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Die Blumentochter

Als Buch hier erhältlich:

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Vergiss mein nicht!

1984: Ein Landwirt macht eine schreckliche Entdeckung. Er ist gerade dabei mit seinem Pflug das Feld für die Wintergerste vorbereiten, als er auf seinem Acker eine kleine Fläche entdeckt, auf der jemand kunstvoll Blumen gepflanzt hat. Der Landwirt steigt von seinem Traktor, um die Pflanzen herausziehen, damit er weiterarbeiten kann. Doch dazu kommt es nicht: Unter den Wurzelballen der Blumen entdeckt er die Leiche eines jungen Mädchens.

Einunddreißig Jahre später – Erneut ein Grab in Emsfeld. Wieder ist es am Rande eines Ackers angelegt worden, abermals wurden dort Blumen drapiert. Doch dieses Mal sind sie nicht kunstvoll eingepflanzt, sondern liegen lose auf dem Grab. Sie stammen vom Selbstpflückerfeld in der Nachbarschaft.

Johanna Eckstein kann sich gut an den Fall vor einunddreißig Jahren erinnern. Inzwischen hat sie Karriere bei der Kripo gemacht. Nun muss sie in ihrer Heimatgemeinde Emsfeld und in ihrer eigenen Vergangenheit ermitteln: Hat wieder derselbe Täter zugeschlagen – und was haben die beiden Morde miteinander gemein?

Die geschaffene Atmosphäre in diesem Krimi sorgt für zahlreiche Gänsehautmomente. Fritzi Jäger überzeugt mit nahbaren Charakteren, cleveren Verstrickungen und Spannung bis zur letzten Seite.


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009550

Leseprobe

Zum Buch:

»Haben Sie eine Vermutung, wer die Tote sein könnte?«, erkundigte sich die Polizistin. Sie siezte nicht nur den Bauern, sondern auch Johanna.

Ludger Schulze schüttelte seinen Kopf, Johanna antwortete. »Ich glaube, es ist Lydia.«

Die Beamtin schrieb den Namen in einen Notizblock. »Warum glauben Sie das?«

»Die Fingernägel. Sie sind lila. Das traut sich hier sonst keine.«

Zur Autorin:

Fritzi Jäger wuchs in einem kleinen Dorf im Münsterland auf. Nach ihrem Publizistikstudium volontierte sie an der Berliner Journalistenschule und arbeitete danach als Reporterin, Redakteurin und Ressortleiterin bei Berlins größter Zeitung. Der Liebe wegen ging sie in ihr Heimatdorf zurück. Dort lebt sie mit ihrer Familie mitten auf einer Wiese – und schreibt Kriminalromane.

Fritzi Jäger

Die Blumentochter

Kriminalroman

HarperCollins

Prolog

1984

Dieses bescheuerte physikalische Gesetz. Die Erdanziehungskraft war einfach gnadenlos und unumstößlich. Auf dem Mond würde es leichter fallen, sie in den Arm zu nehmen und fortzutragen. Man könnte sie einfach schweben lassen. Hier und jetzt, auf dem Boden der irdischen Tatsachen, schien es fast nicht machbar, sie von A nach B zu bewegen. Dabei war sie doch zierlich und schlank. So schön. Etwas, worauf sie immer großen Wert gelegt hatte. Kaum ein Fettpölsterchen war zu finden unter der jungen, glatten und sehr blassen Haut.

Sie hatte es verdient, getragen zu werden, egal, wie unmöglich es gerade schien und wie viel Kraft es kostete. Sie hatte auch die Blumen verdient, die sie so liebte. Vor allem aber hätte sie das Leben verdient.

Sie konnte doch nichts dafür. Sie war nur der Preis gewesen, den der Teufel verlangt, aber so viele Jahre nicht eingefordert hatte. Nun war der Tag gekommen. Das Fälligkeitsdatum war erreicht. Kein Zahlungsaufschub mehr. Zoe musste sterben. Wenigstens ein schönes Grab, wenigstens das …

Kapitel 1

Er war früh aufgestanden an diesem Dienstag im August 1984. Agnes hatte sich wie jeden Morgen noch einmal umgedreht. Morgens trank er immer nur einen schwarzen Kaffee und blätterte kurz durch die Lokalzeitung, die er aus dem Briefkasten an der Einfahrt zu ihrem Hof holte. Das Wetter war stabil, es würde wieder warm werden. Als die Sonne um kurz vor 6 Uhr aufging, hängte Ludger Schulze schon den Pflug an den Traktor. Heute würde er sich erst die Fläche im Wiewelhooker Esch vornehmen, dann das Feld am Rabeneck.

Er lag gut in der Zeit. Es war erst halb acht, als er seinen Pflug am Rande des Rabenecks in die Erde sinken ließ, um den Boden für die Aussaat der Wintergerste vorzubereiten. Der Acker war nicht besonders groß. Wahrscheinlich könnte er schon um 10 Uhr zum richtigen Frühstück zu Hause sein, vielleicht würde er sich ein paar Spiegeleier braten. Er schaute auf die Uhr, gähnte und richtete seinen Blick nach vorne, um in der Spur zu bleiben. In der Ferne sah er etwas, das ihn blinzeln ließ. Was war das? Er erahnte etwas Rotes und Weißes, ganz hinten, am Rand des Feldes. Als er näher kam, erkannte er die Rosen und den Zauberschnee. Jemand musste sie auf seinem Acker gepflanzt haben. Er wusste nicht, woran ihn das schöne Blumenarrangement erinnerte. Auch wenn es nicht auf seinen Acker gehörte, er konnte doch nicht einfach darüber hinwegpflügen. Er stoppte den Traktor, legte den Leerlauf ein und stieg aus. Wenigstens ein paar der Rosen könnte er seiner Frau doch gleich zum Frühstück mitbringen, dachte er und näherte sich der rätselhaften Fläche, die höchsten zwei mal ein Meter groß war. Ein leichter Wind wehte den leicht fauligen Duft frisch gepflügter Erde zu ihm. Es war warm draußen, bestimmt schon an die 20 Grad. Doch Ludger fror, als ihm klar wurde, woran ihn der aufgeworfene Erdhügel mit den hübschen Blumen darauf erinnerte.

