven gehen würde. Die Heucheleien und Intrigen, die sie einst hinter den Kulissen mit ihren Kolleginnen und Kollegen erlebt hatte, setzten sich in dieser Umgebung im Verein mit Altersstarrsinn fort. Darüber hinaus machte ihr der ständige Klatsch zu schaffen, dieses andauernde Geschnatter war ihre Sache nicht. Sie schützte sich mit beißender Ironie vor dem vielen Gerede – aber auch das war anstrengend.

Meistens zog sie die Ruhe vor, in der sie ihren Erinnerungen nachhing. Doch in diesem Haus fand sie die ersehnte Stille nicht einmal in ihrem Zimmer. Durch die Wände hörte sie den dauernden Streit des Ehepaares Luise und Peter Linke, und das Gezänk von Auguste Hertz machte nicht einmal vor ihrer Tür halt. Da hatte Marie Seebachs Architekt bei dem Bau des Hauses auf eine Zentralheizung und auf Doppelfenster geachtet, aber nicht auf schalldichte Wände und Türen. Deshalb ging Thea viel in den Garten – nach einem milden Winter und ungewöhnlich hohen Frühjahrstemperaturen erwies sich diese Flucht sogar als Genuss.

»Wenn das warme Wetter hält, werden die Rosen bald blühen.«

Thea richtete sich auf und wandte sich zu dem jungen Mann in ihrem Rücken um. Der Gärtner stand in Arbeitsmontur da, hatte einen Spaten geschultert und strahlte sie an. Nicht nur, dass er ihre florale Vorliebe teilte, sie mochte ihn wegen seines Charmes und nicht zuletzt auch wegen seines attraktiven Äußeren mit den blonden Locken und dem klassischen Gesichtsschnitt – Paul Morow erinnerte sie an manchen Verehrer in ihrer Vergangenheit, was ihn zu einem interessanten Gesprächspartner machte. Obwohl sie die Antwort kannte, fragte sie: »Ist das eine besondere Züchtung?«

»Es sind englische Sorten mit gefüllten Blüten, die stark duften«, erklärte Paul mit einem stolzen Lächeln. »Sie werden sich lange an ihrem Parfüm erfreuen.«

»Ach, was habe ich für schöne Erinnerungen daran …«

Bevor sie weiter schwelgen oder der Gärtner etwas erwidern konnte, wehte eine aufgebrachte Männerstimme von der Haustür zu dem Rosenbeet: »Haben Sie meine Frau gesehen?« Kurz darauf knirschte der Kies unter den schweren Schritten von Peter Linke, der, auf seinen Stock gestützt, zu Thea und Paul hastete. »Bitte, haben Sie beide meine Frau gesehen?«, wiederholte er atemlos.

Sogar in seiner Aufregung klingt er noch wie Götz von Berlichingen, fuhr es Thea durch den Kopf, bevor sie süffisant ausrief: »Der Herr Staatsschauspieler schenkt uns die Ehre! Mein Bester, Sie haben mich unterbrochen … Was führt Sie Wichtiges zu uns niederen Chargen?«

Peter Linke war ein Mann von trotz seines hohen Alters stattlicher Erscheinung, der mit seinem grauen Haarkranz und dem Vollbart den Statuen des älteren Sokrates nicht unähnlich war. Meist hielt er sich tatsächlich für einen besonderen Denker, er redete nach Theas Geschmack deutlich zu viel und in ausgesprochen arroganter Art und Weise. Jetzt jedoch wirkte er seltsam verunsichert, als Beweis kanzelte er Thea nicht wie gewohnt ab, sondern wiederholte seine verzweifelte Frage: »Haben Sie meine Frau gesehen?«

»Nein. Es tut mir leid.« Paul nahm den Spaten von der Schulter, rammte ihn in das Beet und stützte sich darauf wie auf einen Spazierstock, was ihm ein dandyhaftes Aussehen verlieh und Theas Herz höherschlagen ließ. »Seit ich hier bin, habe ich Frau Linke nicht gesehen. Also seit gut zwei Stunden.«

»In letzter Zeit geht sie oft eigener Wege …«

»Verständlich«, murmelte Thea.

