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Der Hot-Henry-Effekt

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Kannst du dem Hot-Henry-Effekt widerstehen?

Als ein Missgeschick die wichtigste Präsentation von Dr. Clara Clancy ruiniert, ist die letzte Person, von der sie erwartet, dass sie zu ihrer Rettung kommt, der unfassbar gut aussehende und charmante Kerl aus ihrer Universitätszeit, Dr. Henry Fraser.

Während ihrer gemeinsamen Zeit in Oxford war Clara scheinbar die einzige Person, die immun gegen den Hot-Henry-Effekt war – ein echtes wissenschaftliches Phänomen, bei dem sich die Menschen in Henrys Nähe sofort und hilflos in ihn verlieben, ohne dass er etwas davon mitbekommt.

Jetzt, wo sie wieder zusammenarbeiten, dauert es nicht mehr lange, bis sie erneut in ihre lockere Freundschaft zurückfallen. Aber sowohl Henry als auch Clara haben Geheimnisse – wenn sie nicht ehrlich zu sich selbst sein können, wie sollen sie dann ehrlich zueinander sein? Und wird Clara dem Hot-Henry-Effekt wirklich für immer widerstehen können?

»Der Hot-Henry-Effekt liest sich wie eine klassische Liebekomödie; ich habe gelacht, geweint und geschwärmt. Perfekt für Fans von Ali Hazelwoods Büchern, dieses Buch ist voller Lachen und Herz.« – Laurie Gilmore, Sunday-Times-Bestsellerautorin von »Meet Me in Autumn«

Eine Wissenschaftsromance mit Workplace-, Second-Chance- und He-Falls-First-Tropes


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009222

Leseprobe

Zum Buch

»Er konnte doch unmöglich immer noch das Gemetzel übersehen, das er hinterließ. Der Hot-Henry-Effekt, wie es meine beste Freundin Jo nannte. Sie hatte die Hypothese aufgestellt, dass eine Erhöhung des Östrogenspiegels bei der Versuchsperson direkt mit der Länge der Zeit korrelierte, die sie in seiner Gesellschaft verbracht hatte oder in der sie einfach nur in sein Gesicht gestarrt oder zumindest an sein Gesicht gedacht hatte.«

Zur Autorin

Lucy Chalice ist eine medizinische Fachautorin aus dem Vereinigten Königreich mit einem Doktortitel in Zellbiologie. Sie redet gerne über Wissenschaft und Pferde, hört Softrock-Musik aus den 1980er-Jahren (Jon Bon Jovi, ruf mich an!?) und liest gerne Geschichten mit Happy End. »Der Hot-Henry-Effekt« ist Lucys erster Roman und war für sie ebenso eine Überraschung wie für alle, die sie kennen.

Lucy Chalice

Der Hot-Henry-Effekt

Roman

Aus dem Englischen von
Sonja Häußler

HarperCollins

Für meine Tochter, den besten kleinen Menschen, den ich je kennengelernt habe.
Bleib ganz du selbst, ohne Kompromisse.

1

Just in dem Moment, in dem er zum ersten Mal unser Labor betreten hatte, war das mit der albernen Schwärmerei losgegangen. Wimpern klimperten, gehauchte Seufzer ertönten. Scharfsinnige, intelligente Wissenschaftlerinnen verwandelten sich in einfältig lächelnde Hohlköpfe. Ich fühlte mich wie eine Komparsin in der Filmadaption von Stolz und Vorurteil und nicht wie eine Doktorandin an einer der namhaftesten akademischen Institutionen der Welt.

Und das irritierte mich zutiefst.

»Herrgott, Henry, hör auf, mit der Pipettenspitze den Flaschenrand zu berühren, du infizierst dadurch noch alle Kulturen«, beschwerte ich mich etwas schärfer als beabsichtigt.

»Tut mir leid«, murmelte er, den Kopf an die Glastrennwand gelehnt. Seine Wangen röteten sich zart, und obwohl er nicht in meine Richtung schaute, merkte ich seinem perfekten Profil an, dass er ein wenig gekränkt war.

Verdammt. Ich. Muss. Toleranter. Sein.

Die Zunge vor lauter Konzentration zwischen die Lippen geklemmt, versuchte er es erneut. Er fuchtelte wie wild mit der Gilson-Pipette in der Sterilbank herum. Es sah aus, als würde er eine Art wissenschaftliche Zeichensprache sprechen, dabei versuchte er nur, in der sterilen Box in der Ecke eine frische neue Spitze zu fixieren und die erforderliche Menge des hellrosa Nährmediums anzusaugen.

Unwillkürlich stieß ich ein ungeduldiges Schnaufen aus, und er schaute verwirrt zu mir herüber. Dabei bespritzte er die zuvor makellose Oberfläche aus rostfreiem Stahl und verfehlte die Näpfchen der 96-Well-Mikrotiterplatte, auf die er gezielt hatte. Ich bemühte mich wirklich, nicht die Augen zu verdrehen, aber zurzeit schien ein Augenrollen schon ein Reflex bei mir zu sein.

»Versuch es einfach noch mal mit weniger übertriebenen Armbewegungen, dann schaffst du es«, sagte ich mit falschfröhlicher, vorgetäuscht positiver Stimme, was nicht gut ankam, der gerunzelten Stirn und dem leicht schmollenden Blick hinter der Schutzbrille nach zu urteilen. Ich fragte mich, ob dies wohl seine Version von Zoolanders Blue Steel sein sollte, und musste ein Kichern unterdrücken.

Weshalb aus unserer Forschungsgruppe so plötzlich ein Bienenstock weiblicher Aktivität geworden war, ließ sich unschwer erkennen, selbst mir war es nicht total entgangen. Sogar Professor Hart von der Genomforschung (die siebenundfünfzig Jahre alt und glücklich mit dem Dekan der medizinischen Fakultät verheiratet war) geriet in Henrys Gegenwart regelrecht ins Schweben, griff sich aufgewühlt an die Perlenkette und seufzte theatralisch. Im vergangenen Monat war der Östrogenspiegel hier in beunruhigende Höhen geschnellt, und wir erhielten eine Flut von Bewerbungen von Studierenden und Promovierenden für unsere Gruppe – davon neunundneunzig Prozent weiblich. Und obwohl ich voll und ganz dafür war, Frauen zu unterstützen, die in die MINT-Forschung wollten, erschien es mir keine angemessene oder nachhaltige Motivation, das Labor oder die Branche zu wechseln, nur um das hübsche Gesicht eines Kerls anstarren zu können.

Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass Henry Fraser tatsächlich aussah wie ein Covermodel des GQ-Magazins; blaue Augen, beeindruckend symmetrische Knochenstruktur, welliges schokobraunes Haar und mit seinen über eins achtzig eine stattliche Erscheinung. Zum Glück schien er sich außerdem – erstaunlicherweise – kein bisschen dessen bewusst zu sein, welche Wirkung er auf die Frauenwelt hatte. Und auf die Männerwelt: Mein Forschungsstudent Ben wäre fast in Ohnmacht gefallen, als ich die beiden einander vorstellte; jede Debütantinnenmutter aus der Regency-Epoche wäre stolz auf ihn gewesen.

Doch an der Pipette war dieses Bild von einem Mann ein hoffnungsloser Fall. Momentan versuchte ich, ihm die Feinheiten der Zellkultur beizubringen, während ich gleichzeitig hektisch meine letzten paar Experimente zu Ende führte, um das letzte Kapitel meiner Doktorarbeit hier in Oxford zu vollenden. Wenigstens war Henry nur für kurze Zeit bei uns im Labor. Ich würde ihn nur ein paar Monate am Hals haben, ehe er zu seiner eigenen Promotion in Ingenieurwissenschaft in die Staaten zurückkehrte.

Als es ihm endlich gelang, die hundertfünfzig Mikroliter Nährmedium komplett in das erste Näpfchen der Platte zu gießen, warf er mir ein triumphierendes Lächeln zu, und ich reagierte, indem ich beide Daumen nach oben reckte und versuchte, ihn so ermutigend wie möglich anzusehen – wobei mein Gesichtsausdruck aber vermutlich eher dem einer Bulldogge glich, die auf eine Wespe biss.