Am Tag, an dem Johanna Eckstein ahnte, dass sie anders war als der Rest ihrer Familie, hatte sie die ersten beiden Stunden frei. Es war kurz nach den Sommerferien, sie war jetzt schon ein paar Tage lang eine Untertertianerin. Was im Klartext bedeutete: Sie war eine Neuntklässlerin. Doch die Lehrer und auch viele ihrer Mitschüler des katholischen St.-Anna-Gymnasiums legten großen Wert darauf, die hochtrabende lateinische Bezeichnung für ihre Jahrgangsstufe zu benutzen. Ihr war das egal, Hauptsache, sie kam klar in der Schule – und das tat sie. Jetzt saß sie mit ihrer Mutter am Frühstückstisch. Gerade beschmierte sie ihr zweites Toastbrot mit Nussenia – der kostengünstigeren und süßeren Nutella-Alternative –, als ihr kleiner Bruder Tobias Sturm klingelte. Er war erst vor fünf Minuten Richtung Grundschule losgeradelt. Johannas Mutter schaute sich nach einem vergessenen Turnbeutel oder dem Schulbrot um, doch es war schnell klar, dass Tobi nicht deshalb zurückgekommen war. Er fiel fast ins Haus, als seine Mutter die Tür öffnete. Sein Gesicht hatte dieselbe Farbe angenommen wie die gerade erst wieder weiß überstrichene Raufasertapete im Flur, gleichzeitig bildeten sich rote Flecken auf seinen Wangen. Atemlos brachte er nur einzelne Worte heraus. »Polizei. Anrufen. Eine Tote. Schnell. Schnell.«

Seine Stimmt kippte ins Weinen. Während seine Mutter den Jungen in den Arm nahm, ließ Johanna ihren Toast links liegen, ging zu den beiden und fasste kurz die Sachlage zusammen: »Wir sollen die Polizei rufen, richtig?«

Tobias nickte.

»Hast du einen Unfall beobachtet? Ist jemand überfahren worden?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Bauer hat’s gesagt.«

Johanna ging ein bisschen in die Knie und schaute ihrem Bruder tief in die Augen. »Was hat der Bauer dir gesagt, Tobi?«

»Dass ich ganz schnell nach Hause fahren und die Polizei anrufen soll. Weil da, weil da …« Er schluchzte. »Weil da eine Tote liegt.«

Johanna blieb ganz ruhig. »Wo, Tobi. Wo liegt sie?«

»Auf dem Acker, am Rand.«

»Welchen Acker meinst du?«

Tobias zitterte, umklammerte seine Mutter noch ein bisschen fester. »Ich meine den Acker, wo wir mal mit meinem Drachen waren.«

Johanna nickte. »Und was hast du da gesehen?«

»Da stand der Bauer, und der brüllte. Er brüllte mich ganz laut an«, brachte Tobias weinend hervor.

Johanna überließ das Trösten der Mutter und rief die Polizei an. Sie erklärte der Frau am anderen Ende der Leitung den Weg zum Rabeneck. So hieß der Acker von Bauer Schulze. Im Herbst hatten sie dort Tobis kleinen Drachen steigen lassen. Oder besser, sie hatten es vergeblich versucht. Der Wind reichte einfach nicht für das billige Plastikteil.

Als sie draußen vor der Tür auf ihr Fahrrad stieg, um sich dorthin aufzumachen, kam ihr Vater ihr auf dem Vorhof seines Landmaschinenhandels entgegen. »Zur Schule geht’s aber in die andere Richtung, Fräulein.«

Johanna ignorierte ihn. Sie hatte keine Zeit zu antworten. Sie musste zum Rabeneck. Dass ihre Mutter sie nicht gehen lassen wollte, war ihr egal, dass ihr Vater sie maßregeln wollte, auch. Es ging hier um etwas Wichtiges. Idiotische Elternsorgen, eine Doppelstunde Chemie, und überhaupt alles andere war da gerade wirklich nebensächlich.

+++

Ludger Schulze war kein kleiner Mann. Er war mindestens ein Meter fünfundachtzig groß und wog um die hundertzehn Kilo. Der Motor seines Fendt-Traktors lief noch im Leerlauf. Der Pflug war in der lehmigen Erde versunken, und auch Ludger Schulze schien dort zu stecken. Er kniete auf dem Boden, mit krummem Rücken. Als Johanna neben ihn trat, überragte sie ihn, obwohl sie doch sonst immer nur die kleine Jojo war.

»Ludger?«, sie sprach sehr ruhig und leise; wollte ihn nicht erschrecken, denn er hatte sie noch nicht wahrgenommen. Es war für Vierzehnjährige in Emsfeld eigentlich nicht üblich, Erwachsene mit ihrem Vornamen anzusprechen, aber in dieser Situation hätte ein »Herr Schulze« noch weniger gepasst. Außerdem nannte jeder im Ort ihn Ludger. Nun also auch sie.

»Die Polizei kommt gleich. Wir haben dort angerufen«, sagte Johanna. Dann schaute sie auf seine große Hand, die von der Ackererde verdreckt war und mit der er eine andere, kleinere Hand festhielt. Sie ragte aus einer Art flachem Erdhügel heraus, der lilafarbene Lack an den kurzen Nägeln war an einigen Stellen abgeplatzt. Die Erde um die Hand herum war mit weißen Blumen und roten Rosen bepflanzt. Johanna dachte an das Grab ihrer Großmutter – das war nicht so schön. Immergrüne Bodendecker und ein Naturstein, das war’s. Dass dies hier ein liebevoll hergerichtetes Grab war, daran bestand für Johanna kein Zweifel. Ein paar Rosen samt Pflanzballen lagen neben der freigelegten Mädchenhand.

»Ich wollte nur pflügen, den Boden fertig machen, für die Wintergerste«, sagte Ludger. »Dann waren da plötzlich diese schönen Blumen. Verrückt sah das aus. Ich habe angehalten, ich wollte sie doch nicht kaputt fahren.« Er sprach weiter wie zu sich selbst. »Die müssen gerade erst eingepflanzt worden sein, war kein Problem, sie mit Ballen herauszuziehen. Ich dachte, Agnes würde sich freuen, für unseren Garten.« Er streichelte die starre Hand. »Und dann. Das hier.« Er rieb sich mit der dreckigen Hand über sein Gesicht, Erdkrümel blieben in seinen Augenbrauen hängen. Dann fasste er sich, sein Oberkörper bekam wieder Spannung. »Wir müssen sie rausholen«, sagte er mit fester Stimme und begann damit, die anderen Blumen herauszureißen, um die Tote freizulegen.