»… und dann verläuft sie sich in der Stadt und findet nur schwer hierher zurück«, fuhr Peter Linke fort. »Je länger sie ausbleibt, desto größer wird meine Sorge.«

»Ich habe Herrn Frank versprochen, auf ihn zu warten«, sagte Paul. »Aber sobald er kommt, kann ich mich auf die Suche nach Ihrer Frau machen.«

Thea wusste, dass Julius Frank, der einst ebenfalls ein gefeierter Charakterdarsteller gewesen war, in dem Garten eine neue, erfolgversprechende Bühne fand. Üblicherweise machte sie sich darüber keine Gedanken, die Gefühle anderer Menschen interessierten sie mit wenigen Ausnahmen kaum. Jedenfalls verbrachte der gute Julius viel Zeit bei der Planung und Bepflanzung der Anlagen und entzog ihr auf diese Weise die Aufmerksamkeit des jungen Landschaftsgärtners. Deshalb ärgerte sie sich ständig über ihn – und nutzte die Gelegenheit, um den Kollegen warten zu lassen. »Gehen Sie mit ihm, Herr Morow, und suchen Sie seine arme Frau«, schlug sie scheinbar großmütig vor, »ich kann genauso gut hierbleiben und mit dem Spaten auf Herrn Frank warten.«

»Luise ist einfach verschwunden«, jammerte Peter Linke wie im Selbstgespräch.

Paul drückte ihr sein Arbeitsgerät in die Hand. »Danke, Frau von Redden, haben Sie vielen Dank. Es ist wohl ein Notfall, da mache ich mich lieber auf den Weg.« Er zögerte kurz, dann: »Sagen Sie Julius bitte, dass ich die Rasenkanten abstechen wollte. Er kann schon damit beginnen, die Komposterde in die Beete einzuarbeiten, das schützt die Stauden vor der anhaltenden Trockenheit. Oder er kann die jungen Pflanzen wässern. Wie auch immer, ich bin bald wieder da.«

»Indessen begießt man einen Garten«, deklamierte Thea in dramatischem Tonfall, »da man dem Lande keinen Regen verschaffen kann. Wie eingeschränkt ist der Mensch bald an Verständnis, bald an Kraft, bald an Gewalt, bald an Willen.«

Peter Linke stieß mit seinem Stock fest auf. »Wenn sie doch beim Gesang geblieben wäre, jetzt rezitiert sie Charlotte von Stein. Kommen Sie rasch, Morow, bevor sie sich auch noch an Goethe versucht.«

»Die Natur hat immer recht, und die Fehler sind immer des Menschen«, gab Paul zurück. Er zwinkerte Thea verschwörerisch zu, bevor er Peter Linke in Richtung Straße folgte. Sein Zitat stammte tatsächlich von Johann Wolfgang von Goethe – und Thea schätzte ihn unendlich für diesen kleinen Seitenhieb gegen ihren Mitbewohner.

Als die beiden Männer, der junge und der alte, um die Hausecke gebogen und außer Sichtweite waren, ließ Thea den Spaten fallen und wandte sich wieder der Betrachtung des Rosenstrauchs zu. Wie von selbst flossen die Töne des Liedes vom Heideröslein über ihre Lippen. Wenn sie früher Konzertabende mit den Melodien von Franz Schubert gab, erlebte sie mit der Vertonung von Goethes Gedicht meist den größten Erfolg, dann warfen ihre Verehrer vor lauter Begeisterung Rosen auf die Bühne, es war ein Blumenregen, der Thea unendlich glücklich gemacht hatte. Sie tauchte in die Erinnerung ein und war mit einem Mal wieder die gefeierte Sopranistin, der die vornehmsten Herren zu Füßen lagen. Doch keinen wollte sie so sehr wie den schneidigen Manfred von Schönfeld, ihren leidenschaftlichsten Rosenkavalier. Vielleicht betrachteten es andere Frauen im Alter als Erfüllung, wenigstens einmal in ihrem Leben geliebt zu haben und geliebt worden zu sein, für Thea war es der schmerzlichste aller wiederkehrenden Gedanken. Einer, der sich mit den Jahren häufiger einstellte, den sie in selbst auferlegter Qual sogar immer wieder herbeirief.