»Gute Arbeit, Henry, nur noch fünfundneunzig weitere«, flötete ich sarkastisch.

»Motivation ist nicht gerade deine Stärke, Clara«, murmelte er, während er die benutzte Spitze der Pipette abknipste und in den Plastikbecher fallen ließ, den er für den Müll benutzte. Zögernd griff Henry nach einer neuen Spitze. Dabei zitterte seine Hand so stark, dass die ganze Schachtel so melodisch schepperte, als wollte er einen Flamenco-Tanzwettbewerb initiieren.

Als seine Mentorin hatte ich an ihm als Studenten nichts auszusetzen. Er war ruhig und höflich, rücksichtsvoll und unglaublich intelligent. Sehr lobenswert waren in der Tat seine ungeteilte Aufmerksamkeit und seine Konzentration auf jedes einzelne meiner Worte. Er schrieb meine Protokolle sorgfältig ab und kam verlässlich auf mich zu, um detaillierte Fragen zu den einzelnen Schritten jedes Vorgangs zu stellen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann unser schäbiges kleines Büro je so gut besucht war – Henry brachte mir regelmäßig Kaffee und Gebäck vorbei und blieb dann ein wenig zum Plaudern. Hinzu kam der konstante Andrang von Groupies, die glaubten, dass ich die Hüterin seines Tagebuchs sei und ihnen vielleicht den Weg zu seinem Herzen verraten könnte – oder in sein Bett (manche waren unverblümter als andere). An den meisten Tagen ging es hier zu wie am Piccadilly Circus.

Während ich aus dem Fenster starrte, ließ ich meine Gedanken ein wenig schweifen – der Reiz des spätsommerlichen Nachmittags bot allen, die drinnen feststeckten, eine verführerische Ablenkung. Das Summen der Neonröhren und der beißende, antiseptische Laborgeruch weckten Erinnerungen an lange ermüdende Stunden, die ich mit meiner Forschung verbracht hatte. An das ständige Zweifeln und die unermüdlichen Versuche, etwas Bedeutendes zu erarbeiten, etwas, was es wert ist, veröffentlicht zu werden.

Und ich hatte es fast geschafft, stand kurz davor, meine Doktorarbeit fertigzustellen, und danach würde eine ganze Welt neuer und aufregender Möglichkeiten auf mich warten, davon war ich überzeugt. Ich musste nur vorher das Rigorosum bestehen. Allein die Aussicht, mich dem kniffligsten Abschlussgespräch der Welt zu stellen, ließ meinen Puls rasen und meine Handflächen schwitzen. Sämtliche Horrorgeschichten, die rund um den Globus jedem Doktoranden erzählt werden, schossen mir durch den Kopf. Aber ich konnte das verdammt noch mal schaffen, ich musste es schaffen, und es wurde Zeit, dass ich mich von den Selbstzweifeln und der Angst vor Zurückweisung verabschiedete, die mich schon seit meiner Kindheit quälten.

»Shit.« Henrys Stimme brachte mich mit einem ordinären kleinen Rums wieder in die Gegenwart zurück.

Die neue Spitze seiner Pipette sank ziellos zum Boden des Behälters mit Nährmedium, und Henry versuchte, sie herauszufischen. Vergeblich.

»Schon gut, Henry, lass sie einfach drin«, sagte ich und schloss kurz die Augen. Ich hatte bereits beschlossen, diese Flasche abzuschreiben und sie nach dem Unterricht in den Ausguss zu kippen, bevor bis morgen früh alle möglichen abgefahrenen Organismen darin wuchern würden.

»Wenn du dir sicher bist …«, erwiderte er und drehte seinen ganzen Körper, um mich anzusehen. Dabei erwischte er den Rand der Flasche mit der Ärmelmanschette seines hellblauen, den Hochschulregeln entsprechenden Laborkittels, sodass das beinahe volle Behältnis gefährlich ins Wanken geriet. Reflexartig schoss meine behandschuhte Hand in die Sterilbank, im verzweifelten Versuch, das Schlimmste zu verhindern, nämlich dass sämtliche Platten geflutet wurden, die wir zwei Stunden lang in mühsamer Kleinarbeit mit Stammzellen befüllt hatten. Gerade glaubte ich, die Situation gerettet zu haben, da stießen unsere Hände zusammen, und ich musste entsetzt mitansehen, wie die Flasche gegen die hintere Wand geschleudert und alles von einem rosa Tsunami überflutet wurde.

»Shit«, sagte er wieder, die Augen hinter seiner leicht ramponierten und zerkratzten Laborbrille erschrocken aufgerissen.

»Das kannst du laut sagen.«

Keine Ahnung, wie ich es fertigbrachte, so ruhig zu bleiben. Wir würden jetzt den ganzen Nachmittag und Abend damit beschäftigt sein, zu putzen und die Zellkulturen zu dekontaminieren, ehe wir noch mal ganz von vorn anfangen konnten mit Wachstum und Ausbau meiner schwindenden Ressourcen an Knochenmarkstammzellen. Das würde meine Experimente um mindestens weitere zwei Wochen zurückwerfen.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Henry und versuchte dabei, sich tief in den Falten seines Laborkittels zu verkriechen.

»Schon gut.« Angesichts seines verstörten Gesichts rollte eine Woge des Mitgefühls und des Erbarmens durch meinen Brustkorb. »Mach dir keine Sorgen, wir kriegen das wieder hin«, fügte ich daher etwas sanfter hinzu.

Zweifellos würden etliche meiner Mitdoktorandinnen und Mitdoktoranden den Vorfall als Katastrophe epischen Ausmaßes betrachten, als Vorboten des totalen Versagens. Und gewiss nähmen sie ihn zum Anlass, den unglückseligen Henry für immer aus dem Labor zu werfen, während sie gleichzeitig den Verlust der Zellen und die unvermeidliche Verspätung bei der Fertigstellung der Doktorarbeit beklagten und in eine Tasse starken Tee weinten, im Hintergrund Morrissey voll aufgedreht.

Doch auch wenn ich versucht war, ob meiner drohenden Niederlage theatralisch die Hände hochzureißen und eine Reihe von Kraftausdrücken auszustoßen, hatte ich nicht das Zeug dazu, Henry rauszuwerfen. Denn trotz meiner anfänglichen Bedenken und meiner Verärgerung darüber, dass ich einen Ingenieurstudenten babysitten musste, war er mir in den vergangenen paar Wochen irgendwie ans Herz gewachsen. Mittlerweile mochte ich ihn sogar, wenn auch widerstrebend. Tatsächlich war niemand überraschter als ich selbst, dass sich zwischen uns eine ungewöhnliche Freundschaft zu entwickeln begann.

Anfangs hielt ich ihn für ein arrogantes Arschloch, einen Spieler und Flegel, der sein hübsches Gesicht und seinen Charme geschickt dazu nutzte, andere zu manipulieren. Doch darin hatte ich mich total getäuscht. Obwohl ich zunächst nicht mit bissigen Kommentaren und kleinen Sticheleien sparte, erwiesen sich seine nachsichtige Freundlichkeit und sein trockener Humor als so unerwartet entwaffnend, dass ich mir in seiner Gesellschaft inzwischen Mühe geben musste, nicht dauernd zu lächeln. Außerdem war er, obwohl er sich zweifellos mit Leib und Seele seinen eigenen Forschungen widmete, enorm großzügig mit seiner Zeit und seinen Erkenntnissen. Und oft ging er mit einer so erfrischend anderen Perspektive an Dinge heran, dass ich allmählich das Gefühl bekam, mehr von unserem Mentoring zu profitieren als er. Allerdings versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen, wie gern ich mit ihm arbeitete – auch wenn jemand so nett ist wie Henry, sollte man sein Ego nicht allzu sehr verwöhnen.