Johanna hatte schon viele Krimis im Fernsehen gesehen, und sie liebte Agatha Christies Romane. Auch wenn in SOKO 5113 sicher nicht alles realistisch dargestellt wurde, sie wusste, dass es keine gute Idee war, Spuren zu vernichten, bevor die Ermittler sie sichern konnten. Sie stoppte ihn, indem sie vorsichtig seinen Arm berührte. »Wir gehen besser ein paar Meter zur Straße dort drüben.« Sie zog den großen Mann an seinem Hemdsärmel mit. »Hier sollte nur noch die Polizei graben.«

+++

Juli 2015

Der Mann, der jetzt vor Johanna stand, war von ähnlicher Statur wie Bauer Schulze. Warum sie ausgerechnet in diesem Moment an den armen Tropf aus ihrem Heimatdorf denken musste, war mit Logik nicht zu beantworten. Nichts erinnerte hier, unter den Bögen der Berliner U-Bahn-Station Warschauer Straße, an die menschenleeren Feldwege und Ackerränder des Münsterlandes oder an die Leute dort. Obwohl. Sie hatte schon oft alte Bekannte, Freunde der Eltern oder Schulkameraden aus ihrer Kindheit auf U-Bahn-Fahrten, im Kaufhaus oder beim Joggen übers Tempelhofer Feld wiedererkannt – sich aber bei genauerem Hinsehen eingestehen müssen, dass sie sich eindeutig getäuscht hatte. Vielleicht sollte sie doch mal den psychologischen Dienst aufsuchen, dachte sie für den Bruchteil einer Sekunde. Sie konnte sich mit solchem Quatsch nicht aufhalten.

Hier und jetzt hatte sie Jason Mupoto festzunehmen, der im Verdacht stand, einen befreundeten Dealer halb totgeschlagen zu haben.

Und trotzdem würde es nichts nutzen. Mupoto würde bald zurückkehren und weiter seinen Mist verkaufen. Johanna dachte an einen Spruch ihres Vaters, der gerne fiel, wenn ihre beiden Brüder sich früher mal wieder beharkt hatten und in einem seltsamen Ringkampf ohne Regeln über den frisch gemähten Rasen getaumelt und gerollt waren. »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich«, hatte er dann immer gesagt. Und auch wenn sie ihre Brüder nicht als Pack bezeichnen würde, stimmte der grobe Kern durchaus. Bei Tobias und Christoph, aber vor allem eben auch unter Kriminellen. Sobald das Opfer Mupotos das Krankenhaus wieder verlassen hat, wird er seinem alten Buddy verzeihen und seine Zeugenaussage zurückziehen oder so relativieren, dass am Ende eine einvernehmliche Schlägerei daraus werden würde. Gerichtsverhandlung zwecklos, weil kein Urteil zu erwarten war.

»Warum nehmen wir ihn überhaupt fest?«, fragte Johanna an ihren Kollegen gerichtet. Ahmad saß am Steuer, Mupoto fuhr in einem vergitterten Kastenwagen der Kollegen mit. Sie erwartete keine Antwort, denn sie wusste, dass Ahmad dasselbe dachte. Etwas, das man besser nicht laut sagte: Sollen sie sich doch einfach gegenseitig aus dem Weg schaffen. Ist kein Verlust.

Johanna war nicht stolz auf diese Gedanken. Sie hatte das Gefühl, ganz allmählich vom guten Cop zum frustrierten Cop geworden zu sein. Und von dort war es gar nicht mehr so weit bis zum Scheiß-Bullen. Sie hatte in den letzten fünfundzwanzig Berufsjahren einige Kollegen bei dieser Mutation beobachten können. Und nun steckte sie also selbst mittendrin. Oder waren es vielleicht doch nur die Hormone, die bei Frauen über vierzig verrücktspielten und sie in leicht reizbare, schlecht gelaunte Wechseljahre-Furien verwandelten.

Ahmad schaute sie kurz von der Seite an und lachte. »Wenn du dich selbst sehen könntest, Jo.«

Sie verdrehte die Augen. »Ja, ja – ich weiß. Man kann meine Gedanken lesen. Na, was denke ich denn gerade, Meister Ahmad?«

»Dass wir unbedingt zum Thailänder fahren müssen.«

»Gute Idee. Ich habe echt Hunger.«

Ahmad grinste stolz. »Wusste ich es doch!«

»Du hast nur meinen knurrenden Magen gehört. Aber als Gedankenleser hast du trotzdem versagt.«

Zum Glück, dachte sie. Ahmad musste nicht über ihre momentanen Gefühlsschwankungen Bescheid wissen. Letztlich verstand sie selbst nicht, was gerade mit ihr los war. Da waren natürlich die Probleme mit ihrem Freund David. Es hatte sich etwas geändert zwischen ihnen. Früher war sie sicher gewesen, dass er sie liebte, nur sie. Und das hatte gereicht. Doch jetzt? Jetzt spürte sie, dass es beunruhigend war, dass es ihn nicht mehr glücklich machte, mit ihr auf dem Sofa zu sitzen, Chips zu essen und über das Fernsehprogramm zu streiten. Doch immer wenn sie mit ihm darüber sprechen wollte, machte sie einen Rückzieher. Sie fürchtete seine ehrliche Antwort, und sie hoffte, dass alles nur eine Phase sei, etwas, das allen Paaren früher oder später passierte. Alltag. Also: Weg mit den Gedanken! Im Moment favorisierte sie deshalb die Hormon-Theorie. Das reimt sich auf Hormon-Therapie. Sie war diesen ganzen Alte-Frauen-Scheiß leid. Trotzdem hoffte sie, dass ihre Krise nur in ihrem Alter – sie hatte gerade ihren fünfundvierzigsten Geburtstag hinter sich – begründet war. Dann müsste sie wenigstens keine weitreichenden Entschlüsse fassen.

