Letzte Nacht
Etwas geschah mit ihr, beim Fressen oder direkt danach. Sie fing an, sich im Kreis zu drehen und konnte nicht mehr aufhören. In meiner Küche, im Auto und dann beim Tierarzt. Zusammen saßen wir im Behandlungszimmer auf dem Boden, der Tierarzt lehnte an der Wand und beobachtete uns. Ich weinte, aber das kümmerte ihn nicht.
»Sie haben mal angedeutet«, sagte er und blätterte in den Unterlagen, »wir sollen Ihnen Bescheid sagen, wenn es so weit ist.«
Es war noch nicht so weit.
»Es sieht so aus, als sei etwas im Gehirn gewuchert, oder eine Wucherung hat sich verschoben. Wir können ein, zwei Tage abwarten, wie es sich entwickelt. Aber wenn sie nicht damit aufhört …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Sheba, hör auf damit«, sagte ich und hielt meinen Hund fest. Sheba sah wie die Cocker-Spaniel-Dame Susi in Susi und Strolch aus, nur alt; sie war fünfzehn.
Es war, als würde man die Hand auf einen Brummkreisel legen. Sobald ich Sheba losließ, drehte sie sich sofort wieder im Kreis. Früher nannten wir sie immer »Top Dog«, weil sie sich zum Schlafen gern lang auf unseren alten, schwarzen Labrador legte, ihr Kopf auf seinem Kopf, beide hielten die Augen geschlossen. Einmal, viele Jahre war das her, kam der Labrador vorsichtig auf die Füße, trottete in die Küche, wo mein Mann kochte, und holte sich ein Leckerli, und das Ganze, ohne den auf seinem Nacken schlafenden Welpen aufzuwecken. Der Labrador wurde fünfzehn. Die Ehe nur vierzehn.
Ich nahm die Hände von Sheba, um mir die Jacke zuzuknöpfen, und die Hündin drehte sich blind auf dem glänzenden Linoleum im Kreis, bis sie gegen das Bein des Untersuchungstischs stieß.
»Kann sein, dass es so weit ist«, sagte der Tierarzt und streckte den Fuß aus, um Sheba zu stoppen. Abgesehen von seinen neonfarbenen Joggingschuhen war der Arzt vollkommen unauffällig, wie ein Schauspieler, bei dem man bis zum Ende nicht weiß, warum er überhaupt in dem Film mitspielt, und plötzlich stellt sich heraus, dass er der Mörder ist.
Zu Hause wurde es weder besser noch schlechter. Sheba verfolgte sich selbst, Nase am Schwanz, immer weiter und weiter im Kreis, während ich versuchte, sie festzuhalten. Meine Nachbarin kam kurz rüber und sah sich das Ganze mit großen, nervösen Augen an. »Das sieht gar nicht gut aus«, sagte sie schließlich.
Mittlerweile war es dunkel, und ich kniete im Lampenlicht auf dem Wohnzimmerboden, hielt Sheba fest und ließ sie sich drehen, hielt sie fest und ließ sie sich wieder drehen. Es war Winter, aber die Nachbarin trug Badelatschen.
»Hast du keine kalten Füße?«, fragte ich.
»Doch«, sagte sie und ging heim.
Wir waren das Alleinsein gewöhnt. Unser kleines, düsteres Haus stand an einem Berghang, aber dafür hatten wir einen offenen Kamin aus Naturstein und eingebaute Bücherregale und eine fliegengittergeschützte Veranda mit Blick auf einen blauen See, hatten einen eigenen Anleger und Meeresvögel, die dort nicht hinzugehören schienen, weswegen wir sie jeden Morgen verscheuchten, beziehungsweise einer von uns verscheuchte sie, und die andere stand auf einem dekorativen Stück Treibholz und trank mit der Sonnenbrille auf der Nase ihren Kaffee, dabei brauchte man in Ithaca keine Sonnenbrille.
Wir hatten so gut wie nichts aus unserem bisherigen Leben mitgebracht – ein paar Bilder, ein paar getöpferte Schalen, einen türkischen Teppich, den wir in unserem vorherigen großen Haus in Iowa kaum bemerkt hatten, der nun aber, im neuen Haus, zum Blickfang wurde, ein letztes Überbleibsel von dem, was früher war. Diesen Teppich begann Sheba irgendwann nach Mitternacht vollzupinkeln, eine Abfolge dunkler Ringe, die zusammenliefen und einander überlappten. Um ein Uhr musste ich dann auch mal, rannte auf die Toilette und fand Sheba beim Zurückkommen in der Zimmerecke, in die sie sich hineingedreht hatte und in der sie nun feststeckte und immer wieder gegen die Scheuerleiste stieß.