Zumal er über diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck verfügte, den er auch jetzt wieder hervorholte. Er pflegte ihn zum Beispiel immer dann einzusetzen, wenn er wollte, dass ich länger blieb oder ihm bei etwas half. Mit dieser Miene erzielte er verlässlich eine verheerende Wirkung, auch wenn sie schwer zu beschreiben war; ein weiches Schimmern in seinen Augen, eine kaum merkliche Neigung des Mundes, leicht und hoffnungsvoll geöffnete Lippen. Es war eine nachgiebige und ermutigende Miene, schüchtern und geheimnisvoll, alles auf einmal. Und trotz all meiner guten Vorsätze schien er mich damit jedes einzelne Mal zu kriegen.

»Sollen wir das in Ordnung bringen, und dann lädst du mich zu einem Drink ein, und wir arbeiten im Pub an der Theorie?«, schlug ich leise vor. Als er daraufhin einen traurigen kleinen Seufzer ausstieß, löste sich jeglicher schwelende Ärger oder Groll vollends auf.

»Klingt nach einem guten Plan«, erwiderte er und nickte niedergeschlagen.

Er reichte mir eine Sprühflasche mit siebzigprozentigem Ethanol, griff nach einer vollen Rolle blauer Papiertücher und fing an, die Sauerei aufzuwischen, die mittlerweile auf seine Plastiküberschuhe tropfte. Ein paar Minuten lang arbeiteten wir in einvernehmlichem Schweigen, warfen den Müll in den Eimer für Klinikabfälle, nahmen systematisch sämtliche Apparaturen auseinander und reinigten und desinfizierten sie.

Henry redete im Allgemeinen nicht viel, vor allem nicht in großen Gruppen. Er zog es vor, andere im Mittelpunkt des Interesses stehen zu lassen, und wir fühlten uns beide wohl damit, in der Gesellschaft des anderen zu schweigen. Es war erholsam, wenn einem nicht dauernd jemand seine Meinung aufs Auge drückte, und ich wusste auch, dass seine Worte, wenn er schließlich doch etwas sagte, Hand und Fuß hatten, dass er das Thema sorgfältig abgewogen hatte, bevor er sich dazu äußerte, und nicht einfach mit dem üblichen Geschwafel oder Doktorandengetue herausplatzte, das ich sonst zu hören bekam.

Wir hatten die Köpfe innerhalb der Zellkulturwerkbank dicht zusammengesteckt. Plötzlich drehte Henry sich zu mir. »Was sagt eine Stammzelle zur anderen, wenn sie ihr auf den Fuß getreten ist?«, fragte er.

»Was?«

»Autsch, das ist Zellteilung.«

Ich prustete los. »Das ist ein echt schlechter Witz, Henry.«

»Stimmt, aber ich weiß, dass du behaupten wirst, dass er von dir ist, wenn du ihn später Jo erzählst.« Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen.

»Vielleicht.« Ich zuckte unverbindlich mit den Schultern und räumte im Stillen ein, dass meine beste Freundin Jo ganz bestimmt auch darüber kichern würde. »Wie viele Ingenieure braucht es, um eine Glühbirne zu wechseln?«, konterte ich.

»Keinen, denn das ist ein Wartungsproblem.«

»Hey, du hast mir die Pointe geklaut!« Ich warf ihm ein durchweichtes blaues Papierknäuel an den Kopf, und es blieb mit einem zufriedenstellend schmatzenden Geräusch an seiner Schutzbrille kleben.

»Habe ich etwas im Gesicht?«, fragte er vollkommen ernst.

»Nee, nein, gar nichts.«

»Bist du dir sicher? Ist da nicht doch was?« Er befingerte den blauen Fetzen, der nun tropfend an der Plastiklinse hinabglitt. »Weil du nicht aufhörst, mich anzustarren.«

»Etwas ganz Kleines vielleicht, aber im Großen und Ganzen finde ich, dass es eine riesige optische Verbesserung für dein Gesicht ist.«

»Ah, in dem Fall lasse ich es natürlich, wo es ist.« Er grinste breit. Und mein Herz geriet ins Stolpern, nur ein kleines bisschen. Himmel, Clara, reiß dich zusammen, das sind nur seine Zähne und seine Lippen. Und seine Grübchen.

»Vielleicht muss ich das als Verstoß gegen die Zellkulturgesundheit und -sicherheit melden. Wo ist das Logbuch?« Henry schälte sich den blauen Fetzen von der Plastikbrille und wischte über sein Gesicht.

»Ich weiß definitiv, wohin wir das Logbuch schieben können, Henry, nämlich dorthin, wo die Sonne nicht scheint, nicht mal für dich …«, murmelte ich finster.

Er lachte leise. »Ich weiß, was dich aufheitern wird – lass uns Musik hören!«, schlug er fröhlich vor.

»Argh, aber nicht wieder deine Best-of-Bon-Jovi-Playlist, Henry«, stöhnte ich und bemühte mich, mein Lächeln zu verbergen.

»Jon Bon Jovi ist ein Gott unter den Männern, Clara, je eher du das akzeptierst, umso besser«, erwiderte Henry. Er fischte sein Handy aus der Tasche und schloss es an den Lautsprecher an der hinteren Wand des Labors an.

Schon bald war der Raum erfüllt von den optimistischen Softrock-Klängen der Achtzigerjahre, und unwillkürlich tat ich, als würde ich mitsingen, wobei ich den Griff des Mopps als Mikrofon benutzte, Henry direkt neben mir an der Luftgitarre. Und obwohl ich wusste, dass wir den ganzen Tag lang putzen würden, dass ich praktisch eine ganze Ladung unersetzlicher Stammzellen verloren hatte und dass sich die Fertigstellung meiner Doktorarbeit wahrscheinlich erneut verzögern würde, fühlte ich mich plötzlich gar nicht mehr so schlecht.

2

Sieben Jahre später

Ich warf meine Stöckelschuhe in die Tiefen meiner Handtasche und schwang mir den Gurt der Laptoptasche über die Schulter, während ich prüfend in den Spiegel neben der Tür schaute. Dunkelgrauer Bleistiftrock, Check. Cremefarbene Bluse, businessmäßig, aber nicht altbacken, Check. Wilde blonde Lockenmähne zu sanften Wellen gezähmt, Check. Make-up, das volle Programm, aber nicht nuttig, Check. Zufrieden, dass ich wie ein souveräner Profi wirkte, öffnete ich die Tür meines kleinen viktorianischen Reihenhauses in Headington, bereit, mich der neuen Hölle zu stellen, die mein Chef zweifellos auch heute wieder für mich bereithielt.

Es war ein kalter Januarmorgen, und das helle Atrium unseres Bürogebäudes erstrahlte im Wintersonnenschein. Pharmazeutische Fachangestellte gingen wie in einem Bienenstock ihrer Morgenroutine nach. Wie immer wurde ich von unserer Rezeptionistin Judy, in deren Stimme noch immer ein Hauch von irischem Akzent mitschwang, fröhlich begrüßt.

Ich lehnte mich an ihren Empfangstresen, um meine Turnschuhe gegen High Heels zu tauschen.

»’n Morgen, Judy. Wie war dein Wochenende?«

»Ach, weißt du, ich habe es mir mit den Enkelkindern gemütlich gemacht«, erwiderte sie strahlend.

»Herrlich.« Ich lächelte ebenfalls.

»Und bei dir, Clara?«

»Arbeit, wie immer, aber ich habe es tatsächlich geschafft, in dem Buch zu lesen, das du mir ausgeliehen hast.«

»Oooh, dieser heiße Highlander hat mein Blut richtig in Wallung gebracht. Peter dachte schon, ich erlebe einen zweiten Frühling!« Sie lachte und fächelte sich theatralisch Luft zu. In diesem Moment klingelte das Telefon, und Judy brachte rasch ihre Gesichtszüge unter Kontrolle, winkte mir kurz zu und meldete sich mit einer knappen, sehr professionellen Begrüßung.