Während Johanna noch ihren Gedanken nachhing, fuhr Ahmad schon zum dritten Mal durch die Bergmannstraße. Die Parkplätze am Straßenrand waren alle besetzt. Gerade wollte er die Warnleuchten einschalten und in zweiter Reihe anhalten, um so eine Art Einsatz vorzutäuschen, als die Rückfahrleuchten eines Caddy rechts vor ihnen aufleuchteten. »Geht doch«, murmelte er und lenkte den Wagen in die frei gewordene Parklücke. Johanna war erleichtert. Mit einem legalen Parkplatz konnte sie das Essen entspannter genießen.

Auf dem Bürgersteig standen ein paar einfache Biertischgarnituren. Johanna hatte zwei freie Plätze entdeckt und steuerte darauf zu. Ahmad verstand. Sie würde sich setzen, er für beide bestellen. Das war ihre Routine.

»Nimmst du wieder die 95?«, rief er ihr nach. Johanna nickte. Wie leicht es war, sich hier zu entscheiden. Grüne Currysoße mit gebratenen Pilzen und Gemüse würde sie ihr ganzes Leben lang lieben. In guten wie in schlechten Zeiten. Bei David war sie sich da nicht mehr so sicher.

Kapitel 2

»Wie viele Leichen hast du schon gesehen?«

»Hast du schon einen erschossen?«

»Kannst du uns deine Pistole zeigen?«

Auf dem fünfundsiebzigsten Geburtstag ihrer Mutter war Johanna der Star ihrer Neffen und Nichten. Dabei gab sie sich wenig Mühe, den Kindern ihrer Brüder Tobias und Christoph zu gefallen. Fünf waren es insgesamt. Die Jüngste war sieben, der Älteste um die vierzehn. So genau wusste Johanna das nicht. Doch sie musste zugeben: Auf der ansonsten doch eher gediegenen Geburtstagsfeier mit Schnitzel, Salatbeilage und ein paar Schnäpschen zum gemeinsamen Magenaufräumen waren die Kids mit ihren neugierigen Fragen der angenehmere Teil der Veranstaltung.

Die Erwachsenen redeten zwar viel, aber dabei ging es meistens um Menschen, die gerade nicht anwesend waren. Um Nachbarn, entfernte Verwandte oder um Ludger Schulze, dessen Beerdigung am Tag zuvor gewesen war. »Er hat wirklich lange gelegen«, hieß es dann. »Eigentlich kann seine Agnes erleichtert sein, dass er es geschafft hat.« Alle pflichteten bei und tranken einen weiteren Schluck Bier.

»Nach der Sache damals hat er ja öfter mal tief ins Glas geschaut«, sagte dann einer der Nachbarn. Alle nickten wieder, schauten auch tief ins Glas und nahmen noch einen großen Schluck Bier. Das war es dann auch mit dem Thema. Die Sache damals wurde nicht weiter besprochen, denn alle wussten, worum es ging: die Blumentochter.

Lydia Rose. So hieß das Mädchen, das Ludger vor drei Jahrzehnten auf seinem Acker gefunden hatte. Das tote Mädchen mit den kurzen lila lackierten Fingernägeln und dem schlechten Ruf. Die Sechzehnjährige, deren schmale Hand der kräftige Ludger damals festgehalten hatte, um selbst nicht den Halt zu verlieren.

Über ihre Gläser hinweg schauten sich Johanna und ihr Bruder Tobias kurz an. Sie wussten, dass sie beide daran dachten, und fühlten sich dadurch seltsam verbunden. Christoph, der Älteste der drei Geschwister Eckstein, stand seitdem immer ein bisschen außerhalb.

»Ja«, Johanna wandte sich wieder ihren Nichten und Neffen zu. »Ich habe schon Leichen gesehen.«

»War das schlimm?«, frage Jonas.

»Ja, jedes Mal«, erwiderte sie.

+++

Gerade als Johanna gähnte und ein paar Gäste schon gegangen waren, kam ein junger Mann herein. Er steuerte auf die alten Nachbarn ihrer Eltern zu und sprach kurz mit ihnen. Sie nickten, leerten ihre Gläser, standen sehr langsam auf und steuerten auf die Garderobe in der Ecke des Saales zu.

»Abholdienst?«, fragte sie, als der junge Mann auf sie zukam.

»Ja, das sind meine Großeltern. Du bist Johanna, oder?« Er streckte ihr seine Hand entgegen.

Sie begrüßte ihn und schaute ihn fragend an.

»Du kennst mich wahrscheinlich nicht. Ich bin ein paar Jahre jünger als du.«

»Das stimmt«, lachte sie.

»Ich bin Moritz. Als du damals nach Berlin gegangen bist, war ich noch im Kindergarten.«

»Süß«, sagte sie. Nein, beim besten Willen, sie konnte sich nicht an ihn erinnern.

Er ließ sich aber nicht beirren. »Ich habe immer viel von dir gehört, war ja bekannt, dass du damals nach Berlin gegangen bist. Fand ich cool.«

Sie lächelte und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Also wiederholte sie seinen Satz: »Ja, echt cool von mir.«

»Ich bin auch bei der Polizei.« Er strahlte.

»Toll«, sagte sie und war unsicher, was er von ihr erwartete. Applaus? Lob?

»Wie wär’s? Hättest du nicht Bock, ein paar Kollegen kennenzulernen? Ich fahr gleich noch zum Stammtisch nach Münster.«

Johanna schaute sich um. Die Party hier war eigentlich schon vorbei, ihr Bruder sammelte seine Kids ein, ihre Mutter redete auf ihren Vater ein, dass er nicht mehr so viel Schnaps trinken solle.

»Warum nicht!«, sagte sie.

»Super, ich bring jetzt erst mal die Oldies weg, dann komme ich wieder. Viertelstunde?«

Sie nickte und hob den Daumen.

Als sie pünktlich vor die Tür der Gaststätte trat, kam der junge Polizist in seinem Golf GTI schon angefahren. Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und so fuhren die beiden zum Treffen von Polizeikollegen Richtung Münsteraner Hafen. Der Stammtisch traf sich alle drei Monate. Man hatte einen Extraraum in der Bohème Boulette am Hansaring reserviert. Johanna war die einzige Frau in der Polizistenrunde.