Drehend und drehend im sich weitenden Kreisel.
»Sheba«, sagte ich.
Kann der Falke den Falkner nicht hören.
»Sheba«, sagte ich und hielt ihr Gesicht in den Händen. Blind sah sie mich an, und mir wurde mit einem Mal klar, dass der Tierarzt recht hatte, etwas war gewuchert, oder eine Wucherung hatte sich verschoben, und jetzt war Sheba in sich selbst gefangen.
Ich wusste von Anfang an, dass ich irgendwann ohne sie würde leben müssen; ich wusste nur nicht, dass irgendwann morgen sein würde. Alles zerfällt. Das hatte ich vergessen, hier in der stillen Geborgenheit von Ithaca.
Und so blieben wir Shebas ganze letzte Nacht lang wach, sie und ich, warteten darauf, dass die Tierarztpraxis aufmachte, im Wohnzimmer auf dem türkischen Teppich, in der Küche neben ihrem Fressnapf und schließlich in die Ecke gedrückt auf dem Bett, mein Körper eine Schranke zwischen ihr und der Bettkante. Irgendwann konnte ich nicht mehr, meine Augen fielen zu, und sobald das geschah, hatte ich das Gefühl, mich ebenfalls im Kreis zu drehen, unser Leben rollte sich ab wie ein Wollknäuel, das von Ithaca bis zurück nach Iowa reichte. Ich sehe meinen Mann, wie er sich an die Brust klopft und die Arme ausbreitet, Sheba springt hinein. Ich sehe den Labrador, der Sheba wie eine Haube auf dem Kopf trägt. Ich sehe Sheba unter den Meeresvögeln rennen, die am Strand entlangfliegen. Verlass mich noch nicht, sage ich zu meinem Mann, und er verlässt mich. »Verlass mich noch nicht«, sage ich laut in die Dunkelheit des Schlafzimmers.
Früher schlief sie immer am Fußende des Bettes, und beim ersten Licht, den ersten Bewegungen, kroch sie verschlafen hoch auf mein Kissen, und wenn ich die Augen öffnete, blickte ich in ihr Gesicht. Das alternde Hundeschauspielerinnengesicht – die dunklen Augen, die langen hinreißenden Ohren. Verlass mich noch nicht. Sobald ich sie loslasse, dreht sie sich in immer weiter und weiter werdenden Kreisen, gerät zu nah an den Abgrund. Komm zurück, kleine Sheba. Mittlerweile sind wir beide dem Abgrund ganz nah und spähen darüber hinweg in das große metaphorische Jenseits.
Und dann ist die Dämmerung da, und dann ist es acht, und ich bewege mich vorwärts, in den Tag hinein, und ich denke nicht darüber nach. Ich trage Sheba hinunter an den See, damit sie noch ein wenig am Ufer stehen kann, darüber ziehen die Vögel ihre Kreise und geben Vogelgeschrei von sich. In Iowa lief Sheba einmal in ein Maisfeld und kam sehr lange nicht heraus; als sie schließlich doch wieder auftauchte, wirkte sie nachdenklich. Der Labrador machte sich mal über den Müll her und würgte hinterher etwas hoch, das wie ein ganzer Geburtstagskuchen aussah, inklusive Kerzen. Ich trage Sheba den Berg wieder hoch, und die Nachbarin, halb angezogen für die Arbeit, kommt aus ihrem Haus gerannt und hält mir die Wagentür auf.
»Ist es so weit?«, fragt sie mich.
»Noch nicht«, antworte ich.
Auf der ganzen Fahrt durch die Stadt, während ich am Steuer sitze und Sheba mit der anderen Hand auf dem Beifahrersitz festhalte, denke ich: Nicht nachdenken. Auf der ganzen Fahrt von Iowa nach Ithaca, alle endlosen achthundert Meilen, stand Sheba auf dem zusammengerollten Teppich, Schnauze auf meiner Schulter, und sah zu, wie die Landschaft vorbeizog.
Ich spüre Sheba bebend unter meiner Hand, als sie sich im Kreis zu drehen versucht, und dann biegen wir ab, fahren auf den Parkplatz und sind da.
Es ist so weit.