Sie stand auf schlüpfrige Liebesromane und hatte damit begonnen, sie an mich weiterzugeben, sobald sie sie ausgelesen hatte. Denn sie fand, als Dauersingle hätte ich es dringend nötig, ein wenig »Würze« in meine einsamen Abende zu bringen. Ich musste zugeben, dass sie damit nicht völlig falschlag.

Auf dem Weg in mein Büro holte ich mir noch rasch einen Kaffee. Gerade hatte ich meinen Laptop ausgepackt, als mein Chef Richard Holmes hereinkam, der medizinische Leiter der Firma. Seine Haare standen dort ab, wo er wieder mal hektisch mit den Fingern durch die dünner werdenden Enden gefahren war, die Strähnen, die er über seine beginnende Glatze gekämmt hatte, waren nach vorne gefallen, und sein Schnurrbart zuckte.

»Morgen, Morgen. Sie haben diese Präsentation nicht vergessen, oder?« Sein Eton-Akzent und sein leicht anklagender Tonfall gingen mir gewaltig auf den Wecker.

»Guten Morgen. Nein, ich habe sie nicht vergessen. Ist das Meeting immer noch um vierzehn Uhr?« Ich rang mir ein Mindestmaß an gezwungener Höflichkeit ab.

»Ja, ja. Sehr gut. Ich will sie sehen, bevor Sie sie präsentieren, senden Sie mir doch bitte die Folien.«

Als seine hochgewachsene gebeugte Silhouette, die einem Pantomimeschurken, der Böses vor sich hin murmelt, nicht unähnlich war, hinaus in den Flur verschwand, brüllte ich ihm meine Antwort nach. »Ich habe sie Ihnen schon letzte Woche geschickt, Richard.«

Ich lehnte mich zurück, holte tief Luft und starrte einen Moment lang ausdruckslos auf den Bildschirm. Bei Weitem nicht zum ersten Mal dachte ich, dass es an der Zeit war, mich nach einem neuen Job umzusehen. Ich hatte zu hart gearbeitet und zu lange gekämpft, um meine Zeit mit einem Comicschurken zu verschwenden, der mir Anweisungen gab.

»Tagträume, Dr. Clancy? Oder planst du den Sturz unseres fiesen Bosses?«, fragte Simmy, die wie ein kunterbunter Wirbelwind unser gemeinsames Büro betrat und schwungvoll ein Schokocroissant auf meinen Schreibtisch fallen ließ. »Ich dachte, das kannst du jetzt vielleicht gebrauchen.«

»Danke, Simmy. Hattest du ein schönes Wochenende?«

»Ich habe versucht, meine nervige Schwiegermutter zu besuchen, ohne sie umzubringen. Ich habe widerwillige Kinder zu verschiedenen Partys und Events chauffiert, laufende Nasen geputzt und in einem durch Rivalität unter Geschwistern entbrannten Kampf auf Leben und Tod vermittelt. Das Übliche also, und was hast du so getrieben?« Sie ließ sich schwer auf ihren Stuhl plumpsen und verspritzte dabei schwarzen Kaffee, der nur knapp ihre Tastatur verfehlte.

»Nicht viel. Ich habe den Plan für die klinischen Versuche von Studie 128 für nächstes Jahr durchgesehen und bin die Folien für das Symposium in San Francisco in ein paar Wochen durchgegangen.« Ich trank einen Schluck Kaffee und machte mich über das Croissant her, während ich darauf wartete, dass meine E-Mails heruntergeladen wurden.

»Pfft«, machte sie abfällig. »Als mit einem Buchhalter verheiratete dreifache Mutter in mittleren Jahren will ich eigentlich indirekt etwas durch dich, meine attraktive Single-Kollegin, erleben. Und doch lässt du mich regelmäßig im Stich mit diesen arbeitsbezogenen Banalitäten.« Sie wischte den verschütteten Kaffee mit einem Babyfeuchttuch auf, das sie aus dem riesigen Vorrat zog, den sie davon in ihrer Handtasche aufbewahrte.

Simmy zog sich jede Menge Liebesfilme rein (mit einem Hang zu Bollywood-Klassikern) und hoffte, dass eines Tages ein sehr gut aussehender Mann in paillettenbesetzter Weste dahergefegt käme (vorzugsweise mit einer Eskorte aus Männern in ebenfalls paillettenbesetzten Westen und schönen, sittsamen, in Seide gekleideten Frauen), meine Hand ergriffe und mich in einer wundervoll choreografierten Tanzszene mit sich fortrisse.

»Was ist mit Bhavins Freund aus der Buchhaltung, den hast du doch jetzt schon ein paarmal getroffen, oder?«

Brr, Hugh. Der war ein ziemlich hartnäckiger Verehrer, mit dem ich mich ursprünglich nur verabredet hatte, weil Simmys Mann Bhavin sich so verausgabt hatte, um dieses Date für uns zu organisieren. Und weil ich jemand war, der es unbedingt allen recht machen wollte, hatten wir uns insgesamt viermal getroffen, nach dem letzten Date war es vorige Woche zu einer höchst unbefriedigenden Knutscherei an der Haustür gekommen. Dabei hatte Hugh sehr seltsame kehlige Schnorchellaute von sich gegeben, mir das Gesicht abgeschlabbert und demonstriert, dass er anscheinend nicht in der Lage war, ohne Schmatzlaute zu küssen. Ab-sto-ßend. Dann krönte er das Ganze noch mit der quengelig vorgetragenen Bitte, seine Mutter kennenzulernen.

»Mit Hugh habe ich Schluss gemacht«, sagte ich ausweichend.

»Was? Warum?«

»Na ja, aus mehreren Gründen, nicht zuletzt, weil er mich an diesen bekanntermaßen hinterhältigen Tory-Politiker erinnert, mit seiner Mutter in Henley-on-Thames lebt und diese merkwürdigen Sockenhalterdinger trägt, damit die Socken an den Knöcheln nicht knittern«, erwiderte ich. Die Schnorchelgeräusche beim Küssen ließ ich weg, weil kein Mensch dieses Bild im Kopf brauchte.

»Oh, Clara, so schlimm ist er doch auch wieder nicht!«

Nein, so schlimm nicht, das gebe ich zu. Es gab Schlimmeres in meiner ziemlich katastrophalen jüngeren Dating-Geschichte. Da war zum Beispiel Paul, der bei unserem dritten Date tatsächlich versucht hat, heimlich Dinge aus meinem (Schmutz-)Wäschekorb zu entwenden, während ich unten in der Küche war und versuchte, ein Soufflé zu backen. Dabei ging der Rauchmelder an, und als Paul daraufhin in die Küche gerannt kam, zog er meine Unterhose aus der Gesäßtasche, um den Rauch wegzuwedeln. Ich warf ihn umgehend raus (nachdem ich mir meinen besten spitzenbesetzten Seidenschlüpfer zurückgeholt hatte), bestellte chinesisches Essen für eine Person und sah mir Fifty Shades of Grey an. Dann war da noch Guy, der mir seine unsterbliche Liebe erklärte und sich dann, nachdem ich seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte, tatsächlich hinter meinem Auto auf die Straße legte, damit ich nicht wegfahren konnte. Beim. Allerersten. Date.

Nein, im Großen und Ganzen betrachtet war Hugh noch der Beste aus einer Truppe ziemlicher Rohrkrepierer. Er war aufmerksam und selbstsicher, hatte einen guten Job und schien ganz genau zu wissen, was er in diesem Leben wollte (einschließlich sehr konkreter Anforderungen an eine Ehegattin, die er mir beim zweiten Date in einem fürchterlich ausführlichen Vortrag dargelegt hatte). Doch genau darin lag das Problem: Es fiel mir schwer zu glauben, dass irgendjemand aufrichtig an mir interessiert sein könnte, zumindest nicht langfristig, deshalb beendete ich die Dinge immer schon recht frühzeitig, ehe Gefühle ins Spiel kamen und ich dann zwangsläufig enttäuscht wurde. Diese lähmende Angst, zurückgewiesen zu werden, trieb mich bereits um, seit mein Vater in meiner Kindheit weggegangen war, und hielt mich davon ab, mich je jemandem zu öffnen. Meine beste Freundin Jo warf mir regelmäßig vor, theatralisch zu sein und es zu genießen – ihre übliche Reaktion auf meine betrunkenen Monologe, die sich ausschließlich um mich selbst drehten und in denen es darum ging, dass ich ein Herz aus zerbrochenen Glasscherben hatte und absolut unfähig war, jemanden zu lieben. Ob ich pathetisch war? Ach was, nie und nimmer.

»Tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber ich glaube, ich werde ab jetzt Single bleiben.« In letzter Zeit hatte ich es vorgezogen, mich mit einer Tasse Tee und meiner Tigerkatze Spencer einzuigeln und einem fiktiven Lover (vorzugsweise im Schottenrock) zu widmen, den ich in den Secondhand-Buchladen schicken konnte, sobald ich die Nase voll von ihm hatte. »Ich habe mich in eine altjüngferliche Cat-Lady verwandelt!«, flüsterte ich in gespieltem Entsetzen.

»Noch nicht, aber du bist auf dem besten Wege dorthin«, bestätigte Simmy trocken. »Na gut, vielleicht ist Hugh nicht die richtige Lösung, aber es muss doch jemanden für dich geben.«

»Nein, gibt es nicht, und das ist auch okay für mich. Ich verbringe meine Zeit lieber mit Fantasiemännern, bei denen ich mich nicht bemühen muss, sie zu beeindrucken. Und mit Spencer, weil der mich nur anhand des Katzenfutters, das ich für ihn kaufe, beurteilt.«

»Was ist mit … oder vielleicht … also gut, mir fällt auch nichts mehr ein …« Sie zuckte resigniert mit den Schultern und zog eine Schnute. »Nicht alle Männer sind hoffnungslos, Clara.«

Ich biss gerade erneut in mein Croissant und bröselte Blätterteig auf mein Oberteil, als plötzlich eine Gestalt vor meinem Schreibtisch aufragte. Erschreckt schrie ich auf und verschluckte mich prompt an meinem Frühstück. Während ich mir schockiert an die Brust griff, schlug mir eine Faust fest auf den Rücken.

»Herrgott noch mal, Clara, nun machen Sie doch nicht so ein Theater. Schicken Sie mir bitte noch mal diese Folien, ich überarbeite sie und schicke sie Ihnen dann zurück. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Claus Baumann angerufen hat, er stößt nun doch dazu, deshalb wurde der ganze Tag neu organisiert und das Meeting auf zehn Uhr vorgezogen, damit es in seinen Terminplan passt.« Richards Gesicht verfinsterte sich. »Bitte seien Sie pünktlich im Konferenzraum.«

Und dann war er schon wieder weg.

Bei besagtem Claus Baumann handelte es sich um den CEO der Firma, er war Schweizer und sah ein bisschen aus wie ein Firmenweihnachtsmann, aber lange nicht so lustig. Und schon gar nicht menschenfreundlich. Für potenzielle Anteilseigner unseres kardiovaskulären Produktportfolios einschließlich Investoren, Mitarbeitern und sogar möglichen Übernahmen veranstalteten wir einen ganzen Tag voller Meetings sowie eine Führung durch die Büros und die Herstellungsanlage. Alle, die daran mitarbeiteten (einschließlich meiner Wenigkeit), waren auf ihre Rolle im Ablauf vorbereitet und ermahnt worden, es bloß nicht zu vermasseln.

»Er ist wie ein leiser, heimtückischer Dick Dastardly aus dieser alten Zeichentrickfilmserie«, murmelte ich verdrießlich. »Ich wünschte, er würde sich andere Opfer suchen und nicht dauernd wie ein Cartoonbösewicht in unserem Büro herumschleichen.«

Zähneknirschend schickte ich Richard die verflixten Folien ein weiteres Mal. Nun brauchte ich nur noch auf den unvermeidlichen Verriss zu warten, den sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ernten würden.

Eine dunkle Vorahnung und drückende Angst erfüllten meine Thoraxhöhle, als ich den Aufzug zum Konferenzraum rief. Richard hatte mir keine Kommentare zu meinen Slides geschickt und auch sonst nicht mehr mit mir kommuniziert, seit er mein Büro um zehn nach neun verlassen hatte. Nun war es ungefähr drei Minuten vor zehn, und ich hatte so lange gewartet, wie ich es wagte, in der Hoffnung, dass er mir die überarbeiteten Folien vor dem Meeting zurückschicken würde. Doch das hatte er nicht getan, und nun war ich so spät dran, dass ich hundertprozentig die letzte Person sein würde, die den Konferenzraum betrat. Das war in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe, nicht zuletzt deshalb, weil mein Vortrag über unser Portfolio klinischer Versuche samt Publikationsplan als Zweites auf dem Programm stand, direkt nach einer kurzen Einführung von Claus, deshalb würde mir überhaupt keine Zeit bleiben, mich vorzubereiten. Ich würde einfach improvisieren müssen. Was definitiv mein ungeliebtester Arbeitsstil war, wenn es darum ging, einem hochrangigen, einflussreichen Publikum wichtige Informationen zu präsentieren.

»Du siehst heute Morgen bezaubernd aus, Clara«, säuselte eine seidige Stimme neben mir so unvermittelt, dass ich zusammenfuhr.

»Äh, danke, Dominic. Hattest du ein schönes Wochenende?«, erkundigte ich mich beiläufig und machte einen Schritt zur Seite, um ein wenig Raum zurückzugewinnen.

»Ach, du weißt schon, dies und das. Und du?« Eine Gruppe von Leuten kam den Flur entlang, sodass wir wieder enger beisammenstehen mussten, bis ich schließlich fast an die Aufzugtür gepresst wurde.

»Arbeit. Wieder mal. Ha-ha!« Dominic war relativ neu im Marketingteam der kardiovaskulären Abteilung hier bei Pharmavoltis, und ich war mir noch nicht ganz schlüssig, was ich von ihm halten sollte. Wir hatten schon an einer Reihe von Projekten zusammengearbeitet, und er war eigentlich ganz nett, wenn auch ein kleines bisschen schmierig, aber ich wurde immer ein wenig unbeholfen (okay, noch unbeholfener als sonst), wenn ich ihm allein begegnete. Wobei ich nicht genau sagen könnte, was genau mich an ihm störte.

»Gehst du zu dem Mitarbeiter-Meeting?« Sein Blick war auf einen Punkt irgendwo unter meinem Kinn und über meiner Taille gerichtet, über den ich nicht weiter nachdenken wollte. Doch es stand außer Frage, dass seine Blickrichtung etwas anrüchig war. Sollte ich diese Dreistigkeit etwa ignorieren und den Kopf in den Sand stecken, nur weil es mir so schwerfiel, Dominic direkt in die unsteten Augen zu schauen, ohne dass mir ein Funken Unbehagen durchs Gehirn stob? Absolut und definitiv ja, genau das würde ich tun. Ein hervorragendes Stück interkollegialer Beziehungsarbeit, Clara.

»Ja.« Ich drehte mich ein wenig von ihm weg und drückte wieder hektisch auf den Knopf. Wo zum Teufel blieb dieser Aufzug?