In Berlin hatte sich inzwischen das Geschlechterverhältnis zugunsten der Frauen geändert. Wobei sie selbst sich eigentlich nicht in die Kategorie »typisch weiblich« einteilte. Sie wurde von ihren Kollegen in Berlin meist nur Jo genannt, und dieser Neutralitätsstatus gefiel ihr ganz gut.

Hier in Münster fiel sie auf. Nicht nur, weil sie eine Frau war – auch weil sie keiner kannte. Und dann kam sie ja auch noch aus Berlin, aus der Stadt, die bei jedem Menschen etwas auslöste. Vor allem Bewunderung oder eher Verwunderung. Darüber, dass man dort, in dieser deutschen Metropole, lebte und arbeitete. Der Nachbarsenkel sollte recht behalten – er konnte mit seinem Überraschungsgast und ihrem Wohnort bei den Kollegen punkten.

Alle fragten sie über Berlin aus und freuten sich, dass sie spontan mitgekommen war. Das Bier war kühl, die Kollegen freundlich. Nach einer Stunde war die Luft schon fast weggeatmet. Es war heute einfach zu warm draußen, um sich drinnen wohlzufühlen. Also beschloss die Runde, sich zu Fuß Richtung Hafen aufzumachen. Dort hockten dann Johanna und neun Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfundfünfzig Jahren an der Wasserkante und schauten einem Entenpaar beim Schwimmen zu.

Johanna musste schmunzeln. Wie stolz die Münsteraner auf ihren Hafen waren, der gerade modernisiert worden war. »Sieht doch aus wie in Berlin hier«, sagte einer. Johanna lächelte mitfühlend. Der gesamte Hafen hier passte wahrscheinlich vierzigmal in das Hafengelände rund um das ehemalige Speichergebäude, in dem Universal Music untergebracht war. Aber das zu erklären, war ihr gerade zu anstrengend. Sie genoss diesen lauen Sommerabend inmitten von gut gelaunten Kollegen. Sollen sie ruhig stolz auf ihren kleinen Hafen sein, dachte sie und schloss die Augen.

Ein Mittdreißiger mit blonden Haaren stupste sie von rechts mit einer kalten Bierflasche an, die er an einem Kiosk besorgt hatte. Schon in der Kneipe hatte er sich neben sie gesetzt und sie sehr interessiert nach Berlin und ihrem Aufgabenbereich dort ausgefragt. Erst dachte Johanna, er wolle sie anbaggern, doch es ging ihm tatsächlich vor allem um ihren Job. Michael, so hieß der Blondschopf, arbeitete beim KK 11 im Münsterland und war damit – genau wie sie – für Gewaltdelikte an Menschen zuständig. Schnell war klar: Er war neidisch auf sie. Im Münsterland, so jammerte er, sei einfach nichts los. Jeder Mord sei so selten, dass die Kollegen sich fast schon darum stritten, wer ihn übernehmen dürfe. In Berlin gäbe es wenigstens genug zu tun, dozierte der von Münsters Bravheit gelangweilte Michael. »Verbrecher und Verbrechen, wohin man schaue«, sagte er und erzählte Johanna fast schon begeistert von den Drogendealern im Görlitzer Park, die er bei seinem letzten Berlin-Besuch am helllichten Tag gesehen habe. »Da kann man wenigstens was bewirken!« Johanna verkniff sich ein bitteres »Von wegen« und hörte weiter höflich zu. Er sei hier in Münster permanent unterfordert.

Johanna zuckte nach seiner kleinen Ansprache bloß mit den Schultern. »Das klingt für mich nach dem Paradies.«

Als Moritz eine Stunde später Anstalten machte aufzubrechen, kam Michael noch einmal zu ihr und stieß mit ihr an, sodass die Glasflaschen fröhlich klirrten. »Falls du irgendwann mal beschließen solltest, zurück ins Münsterland zu wollen, melde dich bei mir. Vielleicht können wir ja tauschen«, sagte er.

Johanna nahm einen großen Schluck aus der Flasche. »Niemals«, entgegnete sie und unterdrückte einen Rülpser. »Euer Hafen ist übrigens nur ein kleiner Fliegenschiss, die Bootsanlegestelle im Hafen Treptow ist ja schon zehnmal so groß.«

Kapitel 3

Sein Telefon klingelte. Es lag direkt neben ihm auf dem Sofa. Er schaute auf die Nummer, die auf dem Display erschien. Er kannte sie nicht.

Oliver Große Kentrup hatte sich das Große in seinem Namen abgewöhnt, als er aus Emsfeld weggezogen war. Wenn er sich am Telefon meldete, sich vorstellte oder unterschrieb, reichte ihm ein zackiges Kentrup. Hier in Düsseldorf kapierte niemand, dass man im Münsterland mit dem Namenszusatz Große nicht angeben wollte, sondern dass er einfach zu seinem Namen gehörte: Oliver Große Kentrup. Das Große deutete auf die bäuerliche Vergangenheit seiner Familie hin. Weil sein Nachname das Wörtchen Große enthielt, waren seine Vorfahren offensichtlich erfolgreiche Landwirte gewesen, die über reichlich Ackerfläche und Einfluss in der Gegend verfügten. Nur, wer einen besonders großen Betrieb führte, bekam den Namensteil in den Nachnamen geschoben. Olivers Eltern hatten sich also die ehrenvolle Auszeichnung Große nicht selbst verdient, sondern einfach von den fleißigen Generationen zuvor vererbt bekommen.

Als Verpflichtung sah sein Vater den Namen jedoch nicht, eher als Statement. Er erkannte frühzeitig, dass er nicht die Ackerflächen und Felder mit Pflug und Traktor bearbeiten wollte. Stattdessen verkaufte er das Land und wurde wohlhabend, ohne von EU-Zuschüssen, genug Regen und den schwankenden Milchpreisen abhängig zu sein. Die Hofstelle wurde herausgeputzt, und statt Rindern oder Schweinen standen jetzt ein paar Pferde in den Ställen. Zur großen Freude von Olivers Mutter zeigte ihr Sohn schon in frühen Jahren echtes Reittalent. Als er siebzehn Jahre alt war, hatte ihn sogar der Bundestrainer angesprochen und zum Probetraining eingeladen. Eine internationale Karriere stand bevor, das war allen klar, die ihn bei Turnieren und Prüfungen in den letzten Jahren beobachtet hatten. Wäre nicht dieser schlimme Unfall gewesen, wären Europameisterschaft, Weltmeisterschaft und sogar Olympia die logische Konsequenz gewesen. Jetzt humpelte er.