In solchen Situationen half ihr nur ein Glas Wein, nicht ganz so freudlos auf ihren Lebensabend zu blicken. Sie sollte ins Haus gehen und nachsehen, ob sie irgendwo einen Tropfen auftreiben konnte. Leider war Wilhelmine Seebach abgereist, mit ihr war es immer so nett gewesen, ein Schlückchen zu sich zu nehmen. Thea kannte sie von einem gemeinsamen Engagement in Königsberg, das war lange her, verband sie aber bis heute. Eine der wenigen freundlichen Erinnerungen, die Thea an eine Kollegin besaß, der Rest war von Konkurrenzkampf und Neid zersetzt. Bedauerlicherweise war Wilhelmine aber nun zur Kur unterwegs – und Thea musste zusehen, wie sie sich ohne deren Gesellschaft bei einer Flasche aus dem Keller erholte.

Dorothee

4

Wohltätigkeit wurde in Dorothee Berndorffs Familie großgeschrieben. Ihre Mutter hatte so viele Ehrenämter übernommen, dass sie es kaum schaffte, alle Verpflichtungen zu erfüllen. Dorothee vermutete, der Hintergrund war nicht reine Menschenfreundlichkeit, sondern die Tatsache, dass ihre Frau Mama keine Lust auf die Führung des eigenen Haushalts hatte und die Übernahme karitativer Beschäftigungen für deutlich mehr gesellschaftliches Ansehen sorgte als eine ordentliche Wohnung. Leidige Arbeiten wie etwa die Aufsicht über die Wirtschaft der Marie-Seebach-Stiftung, die sie sich mit zwei anderen sogenannten Ehrendamen teilte, gab sie daher häufig an Dorothee ab. Offiziell natürlich aus Zeitmangel. Dabei hatte Dorothee mit ihrem eigenen Engagement genug zu tun.

Es gab nicht viele Möglichkeiten für die Tochter des großherzoglichen Bauinspektors, einer angemessenen Tätigkeit nachzugehen. Einen Beruf zu erlernen, war in ihren Kreisen für ein junges Mädchen verpönt, das einzige Ziel ihres gesellschaftlichen Standes bestand in der Wahl eines geeigneten Ehemannes. Die Musikstunden und Literaturzirkel langweilten Dorothee jedoch, sie zeichnete zwar gerne und träumte davon, den mit dem Kohlestift auf ein Blatt Papier geworfenen Figuren noch mehr Lebendigkeit einzuhauchen, aber eine Lehrstunde bei einem Bildhauer hielt ihre Mutter für ausgeschlossen. Dorothees praktische Veranlagung hatte sie in eine – natürlich unbezahlte – Stellung im Martha-Marien-Heim gebracht, einem Hospiz für allein reisende Damen gehobenen Standes. Eigentlich sollte sie als Mädchen für alles eingesetzt werden, aber sie fand sich im Büro schnell zurecht und war so gut organisiert, dass man ihr den Empfang überließ. Sie liebte die Verantwortung für die Zimmerreservierungen und die Gespräche mit den Touristinnen, die Dorothee an ihre Herkunftsorte und auf andere Reiserouten entführten, als wäre sie, die noch nie aus ihrer Heimatstadt hinausgekommen war, selbst unterwegs.

Nicht immer kamen Fremde in die Herberge, manchmal suchten Einheimische die Rechtsberatung für Frauen auf, die hier kostenlos angeboten wurde. Es waren keine Frauen aus der Friedensgasse, der Arme-Leute-Gegend, sondern eher die bessergestellten Bürgerinnen, die um Rat ersuchten. Der alte Rechtsanwalt, der sich bislang um die Sprechstunden gekümmert hatte, war kürzlich in Rente gegangen – und einige Klientinnen warteten bereits auf das Erscheinen seines Nachfolgers. Vorige Woche hatte Dorothee die potenziellen Mandantinnen wegschicken müssen, aber die Leiterin des Heims hatte ihr vorhin gesagt, dass das Büro heute wieder besetzt werden sollte. 