»Oh, prima, ich auch. Eigentlich komme ich gerade von dort, ich musste nur kurz zurück in mein Büro, um noch mehr Hochglanzbroschüren zu holen, um das Publikum zu begeistern.« Grinsend fuchtelte er mir mit dem glänzenden Werbematerial vor der Nase herum. »Es sind jede Menge Leute da, einschließlich Claus.«

Die Arme schützend vor der Brust verschränkt, starrte ich konzentriert auf das polierte Metall der Aufzugtür und nahm mir einen Augenblick Zeit, das Spiegelbild Dominic Grahams in all seiner blasierten, leicht selbstgefälligen Pracht zu betrachten. Er sah gut aus, nahm ich an, auf eine aalglatte, weltmännische Art, und er schien bei den Kollegen auch beliebt zu sein, deshalb hatte ich von vornherein sämtliche Vorbehalte, die ich ihm gegenüber hegte, für mich behalten und eine durch und durch professionelle Beziehung angestrebt. Die Einzige, der ich von meinem Unbehagen erzählt hatte, war Simmy, die mir zustimmte, dass er etwas Merkwürdiges an sich hatte. Sie versicherte mir, dass sie ihn ebenfalls sorgfältig im Auge behalten und gegebenenfalls die Eier abreißen würde, sollte er je irgendwelche Grenzen überschreiten.

Endlich ertönte das Pling der sich öffnenden Aufzugtür, und in meiner Eile, hineinzugelangen und nicht zu spät zum Meeting zu kommen, hätte ich beinahe die arme Frau umgerannt, die mit einem riesigen Stapel Akten im Arm aus dem Lift trat. Erst da wurde mir klar, dass ich nun auf engem Raum mit Dominic gefangen wäre, dessen starrer Blick mich zunehmend an Fahndungsfotos der Polizei erinnerte. Während wir schweigend ins Untergeschoss hinabfuhren, versuchte ich, ein höflich-distanziertes Lächeln aufzusetzen, und tat so, als würde ich E-Mails auf meinem Handy lesen. Als getreue Anhängerin von Vermeidungstechniken hielt ich den Blick konsequent gesenkt und weigerte mich standhaft, meinen Kollegen anzuschauen, auch wenn ich seinen aufdringlichen Blick förmlich über meinen Körper gleiten fühlte.

Nach gefühlten vier Jahren in den feurigen Schlünden der Hölle ging die Tür auf. In der Lobby war es verdächtig ruhig, was meine Angst bestätigte, dass alle, die zum Meeting eingeladen waren, schon im Konferenzsaal auf der anderen Seite des Flurs saßen.

»Hier entlang, komm schon, du willst doch nicht zu spät aufkreuzen, oder?« Dominic legte mir eine feuchtkalte Hand ins Kreuz und schob mich sanft auf die Tür von Konferenzraum eins zu, dem größten, den es hier im Gebäude gab. »Ach, und übrigens, du hast da was auf der Brust.«

So wie er das sagte, hörte es sich an, als ob mein ganzer Busen zu sehen war, einschließlich glitzernder Nippelquasten, die im Wind wehten. Panisch schaute ich an mir hinunter und stellte entsetzt fest, dass sich eine breite Schmierspur Schokolade über die Kurve meiner rechten Brust erstreckte. Als ich sie abtupfen wollte, wurde der kakaobasierte Fleck nur noch größer, wodurch er einem beachtlichen Brustwarzenhof ähnelte, ziemlich genau über meinem naturgegebenen Brustwarzenhof (der übrigens längst nicht so groß war. Zu viel Information? Wahrscheinlich).

Na toll. Da würde ich in meinem verzweifelten Bemühen, als Profi und glaubwürdige Expertin der pharmazeutischen Industrie rüberzukommen, gleich eine der wichtigsten Präsentationen meiner bisherigen Berufslaufbahn halten – und hatte einen weithin sichtbaren und höchst verdächtigen Fleck auf der cremefarbenen Bluse. Hastig drehte ich mich zum verspiegelten Paneel der Aufzugtür um. Die obere Hälfte meines Körpers sah aus, wie ich mir eine aufblasbare Sexpuppe vorstellte: erschrockenes Gesicht, rosa Wangen, rote Lippen, die ein enttäuschtes kleines O formten. Und auf Brusthöhe ein übermäßig auffälliges, übermäßig großes nippelartiges Merkmal, das alle Blicke auf sich ziehen würde.

»Oh mein Gott! Warum hat mir das niemand gesagt?«

»Ich sage es dir doch jetzt, aber womöglich ist es ein bisschen zu spät, etwas dagegen zu tun. Das tut mir leid«, erwiderte Dominic bedauernd. In diesem Moment riss Richard die Tür zum Konferenzraum auf und zog mich hinein in den spärlich beleuchteten Hörsaal.

3

»Sie sind dran, jetzt kommen Sie schon«, zischte Richard finster und stieß mich unsanft auf die hell erleuchtete Bühne. Die Titelfolie meiner Präsentation war bereits auf der Leinwand hinter mir zu sehen, dazu mein Name und meine Stellung in Times New Roman, Schriftgröße vierundvierzigtausend, was keinen Zweifel daran ließ, wer dieser verspätete und leicht aus der Fasson geratene Eindringling war.

Ich drehte mich ein wenig nach rechts, in der Hoffnung, dass mein Schokonippel dadurch weniger auffiel, und begann mit meiner sorgfältig gegliederten und geprobten Präsentation.

Erst als ich durch die Slides klickte, merkte ich, dass Richard meine Rede total auseinandergenommen hatte und nur wenig vom ursprünglichen Inhalt übrig war. Das Einzige, was mich weitermachen ließ und verhinderte, dass ich wie eine komplette Idiotin dastand, waren ein Anflug von Berufsethos und die erdrückende Angst vor Demütigung. Beides hielt mich davon ab, dem nahezu unwiderstehlichen Bedürfnis nachzugeben, vor allen Leuten in Tränen auszubrechen.

Aber ich hatte das im Griff. Ich schaffte das. Verdammt noch mal, ich hatte echt hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Dank einer einzigen entschlossenen Naturwissenschaftslehrerin, die an meiner Brennpunktschule an mich geglaubt hatte, wurde ich in Oxford mit offenen Armen angenommen, wodurch sich die Quote der Studierenden aus ärmlichen Verhältnissen an meiner Fakultät so ziemlich verdoppelte. Weil ich mich unbedingt beweisen wollte, übertraf ich bei der Promotion sogar meine eigenen Erwartungen, was wirklich eine Heldentat war angesichts der außerordentlich hohen Ansprüche, die ich an mich gehabt hatte.

Ich drückte meine Schultern durch, starrte blind in die dunklen, undefinierbaren Gesichter der Zuhörer und beschloss, auf gar keinen Fall zuzulassen, dass ein wandelnder Pantomimeschurke über mich triumphierte.

Fünfzehn Minuten und mehrere knapp beherrschte Panikattacken später (bei denen ich mich mehr als einmal fragte, wo man im Internet Großhändler für Voodoopuppen finden kann) konnte ich mich endlich neben meinen Chef in die erste Reihe setzen. Wie betäubt hörte ich mir die folgende Präsentation über Statistik an.

»Darüber müssen wir noch ein Wörtchen reden, Clara. Um fünfzehn Uhr in meinem Büro«, sagte Richard in sehr lautem Bühnenflüstern, und aus der Reihe hinter uns hörte ich ein leises Kichern.

»Gut«, erwiderte ich. Ich würde definitiv meinen Lebenslauf auf den neuesten Stand bringen, sobald ich wieder an meinem Schreibtisch wäre.

Als dieser Eiertanz von Meeting endlich vorbei war und alle Fragen beantwortet waren (zum Glück und wenig überraschend wollte niemand etwas von mir wissen), wurden die Partner und Investoren zu einer Tour durch die Büros und anschließenden Erfrischungen eingeladen, bevor es mit dem Bus zur Arzneimittelherstellung und zur Verpackungsanlage weitergehen sollte, die ein paar Kilometer entfernt lagen. Ich nutzte diese Ablenkung, um mich aus dem Konferenzsaal zu verdrücken, ehe irgendjemand Blickkontakt aufnehmen konnte, um mit mir über die willkürlich zusammengewürfelten, weitgehend irrelevanten Informationsbrocken zu reden, die Richard für meine Folien als geeignet erachtet hatte. Mit der Energie und der Koordination eines hyperaktiven Kaninchens sprang ich die Hintertreppe hinauf und versteckte mich auf dem Klo.