»Kentrup«, Oliver sprach seinen Nachnamen eher aus wie eine vorsichtige Frage. Er war auf der Hut. Auch jetzt noch, nach den Jahren des Friedens. Es war ihre Uhrzeit. 21.45 Uhr. Zu spät, um dem Klingeln des Telefons nicht eine besondere Bedeutung zukommen zu lassen. Zu früh, um ihn aufzuwecken und sich deshalb Vorwürfe über den späten Anruf anhören zu müssen.

Er lauschte in sein Handy. Keine Antwort. Dann hörte er ein leises Atmen. War es etwa wieder sie? Nicht warten, dachte er. Nicht nachfragen. Auflegen. Wegdrücken. Es hat sich jemand verwählt, mehr wird es nicht sein. Sie hatte doch Ruhe gegeben. Als er auflegte, sah er, dass seine Zeigefingerspitze Schlieren auf dem Handydisplay hinterlassen hatte. Salzige Schweißschlieren.

Kapitel 4

Sosehr Johanna sich auch anstrengte, ihr fiel der Name des jungen Polizisten nicht mehr ein, in dessen Auto sie gerade stieg. Immerhin hatte sie es hinbekommen, ihm einigermaßen zu folgen, ohne zu wanken, und sich danach auf seinem Beifahrersitz niederzulassen, ohne dass es allzu betrunken wirkte. Sie selbst wusste, dass sie zwei Bier zu viel getrunken hatte, doch der Nachbarsenkel – ja, es fiel ihr wieder ein – er hieß Moritz –, also er musste das ja zu Hause nicht jedem auf die Nase binden.

»War nett mit deinen Kollegen«, versuchte sie, eine belanglose, aber immerhin freundliche Konversation zu beginnen.

Der junge Mann nickte nur. Nun gut, dachte Johanna. Schweigen wir besser, dann muss ich mich auch nicht so sehr konzentrieren, deutlich und nüchtern zu klingen. Sie blinzelte mit den Augen, und das Rot an der Ampel verschwamm zu einem leuchtenden Streifen. Als dieser gelb und dann grün wurde, wollte der Enkel aber doch noch reden: »Das Münsterland ist nicht so dein Ding, oder?«

»Doch«, sagte sie. »Ich mag hier alles.« Er blickte zweifelnd zu ihr herüber, was Johanna zum Lachen brachte. »Fast alles …«

»Den Hafen offensichtlich nicht«, führte er ihren Satz fort.

»Der Hafen ist mir einfach egal.«

»Aha?!« Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte.

»Das, was ihr hier habt – und was ich auch manchmal gerne hätte –, ist das große Nichts, das Unspektakuläre, die Langeweile.«

»Du findest uns langweilig?«

Ein erneutes Lachen entrann ihr. »Ja, schon. Und das ist wirklich nicht böse gemeint. Ich vermisse das wirklich. Diese Tage, an denen nicht viel passiert. An denen die Nachbarn sich einfach nur über das Wetter unterhalten. Beim Geburtstag meiner Mutter, zum Beispiel, da haben sich deine Großeltern mit meinen Eltern über das Neubaugebiet unterhalten. Darüber, ob die Holzcarports da wirklich hinpassen. Niemand in meiner Familie muss je einen Parkplatz suchen, wenn er nach Hause kommt. Sie stellen einfach ihr Auto ab. Wenn hier ein Pflasterstein auf dem Marktplatz nicht richtig liegt, ruft jemand das Ordnungsamt an. Und die setzen den Stein neu. Und dann war es das auch schon an Aufregung für den Tag.«

Der Enkel schmunzelte. »Okay, ich verstehe. In Berlin denkt man bei Pflastersteinen, die nicht mehr richtig liegen, eher an eine Straßenschlacht.« Zustimmend nickte Johanna.

»Wieso bist du eigentlich Polizistin geworden?«, wollte er einige Minuten später wissen.

»Ich weiß es nicht mehr«, log sie und kniff die Augen zusammen, sodass die Rücklichter des vorausfahrenden Autos bunt auf ihrer Netzhaut schimmerten. Sie wollte nicht über sich selbst reden, sondern lieber den Lichtern nachhängen. Das leuchtende Rot des Rücklichts verfärbte sich hinter ihren Lidern rosenrot.

Lydia Rose – so hieß das Mädchen, das damals auf dem Acker begraben worden war. Jemand hatte Rosen gepflanzt und sie mit Zauberschnee kombiniert. Sie hatte erst später herausgefunden, dass die Pflanze so hieß. Hier das dunkle Rot, dort das zarte Weiß. Sehr geschmackvoll und professionell sah das aus, gar nicht so, als sei jemand rasend vor Wut gewesen. Oder als habe hier eine Gewalttat stattgefunden. Was genau geschehen war, hatte die Polizei damals nicht ermitteln können. Nur so viel stand fest: Adam Paczek hatte es getan, der Gärtner-Azubi. Es war grotesk und absurd. Schon damals lachten viele hinter vorgehaltener Hand. »Der Gärtner ist immer der Mörder.« Aber ausgerechnet Adam? Sie hätte dem Jungen mit dem ernsten Gesicht und den traurigen Augen nie zugetraut, ein Mädchen zu erschlagen. Schon gar nicht ein solches wie Lydia. Sie war keine, die so kampflos starb. Vorher hätte sie jemanden umgebracht.

Johanna öffnete die Augen. Sie wusste noch ganz genau, warum sie Polizisten werden wollte. Sie konnte sich an den Moment erinnern, als ihr plötzlich klar wurde: Das möchte ich machen.