Sie erwartete einen gesetzten Herrn, wenig jünger als sein Vorgänger, und sah daher mit großen Augen einem etwa Dreißigjährigen entgegen, der selbstbewusst auf den Empfangstresen zusteuerte. Da das Martha-Marien-Heim kein herkömmliches Hotel wie etwa das Elephant war und kein Ort für männliche Gäste, ließ die Zielstrebigkeit des Fremden nur einen Schluss zu. Der neue Rechtsberater war groß, schlank und vorbildlich gekleidet, sein schmales Gesicht wurde von einem braunen Schnauzbart und kräftigen Brauen über blitzenden blauen Augen dominiert. Diese Augen funkelten so stark, dass Dorothee nicht aufhören konnte, ihn anzustarren.

»Guten Tag«, wünschte er freundlich mit einem tiefen Bariton. Er lüftete seinen Hut und gab dichtes brünettes Haar frei.

Dorothee schluckte. »Sind Sie der Rechtsanwalt?«

»Ob ich der Rechtsanwalt bin, weiß ich nicht. Aber ich bin ein Rechtsanwalt.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Mein Name ist Bernhard Gaspari.«

»Das freut mich …«, stieß sie heiser hervor. Ihr Hals fühlte sich ganz trocken an.

»Ich soll hier für heute ein Arbeitszimmer bekommen. Wären Sie so freundlich, mir den Weg dorthin zu zeigen?«

»Ja … natürlich … ja … kommen Sie, bitte …« Dorothee ärgerte sich über sich selbst, weil sie keinen zusammenhängenden Satz herausbrachte. Aber gerade gebildete Männer von einigem Ansehen liebten Frauen, die nicht zu viel redeten. Jedenfalls behauptete das ihre Mutter. Also fügte sich Dorothee in ihre Verlegenheit. Sie trat hinter dem Tresen hervor, deutete mit der Hand in einen Flur, der von dem mit orientalischen Teppichen und Samtmobiliar ausgestatteten Foyer abging. »Hier entlang … wenn … wenn es recht ist …« Was für eine dumme Bemerkung, schalt sie sich. Ihre Mutter meinte jedoch auch, Intelligenz zählte nicht zu den Eigenschaften, die Männer bei einer Frau schätzten. Es sei denn natürlich, die Dame wäre eine Frau von Stein oder gleich die Herzogin Anna Amalia. Da sie bei allen Ambitionen nicht zu dieser Kategorie gehörte, tröstete sich Dorothee mit dem Gedanken, dass sie mit naiver Sprachlosigkeit wohl am meisten Eindruck auf den Herrn Rechtsanwalt mache.

In der Schlange vor dem künftigen Büro des Anwalts unterhielt eine betagte Dame die anderen Wartenden. Die Frau trug ein altmodisches Seidenkleid und einen mit Federn besetzten Hut auf dem grauen Haar. Sie führte ein temperamentvolles Gespräch, gestikulierte mit den Armen. Ihre Zuhörerinnen waren heute ausnahmslos Bewohnerinnen des Hospizes, Dorothee kannte jede einzelne, und sie hingen staunend an den Lippen der Alten. Aber auch die kannte Dorothee. »Frau Linke«, begrüßte sie die Besucherin, »was verschafft uns denn heute die Ehre?«

»Es geht um Rufschädigung, wir werden alle verunglimpft«, verkündete Luise Linke und fügte mit dramatischer Geste hinzu: »Den will ich sehen, der dulden kann, dass Schurken über ihn reden …«

»Sie kennen Ihren Goethe aber ganz genau«, warf Bernhard Gaspari amüsiert ein.

»Die Dame war Schauspielerin«, erklärte Dorothee. Die Begegnung war ihr peinlich, sie fühlte sich unglücklicherweise für Luise Linke verantwortlich. Nicht nur, weil sie diese durch ihr gelegentliches Aushelfen in der Marie-Seebach-Stiftung kannte, sondern weil sie hier gerade als eine Art Hausvorstand agierte, die den Herrn Rechtsanwalt einwies. Möglicherweise warf das Gebaren der empörten alten Frau ein schlechtes Licht auf das Hospiz und seine Gäste wie Mitarbeiterinnen.

Autor