Dort tupfte ich mit einem nassen Papiertuch auf dem hartnäckigen, aufdringlichen Schokonippel herum, aber meine Versuche machten den Fleck am Ende eher noch größer und den Stoff nasser, weshalb mein zuvor sehr seriöses Oberteil vollkommen durchsichtig wurde und viel mehr preisgab als nur einen Hauch des weißen Baumwoll-Spitzen-BHs darunter. Verdammt. Jetzt sah ich aus wie die schlechte Werbung für einen Wet-T-Shirt-Contest, bei dem trübes Wasser aus einem Tümpel über die Teilnehmerinnen geschüttet wird.

»Mist«, sagte ich laut und starrte mich trübsinnig im Spiegel an. Die fleckige, zerzauste Frau, die zurückstarrte, war Lichtjahre entfernt von der selbstsicheren Wissenschaftlerin, die ich heute Morgen mühsam heraufbeschworen hatte. Jemand, dem man ohne Weiteres sein millionenschweres Vermögen anvertraute? Jemand, von dem man seine Firma gern auf einer internationalen Medizinertagung vertreten lässt? Nein, dergleichen kam einem bei diesem Anblick wirklich nicht in den Sinn. Der verfluchte, gottverdammte Schokonippel des Grauens – daran würden sie sich erinnern und an den tollpatschigen Schwachkopf, der hinten dranhing. Ich hasste mein Leben.

Als ich mit gesenktem Kopf aus der Toilette trat, erpicht darauf, so schnell wie möglich in die Geborgenheit meines Büros zurückzukehren, prallte ich mit dem Kopf voran gegen eine feste breite Brust. Irgendwo über meinem Kopf ertönte ein Schnaufen, und ich griff blind nach einem unbekannten Arm, um nicht wie eine Flipperkugel nach hinten gegen die Wand zu prallen.

»Clara?« Dominics Stimme war ein wenig heiser. Er schnappte hörbar nach Luft, nachdem eine Clara-förmige Rakete direkt in sein Brustbein eingeschlagen war.

»Shit, tut mir leid, ich hab dich gar nicht gesehen.« Verflucht noch mal, Clara, warum ausgerechnet er?

»Schon gut.« Er schaute demonstrativ auf seinen Unterarm, den ich noch immer umklammerte, und ich ließ ihn rasch los, wich einen Schritt zurück und rang nach diesem neuesten Patzer um Fassung.

Ich riskierte einen Blick auf sein Gesicht und war angewidert und schockiert zugleich, als ich ihn dabei erwischte, wie er auf meine skandalöse Blusensituation starrte und sich dabei in einer Art und Weise über die Lippen leckte, die mein Gehirn zwangsläufig als anzüglich einordnete. Ein Ganzkörperschauder überlief mich – eine angeborene menschliche, pathogene Vermeidungsreaktion. Jene Art von Schauder also, die normalerweise für etwas Widerwärtiges wie eine verstümmelte Leiche reserviert ist. Oder für den seelenraubenden, gnadenlosen Gesichtsausdruck eines Serienmörders. Doch das Flackern in seinen Augen zeigte, dass er mein Zittern bemerkt und vermutlich als etwas anderes als Ekel missinterpretiert hatte, denn er leckte sich erneut die Lippen, ließ seine Zunge dabei wie eine Schlange hervorschnellen, und ich schwöre, dass mir dabei die Galle hochstieg. Ich flüchtete, trabte ungelenk davon, so schnell es mein Bleistiftrock und meine High Heels erlaubten.

Im Büro ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl plumpsen und stöberte nach einem Notizbuch und einem Stift. Simmy blickte von ihrer Telefonkonferenz auf, zweifellos als Reaktion auf meinen tiefen, hoffnungslosen Seufzer.

»Alles okay?«, formte sie mit den Lippen. Dann deutete sie hektisch auf meine Brust und tupfte auf ihr eigenes üppiges Dekolleté, um anzudeuten, dass ich das braune, transparente Desaster in Augenschein nehmen möge, zu dem mein Oberteil geworden war.

»Ich weiß«, erwiderte ich tonlos und zog mir rasch die Oma-Strickjacke über, die für Notfälle wie etwa eine Klimaanlage, die auf Minusgrade eingestellt war, über der Rückenlehne meines Stuhles hing. Sie war grau und voller Flusen; zahllose Katzenhaare, die sich auch durch massenhaft Klebeband nicht entfernen ließen, hatten sich mittlerweile fest mit dem Kleidungsstück verwoben. Die Jacke war sackartig und abgetragen und streng genommen keine Bürokleidung, aber wenigstens konnte ich sie mir umlegen, damit ich nicht dauernd an den eklatant auffälligen Fleck erinnert wurde.

»Hervorragende Neuigkeiten. Danke, vielen Dank. Jepp, Ihnen ebenfalls. Danke. Jepp. Auf Wiederhören. Tschüss. Ciaaao.« Simmy beendete das Telefonat und nahm ihr Headset ab. »Du siehst katastrophal aus, was um Himmels willen ist denn mit dir passiert?«

»Schokoladebedingter Nippel-Fauxpas, leicht gruseliges Zusammentreffen mit Dominic im Flur, und der heimtückische Dick Dastardly hat vor der Präsentation all meine Slides geändert und mir nichts davon gesagt. Dieser Vormittag war ein einziges verdammtes Fiasko.« Stöhnend legte ich den Kopf in die Hände.

»Was hat Dominic gemacht? Und wie um alles in der Welt ist die Schokolade auf deinen Nippel gekommen?«, fragte Simmy gerade laut, als die Bürotür aufging und eine Gruppe von Männern und Frauen in Anzügen hereinkam, angeführt von keinem anderen als Richard persönlich. Die neugierigen und leicht fassungslosen Mienen der Leute verrieten, dass sie zumindest den letzten Teil unserer Unterhaltung eindeutig mitbekommen hatten.

»Ja, nun, Dr. Clara Clancy, die Sie vorhin bereits gesehen haben und die Teil unseres kardiovaskulären Teams ist, sowie Dr. Simran Anand aus der Onkologie. Beide leiten die klinischen Studien und die medizinische Kommunikation hier bei Pharmavoltis.« Richard funkelte mich unheilvoll an, er war in vollem Comicschurken-Modus. Nur das Händewringen und das fiese Gelächter fehlten noch.

Ich winkte schwach, wodurch sich meine Strickjacke öffnete, und entdeckte Dominic in der Menge, der grinste und zurückwinkte. Das Verlangen, ihm den Finger ins Auge zu bohren, war stark, doch ich widerstand heldenhaft und drückte stattdessen so fest auf das Ende meines Lieblingsstifts, dass das Plastikgehäuse zu Bruch ging, ungefähr in dem Moment, als sich der Pulk aus Anzügen abwandte und zerstreute.

»Shit«, murmelte ich leise und ließ die Stirn mit einem dumpfen Geräusch auf den Schreibtisch fallen. Nun war die Zeit der selbstkritischen Innenschau gekommen, bei der ich mir meine eigene Unfähigkeit gnadenlos vor Augen führte. Wahrscheinlich war es außerdem ein guter Zeitpunkt, um mein LinkedIn-Profil zu aktualisieren und ernsthaft mit der Jobsuche anzufangen. Und in ein paar neue Stifte zu investieren.

»Ich glaube mich zu erinnern, dass ich das in deiner Anwesenheit ziemlich oft gesagt habe, normalerweise in Laborkittel und Schutzbrille«, sagte eine tiefe Stimme von der Tür her.

Ein Gefühl der Vertrautheit durchflutete mein Gehirn, Nostalgie kroch von meinen Zehen herauf. Ich kannte diese Stimme, und sie erfüllte mich nicht mit Grauen. Nein, im Gegenteil. Wärme breitete sich auf meiner Haut aus, Schmetterlinge flatterten prickelnd in meinem Bauch, mein ganzes Wesen leuchtete auf vor lauter Glückshormonen.