+++

Sie hatte damals vor einunddreißig Jahren mit Bauer Schulze am Straßenrand gestanden und dem Polizeiwagen zugewunken, der sich langsam näherte. Zwei Beamte in Uniform stiegen aus. Beige Hosen, grüne Jacken. Ein Mann und eine Frau. Eine Frau! Johanna hatte in Emsfeld noch nie eine Polizistin gesehen. Die Verkehrspolizistin bei der Fahrradprüfung in der Grundschule mal ausgenommen. Sie war davon ausgegangen, dass zwei Männer aus dem Streifenwagen aussteigen würden. Sie konnte sich genau an ihren Gedanken erinnern: Ich will auch eine Polizistin werden. Sachlich, ruhig und sehr bestimmt befragte die Polizistin zuerst den Bauern und dann auch Johanna. Sie traf genau den richtigen Ton, ließ dem unter Schock stehenden Ludger genug Zeit, um zu antworten, und gab Johanna das Gefühl, für voll genommen zu werden. Anders als ihre Eltern zu Hause hörte diese fremde Polizistin ihr zu. Sie fragte nach und nickte aufmunternd, während ihr Kollege über den Acker Richtung Grab schritt. Er sichtete kurz die Lage, kam mit großen Schritten zurück, nickte seiner Kollegin zu und setzte sich ins Auto, um Meldung zu machen und die weiteren Maßnahmen einzuleiten.

»Haben Sie eine Vermutung, wer die Tote sein könnte?«, erkundigte sich die Polizistin. Sie siezte nicht nur den Bauern, sondern auch Johanna.

Ludger Schulze schüttelte seinen Kopf, Johanna antwortete. »Ich glaube, es ist Lydia.«

Die Beamtin schrieb den Namen in einen Notizblock. »Warum glauben Sie das?«

»Die Fingernägel. Sie sind lila. Das traut sich hier sonst keine.«

+++

Der Wagen wurde langsamer. Nach einer guten halben Stunde waren sie wieder in Emsfeld angekommen. Johannas Elternhaus lag mitten im Ort – das Grundstück war überdimensional groß, schließlich brauchte man Platz für die Traktoren und Anhänger. Die Halle, in der ihr Vater einst den Landmaschinenhandel betrieben hatte, stand immer noch dort. Vor dem Eingangstor lag der grau gepflasterte Hof, auf dem sich ein paar Wohnwagenbesitzer eingemietet hatten und welcher bis zum Wohnhaus der Ecksteins reichte, einem unscheinbaren Klinkerbau aus den Siebzigerjahren. Rote Steine, schwarzes Dach und funktionale Räume. Jedes der drei Kinder hatte ein eigenes Zimmer, das Wohnzimmer war riesig, die Küche dafür klein. Es gab einen großen Esstisch im Esszimmer, an dem schon längst keiner mehr aß. Die kleine Küche war für das alte Ehepaar Eckstein groß genug. Das Esszimmer war zum Lagerraum für Nähzeug und Wäsche geworden – und es war dort lausig kalt. Im Wohnzimmer dagegen sorgten die voll aufgedrehte Ölheizung oder das große Fenster mit Südausrichtung ganzjährig für eine andere Klimazone. Dort war es tropisch.

»Ich stell dann mal kurz den Wagen auf der völlig freien und langweiligen Fläche vor eurem Haus ab.« Der Enkel hatte sogar Humor.

»So isses. Danke fürs Mitnehmen, Moritz«, sagte Johanna, noch ehe sie aus dem Auto stieg. Er widersprach nicht. Sie hatte sich also doch seinen Namen gemerkt.

Es war frisch geworden, die kühle Nachtluft kroch ihr in den Nacken. Als sie mit dem Schlüssel das Schlüsselloch der Haustür ertastete, huschte eine Ratte an der Häuserwand entlang. Ist ja fast wie in Berlin hier, dachte sie, während ihr Schlüssel endlich ins Schlüsselloch glitt. Erst vor ein paar Tagen hatte sie hinter der Dönerbude am Kotti die letzte Ratte gesehen. Und schon wieder ein Imbiss weniger, in dem sie sich was zu essen besorgen konnte, hatte Johanna gedacht und ihren halb aufgegessenen Dürüm in den Mülleimer geschmissen. Wobei das genau genommen gar nicht stimmte. Sie hatte ihn nicht geschmissen, sondern vorsichtig in die Öffnung geschoben, aus der ihr der Abfall Berlins entgegengrinste.

+++

Oliver hatte aufgelegt und das Handy ausgestellt. Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und warf das Telefon wütend auf die Decke. Der Feigling. Sie hatte doch nur ein bisschen mit ihm plaudern wollen, ganz ohne Hintergedanken. Es hätte gutgetan. Auch ihm. Es tat ihr leid, dass er das nicht verstand. Sie war doch immer schon auf seiner Seite gewesen, sie hätte ihn unterstützt. Bei seiner Karriere, bei allem. Sie hätte ihn nicht verlassen, wenn sie von ihm schwanger gewesen wäre, wie diese andere Frau. Die hatte ihm nicht mal erzählt, dass sie ein Kind von ihm erwartete, hatte ihm das einfach vorenthalten. Egoistische Kuh. Hätte sie sein Kind unter dem Herzen getragen, hätte sie sich nicht davongemacht.

Aber nein, er hatte ihr ja nie zuhören wollen. Er hatte immer alles falsch verstanden. So sind die Juristen halt, drehen einem das Wort im Mund herum.

Sie würde es morgen wieder versuchen, vielleicht ohne vorher eine Flasche Wein zu trinken. Hoffentlich hatte er dann nicht schon wieder die Nummer gewechselt. Es war gar nicht so leicht gewesen, seine aktuellen Kontaktdaten ausfindig zu machen. Was für eine Arbeit sie sich immer damit machte. Und er? Er sah das nicht, sondern legte auf. Idiot, dachte sie. Ich liebe dich doch! Ich wünschte, du würdest verrecken!

Kapitel 5

Sie stand schon viel zu lange unter der heißen Dusche. Ihre Fingerkuppen wurden schrumpelig. Johanna schloss die Augen und genoss, wie das Wasser ihren Kopf rauschend umhüllte und die Geräusche der Außenwelt filterte. Andere Leute meditierten, um zur Ruhe zu kommen, sie verschwendete heißes Wasser.