Ich drehte mein Gesicht, sodass meine Wange auf der kühlen Oberfläche des Schreibtischs lag, und sah die rotierte Ansicht eines hochgewachsenen Mannes im Anzug, der im Türrahmen lehnte, die Hände in den Hosentaschen.

»Hallo, Clara, schön, dich wiederzusehen nach all den Jahren.«

Mein Kopf fuhr nach oben wie der eines Erdmännchens, das einen Falken entdeckt hatte.

»Henry, was um alles in der Welt machst du hier?«

4

Henry Fraser hatte sich kaum verändert. Seine Haare waren etwas kürzer, er trug sie jetzt zu einer eleganten Business-Frisur geschnitten, und sie fielen ihm nicht mehr in die Stirn, wie ich es in Erinnerung hatte. Vielleicht war er ein wenig kräftiger gebaut, zumindest hatte er eindeutig breitere Schultern, war aber noch immer vollkommen erkennbar als der charmante, freundliche PhD-Student von damals. Sein plötzliches Auftauchen vibrierte förmlich durch mein Nervensystem. Mein Gehirn hatte Mühe, die Tatsache zu verarbeiten, dass er hier vor mir stand, in der Tür meines Büros, und in seinem maßgeschneiderten marineblauen Anzug absolut umwerfend und womöglich ein bisschen nervös aussah. 

»Na ja«, sagte er, während er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat, den Blick auf den Teppich zu seinen Füßen gerichtet. »Meine Firma hat ein neues Herzklappensystem entwickelt und …«

Als er verstummte, wurde mir klar, was er sagen wollte, und ich beendete den Satz für ihn. »… und ihr wollt bei unserem Herzinsuffizienz-Portfolio kooperieren.«

Er nickte und sah mich kurz – beinahe entschuldigend – an.

»Uaah«, stöhnte ich, »dann warst du also gerade in der Präsentation?«

Wieder nickte er. Eine zarte Röte zeichnete sich auf seinen Wangenknochen ab, es war ihm eindeutig ebenso peinlich wie mir, Zeuge davon geworden zu sein, wie ich da oben auf der Bühne mein Leben voll gegen die Wand gefahren hatte.

Na fabelhaft. Damit war die katastrophale Repräsentation meiner selbst und meiner Abteilung für immer in das Gedächtnis von jemandem gebrannt, der mich auch außerhalb der Arbeit kannte. Wieder legte ich den Kopf auf den Tisch.

»Willst du uns nicht einander vorstellen?«, fragte Simmy, die eindeutig fasziniert war und nicht zu den Leuten gehörte, die tatenlos an der Seitenlinie standen.

Simmy war meine Komplizin, meine Arbeitsplatzpartnerin. Unsere jeweiligen therapeutischen Bereiche leiteten wir getrennt, arbeiteten jedoch in allem anderen zusammen, und ich liebte sie über alles. Aber sie hatte eine Stimme wie ein Nebelhorn und war unerschütterlich von ihren Ansichten überzeugt. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich bereits eine Meinung über Henry Fraser gebildet hatte.

»Sorry, Dr. Simmy Anand, Dr. Henry Fraser. Henry und ich haben einige Zeit im selben Labor in Oxford geforscht«, erklärte ich in den sicheren, dunklen Raum meiner Ellbogenbeuge hinein. Mit der anderen Hand fuchtelte ich halbherzig zwischen den beiden hin und her.

»Schön, dich kennenzulernen, Henry«, hauchte Simmy. Rauchig. Als ich die alberne Pornostimme hörte, der sie sich plötzlich befleißigte, hob ich unwillkürlich den Kopf. Klimperte sie Henry etwa mit ihren extralangen Wimpern an? Sah ganz so aus. Ihre kaffeebraunen Augen waren rund und unglaublich dunkel, das Kinn ruhte auf ihren geöffneten Händen, die Ellbogen hatte sie auf den Tisch gestützt, und mit ihren rot lackierten Fingernägeln pochte sie sich rhythmisch an die Wangen. Als sie dann auch noch in Henrys Richtung seufzte, zuckte ich innerlich zusammen.

»Ganz meinerseits, Simmy. Allerdings glaube ich, dass sich Clara gerade etwas unter Wert verkauft hat. Sie hat damals nämlich mühsam versucht, diesem hoffnungslosen Ingenieur hier etwas über Stammzellenkultur beizubringen, was sich als äußerst schwierige, undankbare Aufgabe erwies«, sagte Henry leise; der Anflug von Selbstzerfleischung steigerte Simmys Zuneigung wohl noch, denn sie hechelte inzwischen fast wie ein Hund in einer Hitzewelle.

»Mit Betonung auf versucht«, murmelte ich.

Und da war es. Dieses typische Henry-Fraser-Lächeln, das jedes Herz in Vorhofflimmern versetzen und selbst die zynischste oder prüdeste Frau in eine hemmungslose Sexbestie verwandeln konnte.

Das Besondere an Henry Fraser – sein Modus Operandi, wenn man so will, mit dem er wirklich überall durchkam – war nämlich dieses betont entspannte, zurückhaltende und dennoch völlig aufrichtige Lächeln. Es war total verrückt, wie allein der Schwung seiner Lippen, der Anflug von einem Grübchen und die Lachfältchen um seine Augen sanft beruhigend und zugleich vollkommen entwaffnend wirken konnten. Tatsächlich beherrschte Henry ein ganzes Lächel-Repertoire, von schüchtern und unsicher (nur ein Zucken um die Lippen) bis hin zu jungenhaft-verschmitzt (schief und bezaubernd). Dann waren da noch das Versuch-ein-Lächeln-zu-unterdrücken-Lächeln (mein persönlicher Liebling) und das breite, strahlende Megawatt-Strahlungsimpuls-Grinsen, das alles in seinem Weg auslöschen und auch das verhärtetste aller Herzen zu einer warmen, klebrigen Masse dahinschmelzen konnte. Und hier stand er nun in Fleisch und Blut, als wäre er nicht sieben Jahre lang verschollen gewesen, und machte mich mit diesem winzigen, persönlichen Lächeln platt, mit dem er früher so oft eine Entschuldigung begleitet hatte oder mit dessen Hilfe es ihm gelungen war, mir ein wenig zusätzliche Zeit im Labor aus dem Ärmel zu leiern. Es hatte nichts von seiner durchschlagenden Wirkung verloren.

»Ich fürchte, ich war ein absolut unbrauchbarer Student, aber sie hat sich nie deswegen beschwert«, entgegnete er leichthin, aber dennoch ein wenig unsicher.

Zu Henrys Gunsten muss man betonen, dass er das aufgeregte kleine Quieken, das aus Simmys Mund kam, gar nicht zu bemerken schien, ebenso wenig wie ihr indiskretes Händeklatschen, als sie mich quer durch den Raum ansah und etwas mit den Lippen formte, das ich nicht enträtseln konnte. Nein, sein unbeirrter Blick haftete weiter an mir, als würde er wie vor all den Jahren mit angehaltenem Atem meiner nächsten Worte harren – als wären diese so wahrhaft monumental und bahnbrechend, dass er es nicht riskieren wollte, irgendetwas davon zu verpassen.

»Du warst echt schrecklich im Labor, und ich habe mich sehr wohl beschwert, ziemlich oft sogar«, sagte ich schließlich in dem verzweifelten Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich keine schlaksige Doktorandin mehr war, sondern eine qualifizierte, intelligente Wissenschaftlerin. Ich hatte mich bewährt und befand mich auf einer ansehnlichen Karriereleiter. Ich war ein Profi, der sich gerade mit anderen Profis traf. Und wir waren, nun ja, zusammen professionell. Ich schaffte das, und ich würde mich vor ihm nicht noch mehr zur Idiotin machen, als ich es heute ohnehin schon getan hatte.

Henry lachte und bohrte die Spitze seines schimmernden dunkelbraunen Herrenhalbschuhs in den Teppich. »Ja, nun, da ich darüber nachdenke, hast du dich wirklich oft beschwert. Ich glaube, ich kann einfach besser mit einem Lineal als mit einer Pipette umgehen.«

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