Während sie darauf wartete, dass ihre Erinnerungen an die Dreckswoche, die gerade hinter ihr lag, zusammen mit dem Duschschaum im Abfluss versickerte, sah sie noch einmal all die Bilder, die sie so schnell wie möglich loswerden wollte. Der Nazi, der ihr bei der Vernehmung einfach ins Gesicht gerotzt hatte. Ahmad, der ihr mitleidig ein Taschentuch reichte. Derselbe Rotztyp, der einfach wieder gehen konnte, weil er ja nur ein Zeuge war und die Staatsanwaltschaft keinen Grund sah, ihn festzusetzen. Dann die junge Frau mit dem »Nazis sind Dreck«-Spruch auf der Brust, die ihr entgegenkam, als sie müde von einem harten Tag das Mordkommissariat in der Keithstraße verließ. Sie zeigte ihr unvermittelt den Stinkefinger. »Du Bullenfotze«, zischte sie und ging grinsend weiter. Gerade so, als hätte sie einfach nur freundlich »Guten Tag« gesagt.

Johanna wusste, dass die Aggressionen nicht ihr persönlich galten, sie wusste, dass es überhaupt nichts brachte, sie persönlich zu nehmen. Aber sie tat es trotzdem: Sie nahm es persönlich.

Sie musste sich konzentrieren. Auf den zarten Vanillegeruch des Duschschaumes, auf das heiße Wasser. Es gelang ihr.

Sie zögerte den Moment noch ein bisschen heraus, die Tür aufzustoßen und nach dem Handtuch am Haken zu greifen. Am liebsten würde sie ewig in der dampfenden Duschkabine bleiben, ihrer warmen Wolke in Berlin. Sie hatte den Abend für sich. David war verabredet, am nächsten Tag hatte sie keinen Dienst. Und das Einzige, was sie sich vorgenommen hatte, war: nichts.

Sie wickelte sich in ihr großes Handtuch, trocknete sich ab, cremte sich mit ihrer Bodylotion ein. Sie zog sich ihre schlabberige Wohlfühlhose an, drehte sich einen Handtuch-Turban auf den Kopf und zog sich die selbst gestrickten Socken an, die ihre Mutter ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschickt hatte. Sie ließ sich auf das Sofa sinken. Ihr einziger Gedanke war: Welchen Film schaue ich mir an? Ein Streaming-Abo abzuschließen war Davids beste Entscheidung seit Jahren gewesen. Sie wartete darauf, dass die Internetverbindung zum Fernseher aufgebaut wurde. Doch es passierte nichts. Nur ein schwarzer Bildschirm – sie kannte das schon. Sie fluchte leise und wollte einen Schluck vom Rotwein nehmen. Hatte sie das Glas nicht schon vorm Duschen gefüllt und auf den Tisch vor dem Sofa bereitgestellt, damit der Wein die Raumtemperatur annehmen konnte? Doch dort stand kein Glas. Der Bildschirm zeigte immer noch kein Netflix-Logo. Sie schüttelte über ihre eigene Vergesslichkeit den Kopf und stand auf, um sich den Wein und ein Glas aus der Küche zu holen. Die Flasche stand leer auf der Anrichte, daneben ein benutztes Glas – ebenfalls leer. So vergesslich konnte sie doch nicht sein. Sie war sicher, dass sie noch nichts getrunken hatte.

Sie hörte ein leises Geräusch, als habe jemand ganz vorsichtig die Wohnungstür zugezogen. Klack. Sofort war sie in Alarmbereitschaft. Jemand war hier. Sie lauschte, griff nach einem der Messer, das neben anderen Küchenutensilien an einem breiten Magnetstreifen über der Arbeitsplatte hing, und schlich auf Zehenspitzen durch die Küche Richtung Tür zum Flur. Sie lauschte, presste das Ohr gegen die geschlossene Tür – es war still. Plötzlich ertönte das Netflix-Startsignal über die TV-Box. Johanna erschrak und drückte instinktiv die Tür auf. »Wer auch immer hier ist, verpiss dich!«, rief sie und stürzte mit dem Messer bewaffnet in den Flur. Doch da war niemand. Als sie schon dachte, sie hätte sich das Geräusch der zuklappenden Tür nur eingebildet, fiel ihr Blick auf etwas, das sie schaudern ließ. Auf der kleinen Kommode neben der Eingangstür stand eine Vase mit roten und weißen Blumen.

Ihr Handy lag auf dem Esstisch im Wohnzimmer. Sie hörte, wie es auf dem Holz vibrierte. Ihre Schockstarre löste sich auf. Sie würde jetzt jemanden anrufen. Sie wusste nicht, ob Ahmad oder David. Immer noch auf der Hut und angespannt verließ sie den Eingangsflur und ging zum Tisch, sie griff nach dem Telefon. Sie hatte zwei Nachrichten bekommen. Die erste war von Ahmad, ihrem Kollegen: Gerade erfahren: Mupoto wurde nicht angeklagt. Er hat Drogen an eine 13-Jährige im Görli verkauft – sie liegt im Urban-Klinikum, halb tot. Ich könnte kotzen!

Die zweite Nachricht war kürzer. David hatte sie geschickt. Ich komme früher nach Hause – wir müssen reden.

Während sie langsam begriff, dass David wahrscheinlich ihren Wein leer getrunken hatte, als sie unter der Dusche gestanden hatte, klopfte es laut an der Eingangstür. »Hey, Jo! Ich bin’s. Warum hast du denn den Riegel vorgeschoben?«

Als sie David die Tür öffnete, hielt er eine Rotweinflasche in der Hand. »Ich war nur kurz im Keller, Wein nachholen. Hast du meine Nachricht bekommen?«

Sie nickte.

»Die Blumen, die habe ich dir auch mitgebracht.«

Sie atmete hörbar aus. »Hast du ein schlechtes Gewissen?«

Er antwortete nicht, sondern schob sie mit traurigem Gesicht Richtung Sofa.

»Setz dich«, sagte er. »Wir müssen reden.« Er griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher auszustellen. Am liebsten hätte sie sie ihm aus der Hand geschlagen. Statt eines entspannten Netflix-Abends stand ein ernstes Gespräch an. Sie wollte weglaufen, sich die Ohren zuhalten. Fünf Minuten später bereute sie, dass sie nichts davon getan hatte.

Sie konnte sich nicht mehr an seine genauen Worte erinnern, nur daran, wie weh das alles tat.

Ja, sie wusste, dass es bei ihnen nicht mehr so lief wie in den ersten Jahren ihrer Beziehung. Weniger Sex, weniger Zeit füreinander, dafür aber mehr Alltag, Entspanntheit, Echtheit und Vertrauen. Dachte sie.

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